Hermann Löns
Das zweite Gesicht
Hermann Löns

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Nachspuk

Die Brennhexe lag im Moore und schlief; da kam der Südwestwind angegangen und kitzelte sie mit einem Grashalme in der Nase, so daß sie niesen mußte, und davon wachte sie auf.

Sie gähnte, reckte sich, schüttelte ihre Röcke zurecht, klopfte die Schürze glatt, lächelte, wiegte den Kopf hin und her und begann zu tanzen, daß der feuerrote Rock und die gelbe Schürze wie Flammen leuchteten.

Da sah sie dort, wo zwischen den Birkenbüschen Wasser blitzte, einen hellen Fleck, und das war ein menschliches Angesicht, und es gehörte zu einem Manne im grünen Rocke, der mit der Büchse auf dem Rücken langsam dahinging.

»He du!« rief die Brennhexe und winkte ihm, aber Helmold Hagenrieder hörte nicht. Er blickte gerade aus, denn er sah einen mit Kienruß schwarz gemachten Sarg, und darin ein weißes Gesicht, und zwei wachsgelbe Hände, die einen Rosmarinstrauch in Händen hielten, Hände, die so ihn manche Nacht lieb gehabt hatten, wenn er des Stadtlebens müde und des Malens satt, in dem Strohdachhause unter dem Osterhohl eingekehrt war.

Es war keine Trauer in ihm, sondern nur ein Mitleid mit sich selber, daß er jetzt niemand mehr hatte, dem er sagen konnte, daß sein Herz unter der Erde läge, unter einem Hügel, auf dem ein Brett stände mit der Inschrift: »Es ruhe in Unfrieden.«

Gleichmütig rauchte er seine Pfeife. »Herr Geheimer Hofrat Senator Professor Helmold von Hagenrieder, erster Vorsitzender des Kunstvereins, Ehrenmitglied der Kunstgenossenschaft, Inhaber von einem halben Dutzend goldener Ehrenmünzen und Staatspreisen, Ritter hoher Orden, wissen Sie, was Sie sind, Verehrtester«?« sagte er zu sich und sah sich spöttisch an: »erinnern Sie sich noch jenes Ligusterschwärmerweibchens, das Sie als zwölfjähriger Bengel fingen, mit Schwefeläther töteten, nadelten und aufspannten? Als Sie nach vier Tagen das Spannbrett vom Schranke nahmen, bewegte der Schmetterling ruhig und besonnen den Hinterleib hin und her und entledigte sich seiner Eier, obgleich sein Vorderleib gänzlich abgestorben war. In demselben Zustande, mein Lieber, befinden Sie sich; ruhig und besonnen schaffen Sie ein Kunstwerk nach dem anderen, aber nur mit Kopf und Hand, denn ihr Herz ist längst tot.«

Das sah die Brennhexe auch ein. Sie war ganz dicht hinter ihm gewesen, aber als sie sein Gesicht sah, machte sie eine verächtliche Bewegung mit der Hand und blickte sich nach einem anderen Tanzeschatz um, dessen Augen nicht so kalt aussahen, wie Moorwasser im März. Da sie aber immer noch so hübsche Beine hatte, wie damals, als sie den selben Mann quer durch das Moor gehetzt hatte, so war der Torf wieder lichterloh verliebt geworden, und Helmold Hagenrieder mußte machen, daß er weiterkam, denn das Feuer rückte ihm von drei Seiten auf den Leib. Dieweil er aber den Springstock nicht bei sich hatte, so wurde es ihm schwer, die Moorgräben zu nehmen, so daß er schließlich in einen Abstich springen und bis an den Hals untertauchen mußte.

Ziemlich lange mußte er im Wasser bleiben, obgleich ein Schauer nach dem andern ihn schüttelte, denn er war unfrisch und müde. Er war, nachdem er Annemieken die letzte Ehre erwiesen hatte, die ganze Nacht aufgeblieben und hatte sich mit dem Monde unterhalten; er hatte in der Backenstube neben der Feuerstelle gesessen, und der Mond hatte sich in dem Spinnstuhle niedergelassen. Es war kalt gewesen in der Nacht; denn das Feuer war ausgegangen, und das Spinnrad stand still; es sah wie ein Gespenst aus, und der Kesselhaken hatte ein trauriges Gesicht.

»Ja, ja, Kerl,« hatte der Mond gesagt, »es nimmt eben alles einmal ein Ende; auch ich war einst jung, hatte ein rotes Herz und Gedanken, so grün wie Maibaumlaub zur Pfingstzeit. Das ist schon manchen Donnerstag her, und mir ist so, als wäre das alles nicht wahr, die vulkanischen Träume meiner Jugend und meines Mannesalters Ebbe und Flut. Aber so stehe ich mich schließlich doch besser; man hat keine Hoffnungen mehr, aber auch keine Enttäuschungen. Sei froh, Kerl, daß es dir ebenso geht!«

Sein Freund hatte sich eine neue Pfeife gestopft und nichts gesagt, so daß der Mond geärgert aufstand und fortging. Helmold hatte gegen Morgen ein Glas kalte Milch getrunken, ein Stück Brot gegessen und war auf die Frühpürsch gegangen; doch machte ihm das Waidwerken gar keine Freude. »Lebendiges Leben ist so schön«, sagte er sich, als er den Hauptbock in der Wiese stehen sah, wie eine Flamme in der ersten Sonne leuchtend; »lebe und liebe, du adelig Getier, bis deine Zeit um ist. Ich weiß, was es heißt, zu sterben vor der Zeit, die einem bestimmt ist!« Er hatte sich umgedreht und war weiter geschlichen.

»Es ist immer das selbe«, dachte er; »der Himmel ist blau und die Sonne gelb. Man müßte eigentlich einmal in ein Land gehen, wo der Himmel weiß und die Sonne schwarz ist, oder dahin, wo eine weiße Sonne in einem schwarzen Himmel steht. Ein wie das andere Jahr blüht das Moor im Spätsommer rosenrot; hinterher werden die Birken gelb; dann kommt der Schnee, und so geht es in der selben langweiligen Weise weiter. Das kenne ich nun ein halbes Jahrhundert lang und bin seiner satt. Und mit Liebe und Haß ist es ebenso: erst rot, dann gelb, dann braun und zuletzt weiß, immer in der selben eintönigen Art; ich mache mir Nichts mehr daraus.«

Er fuhr nach Hause. »Du siehst nicht gut aus, Liebster,« sagte seine Frau. »Bißchen erkältet,« antwortete er und ging an seine Arbeit. Er lebte in stiller Tätigkeit drei Tage hin, bis ein heftiges Kopfweh, Schüttelfrost und Fieber ihn zu Bette brachten. In der Nacht wachte er auf und sah den grauen Engel vor seinem Bette sitzen. »Meinetwegen!« sagte er zu ihm. Eine alberne Angst kniete ihm auf dem Herzen, würgte ihm am Halse und schlug ihn, daß ihm der Kopf zu zerspringen drohte, er weckte seine Frau aber nicht, um sie nicht zu ängstigen.

Am Morgen sah er so elend aus, daß Grete Beni Benjamin herbeirief. Der untersuchte ihn, runzelte die Stirn und sprach nachher zu Frau Hagenrieder: »Es steht recht schlimm; doppelseitige Lungenentzündung. Bereiten Sie sich auf alles vor, liebe Freundin. Und lassen Sie Hennig rufen.«

Am Nachmittage des dritten Tages, nach dem Helmold sich niedergelegt hatte, gab der Arzt keine Hoffnung mehr. »Trösten Sie sich, Frau Hagenrieder,« sagte er: »er hat alles erreicht, was einem Menschen beschieden sein kann, und mehr gelebt, als wenn er hundert Jahre alt geworden wäre.« Der Frau liefen stumme Tränen über das Gesicht. »Nein,« erwiderte sie und schüttelte den Kopf, »nein, das hat er nicht.«

Sie seufzte auf und begann wieder: »Lieber Hennig, und bester Herr Doktor, was meinen Sie, soll ich nicht Swaantje telegraphieren? Vielleicht ist es ihm eine Freude, sie noch einmal zu sehen.« Der Arzt sah Hennecke an und dieser ihn. »Er hat von ihr kaum mehr gesprochen,« antwortete Hennig, und Benjamin setzte hinzu: »Auch in seinen Fieberdelirien nicht. Ich glaube, er denkt nicht mehr an sie. So ist es wohl besser, wir stören ihn nicht beim Einschlafen.« Hennecke aber fragte: »Wann kann sie spätestens hier sein?« »Morgen mittag,« antwortete sie. »Dann hat es keinen Zweck mehr;« dachte der Arzt, »denn er überlebt die Nacht nicht mehr.« Dann schwiegen die drei Menschen und sahen mit leeren Augen aneinander vorbei.

»Grete,« flüsterte es im Nebenzimmer. »Helmold?« rief die Frau, nötigte ein Lächeln auf ihr Gesicht und ging zu ihrem Gatten. Seine Augen waren ganz klar. Er griff schwach nach ihrer Hand; sie gab sie ihm, und er drückte sie. »Es ist alles in Ordnung,« murmelte er, »das Testament, und das andere. Weißt du mit den Kindern,« er schloß die Augen, »nicht Bescheid, Hennig hilft dir, und Beni auch.« Sie flüsterte ihm zu: »Sollen die Kinder kommen?« Er winkte mit den Augen ab und hauchte: »Schlafen lassen!« Er fing an zu keuchen und wand sich hin und her. »Kommen Sie,« sagte der Arzt und führte die Frau hinaus, denn er sah, daß es zu Ende ging.

Der Kranke keuchte immer schwerer und murmelte bald laut, bald leise. »Alles in Ordnung, alles, alles,« flüsterte er; »mündelsicher angelegt.« Seine Stimme starb, und sein Atem schlief ein. Noch einmal stieß sein Leben den Tod zurück: »Bravo, Prinz!« murmelte er; »er hat die Kugel zwölf Ring, der Hirsch. Frau Pohlmann, einen können wir noch!« Er hielt an und flüsterte: »Klaus, wollen eins singen!« Wie aus weiter Ferne klang es: »Ein Jägermädchen, das trägt ein grünes, grünes Kleid.« Sein Kopf fiel herum; der Arzt sah, daß die Augen gebrochen waren. »Annemieken!« flüsterte der Sterbende, und die Steppdecke zitterte.

Der Arzt horchte eine Weile, murmelte etwas, drückte dem Toten die Augen zu, zog die Bettdecke zurecht und ging hinaus.

Es war ein Uhr in der Nacht, als er das Haus verließ; Hennig blieb zurück, damit die Frau nicht allein mit dem Toten wäre. Als der Arzt am anderen Vormittage zurückkehrte, fand er Swaantje Swantenius bei Frau Hagenrieder. Er begrüßte sie kühl, und Hennecke, der bald darauf auch kam, benahm sich noch kälter gegen sie.

Zwei Tage später wurde Helmold Hagenrieder begraben. Wagen auf Wagen folgte dem Sarge und hunderte von Männern zu Fuß gingen hinter ihm her. Als der Geistliche die Leichenrede hielt, wurde er fast verwirrt, denn noch niemals hatte er ein so verschiedenartiges Gefolge gesehen. Die höchsten Staatsbeamten, das ganze Stadtverordnetenkollegium samt dem Magistrate waren zugegen, viele Offiziere, Förster und Jagdaufseher und eine lange Reihe von Bauern und Landarbeitern mit ihren harten Gesichtern und unmodischen Hüten.

Der Himmel war von einem abgeschmackten Grau, ein langweiliger Wind ging, und mit blassem Gesichte stand der Mond am Himmel und sah mit gleichgültigen Augen auf die Menschen, die das Grab umgaben, und als sie sich verkrümelten, lächelte er ein bißchen spöttisch über den Wall von kostbaren Kränzen, der die Stätte bedeckte, wo Helmold Hagenrieders leerer Leib lag; denn dessen Seele war gänzlich verschwunden, weil sie schon vor dem Tode ihren Inhalt verloren hatte. »Ein schöner Blödsinn«, dachte der Mond, schüttelte den Kopf und verzog sich bis auf weiteres.

In der Nacht aber suchte er Swaantje Swantenius auf. Sie lag ohne Schlaf in ihrem Bette und lauschte auf das, was die Stille sprach, und sah, was die Dunkelheit ihr wies.

Die Stille sang ein höhnisches Lied, und die Dunkelheit hielt ihr Helmolds Gesicht hin. Sie streckte die Hände danach aus und flüsterte: »Ich habe dich so oft heimlich lieb gehabt, so oft; hast du es nie gefühlt?« Aber das weiße Gesicht starrte sie an, als wäre sie nicht da.

Bittend sah sie den Mond an: »Du warest sein guter Freund, du weißt alles von ihm; denkt er noch an mich, weiß er noch von mir?« Der Mond sah sie nicht einmal an.

Sie schlief die ganze Nacht nicht und reiste am andern Morgen ab, worüber Frau Hagenrieder sich sehr wunderte.

 


 


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