Hermann Löns
Heimatliche Naturbilder - Da draußen vor dem Tore
Hermann Löns

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In der Aue

Die Aue ist nicht mehr der große Landsee, ist nicht mehr eine einzige weite Wasserfläche, die sie den Winter über war. Ihre Wasser sind gefallen, die Ufer, von zähem Schlick bedeckt, werden immer höher und höher, das Wiesengelände verbreitert sich mit jedem Tage, die grünen Inseln vergrößern sich, fließen zusammen, drängen das Wasser immer mehr zurück, teilen es, lösen es in einzelne Teiche auf, und je dicker die Knospen schwellen, je lauter die Vögel singen, um so schwächer wird die Herrschaft des Wassers, bis schließlich nur noch einige aus dem jungen Grase hervorschimmernde Lachen verraten, daß die große weite Aue vor kurzem ein weiter See war.

Mehr als je suchen darum jetzt die Leute sie auf, sich an dem Geglitzer des Wassers erfreuend, an dem Klatschen der Wellen, den herben Geruch einatmend, der von dem gekräuselten Wasserspiegel heranweht, die durch die Enge der Stadt ermüdeten Augen stärkend an dem weiten Blick bis zu dem blauen Kamme der Berge und froh das bunte Leben betrachtend, das vor ihnen sich regt mit Knospe und Blüte, Stimme und Flug. Frühmorgens ist es am schönsten hier; dann fallen die Sonnenstrahlen auf die Wasserflächen und prallen als lange weiße Blitze zurück. Über der Ferne ist ein zarter Duft, und die Nähe ist voller frischerwachten Lebens. An den Gräben sprießen in strotzender Kraft gelbgrüne Schwertlilienblätter, und dicke Tautropfen hängen an jeder Knospe.

Rundumher klingen Lieder. In einer Woche haben die Vögel singen gelernt. Der Grünfink hat sein seidengrünes Hochzeitsröckchen angezogen und schnarrt sein einfaches Liebeslied herunter. Der Buchfink, stolz auf seine rote Weste, schlägt seine Weise bis zum Ende durch, die Amsel hat schon bedeutende Fortschritte gemacht, die Goldammer ist zwar noch nicht ganz sicher, kommt aber doch meist schon zu Ende, die Lerchen in den Lüften aber singen, als wären sie den ganzen Winter über nicht aus der Übung gekommen, und die Stare auf den Pappeln pfeifen in allen sieben Tonarten.

In alle diese kleinen Lieder klingt ein lauter, fremder Ruf, ein Ruf, der gar nicht hierher gehört, der den Menschen an einen gelben, muschelbesäten Strand und an den strengen Geruch des Meerwassers erinnert. Er kommt von einem großen, weißen, schmalflügeligen Vogel, der, in der Sonne wie Silber blitzend, über den Park hinwegklaftert. Schwarz ist sein Kopf, schwarz sind die Fittichspitzen, schlank ist der schneeweiße Leib.

Eine Möwe ist es, die zur Heimat will, zu den Felsbuchten Norwegens oder den Eisklippen Spitzbergens. Den Winter hat sie an der blauen Flut der Adria verlebt; jetzt zieht es sie heim. Aber nach dem Flug über Berg und Tal, Feld und Wald locken sie die Wellen der Aue; einen gellenden Jauchzer stößt sie aus, der hinter ihr zehnmal beantwortet wird, sie senkt sich, schwebt dicht über dem Wasser hin, fällt darauf ein, und zehn ihrer Gefährten folgen ihr.

Ganz erstaunt recken die grünschimmernden Stare, die an den Böschungen watschelnd der Würmerjagd oblagen, die Hälse, und die drei stahlblanken Krähen, die von ihrer Warte, der alten Ulme, Umschau hielten, sind entrüstet über die weißen Eindringlinge. Mit ärgerlichem Gequarre hassen sie auf die Möwen, und die fliegen auf, schreien, lachen und schweben hin und her über das Wasser, bis die Schwarzkittel müde sind. Da lassen sich die Möwen auf den grünen Inseln nieder, zupfen ihr Gefieder zurecht, recken die langen, schwarzweißen Schwingen, und suchen nach allerlei Fraß, einer Schnecke, einem toten Fischchen, einem lahmen Frosch, den die Wellen anspülten, bis die Krähen sie wieder fortjagen, und sie ihnen das Feld räumen und nach dem Flusse hinstreichen.

Dort ist das große Stelldichein der fremden Gäste. Alle fünfzig Schritt schreitet dort eine graue Krähe und überlegt, ob sie sich auf die Heimreise nach Rußlands öden Heiden machen solle, oder ob sie besser täte, hier zu bleiben. Die dunkelgraue Bachstelze, die an dem Graben entlang wippt, überlegt solches nicht; sie macht hier einen Rasttag, und dann wandert sie weiter, nach Ostfriesland, dann über das Meer nach Helgoland und von da aus über das schwarz qualmende London nach den Hochmooren Schottlands.

Auch ihre grauröckige Base mit dem zartgelben Brusteinsatz denkt nicht daran, bei uns zu bleiben. Sie will Klippen sehen und strudelndes Wasser und Milliarden von Mücken. Nach Norwegens Bergwäldern zieht es sie hin. Die Krammetsvögel aber, die hastig auf der Wiese herumfahren und fortwährend scheu um sich spähen, wollen noch weiter, nach Lapplands und Finnlands Birkenwäldern, wo der Mensch nicht daran denkt, sie mit roten Beeren hinter schwarzen Pferdehaarschlingen zu berücken. Und ähnlich denkt der bunte Bergfink, der mit seinen Genossen quäkend von dem Wäldchen herangestrichen kommt. Die Kiebitze aber, die zu vielen Hunderten den graugelben Schlick nach Würmern absuchen, die wollen nicht so weit. Einen Tag bleiben sie hier, dann teilen sie sich. Viele ziehen zur Heide, andere zum Wendland, wieder andere in den Hümmling und die Hauptmenge nach Ostfriesland. Die schmalen, schüchtern pfeifenden Pieper, die im gelben Grase herumschlüpfen, machen es gerade so, bis auf die zwei rotbrüstigen ihrer Sippe, die sich abseits halten, wie alle Schweden.

Die Kiebitze rufen ängstlich, fliegen hoch, eine schwarzweiße, lange Wolke bildend, taumeln hin und her und fallen weiter oben ein. Das große dunkle Kreuz, das vom anderen Ufer herüberkam, erschreckte sie. Es ist aber nur der Gabelweih, der Froschesser und Mäusefänger, und so beruhigen sie sich schnell. Der segelt, je nach der Beleuchtung schwarz, braun oder goldrot aussehend, in schönem Fluge über die Wiesen, kreist über der Wasserfläche und veranlaßt die Enten zu warnendem Gequak.

In langer Reihe sitzen diese am feuchten Ufer, ölen sich das schimmernde Gefieder, suchen im Genist mit den gelben Schnäbeln, watscheln bedächtig zum Wasser, steigen hinein, klatschen heftig quakend mit den bunten Flügeln, kehren dann die Hinterseite nach oben und vertiefen sich, gründlich gründelnd, in die Geheimnisse des Wassers. Bis ein alter Erpel warnend aufquarrt und klatschend über das Wasser läuft; da stiebt die ganze Gesellschaft empor, drängt sich zusammen, streicht gerade aus und steigt dann höher und höher. Ein Entenpaar aber vergaß beim zärtlichen Geschnäbel die Flucht, und schon ist das Unheil über ihnen. Der Wanderfalke stößt herab, ehe der Erpel den Weidenbusch gewinnt, stürzt mit seiner Beute zu Boden, und die verwitwete Ente streicht mit Angstgekreisch ab.

Im Weidenbusch sitzt der Zaunkönig und schimpft Mord und Brand über den Landfriedensbrecher. Auf einmal macht er ganz runde Augen und wird ganz starr. Denn vor ihm, auf dem eingerammten Pfahl, sitzt auch ein Zaunkönig, aber ein riesiger, fast so groß wie eine Amsel. Auch der hält den kurzen Schwanz hoch, auch der knickst und dienert genau so wie er selbst, auch der fliegt mit demselben schnurrenden Flügelschlage, auch der huscht genau so wie ein echter Zaunkönig durch die Weidenbüsche. Nur ein bißchen dunkler ist er, und eine weiße Weste hat er.

Das ist eine Wasseramsel aus Norwegen, die den Winter bei Verwandten im Harz war. Bis jetzt hat es ihr dort gut gefallen, aber nun bekam sie Heimweh und sagte, sie müßte unbedingt fort. Und so ist sie weiter gewandert, so schnell es ihre kurzen Flügel erlaubten, hält sich einen halben Tag hier auf und zieht dann weiter.

Und so machem sie es alle, die Fremden, die auf der Aue einfallen, die Kraniche, die nur ein halbes Stündchen dableiben, die Rohrdommel, die den Tag über in dem Weidendickicht schläft, die Leinfinken und Schneeammern, Haubentaucher und Säger, Strandläufer und Schnepfen.

Eines schönen Tages sind alle fort und an ihre Stelle treten die Pieper und gelben Bachstelzen, Goldammern und Grasmücken, Rohrsänger und Hänflinge, und was sonst noch lebt und webt in der Aue.


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