Hermann Löns
Das zweite Gesicht
Hermann Löns

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Das Seelenhaus

Das gelbe Zimmer war voll von der Vormittagssonne, als Helmold eintrat; zwei Sonnenblumen, die in einem blauen Zierkruge standen, starrten ihn mit toten Augen an.

Swaantje kam herein; sie sah frisch und gehoben aus, erschrak aber sichtlich, als sie ihren Vetter ansah, und als der in den Spiegel blickte, erkannte er sich kaum wieder: er sah nicht angegriffen aus, aber seine Augen waren welk und seine Lippen abgeblüht.

Er las die Briefe, die auf seinem Platze lagen, und reichte einen nach dem anderen dem Mädchen. Das nickte ihm bei dem ersten fröhlich zu, jubelte bei dem zweiten auf und klatschte bei dem dritten in die Hände. »Wie freue ich mich, wie freue ich mich! Drei große Bilder so gut verkauft, Aufträge über Aufträge, und nun noch erster Sieger in einem internationalen Ausschreiben!« Ihre Stimme fiel herab, als sie ihn ansah: »Aber freust du dich denn gar nicht ein bißchen, lieber Helmold?« Er nötigte sich ein Lächeln ab und sagte gleichgültig: »Natürlich; Berühmtheit ist bar Geld.« Sie sah ihn enttäuscht an. »Lieber Helmold,« begann sie nach einer Weile schüchtern, »sei nicht böse; heute kann ich dich nicht begleiten. Lies bitte!« Er nahm den Brief und seufzte: »Was fange ich nun ohne dich an? Aber den Vormittag, Swaantje, nicht wahr, den bekomme ich doch? Viel ist es ja nicht mehr.«

Sie gingen nach dem Ausgang des Parkes. Da stand unter zwei ungeheueren Silberpappeln eine graue Steinbank; dort ließen sie sich nieder und sahen über die Wiesen, von denen der Maikrautduft des Grummets herkam. Beide waren still; Helmold war todmüde; es war schon hellichter Tag gewesen, als seine Augen das Sehen vergaßen, und Swaantje war betrübt, denn unter seinen Brauen her flogen nur kalte Blitze über das lachende Land, und wenn er sprach, so hörte es sich an wie Herbstlaubgeraschel im Winde. Er sah dahin, wo unter einem breiten Weißdornbusche die Hütebude lag; mit ihren beiden kleinen Türen und ihrer stumpfen grauen Farbe sah sie aus, wie das Seelenhaus in Tödeloh.

»In den Büchern steht, in den großen Steinkammern hätten unsere Urahnen ihre Häuptlinge begraben,« fing Swaantje an, »glaubst du das?« Er nickte: »Ja, das schon, aber diese Hünenbetten sind auch Seelenhäuser gewesen, denn sie sind genau in der Art der Wohnhäuser erbaut. Alle Jahre am Todestage ihrer Lieben legten unsere Urahnen dort Wildpret hin und gossen Honigbier in die Schalen und zündeten ein Feuer darin an, damit die Seelen sich erquicken und wärmen könnten, kehrten sie einmal wieder zurück. Auch Blumen werden sie dort wohl niedergelegt haben.« Er sah mit verlorenen Blicken nach der Hütebude, und sonderbar klang es, als er fortfuhr: »Swaantje, wirst du mir auch Blumen bringen, damit ich mich darüber freuen kann, wenn ich einmal wiederkomme?«

Das Mädchen sah ihn erschrocken an und faßte seine Hand: »Lieber Helmold, wie kannst du mich so ängstigen! Das war nicht hübsch von dir. Du bist überreizt, überarbeitet, nervös; du solltest einmal in ein richtiges Pussiersanatorium gehen, wie damals, als du so herunter warest.« Er sah sie spöttisch an: »Meinst du, daß mir heute noch ein Flirt hilft? Das glaubst du doch selber nicht.« Das Mädchen sah einem weißen Falter nach, der an ihr vorüber in die Wiese flog, die Weidenröschen am Grabenrand umflatterte und ziellos weitertaumelte. Dann sah sie die Hand ihres Vetters an, die auf seinem Knie lag; gestern war sie noch männlich und straff gewesen, nun sah sie weiberhaft aus und ermüdet. Verstohlen besah sie ihre eigene Hand; beide Hände waren sich jetzt ähnlich; früher waren es Gegensätze gewesen. Die braune, derbhäutige, großporige, haarige, in breiten, harten Nägeln endende Hand des Mannes erinnerte sie an den Vorsteher Groenhagen, hinter dessen derben Zügen, unter dessen harten Augen so sehr viel unausgesprochener Kummer lebte.

»Ja, Swaantje, das ist nun so!« lachte Helmold und wies nach einem hohen Riesenampferbusche, der mit seinen feuerroten Blättern unbändig prahlte; »der rote Hinnerk da, so nennen die Bauern das Kraut, jeder freut sich darüber, wie er so knietschrot dasteht; aber er ist welk, ist tot. Ein Meister der Farbe ist er; aber sein grünes Herz ist gestorben.« Er unterbrach sich, denn ihm war, als stände eine bleiche Gestalt in dem Seelenhause und winkte ihn zu sich heran. Dann lächelte er über sich; erstens war das kein Seelenhaus, sondern eine Hütte für die Hütejungen, und die bleiche Gestalt, das war ein alter Lappen, der da hing.

Er warf den Kopf in den Nacken: »Du magst recht haben, Swaantien!« Sie lächelte ihn an, denn noch nie hatte er die Koseform ihres Namens gebraucht. Er pfiff eine leichtsinnige Weise vor sich hin. »Ich bin überarbeitet, habe mich dazu um dich zu viel gesorgt. Nun verschieße ich mich noch dazu; das zieht in keinen hohlen Weidenbaum.« Er summte: »Und kann es nicht die Lilie sein, so pflück ich mir ein Röselein.« Er machte ein säuerliches Gesicht: »Mein Herz heil pussieren, das wird schwer halten, aber als Heftpflaster hilft vielleicht so ein bißchen Eintagsliebe. Man weiß nur nie, was man sich damit für Löcher ins Gewissen läuft. Die andere hat sich vielleicht schon wer weiß wie lange getröstet, und man denkt immer noch, sie wankt mit durchgescheuerter Seele herum.«

Er scharrte mit der Fußspitze im Sande umher: »Na, die Hauptsache ist, daß du dich heute nachmittag in eurem Geisteslackierklub gut vergnügst. Wird Er auch da sein?« Swaantje wurde rot: »Ich glaube,« flüsterte sie, aber es lag keine Freude in ihrer Stimme.

»Weißt du was, Zuckerchen,« fuhr es Helmold heraus, »eigentlich müßte ich mit und dir dort in einer so feuergefährlichen Weise den Hof schneiden, daß dem Professor das Brett vor dem Kopfe aufbrennt; denn das hat er doch sicher dort, denn schließlich gönnt kein rechtschaffener Mann eine einem anderen, und tritt man ihm auf die Platzhirschhühneraugen, dann wetzt er sogleich die Kampfsprossen. Aber die Bergedorfsche ist da samt ihren üblen Töchtern, und so wie ich mich kenne, setzte es einen Heidenskandal, ginge ich mit. So will ich lieber zusehen, daß ich den Bock in der Wittenriede bekomme.«

Nach dem Mittagessen bat er sich den Fuchs aus, hängte die Büchse über und ritt in das Bruch. Dort stieg er ab, ließ das Pferd bei den Hütejungen und waidwerkte zu Fuße weiter. Aber er spähte nicht nach dem alten Bocke, der dort umging, er träumte mit kalten Augen über das Land hin, das in der Sonne glitzerte. Schließlich setzte er sich bei dem Seelenhause an, rauchte und brütete vor sich hin. Immer wieder gingen seine Augen nach der Büchse. Er sah sich um: wenn er seinen einen Fuß in die Brombeerranken wickelte und sich durch das Herz schoß, dann nahm alle Welt ein Unglück an; denn daß ein Künstler an dem Tage, der ihm den größten Auftrag seines Lebens gebracht hatte, Selbstmord verüben könne, das glaubte kein Mensch. Ein Druck, und er konnte endlich einmal wieder ausschlafen.

Aber dann fiel ihm ein Wort Hennings ein: »Selbstmord wirkt niemals tödlich«, hatte der einst gesagt und hinzugefügt: »denn es ist keine organische Lösung.« Und dann waren die Kinder da, seine lieben Kinder Swaan und Sweenechien, und Grete und Swaantje. Schon derentwegen durfte er nicht Hand an sich legen; sie würde vor Gram zerbrechen. Außerdem: er hatte den Auftrag vom Schicksal, seinem Volke viel Schönheit zu bringen. »Nein,« sagte er zu sich, »nein, das tust du nicht!« Er stand auf, entlud die Büchse, warf den Patronenrahmen in den Bachkolk und ging nach der Wittenriede. Der starke Bock äste sich auf dem Wiesenfleck; gleichgültig sah Helmold ihm zu. Ein dutzend Male war er hinter ihm hergepürscht; aber selbst, wenn er jetzt eine Patrone gehabt hätte, er hätte doch nicht schießen mögen. Ihm lag nichts mehr daran. Ihm war an nichts mehr etwas gelegen. Ihm war alles gleichgültig. Ihn langweilte sogar die Landschaft. Zu spitz dünkte ihm das Glitzern des Stechpalmenbusches, zu frech seine roten Beeren, und albern kam ihm des wilden Täubers Ruf vor. Er lag im Moose, auf der selben Stelle, auf der er tags zuvor gesessen hatte, rauchte und starrte ohne Blick über die Wiesen hin.

Er sah sein zukünftiges Leben vor sich: wie ein Brandmoor würde es aussehen. Nur Nutzpflanzen würden darauf noch gedeihen: Moorkorn, Hafer, Kartoffeln, aber keine rosige Blüte mehr. Mit Hand und Kopf würde er große Werke schaffen, derweil sein Herz unter Ruß und Asche lag. »Alles müssen wir bar bezahlen,« hatte Hennig gesagt; »alles!« So war es; alles gab ihm das Leben und nahm ihm alles, weil es ihm das eine nicht gab. Er versuchte, sich zum Weinen zu zwingen, indem er den Namen der Geliebten vor sich hinflüsterte und die Stelle streichelte, wo sie gesessen hatte; doch seine Augen lachten ihn aus.

Müde stand er auf, ging langsam dahin, wo der Fuchs war, schenkte den Jungen eine Mark, saß auf und ritt die Landstraße entlang. In Mecklenhusen stand die Wirtin vor der Türe und lachte ihn einladend an. Er grüßte flüchtig und trabte weiter, obwohl ihn hungerte; aber er mochte mit niemandem sprechen, der ihn kannte.

Deshalb schlug er die Straße nach Lütkenhusen ein und stieg beim Taternkruge, wo er noch nie gewesen war, ab. Das war eine schmierige Kneipe; aber das paßte ihm gerade. Er aß das Butterbrot, das ihm die schlumpige Wirtin brachte, mit dem Genuß des Ekels. Ein fünfzehnjähriges Zigeunermädchen mit hübschem Gesichte, bunt angezogen, kam herein, bettelte ihn an und machte ihm verheißungsvolle Augen. Er schenkte ihm ein blankes Markstück und einige Zigaretten, ging aber nicht auf sein Sprechen ein. Dreimal drehte es sich noch nach ihm um, als es dem Walde zuging, und als es unter den Kiefern stand, winkte es ihm schnell mit den Augen und lächelte. Er merkte sich den Fluß der Bewegungen und die ganze Erscheinung, aber nur mit den Augen, sein Blut blieb kalt, so kalt, daß es ihn fror.

»Glas Grog!« befahl er. Die Wirtin sah ihn verwundert an, denn er hatte sein Bier noch vor sich stehen. »Noch eins!« rief er, als er es ausgetrunken hatte. Da wurde ihm besser. Farben und Töne brannten und klangen in ihm durcheinander; er sah ein Bild in Moll vor sich und hörte eine blaßrote Melodie. Er nahm sein Taschenbuch heraus und schrieb ein Lied hin, las es durch, änderte eine Stelle, schrieb ein zweites, ein drittes und noch eins. Eine Kiepenflickerfamilie, die inzwischen eingetreten war, sah ihm neugierig zu, und zwei Handwerksburschen machten heimlich ihre Witze über ihn. Er sah es, kümmerte sich aber nicht darum. Ein Motorradfahrer kam herein, schimpfte mörderlich, weil er vor einem Hunde so schnell hatte stoppen müssen, daß er seine Maschine verdorben hatte, stampfte im Zimmer auf und ab und versuchte, mit Helmold ins Gespräch zu kommen; der antwortete nicht. Er trank noch zwei Gläser Grog und blieb sitzen, bis die Uhr die siebente Stunde angab. Dann stand er auf, zahlte seine Zeche und die der Handwerksburschen, die darüber ganz verlegen wurden, und ritt fort.

Als er zu Tische kam, fielen seine Blicke sogleich auf Frau Adda. Sie saß ihm gegenüber, machte ihre verwitwetsten Augen und sprach über bildende Kunst. Er hielt sie in höflicher Form zum Narren, bewies ihr, daß es gar keine bildende Kunst gäbe, sondern nur einzelne Kunstwerke, aß wenig und schützte nach aufgehobener Tafel vor, er müsse eilige Briefe schreiben. Er schrieb aber nur die vier Gedichte ab, gab sie Swaantje, die er auf der Treppe traf, sagte ihr, er wolle den Abend allein verbringen, und ging in den Ratskeller, wo er sich in die dunkelste Nische setzte, den Vorhang zuzog, dem Kellner verbot, Licht zu machen und irgend jemandem zu sagen, daß er da sei. Er starrte vor sich hin, trank aber nur wenig von dem Rüdesheimer und ließ seine Zigarre kohlen. »Ein toter Mann trinkt nicht, ein toter Mann raucht nicht,« dachte er und sah das Seelenhaus vor sich, neben dem er unter dem goldenen Moose lag, ein Häuflein Asche in einer schwarzgebrannten Deckelurne. Und vor dem Seelenhause lagen Blumen, weiße Rosen, Lilien, Astern, Maiblumen, wie die Jahreszeit sie bot, und die glitzerten im Mondenlichte; aber nicht Tau war es, der in ihren Kelchen schimmerte, Tränen, kalte Tränen der Reue. Er sah eine Gestalt neben dem Seelenhause stehen, in braune Gewänder gehüllt, Schleier vor dem Gesicht, einen Kranz von Ringelblumen im Haar. Sie winkte ihm und breitete die Arme nach ihm aus und flüsterte: »Sanft will ich dich betten, so sanft.«

Schal kam ihm seine Kunst vor: gemaltes Leben, weiter nichts. Leinewand, stinkende Farbe, vom Keilrahmen gehalten, der sich feige hinter dem Prunkrahmen verkroch, eine Lüge das Ganze! Und ein jammervoller Notbehelf statt des Lebens, das ihm gebührte, eines Lebens, das rot in Rot vor seinen Augen stand, hellrote Küsse auf einem Hintergrunde von dunkelrotem Blute. Das Ende? Ein Pfeil in der Brust, zwei Küsse auf den Lippen, und so, zwischen der Sonne und dem Mond, zwischen der lauten und der leisen Geliebten, schnurstracks nach Walhall, und da: Fortsetzung folgt! Aber sein Leben würde fortan anders sein: Grau in Grau, hellgraue Sehnsucht auf dunkelgrüner Hoffnungslosigkeit. Malen, malen, malen, der Professortitel, ein paar Orden, eine Jubelfeier, wenn die nötige Knickebeinigkeit da ist, und ein sanfter Strohtod mit viel Gezappel und Äthereinspritzungen. Hol's der Teufel!

Straffe Männertritte näherten sich seiner Koje; der Vorhang flog zur Seite, und vor ihm stand Beni Benjamin. Unbefangen gab er Helmold die Hand; sein schmales Beduinengesicht leuchtete von herzlicher Freude. »Ich hörte von der Wirtin, daß Sie hier seien,« sagte er mit seinem dunklen Basse, »und daß Sie allein sein wollten. Ich sah Sie heute vom Kruge in Mecklenhusen aus, und Ihr Gesicht gefiel mir nicht. Deshalb dachte ich: laß ihn grob werden, das ist sein Recht als Patient! Und nun: Rüdesheimer verbiete ich Ihnen; wir trinken Sekt. Erstens ist mir gestern ein Sohn geboren, und zweitens bekommt Ihnen das besser.«

Als der Sekt da war, hob er das Glas: »Auf das, was wir lieben!« Helmolds Gesicht bekam Schlagschatten, und seine Augen wetterleuchteten. Aber dann lachte er lebhaft. »Eine Gemeinheit ist der anderen wert,« sagte er, zog sein Skizzenbuch hervor, riß ein Blatt heraus, schrieb darunter: »H. H. s. l. B. B.« und gab es dem Arzte. Der besah es genau; Lichter und Schatten flogen über sein Gesicht. Er streckte dem Maler die Hand hin: »Dank, vielen Dank, Hagenrieder!« Er stellte die Skizze gegen den Kühleimer und sah sie eine Weile an. Dann flüsterte er, und seine Stimme klang noch dunkler: »Sie sind der einzige Mensch, der mich erkannt hat. Durch und durch haben Sie mich gesehen, lieber Freund, Sie, der Vollgermane, mich, den Ganzsemiten. Wissen Sie warum: weil wir im Grunde ganz das selbe sind. Sie in Blond, ich in Schwarz.« Er seufzte: »Die Leute glauben, ich bin glücklich.« Er mauschelte: »Der raaiche Doktor Benjamin!« Er warf seine Zigarre in den Kühleimer: »Na ja, so in epidermaler Hinsicht bin ich auch glücklich, aber die Intestina denken anders. Jeden Tag, wenn ich mich nach dem Essen lang mache und rauche, dann weiß ich, daß ich ganz wo anders hingehöre, auf einen Pferderücken, oder ein Kameel, und um mich ist die weite Wüste. In meinem Zelte aber, das bei einer Quelle unter Palmen steht, ist nicht bloß eine Frau, die mich küßt, es sind deren zweie, eine laute und eine leise.« Er trank sein Glas aus und sah den Rauchringeln nach. »Eine für das Herz und eine für die Seele,« flüsterte er nach einer Weile, und seine Augen bekamen einen hungrigen Blick.

Der Kellner kam und machte ihm eine Meldung: »Gehen Sie mit?« fragte er; »ich muß noch nach der Mühle hin; die Großmutter hat wieder einen Anfall. Das beste für die gute Frau wäre ja Morphium, denn diese Herzbeklemmungen sind schrecklich. Aber das dürfen wir ja nicht. Ist das eine verlogene Welt heute! Einer hetzt den anderen unbedenklich mit Geschäftspraktiken tot; aber ein elendes Geschöpf, das alle zwei Tage stirbt, zu erlösen, das erlaubt die Moral nicht. Ja, die Moral!«

Sie gingen die mondhelle Landstraße entlang, die von den Schatten der Kiefern gestreift war. Der Vollmond dichtete die Wachholderbüsche auf der Haide zu bösartigen Gespenstern um. Helmold ließ den Arzt reden. Er sah sich mit Swaantje am Arm durch die mondhelle Haide gehen; ein kreischendes Verlangen von ihr sprechen zu können, überkam ihn. »Sie kommen oft nach Swaanhof, Doktor?« fragte er den Arzt. Der nickte. »Ja, ich tue so, als ob ich nach der alten Dame sehe, aber die junge meine ich. Es ist ein Skandal, was aus der geworden ist! Von dem bißchen Neuralgie ist sie nicht so herunter; das ganze lavendelduftende Kommodenschubladenleben macht sie krank. Ist das ein Mädchen! Wissen Sie, die in Schwarz, das wäre meine leise Frau; Blond liegt mir so fern wie Ihnen meine Kulör. Aber in meiner ganzen Praxis ist kein Mensch, um den ich mich so ängstige, wie um sie. Gewalt! möchte man schreien, wenn man zusehen muß, wie sie zugrunde gerichtet wird. Natürlich in der besten Absicht. Ich kann reden, was ich will, immer heißt es: ›Lieber Herr Doktor, das viele Lesen und Malen greift meine Nichte zu sehr an‹, oder ›Sie hat doch alles, was ein junges Mädchen braucht!‹ Lieber Hagenrieder, machen Sie doch einmal Krach; vor Ihnen hat die Alte einen Heidendampf. So, und nun gehen Sie so lange in die Schenkstube. Ich bin gleich wieder da und dann, wenn es Ihnen recht ist, trinken wir noch eine dicke Flasche oder zwei. Wissen Sie, bei Vollmond muß ich Bettschwere haben.«

Helmold setzte sich unter die Linde auf den breiten Stein; allein mochte er nicht in der Schenke sein, weil er dort noch nie gewesen war und eine alberne Schüchternheit ihn lähmte. Er lächelte vor sich hin: »Solamen miseris«, dachte er. Aber ein mäßiger Trost, daß es dem Arzt ebenso ging, wie ihm! Und es ging ihm viel besser, denn der hatte seine leise Frau noch nicht gefunden; er aber hatte sie gefunden und hatte sie zur selben Stunde verloren.

Im Grunde hatte Benjamin vielleicht nicht so unrecht als er ihm vorhin sagte: »Frauenseele! ich glaube nicht daran; unsere heiligen Bücher wissen davon nichts. Frauen sollen ihre Seele ihren Männern und ihren Kindern geben; das ist ihr Zweck. Die das nicht können, sind mißlungen.«

Eine furchtbare Angst befiel ihn. Gretes Seele hatte sich ihm entwunden, und Swaantjes Seele würde nie sein werden, wenn nicht Swaantje sein würde. »Aber wie ist das möglich,« dachte er, »daß zwei Seelen sich voneinander lösen, die einst eins waren, wie meine Seele und die von Grete. Denn das hatte er oft gefühlt, wenn sie in seinen Armen zerschmolzen war, daß nicht nur ihr Leib ihm gehörte. Das war nun vorbei; er war hier, und sie war da. Sie war ihm Lebenskampfkamerad, Freund, ja; er wollte aber nicht gestützt sein, er wollte durchdrungen sein. Mann und Frau mußten den heiligen Kreis bilden, mußten sein, wie die beiden Dreiecke mit den fünf Spitzen, zwei und doch nur eins.

Die Semiten waren klüger, die gaben sich nicht mit Idealen ab; darum war das Hexagramm ihr heiliger Kreis und nicht das Pentagramm, wie bei den Ariern. Und deshalb waren die Juden glücklicher im Leben, scheinbar wenigstens, denn schließlich: die besten unter ihnen schielten doch aus dem Sechsstern zum Fünfstern, wie er von Grete nach Swaantje. Warum: die eine ging in sich auf, war eine in sich geschlossene Natur, die andere ein problematischer Charakter. Die eine satt, die andere hungrig, unbewußt hungrig.

Eine Meteorkugel zog ein himmelblaues Band über den mondhellen Himmel und fiel dahin, wo Swaanhof lag, oder wo das Tödeloh stand. Eine reisende Drossel flog über die Linde und pfiff verlassen; unsichtbare Brachvögel riefen trostlos. Helmold fror das Herz. Er stand auf und wollte in das Haus; da kamen harte Schritte näher, und der Arzt stand vor ihm. »Haben Sie eine Erscheinung gehabt?« fragte er, als er den Maler ansah. Der lachte: »Nein, eine Gänsehaut!« Aber Benjamin sah ihn besorgt von der Seite an. »Na,« meinte er dann, »die laute Janna und die leise Manna sind gut dagegen. Übrigens anständige Mädchen und nicht glücklich; ein und derselbe Mann hatte beiden die Ehe versprochen, und nun lachen sie sich am liebsten ihren Kummer fort, denn sie lieben ihn beide noch immer, trotzdem an dem Kerl nichts dran war.«

Helmold fühlte sich in der gemütlichen alten Wirtsstube, in der es verstohlen nach Bratäpfeln roch, schnell heimisch. Er kam in die Ofenecke in den breiten Ledersessel hinein; rechts von ihm saß Janna und links Manna; sie sahen ihn mit Augen an, in denen eine mitfühlende Freundlichkeit lag. »Nach Sekt,« scherzte der Arzt, »Schampagner am besten schmeckt.« Er nahm die Laute von der Wand und klimperte darauf herum, eine Weise dazu brummend, die nach Moschus und Ambra roch. Er stieß mit allen an: »Funditus!« befahl er und schenkte wieder ein, erzählte eine lustige Geschichte, füllte die Gläser abermals und bat die Mädchen um ein Lied. Sie zierten sich nicht; Janna spielte, und Manna sang dazu ein Lied, das wie Liebesgeflüster im Lindenlaubschatten war, und noch eines, hell wie ein Aufquietschen hinter einer Haustüre an einem dunklen Winterabend.

»Nun Sie,« bat der Arzt und reichte Helmold die Laute; »aber erst die Gläser aus und eine neue Flasche; unsere Köpfe kühlen wir nachher im Mondenschnee!« Helmold griff einige Akkorde und sang dann zu einer verschüchterten Begleitung das heimliche Lied an den Abendstern. Die Augen der Mädchen wichen nicht von seinen Lippen, und der Arzt sah ihn mit besorgter Miene an. »Bitte noch eins,« bat Janna leise, und Manna flüsterte: »Ach ja!« Helmold sang das Lied von dem goldlockigen Jüngling, der auszog, Avalun, das schöne Land, ganz und gar von Zuckerkand, zu suchen, und der es erreichte, als er unter dem Notlaken lag. Unaufgefordert sang er das dritte Lied, das so zart war, wie perlgraue, mit Rosenrot gesäumte Abendwolken, und als er schloß: »Sag ja! dann ist das ferne, fremde Land so nah; dann singt der Vogel nimmermehr von Tod und Not, dann blühen alle Blumen rot, so rot so rosenrot,« hatten beide Mädchen feuchte Augen, und auf der Stirne des Arztes lag eine Falte, die wie ein Hufeisen aussah.

Die Mädchen baten stumm um ein viertes Lied. Helmold stellte erst die Laute hin, nahm sie aber wieder auf, stürzte ein Glas Schampagner hinunter und begann leise, aber mit jubelnder Stimme: »Rose weiß, Rose rot, wie süß ist doch dein Mund, Rose rot, Rose weiß, dein denk ich alle Stund.« Die Augen der Mädchen erhellten sich; aber als die Laute einen wehen Ton gab, und es wie ein Weinen weiter klang: »alle Stund bei Tag und Nacht, daß dein Mund mir zugelacht, dein roter Mund,« da sahen sie ihn verängstigt an und atmeten beklommen. Jauchzend klang es wieder: »Ein Vogel sang im Lindenbaum, ein süßes Lied er sang, Rose weiß, Rose rot, das Herz im Leib mir sprang,« und abermals wimmerten die Saiten und wie ein Schluchzen war es in des Sängers Stimme: »sprang vor Freuden hin und her, als ob dein Lachen bei ihm wär, so süß es klang.«

Die Uhr ging hart durch die Seufzer der Mädchen. Helmolds Stimme lachte wieder: »Rose weiß, Rose rot« und dann zerklirrte sie, als er fortfuhr: »Was wird aus dir und mir?« und schneidend, wie Glassplitter wurde ihr Ton bei den Worten: »ich glaube gar, es fiel ein Schnee, dein Herz ist nicht bei mir,« und es war bis auf das Geräusch der Uhr totenstill in dem Gemache, als er endigte: »nicht bei mir, geht andern Gang, falsches Lied der Vogel sang von mir und dir.«

Die Zwillingsschwestern waren ganz blaß, Benjamin schenkte stumm den Rest ein, und der Maler sah mit einem bewußten Gefühle von Scham vor sich hin. Der Arzt ging zuerst hinaus, dann folgte Helmold. Im Hausflur drückten ihm die Schwestern die Hand, und eh' er es sich versah, nahm ihn von jeder Seite eine in den Arm und küßte ihn schnell auf den Mund, ohne daß sie sich vor dem Arzte scheuten. Der nickte ihnen freundlich zu.

Der Mond stand mitten über der schneeweißen Straße; taghell war zu beiden Seiten der Wald. Die Männer gingen schweigend nebeneinander her, trocken klangen ihre Schritte. Helmold war todmüde, aber vor dem Bette graute es ihn. »Von wem sind die Lieder?« fragte der Arzt. »Von mir,« antwortete der andere, und seine Stimme hörte sich staubig an. »Die Melodieen auch?« fragte Benjamin weiter. Der andere nickte, aber er war schon wieder anderswo, denn der Wald trat angstvoll vor der Haide zurück, so unheimlich sah sie im Mondenlichte aus. Helmold aber schien sie süßer Heimlichkeiten voll zu sein; er sah über dem schmalen, weißen Weg, der zwischen den schwarzen Wachholderbüschen den Hügel emporschlich, ein morgenrotfarbiges Kleid, das einen schlanken Leib umspielte, und in völliger Selbstvergessenheit summte er die Singweise des Rosenliedes vor sich hin. Plötzlich blieb er stehen und horchte in den Wind hinein, der in der Ferne sang; ein angstvolles, bitterliches, wehes Weinen war darin, und zum streicheln deutlich sah er vor sich ein weißes, tränenlos schluchzendes Gesicht und einen verwaisten Mund.

»Was ist Ihnen?« fragte sein Begleiter und schob ihm die Hand unter die Achsel. »Sie fiebern ja! Drückt Sie etwas? Mir können Sie getrost alles sagen.« Doch der Maler schüttelte den Kopf und lächelte gezwungen: »Halluzinationen, Übermüdung und Sekt, weiter nichts; ich habe oft dergleichen.« Aber er wurde wieder frischer, als der Arzt auf Swaantje zurückkam, ihm auseinandersetzte, daß das Mädchen in die Welt müsse, um sich einen Beruf zu suchen, Liebe und Leid zu finden, damit sie nicht am lebenslosen Leben verwelke. Und da Helmold straffer schritt, begann der andere das ganze Wesen des Mädchens zu schildern in den Farben der Bibel und mit einem Verständnis für ihre Eigenart, daß dem Maler das Herz schwoll.

Als sie vor dem Gutshause Abschied nahmen, sah Benjamin, daß Hagenrieders Gesicht wieder fieberfrei war. Er blickte ihm nach, als er mit leichtem Schritte über den Hof ging und so sicher, als wenn er nur Wasser getrunken hätte. »Auch nicht glücklich; einer wie der andere!« dachte der Arzt.

Als Helmold um das Haus bog, sah er nach dem Erker hin; dort war noch Licht. »Sie schläft nicht,« dachte er und machte sich Vorwürfe, daß er ihr die Lieder gegeben hatte. In seinem Zimmer fand er eine dringende Depesche. Er packte seinen Koffer und legte sich nieder, den Herodot in der Hand. Er wollte nicht einschlafen, er hatte Angst davor, aber die Augen fielen ihm über dem Buche zu.

Es war neun Uhr, als er erwachte; das Licht war bis auf den Halter heruntergebrannt. »Muß ich müde gewesen sein,« dachte er. Schnell badete er, und als er sich angezogen hatte, ging er in das gelbe Zimmer. Swaantje war nicht da; ihr Gedeck war unberührt; die anderen hatten schon gefrühstückt, denn ihre Plätze waren abgeräumt. Ohm Ollig kam herein; sein Gesicht sah noch zerknitterter aus als sonst. »Es hat Krach gegeben, deinetwegen. Die Bestie, die Bergedorfsche, hat ihr Lästermaul wieder aufgemacht, und sie«, er zeigte mit dem Kopfe nach dem Zimmer seiner Schwester, »muß das natürlich weiterquackeln. Swaantje hat wieder ihre Schmerzen. Benjamin war schon da; er verordnete Ruhe und acht Tage Bett. Jetzt schläft sie.«

Frau Gesina kam herein. »Du bist recht spät gekommen, lieber Helmold,« sagte sie süßlich. »Im Gegenteile,« antwortete er, »sehr früh sogar, denn es war erst halb vier Uhr morgens.« Er drehte sich absichtlich so um, daß er eine der schreiend bunten Erbvasen herunterwarf, »Ach meine Lieblingsvase,« rief Frau Gesina und hob ächzend die Scherben auf: »die ist nun in Stücken!« Helmold lachte frech: »Wenn hier weiter nichts in Stücke geht, kannst du Gott danken! Hör' zu: ich muß mit dem Mittagszuge reisen; aber so viel Zeit habe ich noch, daß ich dir einmal die Wahrheit sagen muß. Setz dich bitte!« Er sprach das so, daß sie in den Sessel knickte und ihn hülflos ansah: »Also: ich reise. Ob ich je wiederkomme, weiß ich nicht; es ist mir zu mulsterig hier. Bitte, ich rede jetzt. Paßt dir das nicht, Muhme, da ist die Tür; ich bin nicht dein Gast, sondern Swaantjes, das bitte ich dich zu bedenken. Laß das, an deine Herzkrämpfe glaube ich nicht. Du solltest nicht so viel Kartoffeln essen, und nicht so viel Kuchen, und deinen Kaffee zu Hause trinken statt bei der verfluchten Klapperschlange vom Duttenhofe, die bei Gott verderben möge!«

Die Tante fuhr auf: »Ich bitte dich, Helmold, lästere nicht!« Er warf den Kopf zurück: »Das war ein christliches Gebet und keine Lästerung. So, und nun kommt die Hauptsache: sobald Swaantje wieder in der Reihe ist, geht sie auf zwei Jahre aus dieser Mottenkiste heraus, verstehst du mich? Oder dreie! Wohin ist mir Wurst, jedenfalls bleibt sie nicht hier, sonst komme ich hierher, und dann sollst du mich einmal richtig kennen lernen. Du meinst, ich hätte hier nichts zu sagen? Stimmt, und darum nehme ich mir die Freiheit. Swaantje geht erst nach Berlin, dann nach Wiesbaden, dann nach München, dann wohin sie will, meinetwegen nach dem Vetter in Rußland, vorausgesetzt daß die Esel von Letten sich bis dahin die Bombenschmeißerei etwas abgewöhnt haben. Drei Wochen habe ich deine pomadigen Reden und margarinenen Seufzer nun ausgehalten, um das Mädchen aufzumuntern; dir hat es gefallen, mit einem Wort meine ganze Kur umzuknicken. Ist sie denn eine solche Sorte wie die Bergedorfer Blagen, die man nicht fünf Vierminuten mit einem Manne allein im Zimmer lassen darf? Hat sie ihr Geld dazu, daß sie hier versauert? Ihren Kopf, damit du sie so dämlich machst, wie das hier guter Ton ist? Siehst du denn nicht, wie du sie mit deiner Tanterei kaput machst? Ohm Ollig, frage den, der ist ganz meiner Meinung; nur mag er nicht den Mund auftun, weil du ihm dann acht Tage lang Hammelbraten vorsetzest.«

Der Ohm rutschte ganz tief in seine Vatermörder hinein, plinkte Helmold aber heimlich zu. Der ballerte weiter: »Glaubst du vielleicht, es ist eine Erquickung für sie, wenn sie den ganzen Tag in einem Ende gefragt wird: ›Swaantien, hast du dies gemacht? Swaantien, wie steht es damit? Swaantien, du hast doch nicht vergessen?‹ Als ich vor drei Jahren hier war, hing mir dies Gefrage schon armlang zum Halse heraus, und deswegen bin ich so lange nicht hier gewesen. Da hieß es: ›Swaantje ist krank, nervenkrank!‹ Weißt du, was ich da zu Grete sagte? ›Kein Wunder bei dem Zusammenleben mit der alten Schrammschraube!‹ Jawohl, das habe ich gesagt, und hätte Grete damals nicht die Kleine an der Brust gehabt, sie wäre gekommen und hätte hier einmal gründlich ausgelüftet. Na, und dann durfte Swaantien«, er sprach es mit schmalziger Betonung, »ja endlich kommen. Swaantien kam, aber Swaantje nicht. Aus dem sonnigen, heiteren Mädel hattest du einen hysterischen, neurasthenischen Schatten gemacht. Das Herz im Leibe tat uns weh, als sie ankam. Na, wir fütterten und ulkten sie gesund, ließen sie treiben was sie wollte, und machten glücklich wieder Swaantje aus ihr. Nach einem halben Jahre komme ich hierher, und wen finde ich? Swaantien«, er sprach es wieder so niederträchtig wie möglich, »Swaantien mit dem Bindfaden am Bein, an dem die gute, die liebe, die mütterliche Tante Gese den ganzen Tag herumzockt.«

Giftig funkelten seine Augen sie an. »Ja, weine nur, es wird dir ja leicht, bist ja am Wasser geboren, wenn auch an einem ziemlich trüben. Ich glaube dir gern, daß es keine Sauriertränen sind, sondern daß sie dir ehrlich abgehen. Sieh mal, Muhme,« seine Stimme wurde weicher, »eines schickt sich nicht für alle. Du weißt, ich bin ein abgesagter Feind des ganzen Weiberbewegungsschwindels, dem Steckenpferdchen von Grete. Deswegen sperrt man doch aber ein Mädchen, das nach Weiterbildung und nach Kunst hungert, und nach der Welt und ihren Menschen, nicht zeitlebens ein, bis sie eingeht. Denn das tut sie; Benjamin, mit dem ich die halbe Nacht durchgesumpft habe, ist ganz meiner Meinung, vielmehr, er fing zuerst davon an, und daß ich dir das alles jetzt sage, daran ist er schuld.«

Er klingelte, und als der Diener kam, befahl er: »Ich fahre mit dem Mittagszuge; der Koffer ist fertig.« Dann sah er den Frühstückstisch, goß sich Tee ein, und während er auf und ab ging, würgte er ein trockenes Brödchen hinunter. Frau Gesina strich ihm eins und legte ihm mit ihrem demütigsten Lächeln Fleisch und Eier vor, und ohne zu wissen, was er tat, aß er. Dann riß er aus seinem Skizzenblocke zwei Blätter heraus, schrieb zwei Depeschen und schickte den Diener damit fort. Er sah ganz blaß aus, hatte blaue Schatten unter den Augen, einen engen Mund, und seine Hände zitterten.

Die alte Frau goß ihm ein Glas Portwein ein; er drückte ihr die Hand und küßte sie auf die Backe. Sie fing von neuem zu weinen an. Er klopfte sie auf die Schulter: »Weiß ja, liebes Muhmchen, meinst es nicht so; bist ja von Herzen gut. Und ich glaube, du siehst auch ein, daß ich recht habe.« Sie nickte unterwürfig. »Na, und so lasse sofort die Näherinnen kommen und Swaantjes Kleider in Stand setzen, und melde sie bei Ohm Otte an. Von Berlin kann sie dann erst zu uns kommen; Grete wird viel allein sein, denn ich habe den großen Auftrag zu erledigen und lebe dann ganz in der Werkstätte.« Er sah nach der Uhr: »Sieh bitte zu, ob ich Swaantje sprechen kann; ich will ihr Lebewohl sagen.« Die Tante ging hinaus und kam nach einer Weile wieder. »Sie ist aufgewacht und möchte ein wenig gekochtes Obst essen und freut sich, dich zu sehen. Du mußt aber vorsichtig sein mit ihr; die Schmerzen können bei jeder Aufregung wiederkommen.«

Er lächelte: »Bedenke das bitte, so oft du Swaantien zu ihr sagst. Gib mir das Obst, ich bringe es ihr. Und nun: Lebt wohl! Dank für alles Gute, und seid nicht böse auf mich; einmal mußte die Sache besprochen werden. Ich hätte es ja anders sagen müssen, aber ich bin, wie ich bin. Adjüs, Ohm Ollig, adjüs, Muhme Gese! Und nicht wahr, ich verlasse mich auf dich? Großes Bierwort darauf? Und verschone mir das Mädchen mit allen Butternöten und Legehennensorgen und Negerkinderbekleidungsmanufaktur; laß sie machen was sie will. Sie redet dir in dein Ministerium des Innern ja auch nicht hinein. Also: Gehabet euch wohl, und grüßt mir den Doktor; das ist ein Prachtkerl.«

Er ließ die beiden stehen und ging mit dem Tragbrette in der Hand aus dem Zimmer. Auf der Treppe traf er die Zofe. »Melden Sie mich bitte, Fride,« sagte er. Das Mädchen lächelte ihn an: »Das gnädige Fräulein warten schon.« Sie stockte einen Augenblick, dann griff sie nach seiner Hand, drückte sie und stammelte: »Herr Hagenrieder, ich war nebenan; ich horche sonst nie, aber die Hand könnte ich Ihnen küssen! Sie sollen sehen, sobald Fräulein Swaantje draußen ist, wird sie wieder gesund. Gott,« sie klappte die Hände ineinander, »und ich komme dann mit!« Helmold klopfte ihr die Backe: »Das ist Ihnen wohl die Hauptsache? Na na, ich mache bloß Spaß. Aber, Fride, geht hier oder sonstwo etwas verquer, Eilbrief oder Telegramm! ich komme dann sofort. Hier, das ist für etwaige Auslagen. Und bringen Sie mir Ihre Herrin gesund wieder, dann gibt es einen blauen Lappen für die Aussteuer.« Er nickte ihr zu und ging die Treppe hinauf.

Leise öffnete er die Türe zu Swaantjes Wohnstube. Der Vorhang des Erkerzimmers war zurückgezogen; das Mädchen lag halb sitzend im Bette. Als er eintrat, nahm sie schnell die Hand von der Schläfe. »Maria mit den sieben Schwertern« dachte er, und er mußte sich auf die Lippen beißen, um nicht aufzuschreien. Ihr Gesicht sah nicht so blaß aus, wie er gefürchtet hatte, nur ihre Augenlider waren gerötet. Aber ein Leuchten lag in ihrem Blicke, wie er es noch nie bei ihr gesehen hatte, und eine Süßigkeit war in ihrem Lächeln und eine Hingebung, daß der Teller auf dem silbernen Tragbrette in seinen Händen an zu klirren fing. Doch er jagte seine Sehnsucht in die Ecke, stellte das Tragbrett auf den Nachttisch, setzte sich vor das Bett, gab seiner Base die Hand und sagte: »Arme kleine Swaantje, und daran bin ich nun schuld!« Sie lächelte lieblich und nickte: »Ja, aber ich danke dir doch sehr; du hast mich unsagbar erfreut.« Sie gab ihm die Hand und flüsterte zärtlich: »Lieber Helmold!« Er lächelte freundlich, aber das ganze Zimmer drehte sich um ihn. »Einen Kuß, einen einzigen Kuß!« dachte er.

»Komm,« sagte er, legte ihr das Händetüchlein hin und nahm den Teller und den Löffel; »jetzt muß die kleine Swaantje erst ein bißchen essen; und wenn sie sich nicht beschlabbert, und wenn sie erst wieder gesund ist, darf sie zu Ohm Otte, und dann kommt sie zu Hagenrieders, und dann geht sie nach Wiesbaden, und nach München, und im Sommer geht sie mit uns an die See, und nachher in den Harz!« Sie lächelte, und die Augen wurden ihr feucht. Wie ein Kind ließ sie sich eine Pfirsichspelte nach der anderen zwischen die Lippen schieben.

Helmold wunderte sich, daß ihm die Hände nicht zitterten. Auf die Knie hätte er fallen, ihre Hände mit Küssen bedecken, ihr den Schmerz abbitten mögen, den er ihr zugefügt hatte, und während er das dachte, stand der gepanzerte Ritter wieder hinter ihm, stieß ihn leise an und flüsterte: »Küsse sie doch, Mensch, küsse sie; sie wird dich wiederküssen. Mein Wort darauf!« Aber er küßte sie nicht, und keiner seiner Blicke sprach von mehr als von Bruderschaft.

Er strich ihr leise die schmerzende Schläfe; sie sah ihn dankbar an und sagte: »Das hat mir mehr geholfen als alle Pulver. Aber du mußt gehen, es wird sonst zu spät für dich, lieber Helmold!« Er stand auf und sah sich im Zimmer um; er selbst hatte die Einrichtung entworfen. Er sah das Mädchen an, ihre Hände, die aus den Spitzen hervorsahen, und ihr Gesicht, das eng von der Halskrause umschlossen wurde. Ihr Haar lag halbgelöst um ihre Schläfen; es hatte einen fettigen Schimmer. Langsam hob ihre Brust das weiße Nachtgewand.

»Lebe wohl, liebe Swaantje,« sagte er; bröcklich klang seine Stimme; »werde gesund und komme bald!« Er bückte sich nieder und küßte ihre beiden Hände, und da fühlte er, daß ihre Lippen seine Stirn streiften, und es schwindelte ihn, als er sich aufrichtete. Aber schnell nickte er ihr zu und verließ das Zimmer.

Er wußte nicht, wie er zum Bahnhof gekommen war. Er nahm eine Karte erster Klasse; er wollte möglichst allein sein. Als ihm der Diener den Gepäckschein zurückgab, starrte er so dumm darauf hin, daß der Mann lächelte.

Er hatte noch zehn Minuten Zeit; der Zug hatte Verspätung. »Zehn Minuten zu früh von ihr gegangen; sechshundert Sekunden fortgeworfen!« dachte er. Da ruschelte ein seidenes Kleid hinter ihm. Er trat zur Seite und sah Frau Bergedorf vor sich stehen. Sie erwiderte holdselig seinen Gruß und fragte ihn: »Schon fort? Ich dachte, Sie wollten noch eine Woche bleiben?« Er zuckte die Achseln: »Es ging nicht anders; ich habe in einem großen Ausschreiben gesiegt und muß nun mit den Auftraggebern verhandeln.« Die Frau wiegte den Kopf: »Das wird Ihre Kusine aber sehr bedauern; Sie beide sind doch ein Herz und eine Seele!« Er lächelte verbindlich: »Natürlich, soweit das bei dem großen Altersunterschiede möglich ist. Erwarten gnädige Frau jemanden?« Sie nickte: »Meine Olga.«

Sie gingen den Bahnsteig entlang, bis dahin, wo sie allein waren. Helmold machte sein liebenswürdigstes Gesicht: »Meine Base ist leider recht krank; sie hat sich über das Geschwätz zu sehr aufgeregt, das ein Weibsbild aus der hiesigen Gesellschaft über sie aufgebracht hat. So etwas ist doch gemein, gnädige Frau, nicht wahr? Besonders wenn es von einer Person ausgeht, die als verlobte Braut abends verschleiert einen Leutnant so lange besuchte, bis es zum Skandal kam, und die Töchter hat, die es ähnlich treiben. Wenn ich nur den Namen wüßte, die könnte sich gratulieren. Vielleicht erfahren gnädigste Frau etwas darüber und haben die große Güte, es mich wissen zu lassen. Hier meine Adresse!« Er zog eine Karte heraus und gab sie ihr.

Der Zug lief ein. »Empfehle mich ganz gehorsamst, meine Gnädigste,« sagte Helmold mit dem Hute in der Hand und küßte seinen Daumen über ihren Handschuh; »und ich bitte um gütige Empfehlung zu Hause.« Er verbeugte sich und ging auf den Zug zu. Vom Fenster aus grüßte er noch einmal; Frau Bergedorf dankte gütig.

In dem Abteil saß ein Rittmeister von den Münsterschen Panzerreitern; er sah flüchtig auf und las weiter in seinem Buche. Helmold blieb am Fenster stehen, bis Swaanhof vor ihm auftauchte, und als es verschwand, setzte er sich und wartete, bis die Mecklenhusener Halde immer näher kam. Er sah den Weg, den er mit Swaantje gekommen war; das Tödeloh, wo der Tod ihn angebettelt hatte, flog schnell vorüber und langsamer der Wahrbaum.

Er stützte den Kopf in beide Hände. Er dachte daran, daß er doch wenigstens ein Taschentuch oder einen Handschuh von ihr als Erquickung hätte mitnehmen sollen, oder ihr Bild. Nun hatte er nichts von ihr, als den verblühten Kuß auf seiner Stirn, den zerwehten Klang ihrer Stimme in seiner Seele, und ihr blasses Bild in seiner Erinnerung. Er liebkoste es mit den Augen, küßte es auf die Hände, aber jedes Mal, wenn er die Lippen küssen wollte, verschwand es, und er sah nichts als das rote Polster vor sich und den langen Offizier.

Dann sah er sich tot und kalt unter der Schirmfichte liegen; drei Männer kamen und begruben ihn hinter dem Walle im Tödeloh. Jede Nacht stieg seine Seele aus dem Grabe und ging in das graue Steinhaus, wo sie die Schatten anderer Männer traf, die vor vielen tausend Jahren dort ihre Leiber vergessen hatten. Sie prahlten von Krieg und Sieg, schimpften darüber, daß kein Mensch mehr an sie denke und ihnen Wildpret und Honigbier hinstelle, und sie machten sich über ihn lustig, weil er ein jedes Mal jedweden von ihnen fragte, ob nicht ein Kranz oder ein paar Blumen für ihn abgegeben wären.

Es war aber niemals etwas da, und weinend stieg er wieder in sein Grab.

 


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