Hermann Löns
Heimatliche Naturbilder - Da draußen vor dem Tore
Hermann Löns

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Die Düne

Hinter der Feldmark des Eschs leuchtet aus den Föhren ein gelber Fleck hervor; eine Binnendüne ist es, aus feinem Sande bestehend. Einst wird sie hier in der Gegend die erste Besiedelung getragen haben, denn vor ihr war Sumpf und hinter ihr ein See, der im Laufe der Jahrtausende vermoorte. Dort, wo der Wind den Sand fassen kann, und der Regen ihn auswäscht, finden sich allerlei Andenken aus längst vergangenen Zeiten.

Als das Moor hinter ihr noch ein See war, werden sich Fischer auf ihr angesiedelt haben. Später ist das Land vor der Düne unter den Pflug gekommen, und obgleich die Düne sich kräftig gegen die Bauern wehrte und ihnen heute noch zu schaffen macht, so verschwindet sie doch immer mehr. Ihre Sandmassen werden als Streusand abgefahren, dienen zum Bau von Straßen, zur Befestigung der Moore und zur Auflockerung lehmiger Ackerflächen, eine Fläche nach der anderen wird aufgeforstet oder abgefahren und in Acker verwandelt, und wo einst der Birkhahn balzte und die Nachtschwalbe schnurrte, brütet die Wildtaube und singt die Feldlerche.

Noch heute sind hier in der Feldmark überall an den Wegen und in den Gräben die Spuren der ehemaligen Beschaffenheit des Geländes zu finden. Haben auch die Feldfrüchte und deren Begleitpflanzen die Hauptmenge des Landes mit Beschlag belegt, hier und da stockt an der Wegeböschung noch Sand- und Glockenheide, wuchert Heidecker und Kugelblume, Quendel und Kriechweide, und die Waldeidechse, der das Bauland [...]

Dicht neben der Roggenstoppel bedeckt die graue, dürre Renntierflechte die Grabenböschung und ein dürftiges, schwarzes Widertonmoos, zwei Pflanzen, die dem Bodenkenner verraten, daß hier viel Kalk und noch mehr Schweiß nötig ist, ehe das Land Frucht trägt. An der Wegeböschung steht der bloße Sand an. Er ist so fein, daß er wie Pulver durch die Finger läuft. Weht der Wind von Nordwesten, so pustet er den Flugsand in die Felder hinein. Deswegen haben die Bauern ihn mit Hagen aus Föhrenbusch eingehegt, damit er sich wieder begrüne. Zuerst läßt sich eine Segge auf ihn nieder, deren queckende Stöcke ihn zusammen halten, Moose und Gräser siedeln sich an und bilden eine Decke, die den Regen festhält. Dann kommt der Mensch und pflanzt die Kiefer an, und aus der Düne wird Wald, oder er kalkt die ebenen Flächen und macht sie zu Ackerland. Vor zehn Jahren sah es unterhalb der Düne noch wild und wüst aus, und die Bauern nannten die Gegend das Jammertal. Heute sind nur noch kleine Sandblößen frei, so daß der Wind kaum Unfug treiben kann. Früher kam die Düne in die Feldmark; heute rückt die Feldmark der Düne auf den Leib. Im landläufigen Sinne ist die Gegend langweilig. Steht man oben auf der Düne, so hat man zwar einen ganz hübschen Blick über das Moor und auf die Felder und Wälder, doch die meisten Wanderer werden nicht zufrieden sein mit dem, was die Natur ihnen hier bietet. Wer aber Freude daran empfindet, den stillen Kampf zu beobachten, den die Bauern mit der Natur führen, und wer nebenbei Sinn für das eigenartige Pflanzen- und Tierleben hat, das an den Sand gebunden ist, für den lohnt sich der Weg über die Düne, und es gibt schließlich doch mehr zu finden, als man vermutet. Nicht allein die ursprüngliche Pflanzen- und Tierwelt bietet allerlei anziehende Erscheinungen, so findet sich das reizende gelbe Katzenpfötchen hier und der kleinste, aber schönste von unseren drei Goldraubkäfern, auch der Kampf, den hier die Vertreter von zwei Floren, der des Sandes und der des Moores, mit der des Kalkes führen, ist recht fesselnd, und zudem bietet die Art und Weise, wie der Mensch mit Forst-, Acker- und Wiesenbau, Verkehr und Industrie den armen Sand zwingt, sich nützlich zu machen, hübsche Gelegenheit zu lehrreichen Betrachtungen.

Im Norden, Südosten und Süden der Düne ragen Schlote in den Himmel. Die nördlichen gehören den Torfwerken, die südöstlichen der Ziegelei, die südlichen dem Kaliwerk an. Drei verschiedenen geologischen Zeitaltern, dem Alluvium, dem Diluvium und dem Tertiär entsprechen sie. Die jüngste Erdschicht, das Moor, ward zuerst verwertet, anfangs nur zur Brandtorfgewinnung. Dann nützte der Mensch den diluvialen Ton zu Ziegeln aus. Schließlich machte sich die Industrie die Moore dienstbar und gewann ihnen Torfstreu aus Torfmull ab, und zu allerletzt fraßen sich Fallmeißel und Diamantbohrer in das Tertiär und suchten die Kalisalze.

Seltsam mutet es den einsamen Wanderer an, wenn er von der Düne aus die drei verschiedenen Schlotgruppen überblickt. Zu seinen Füßen rinnt der feine, weiße Sand. Wind und Regen bliesen und wuschen schwarze Urnentrümmer und schmale, graue, kantig Feuersteinsplitter frei. Vor undenklichen Zeiten lag ein Fischerdorf hier auf dem Sandberge. Während die meisten Männer auf dem See auf Fang fuhren, blieb ein Mann zurück, grub Feuersteinknollen aus dem Sande und schlug nach uralter Technik Beile, Messer und Sägen daraus zurecht, und ein anderer holte Ton und formte Töpfe und Schalen daraus.

Im Sande liegt ein Knochenstück. Es ist ganz leicht. Jede Spur von tierischem Stoffe ist daraus verschwunden; das reine Kalkgerüst blieb zurück. Es ist das Stück von der Schädeldecke eines Menschen, eines der Fischer, Töpfer oder Flintsteinmesserschläger der alten Siedlung. Daneben liegt ein rostiger Nagel. Läge noch ein Stückchen grüner Bronze daneben, wie sie sich vielleicht hier auch finden mag, so hätte man die Leitmetalle aus den drei wichtigsten Abschnitten der menschlichen Kulturgeschichte beieinander, den bearbeiteten Feuerstein, die Bronze und das Eisen.

Dort pfeift die Lokomotive der Kleinbahn. Von der anderen Seite geht ein Zug der Staatsbahn ab, man hört sein Fauchen; auf der Landstraße lärmt ein Kraftwagen dahin; die Torfloris rattern aus dem Moore heran; aus dem Laube der Pappeln an der Landstraße blitzen die weißen Isolatoren der Telegraphenstangen heraus; ein Radfahrer flitzt über den festen Weg, der von der Landstraße aus nach dem Dorfe führt; über dem Walde da unten wandert langsam eine runde Kugel, an der ein Körbchen hängt; ein Militärluftballon ist es. Wie weit wir es gebracht haben! Und wir haben außerdem Röntgenstrahlen, Radium- und Serumtherapie, drahtlose Fernsprechung, rauchloses Pulver, Fernrohre und Mikroskope und sind trotzdem in der Technik von der Zeit, in der der Mensch zuerst das Eisen schmolz und formte, nicht so weit entfernt, wie der Mensch, der zuerst Eisen bearbeitete, von dem, der sich mit Bronze behalf, und der Mensch der Bronzezeit von dem des Steinzeitalters. Strenggenommen war die Steinzeit die Urzeit, die Bronzezeit das Mittelalter, und mit dem Eisen begann die Neuzeit.

Heute hat der Fortschritt Eilzugsgeschwindigkeit angenommen. Es gibt kein dörfliches Leben mehr, keine ländliche Abgeschlossenheit. Rad, Telephon, Landstraße, Eisenbahn, Kraftwagen verbinden Großstadt und Kleinstadt, Kleinstadt und Dorf. Düne und Moor, die seit Jahrhunderten Urlandsinseln in dem Kulturlande bildeten, verschwinden. Das Dorf baut die Düne, das Torfwerk das Moor ab. Hier entsteht Acker, dort Wiese. In fünfzig Jahren ist die Düne verschwunden, ist das Moor Bauland. Dann knattern Luftfahrzeuge über die Wälder, und der Gemeindevorsteher bekommt jeden Morgen von der Wetterwarte drahtlos den Wetterbericht. Kein Bauer mäht dann mehr mit der Sense; die Maschine tut die Arbeit. Unter den hohen Föhren auf der Düne stehen bunte Bauten; ein Genesungsheim entstand da, und reiche Stadtleute haben dort ihre Sommerhäuser, denn dieselbe Eisenbahn, die dem Lande die Leute nimmt, bringt ihnen wieder Menschen.

Wer das alles nicht glauben will, der denke daran zurück, wie es vor fünfzig Jahren hier aussah, oder vor fünfundzwanzig, oder vor zehn, als noch kein Lorigeleise die Düne zerschnitt und hinter dem Moore sich noch nicht die Schlote der Torfwerke erhoben, noch kein Mensch an Kali dachte und der Bauer darüber gelacht hätte, wäre ihm gesagt, die Dörfer bekämen Bahnhöfe und die Fuhrwerke würden ohne Pferde fahren. Und heute sind die Bahnhöfe da. Als das erste Automobil durch das Dorf dahinrappelte, warfen die Schnitter alles fort, was sie in den Händen hatten, und eine alte Frau sagte das Ende der Welt an. Heute dreht kein Mensch mehr den Kopf, tobt ein Kraftwagen mitten durch das Dorf, und selbst ein Luftballon macht nicht allzuviel Aufsehen mehr. Die Zeiten ändern sich heute recht schnell. Die Mädchen tragen sich halbstädtisch und singen ein Lied, das in Berlin in Musik gesetzt wurde; rechts faucht die Bahn, links flötet die Bahn, und in der Mitte steht die alte Düne und denkt an den Tag, als hier zuerst Menschen auftauchten und sich unter den Föhren Hütten aus Pfahlwerk und Plaggen bauten und glücklich waren, wenn sie eine Säge aus Feuerstein hatten, mit der sie die Bäume abschnitten, denn gar zu umständlich war bislang das Verfahren gewesen, Span um Span mit einem scharfen Steinsplitter von dem Holze zu trennen.

Damals ahnte der Düne schon Dummes, und als die Bronze aufkam, wurde ihr recht betrübt zu Sinne. Als aber gar das Eisen Mode wurde, da sah sie ein, daß es mit ihr aus sei, und wenn auch noch mehr als ein Jahrtausend darüber hinwegging, ehe es so weit kam, der Sandberg rechnet anders als die Menschen, und ein halbes Dutzend Jahrhunderte spielt bei ihm keine Rolle.

In den letzten zehn Jahren geht ihr aber der Fortschritt doch zu schnell. Wo vor zehn Jahren der Wind mit dem Sande spielte, steht heute Roggen; wo damals Heide wuchs, bollwerkt jetzt die Kieferndickung; jedes Jahr bekommt das Moor mehr grüne Flecke, und jeden Tag weht der Wind mehr Kalkstaub von der Landstraße, und der Klee, den die Vögel herbringen, und der früher totging, wenn er auflaufen wollte, hungert sich durch und kommt hoch. In wenigen Jahren wird sie verschwunden sein, die Düne.


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