Hermann Löns
Das zweite Gesicht
Hermann Löns

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Die Wundfährte

Seine Frau freute sich, als er braungebrannt und helläugig zurückkam. »Aber wie bist zu dem schönen Schmisse gekommen, Helmold?« fragte sie. »Ja,« sagte er und lachte, »bei der Schweißarbeit geht es oft nicht gerade säuberlich her, und die drei Geweihe sind den Kratzer schon wert.« Er schämte sich gar nicht, daß er um die Wahrheit herumging. Früher hatte er seiner Frau alles, aber auch alles gesagt und sich in Hemdsärmel und ohne Kragen vor ihr gezeigt; das sollte nicht wieder vorkommen.

Nach dem Abendessen sagte er: »Ich muß noch ausgehen; wie lange ich bleibe, weiß ich nicht.« Seine Frau machte ein etwas beleidigtes Gesicht: »Gleich den ersten Abend?« Er faßte sie unter das Kinn und küßte sie: »Jawohl, mein Herze; es geht nicht anders.« Er ging erst ziellos auf der Hauptstraße hin und her, setzte sich dann anderthalb Stunden in ein Kaffeehaus, spielte mit einem ihm unbekannten Herrn Billard und ging gegen zehn Uhr nach Hause. Grete, die etwas blaß und ermüdet aussah, lachte vor Glück, als er so früh und mit so fröhlichen Augen zurückkam, rückte ihm den bequemsten Sessel hin, brachte ihm Wein und Zigarren und räumte dann auf.

Er sah ihr nach und freute sich über ihre vornehme Erscheinung, ihr schönes Haar und ihre frischen Bewegungen. »Sie ist eigentlich doch die Schönste!« dachte er und machte so verliebte Augen, daß sie sich auf seinen Schoß setzte. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und meinte: »Ich danke dir auch sehr für die wunderschöne Karte; es war nur eine in zwei Wochen, aber es ist ja auch Herbst!«

Sie besann sich einen Augenblick, unterdes sie ihm bald die Hände streichelte, bald den Nacken kraulte, und dann sagte sie mit etwas verlegener Stimme: »Ich habe dir auch etwas zu schenken: ich bin aus dem Verein ausgetreten. Weißt du, das ging mir doch zu weit: das ist kein Frauenbildungsverein mehr, das ist ein Vermännerungsklub. Und dann diese Geschichten, die da vorgekommen sind! Die überspannte Frau Kelling ist mit einem Kalifritzen ausgerückt und hat ihren netten Mann und die reizenden Kinder sitzen lassen, und Frau von Besentzien läßt sich scheiden. ›Mein Mann ist mir geistig nicht gewachsen,‹ hat die Gans gesagt. Aber das schlimmste ist die Sache mit Professor Detten, du weißt doch, der uns immer die glänzenden Vorträge über Frauenkultur hielt. Jetzt hat er einen Haufen Geld geerbt, und was tut er? Er heiratet die Köchin seiner Mutter!«

Helmold lachte, daß ihm die Arme flogen: »Ja, das ist allerdings eine Gemeinheit sondergleichen, wo er doch in dem Vereine ein so wohlassortiertes Lager von ge-, ver- und überbildeten Dämlichkeiten hatte. Aber ich habe es dir ja früher oft gesagt: die radikale Frauenbewegung hat sehr viel Gutes; sie verekelt allen ernsthaften Männern die Damen und veranlaßt sie, Mädchen zu freien, die ihren Männern weiter nichts als Frauen sein wollen und ihren Kindern Mütter. Übrigens, so sehr ich mich freue, daß du aus der Blase heraus bist, in die du vernünftige Frau gar nicht hineinpaßt, meinetwegen hättest du das nicht zu tun brauchen. So ein bißchen Sport will jeder Mensch neben dem Alltagsleben haben.«

Es gingen einige schöne Wochen in das Land; Helmold arbeitete fleißig, aber ohne Überstürzung. Er malte den Hintergrund zu Swaantjes Bild um, gab ihrem äußeren Gesichte einen weichen Zug, brachte aber dahinter etwas rätselhaft Hartes an, das niemand fassen konnte, das aber jeder fühlte, und umgab das Bild mit einem dunkelgrünen, gleißenden, durch grellrote Perlen gehobenen Rahmen, der die Wirkung von reich tragenden Stechpalmen andeutete. Als er sein Malzeichen unter das Bild setzte, pfiff er das freche Lied von der Lüneburger Haide so laut, daß Grete angestürzt kam und ihn fragte: »Du pfeifst das üble Lied, und so denke ich, ich darf mal kommen!« Er nickte und sagte, auf das Bild weisend: »So! vorher war es wabbliger Kitsch, jetzt ist es etwas. Nicht wahr, Gretechien?« Sie nickte; frei wurde es ihr um das Herz. Seine Stimme war ohne Unterklang, seine Augen sprachen nur von dem Bildnisse und nicht ein bißchen von dem Mädchen, das es darstellte. Sie hätte aufschreien mögen vor Glück. Doch der Brief, den sie in der Hand hielt, verbot ihr das.

»Helmold,« begann sie, und ihre Stimme duckte sich, »hier lies mal. Swaantje geht es nicht gut. Sie bittet mich, zu kommen, denn Muhme Gese, schreibt sie, fiele ihr doch etwas auf die Nerven. Was meinst du, soll ich fahren?« Sie setzte sich auf das Ruhebett, und er nahm in dem Sessel Platz. Langsam und bedächtig las er den Brief. Bei jeder Zeile wurde seine Stirne krauser; aber obwohl er tiefes Mitleid empfand, spöttelte er in sich doch über die verlogene, oder, wie er sich selber verbesserte, verbogene Schrift und den gequälten Humor, der den ganzen Brief durchzog. Er gab den Brief zurück und sagte: »Natürlich fährst du; sie braucht einen Menschen, den sie wirklich liebt; die alten Leute bieten ihr so gut wie nichts. Ich glaube, sie ist von ihnen mit Altersschwäche angesteckt, denn Ohm Ollig und Tante Gese sind, meine ich, schon mit Arterienverkalkung und Hämorrhoiden auf die Welt gekommen, in geistiger Beziehung wenigstens sicher. Fahre sofort und muntere sie auf. Übrigens Thorbergs fahren erst nach Neujahr; sein Prokurist ist krank, schreibt er mir, und es ist jetzt zu viel zu tun. Schade! Was Swaantje fehlt, ist frische Luft und neue Menschen.«

Seine Frau hatte ihn aufmerksam angesehen, solange er sprach. War das der selbe Mann, der jüngst noch fast einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte, als sie sich zwischen ihn und das Mädchen stellte? Ein sonderbares Angstgefühl hielt ihr den Atem fest. Sie betrachtete ihn, während er Swaantjes Bild an den ersten besten Nagel hängte, ganz aufmerksam. Es war ihr Helmcke, aber er war es doch nicht; es lag eine Ruhe und eine Gelassenheit in seinem Gesichte, die sie erschreckte. Der dummejungenhafte Zug, der ihre Lust und ihr Leid gewesen war, fehlte gänzlich. Schon die Art und Weise, wie er schritt, befremdete sie, und als er ganz behutsam die Zigarre einschnitt, langsam das Streichholz entzündete, mit großer Aufmerksamkeit die Zigarre ansteckte, das Zündholz ausblies und in den Dreifuß fallen ließ, kam er ihr wie ein ganz anderer Mensch vor, wie ein Mann, der weit von ihr gerückt war und hoch über ihr stand. Wenn er früher eine Zigarre ansteckte, ging das immer hopphopp. Und wie er rauchte! wie ein alter Geheimrat, und alt war er geworden; es war nicht das graue Haar über den Ohren, es waren nicht die scharfen Falten hinter dem Munde, und es war auch nicht ein Altern, sondern eine Ausgereiftheit. Niemals mehr würde er poltern, das sah sie, nie wieder grob werden, aber sich auch niemals wieder wie ein Kind an sie schmiegen.

Die Angst drückte ihr die eiskalte Hand auf die Stirne. Sie stand auf, legte ihrem Manne die Arme um den Hals und flüsterte: »Helmold, fahre du hin!« Er machte eine abwehrende Bewegung. »Höre zu!« fuhr sie fort, »während du in Stillenliebe warest, habe ich über die ganze Sache sehr viel nachgedacht. Du hast ganz recht gehabt; erst habe ich dich zu Swaantje hingestoßen, und dann riß ich dich zurück. Das war schlecht von mir, und dumm. Aber du verstehst?« sie lehnte sich an ihn, »ich hatte solche Angst, daß sie dir mehr würde als ich, und wenn ich dich ihr auch sonst gern gegönnt hätte, und sie dir, Zweitfrau wollte ich doch nicht sein. Aber jetzt,« sie stockte und sprach heiser weiter, ohne ihn anzusehen, »jetzt weiß ich, daß du mir doch ganz und immer gehörst, auch wenn, wenn,« sie atmete erleichtert auf und hob ihr Gesicht zu ihm empor, und ihre Augen waren mit Tränen gefüllt, »wenn sie ganz dein geworden ist. Und deshalb, liebster Mann, fahre hin und denke, daß ich nicht deine Frau, deine Liebste bin, sondern dein bester Freund, der dir alles gerne gönnt, was dein Herz fröhlich macht. Denn ich habe dich lieb. Und Swaantje auch.«

Helmold fühlte, daß ihm die Augen feucht wurden, aber er jagte die Tränen dahin, wo sie hingehörten. Er küßte seine Frau auf die Stirne, nahm sie um den Leib und zog sie, sich in den Sessel gleiten lassend, auf seinen Schoß. »Sieh mal, Grete,« begann er mit etwas rauher Stimme, »hättest du eher so gesprochen, so hättest du mir viele bittere Wochen erspart, und dir auch. Aber alles auf der Welt hat seine Zeit. Zudem war ich damals so krank, daß du gar nicht wissen konntest, ob das, was ich wollte, einem zwingenden Grunde oder einer Einbildung entsprang. Wir wollen von dieser Sache nie wieder sprechen, denn ich glaube, ich bin darüber hinaus. Jedenfalls bin ich dir herzlich dankbar für deine gütigen Worte, und rechne dir die Selbstüberwindung, die sie dich auf jeden Fall kosteten, sehr hoch an. Was nun die praktische Seite deines Vorschlages anbetrifft, so kommt hier lediglich Swaantje in Frage, und Swaantje braucht, so scheint es mir, jetzt mehr eine Schwester, denn einen Bruder. Grüße sie herzlich von mir, und sage ihr, sie solle sich zusammenreißen und sich mit Italien und Spanien im voraus trösten, und schustere Tante Gesina einmal gehörig zurecht, das heißt, in Güte, denn Grobheiten habe ich ihr damals so viele gesagt, daß ihr Bedarf vorläufig gedeckt sein wird.«

Sie sah ihn ungläubig an. »Übrigens,« fuhr er fort, »mache nicht solch ein Passionsgesicht! So schlimm wird es mit ihr nicht stehen; Neuralgiker sind zähe, das sieht man an Bismarck. Der Tausend, du siehst ja wie Buttermilch aus! Lege dich einen Augenblick hin!« Er führte sie nach dem Ruhebette, deckte sie zu und streichelte ihr so lange die Stirne, bis sie einzuschlafen schien.

Aber sie schlief nicht, sie dämmerte nur. Gespenstige Vorstellungen wisperten ihr seltsame Worte zu. »Wenn er sie nicht mehr liebt, liebt er dich auch nicht mehr,« flüsterten sie; »du bist rot und warm, sie ist grün und kühl; ihr seid ihm Komplemente, bildet eine Einheit in seinen Augen. Fühlst du nicht, daß er nur noch mit den Lippen küßt und nicht mehr mit der Seele? Daß bloß seine Hände dich streicheln, aber daß seine Gedanken nicht auf deiner Stirn sind? Daß nur seine Sinne noch leben, sein Herz aber das ist tot?«

Sie fuhr in die Höhe, seufzte gequält und sah verängstet um sich. Ihr Mann streichelte ihr die Backen; sie blickte ihn verzweifelt an: »Helmold,« schluchzte sie, »ich habe so schrecklich geträumt! Ich möchte am liebsten nicht fahren. Ich habe solche Angst, ich glaube du, daß du, du liebst Swaantje nicht mehr und mich auch nicht mehr. Wir haben dir das Herz zertreten. Du bist so ganz anders geworden, du bist mir so fremd, daß ich dich nicht ansehen kann, wie man seinen Mann ansehen soll. Du kommst mir so vor, wie damals, als du auf einmal ohne Bart nach Hause kamest. Helmold,« stöhnte sie und faßte seinen Kopf mit beiden Händen, »ist das wahr? Ich habe jetzt immer so viel Angst. Fühle, wie mein Herz klopft. Komm mit, du und ich und Swaantje, wir drei wollen uns so lieb haben, wie noch niemals Menschen sich lieb hatten.« Sie schluchzte fassungslos in das Kissen hinein.

»Gretechien, mein dummes Gretechien,« scherzte er und liebkoste sie; »du siehst Gespensterchen! oder willst du dich rächen? denn genau solchen Unsinn habe ich damals auch von dir gedacht. Glaubst du, solche rosenroten Stunden, wie wir sie erlebten, könnten verblassen und verwelken? Waren diese Wochen nicht ganz so, wie vor acht Jahren, als wir Tag für Tag zu Frigge beteten und sie lobten, wie sie gelobt werden will? Gewiß bin ich anders geworden, aber auch ohne das, was sich die letzte Zeit begab, wäre ich mehr Mann geworden, denn allzulange bin ich Junge gewesen. Und bist du nicht auch in den beiden letzten Wochen eine andere geworden? Glaubst du, daß du noch einmal wieder zu mir so ein hartes Gesicht machen kannst, wenn ich ein bißchen ungezogen bin?« Sie lächelte unter Tränen und schüttelte den Kopf und zog ihn fest an ihre Brust, hungrig seine Lippen suchend.

Am Nachmittage brachte Helmold sie, Swaan und Sweenechien samt der Kindermagd zur Bahn, denn er hatte bestimmt, daß die Kinder mitfahren sollten. »Sie haben Ferien, und Swaanhof ist für sie das, was für uns die Riviera. Und sonst bangst du dich nach ihnen. Außerdem hat Muhme Gese dann etwas mehr zu tun und läßt Swaantje in Ruhe. Und bleibe, solange es dir da gefällt. Sage aber nichts von dem Bilde; das soll sie als Julklapp haben.«

Als er nach Hause ging, mußte er immer noch an das reizende Bild in dem Fenster des Eisenbahnwagens denken: seine schöne Frau zwischen den beiden Blondköpfen und dahinter das niedliche Mädchen, glühend vor Reisefieber. Und welche glücklichen Augen Grete gehabt hatte und welchen weichen bräutlichen Mund!

Stolz leuchteten seine Augen, als er die Straße entlang ging, und alle Frauen und Mädchen, die ihm begegneten, sahen ihn an, als wollten sie sagen: »Muß der aber küssen können!« Er nahm alle diese Blicke dankbar hin, nutzte sie aber nicht aus, trotz des überlegenen Paschagefühles, das ihm die Muskeln schwellte.

Er dachte an den neuen großen Auftrag, den er bekommen hatte. Anfangs hatte er sich darüber geärgert, denn es handelte sich um eine naturgetreue Wiedergabe von drei Landschaftsbildern für den Speisesaal auf Rottenwiede, dem Stammschlosse des Freiherrn von der Rotten. Er hatte angenommen, weil er den Preis bestimmen durfte, und er hatte sehr viel gefordert. Jetzt freute er sich über den Auftrag; »denn die enge stoffliche Begrenzung«, dachte er, »schließlich ist sie doch keine größere Einengung als die, die bei jedem Bildnisse Voraussetzung ist.« Und er wollte einmal den Nurlandschaftern zeigen, was es heißt, eine Landschaft wörtlich abzuschreiben und doch einen echten Hagenrieder aus ihr zu machen. Ein Wort Oskar Wildes über den Wert des Reimes fiel ihm ein, über den wohltätigen Zwang, den er auf das Gemüt des Dichters ausübt, und er sagte sich: »Künstler ist nur der, der vor keinem Auftrage zittert.« Er ging schneller, denn die Hand juckte ihn nach der Arbeit.

Als er am anderen Morgen mitten im Schaffen war, fröhlich vor sich hinsummend, sah er, daß die Großmagd sich im Garten zu schaffen machte. Er hatte es immer mit Freude angesehen, das große, schlanke, herrlich gewachsene Mädchen. »Sonnenschein über Apfelblüten,« dachte er, als er ihr goldenes Haar und ihr rosiges Gesicht ab und zu über den Büschen auftauchen sah. Er freute sich über das prächtig entwickelte Muskelwerk ihrer Unterarme und den guten Sitz ihres frischen Waschkleides, und er dachte, indem er dem Spiele der Schulterblätter und der Lenden unter dem rosenrot und weiß gestreiften Rocke zusah: »Muß die einen köstlichen, unverbildeten Akt haben!«

Plötzlich fand er, daß das Mittelbild sehr gewinnen würde, wenn im Vordergrunde rechts Figuren wären, und er sah Luise da stehen und, ein Kind an der Hand, über die Haide nach dem Dorfe hinsehen. Er trat aus der Tür und rief das Mädchen in die Werkstatt. »Hören Sie mal, Luise,« begann er, sie mit Wohlgefallen ansehend. Sie wurde über und über rot und konnte ihn nicht anblicken. »Ich brauche hier für das Bild eine schlanke Figur, und Sie würden großartig dazu passen. Würden Sie so gut sein und mir dazu stehen?« Das Gesicht des Mädchens färbte sich noch roter: »Ich will alles tun, was Sie wünschen, Herr Hagenrieder,« antwortete sie leise, und ihre Stimme zitterte. »Aber in dem Kleide geht es nicht,« meinte er, und da er grade das Bild betrachtete und dann in das Nebengemach ging, um sich Farbe und Pinsel herauszusuchen, so sah er nicht, was hinter ihm vorging. Als er nun aus dem Vorratsraume zurückkehrte, stutzte er und stand mit heißem Gesichte vor dem Mädchen, das grade dabei war, das letzte Kleidungsstück, das ihren Leib verhüllte, abzulegen.

»Halt!« rief er und hob die Hand; »so habe ich das nicht gemeint, Luise. Ich wollte, Sie sollten sich ihr Dorfkleid anziehen; denn so brauche ich Sie hier und nicht in Ihrem städtischen Zeug.« Das Mädchen, dessen Gesicht aufgeflammt war, als er ihm gegenüberstand, wurde kreidebleich. Schlaff ließ es die Arme an den Hüften herabhängen, hielt den Kopf lief gesenkt und stotterte: »Ich, ich dachte, Sie meinten das so, weil doch die Modellmädchen und deshalb.« Ihr Herz suchte nach Luft. Das Blut kribbelte ihm unter den Haaren, der Atem wollte ihm nicht über die Lippen, und seine Augen klammerten sich an den Fußboden. »Luise,« sagte er, und heiser klang seine Stimme, »es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie mir einmal Akt stehen wollten, denn solche Figur, wie Ihre, die finde ich wohl nie wieder. Aber was wird Ihr Bräutigam sagen?« Das Mädchen nahm den Kopf in die Höhe und sah ihn an, und ihre Augen schienen ihm zu leuchten, als sie erwiderte: »Das ist aus.« Erstaunt fragte er: »Aus? Warum denn? Es war doch eine gute Partie für Sie?« Kühl antwortete sie: »Ja, er war einmal eklig gegen seine Mutter, und er schämte sich, weil sie eine Waschfrau ist.« Ohne daran zu denken, daß das Mädchen nur noch das Hemd anhatte, trat er auf sie zu und faßte ihre Hand, denn er wollte sie trösten, und da kam in ihre Augen ein Glanz, daß ihm auf einmal einfiel, daß sie vorhin gesagt hatte: »Ich will alles tun, was Sie wünschen.« Dann war alles rosenrot um ihn, und im selben Augenblicke hing das Mädchen an seiner Brust, willenlos und willfährig. Ohne zu wissen, was er tat, nahm er hin, was sie ihm gerne gab. Freude war in ihm, als sie ihn verlassen hatte. »Du liebst sie,« dachte er; »und wer liebt, ist noch jung.«

Die Blutsbrüderschaft der Stedinger, ein loser Freundschaftsverein, aus einer Mitschülervereinigung entstanden, hatte einen klobigen Häuptlingsstuhl, auf dessen riesiger mennigroter Lehne in knallweißer Pfefferkuchenschrift zu lesen war: »Der moralisch bessere Teil der deutschen Studentenschaft ist ein ganz rauhbeiniges und freches Gesindel, und dazu gehören wir!« An diesen protzigen Leitspruch mußte Helmold denken, und er lächelte dabei vor sich hin. »Ja, ich bin ein ganz unmoralischer Mensch,« dachte er, »und das bekömmt mich denn so schön!« Er besah sich ganz genau und lächelte wieder, denn ein Ausspruch von Hans von Bülow, den er sehr liebte, fiel ihm ein: »Die Kunst steht über der Moral,« hatte der irgendwo geschrieben: »Der Künstler, der würdige Priester seiner Kunst, hat, sei er im übrigen auch, wie er wolle, gerechten Anspruch auf höhere persönliche Geltung, als der einfache gute Mensch und Bürger.«

Er belehrte sich daraus also: »Ich bin äußerst schöpferisch als Künstler, also auch als Mensch. Ich habe eine Welt in mir, die ich nicht nur in Kunstwerken wiedergeben kann, sondern die ich auch durch mein Leben verkörpern muß. Ich liebe alles, was sehr schön und sehr gut ist, und eine große Zärtlichkeit drängt mich, es zu umfassen. Aus Weibes Schoße bin ich geboren und fühle mich in Dankbarkeit wieder dorthin gezwungen. Ein einziges Weib kann, ohne in Flammen aufzugehen, alle die Liebe nicht ertragen, die ich dem Weibe als solchem abzustatten mich für verpflichtet fühle, und verglimmen und verkohlen würde ich, dürfte ich meine Liebe nicht hellauf lodern und weithin leuchten lassen. Von jeher war, wo gesunde, einfache Sitten herrschten, die Magd die Zweitfrau des Hausherrn. Sie sorgte für ihn, sie schaffte für ihn, sie kannte alle seine Geheimnisse oft besser als seine Ehefrau, denn sie machte sein Bett und sah, ob er gut geschlafen hatte oder nicht. Er muß ihr dankbar sein, und wie kann ein Mann einem Weibe besser Dank abstatten als durch Kuß und Umarmung?«

Er dachte an die reizende Magd, die ihm und seiner Frau in schweren Jahren das Leben verschönt hatte durch ihr sonnenhelles Wesen, und er sandte einen Seufzer der Reue dem Kusse nach, den er sich von ihr nicht hatte nehmen mögen, weil ihr Herz für einen andern Mann schlug.

Alles das dachte er, wenn er frisch und fröhlich an den drei gewaltigen Bildern malte. Er fühlte sich durchaus nicht minderwertig, weil seine Magd seine Geliebte war; im Gegenteil, sein Gesicht blühte von Tag zu Tag mehr auf, immer federnder wurde sein Schritt, und er schaffte wieder, wie vor der Zeit, da Märzenschnee die Jungsaat seiner Seele versengt hatte. Nie hatte er vor dem Jenseits gebangt, nie ein Dankgefühl einem höheren Wesen gegenüber empfunden, aber jetzt hatte er es in sich. »Gott,« dachte er, »wenn du bist, so bist, wie das Volk ihn sich denkt, gütig und voller Verständnis für alles, was deine Kinder tun, daß du mir, dem Manne, der die Höhe seiner Tage überschritten hat, so viel blühende Jugend an das Herz legtest, damit er sich daran erquicke, ich danke dir und will dafür zu dir beten, vorausgesetzt, daß dir daran etwas gelegen ist; denn ich glaube, dir genügt es, deine Geschöpfe glücklich zu wissen.«

Er verhehlte sich gar nicht, daß sein Verhältnis zu Luise eine Gefahr für ihn wie für sie war. Sie entstammte einer hochachtbaren Arbeiterfamilie und war streng kirchlich; zudem war sie seiner Frau von Herzen zugetan. Doch sie war ebenso ganz und gar und nichts als nur Weib, daß der Gedanke, eine Sünde zu begehen, ihr die Küsse, die sie geschenkt bekam, auch nur ein ganz wenig vergällen konnten; denn sonst wäre sie nicht in den beiden Wochen des Alleinseins mit ihrem Herrn nur noch ansehnlicher geworden. Nie aber vergaß sie ihre Stellung, niemals war sie, außer, wenn sein Arm sie umschlungen hielt, etwas anderes als die Magd, die ihre Arbeit tat und dafür ihren Lohn erhielt. Als seine Frau wiederkam und das Mädchen es mehr als einmal ansehen mußte, wie die Ehegatten zärtlich zueinander waren, blieb ihr Benehmen sich gleich, nur daß es Helmold schien, als ob sie der Frau gegenüber noch mehr Willfährigkeit und Aufmerksamkeit darlegte, so daß diese sagte: »Das Mädchen wird mir von Tag zu Tag lieber; sie tut, was sie mir an den Augen absehen kann, und ich glaube, sie ist in dich gehörig verschossen.«

Er mußte lächeln, als sie so redete; sie blieb trotz der einen schlimmen Erfahrung immer noch das harmlose Gretechien ohne Arg und Sorge und dachte sich nichts bei dem, was sie in ihrer frohen Art dahinplauderte. So hatte sie auch, als sie von Swaanhof zurückkam, in aller Unschuld von Swaantje ein so rührendes Bild gemalt, daß Helmold schnell von etwas anderem sprach, denn er fühlte, daß die Sehnsucht sich wieder vor ihn stellte und ihn bittend ansah, und so sagte er denn: »Ich will ihr einen hübschen Brief schreiben, wenn ich ihr ihr Bildnis schicke, und ein paar Bücher beilegen, die ihr Freude machen werden und sie zerstreuen, bis sie nach Italien fährt.«

So kaufte er einige gute Werke, die ihr die Augen für alles das öffnen sollten, was sie in der Fremde sehen würde, wählte auch einige Bücher heiteren Inhalts, damit sie sich durch sie nötigenfalls über ihre Schmerzen hinweglesen sollte, die, wie Grete ihm erzählte, oft noch sehr arg waren, und an die er mit Bedauern dachte, doch ohne den Wunsch, sie mit leise streichelnden Händen von ihrer Schläfe zu entfernen. Dann und wann erhob sich zwar in seiner Seele das geheime Wünschen und flüsterte begehrliche Worte, aber da ihn sein Weib mit herzlicher Liebe erquickte und die Magd ihn mit untertäniger Hingebung erfrischte, so glaubte er herauszufinden, daß er in Swaantje weiter nichts gesehen habe als ein Sinnbild für seine starke Hinneigung zu dem Weibe an sich, dem er durch die Eingehung der Ehe hatte entsagen müssen.

Das Gefühl von Gereiztheit seiner Frau gegenüber, unter dem er selber am meisten gelitten hatte, war völlig verschwunden, seitdem er vor ihr diese Heimlichkeit hatte. Er hatte vor ihr eine Schuld, aber eine Schuld, die ihn nicht drückte, die ihn nur dazu antrieb, doppelt so gut zu ihr zu sein, und mehr als je zuvor regelte er sein Benehmen ihr gegenüber, wurde zärtlich wie ein Bräutigam und aufmerksam wie ein Hausfreund.

Vor allem hütete er sich, sie mit seinen eigenen Angelegenheiten zu behelligen, sobald diese unerquicklicher Art waren, und daran fehlte es ihm nicht. Der Oberbürgermeister hatte es ihm nicht vergessen, daß er ihn seinerzeit gezwungen hatte, ihn zuerst zu grüßen; er versuchte es ihm heimzuzahlen, indem er die Ausschreibung eines Wettbewerbes für die Ausschmückung des neuen Rathauses hintertrieb und es durchsetzte, daß die Aufträge unter der Hand vergeben werden sollten. So lag die Gefahr vor, daß die Hauptarbeiten recht mäßigen Malern zufielen, die es keine Überwindung kostete, den Rücken zu beugen und Vorzimmerlungerei zu treiben, worauf Helmold sich nicht einließ. Er tat überhaupt keine Schritte, einen Auftrag zu bekommen, und bat Hennecke sogar, in der Presse nicht für ihn einzutreten, zumal es ihm an Aufträgen nicht fehlte.

Als er darum mit dem Oberbürgermeister bei dem Oberpräsidenten zum Abendessen geladen war, und der Oberpräsident sagte: »Wir freuen uns sehr auf das, was Sie im Rathause schaffen werden, lieber Herr Hagenrieder, denn die Hauptgemälde werden Sie doch wohl bekommen,« lächelte er verbindlich und sagte: »Sehr schmeichelhaft, Exzellenz, aber in Hinsicht auf die vielen Aufträge, die ich anderweitig habe, war die Stadt so rücksichtsvoll, mich nicht aufzufordern.« Die Hausfrau lächelte, der Oberbürgermeister verschluckte sich und spielte während des ganzen Abends das Mauerblümchen, während Hagenrieder, den die Gastgeber sehr herangezogen, seinen Geist schillern ließ, so daß die Oberpräsidentin ganz entzückt von ihm war und ihn bat, ein für allemal sich als Gast an ihren offenen Tagen zu betrachten, eine Ehre, mit der sie recht sparsam umging.

Drei Tage darauf schrieb das Stadtoberhaupt an ihn und fragte, ob er die Wandgemälde für Rottenwiede sehen könne. Er kam, lobte mit einem gewaltigen Aufwande von hohlen Redensarten das Werk, und als er ging, hatte Hagenrieder die vier Wände des Sitzungssaales in dem neuen Rathause und die Glasfenster im Treppenhause in der Tasche. Einige Monate später ernannten ihn die städtischen Körperschaften zum Beirat in Kunstfragen, nachdem ihm kurz vorher der Herzog den Professortitel verliehen hatte. »So,« sagte er zu seiner Frau, »jetzt gelte ich sogar bei den Stadtverordneten etwas, und das will etwas heißen, denn das mehrste sind Heuochsen mit Eichenlaub und Schwertlilien.«

In voller Absicht stellte er sich jetzt in den Vordergrund der Gesellschaft, soweit es seine Zeit erlaubte. Während er früher am liebsten in Loden ging und sich halb bäuerlich trug, kleidete er sich nun derartig modisch, ohne die Albernheiten der Mode mitzumachen, daß er als einer der bestangezogenen Männer der Stadt galt und von allen Gecken studiert wurde, denn nie war ein Stilfehler in seiner Kleidung, obgleich, oder vielmehr, grade weil er seine Kleidung ganz nach eigenem Ermessen zusammenstellte.

»Der amüsanteste Mann, den wir haben,« sagte die Oberpräsidentin; »schon als Erscheinung ein Genuß.« Er war zu einer ihrer Gesellschaften in hochgeschlossener Weste gekommen, wie sie die Bauern trugen. »Wo haben Sie denn den famosen Westenschnitt her, Herr Hagenrieder?« fragte die Gräfin Tschelinski etwas spöttisch. »Von den Bauern, meine Gnädigste, den einzigen Leuten, die heutzutage noch Kultur haben,« versetzte er. Sie warf den Kopf zurück: »Und wir, Herr Professor?« Er lächelte: »Sind nur zivilisiert!« Der Bildhauer Professor Brambach, ein würdevoller Figurenfabrikant, versuchte ihn lächerlich zu machen, indem er sagte: »Sehr praktische Tracht!« »Jawohl,« antwortete er ihm, »man braucht nicht alle acht Tage ein reines Hemd anzuziehen.« Die Gräfin schrie vor Vergnügen, und es gab eine gepfefferte Toilettendebatte.

»Sehen Sie, meine Herrschaften,« lehrte der Maler, »für den Pöbel ist es ja erziehlich, zwingt die Mode ihn, ein Teil seiner Leibwäsche zu zeigen; sonst läuft er am Ende vier Wochen in derselben Linnenhülle herum. Wir aber brauchen den Beweis, daß wir uns reinlich halten, nicht erst anzutreten; denn sonst müßten wir die umliegende Menschheit durch einen mit dem Westenausschnitt übereinstimmenden Ausschnitt in unseren unaussprechlichen Hosen davon überzeugen, daß die noch unaussprechlicheren Unterbeinkleider ebenfalls durch Tadellosigkeit glänzen.« Professor Brambach war entrüstet, die anderen quiekten vor Vergnügen.

Dann kam die Damenkleidung an die Reihe. Hagenrieder erklärte: »Nur im Reformkleid ist eine Frau angezogen; im Zweistöckigen ist sie kuvertiert.« Scharf wurde widersprochen. »Beweis?« hieß es. Mit todernstem Gesicht dozierte er: »Sie selber, meine Damen, denn Sie tragen alle Reform.« Sie lärmten, denn nur die Gräfin trug sich so. In lehrhaftem Tone fuhr er fort: »Dasjenige Kleidungsstück, das Ihnen am teuersten ist, weil es Ihrem Herzen am nächsten steht, ist, soweit ich in den Auslagen der Wäschemagazine darüber Studien machen konnte, nicht zweistöckig, sondern besteht aus einem Stücke.« Die Gräfin schloß die Augen bis auf einen kleinen Spalt, sah ihn von oben bis unten an, und ihre Zungenspitze ging über ihre Lippen.

Als er nachher im Wintergarten mit ihr allein war, fragte sie mit gemachter Harmlosigkeit: »Sie sagten vorhin, Herr Professor, schön sei der Mensch nur im Arbeitskleide.« Er nickte ernsthaft, »Ja, aber,« meinte sie, »eine Frau wie ich, in welchem Kostüm finden Sie denn die am schönsten?« Er machte sein treuherzigstes Gesicht, als er antwortete: »Auch im Arbeitskleide.« Sie fragte neugierig: »Und das ist?« Mit kindlich naiven Augen sah er sie an, als er versetzte: »Das Nachtkleid.« Sie machte ein halb entrüstetes, halb belustigtes Gesicht, als sie ihm mit ihrem Fächer einen Schlag auf die Schulter gab und zischte: »Unverschämter Mensch!« Aber als er sich glücklich lächelnd verneigte und fragte: »Ich danke gehorsamst, gnädigste Gräfin; ich darf diese Bemerkung doch wohl im Gewinnkonto eintragen?«, da lächelte sie, und ihre Augen sagten: »Ich will alles tun, was Sie wünschen, Herr Hagenrieder.«

Dann meinte sie leichthin: »Ich habe zu Hause allerlei Ahnen hängen, die ein bißchen gichtbrüchig sind, und möchte von Ihnen wissen, ob das zu heilen ist. Vielleicht sehen Sie sich die Bilder einmal an und empfehlen mir einen Restaurator, wenn es sich noch lohnt.« Er sah ihr mit heißen Blicken in die Augen: »Muß das gleich sein?« fragte er und hielt ihr den gebogenen Arm hin. Sie drohte ihm mit dem Fächer, lachte und sagte über die Schulter: »O nein. Aber wenn Sie morgen nachmittag Zeit haben?« und ging dann zu den anderen Gästen. Als er am anderen Tage zu ihr kam, empfing sie ihn in einem weichen losen Kleide von weißer Wolle. Er erhob die Hände bis zu den Schultern: »Wie wundervoll Sie aussehen, Gräfin; der Künstler dankt Ihnen.« Als er ihre Handgelenke küßte, flüsterte es über seinem Kopfe: »Nur der Künstler?« Er nahm sie in den Arm, raunte ihr in das Ohr: »O nein; der Mann dankt noch viel mehr,« und dabei küßte er sie.

Die Gräfin blieb nicht die einzige Frau aus der Gesellschaft, die sein wurde. Wenn er gewollt hätte, konnte er jeden Tag im Monat einen anderen Mund küssen. Doch er ging auf Eroberungen nicht aus; wenn aber ein Weib ihm ihre Neigung mit lächelnden Augen kredenzte, und sie erregte sein Wohlgefallen, so nahm er dankbar die Labe hin. Mit jeder Frauenseele, die sich ihm erschloß, glaubte er ein Stück Jenseitsdasein mehr zu erwerben, wähnte er sein persönliches Leben zu verlängern. Wenn er malte, sah er sich oft dastehen, umdrängt von vielen schönen Frauen und Mädchen aus allen Kreisen, die ihre Herzen in den Händen hielten, Herzen, ans denen frohlockende Flammen schlugen, die einen Duft von Weihrauch verbreiteten.

Nur eine Lücke war in der Reihe der weißen Leiber, nur ein Gesicht fehlte, nur ein Herz flammte und duftete nicht zwischen den anderen. Denn je mehr rote Rosen er in seiner Erinnerung fand, um so stärker trat wieder der Gedanke an die eine weiße Lilienblüte vor ihn. Er wehrte ihn ab, trat ihn von sich, aber immer und immer wieder winselte er vor seiner Seele herum, stahl sich in seine Träume und trabte vor ihm her, wo er ging und stand. Er suchte sich dadurch von ihm zu befreien, daß er nach Stillenliebe fuhr, auf Sauen pürschte und bei Sophien und Annemieken Trost suchte. Er mietete sich in Ohlenwohle ein, angeblich um Studien zu machen, in Wirklichkeit, um sich an Marieens derber Art von der städtischen Überfeinerung zu erholen. Es half ihm wenig; denn überall stand ein blasses, müdes Gesicht neben ihm und zwei dunkelblaue, tiefumhofte Augen sahen ihn bittend an. Er schloß alle Lichtbilder von Swaantje ein und jegliches Stück, das ihn an sie erinnerte; aber dadurch wurde es nur noch ärger.

Er schrieb seinen Zustand auf das Übermaß von Arbeit und Geselligkeit, das er sich aufgeladen hatte, schaffte langsamer, zog sich mehr zurück, doch immer mehr nur quälte ihn Swaantje Swaantenius, und ab und zu waren seine Nächte wieder ohne Schlaf und seine Tage ohne Frische. So setzte er sich denn kurz vor dem Julfeste hin und schrieb ihr einen langen Brief, einen Brief, in dem er nur heiter von seinem äußeren Leben plauderte, doch ihm war, als flüsterte jede Seite Worte der Liebe, und als wäre jeder Buchstabe ein verstohlener Seufzer. Mit eigenen Händen packte er Swaantjes Bild und einige Bücher ein, legte den Brief dazu und sandte die Kiste nach Swaanhof.

Ihm war sofort leichter zumute; es schien ihm, als hielte er Swaantje bei der Hand und plauderte mit ihr, und fröhlich wartete er auf eine Antwort. Er hoffte auf weiter nichts, als auf einen im kameradschaftlichen Tone gehaltenen Brief, hinter dessen Gitterwerk von schwarzen Buchstaben vielleicht ein ganz klein wenig blumiges Hoffnungsgrün für ihn sichtbar wurde. Aber erst einige Tage nach dem Feste kam eine Sendung aus Swaanhof an ihn; sie enthielt eine lederne Zigarettentasche, verziert mit der Sonnenrune, und eine Karte, auf der die Worte standen: »Lieber Vetter, über die Bücher, das Bild und deinen lieben Brief ganz besonders habe ich mich sehr gefreut. Wie schön, daß es dir wieder gut geht! Hab tausend Dank. Dir und Grete herzlichen Gruß. Deine Swaantje.«

Ganz fassungslos starrte er auf die Zeilen. Eine Absage für immer in aller Form. »Laß mich in Ruhe!« hieß das. Er sah auf den Sessel, in dem Swaantje gesessen hatte, als er sie um einen Kuß anbettelte, und nickte mit dem Kopfe. Er holte sich alle Bilder des Mädchens aus Gretes Truhe, sah eines nach dem anderen genau an und schüttelte den Kopf. Er nahm wieder alles das durch, was er von Swaantje und sich gedacht hatte, und sagte sich: »Es hilft alles nichts; sie wird mein Tod sein, mein Vampir. Ich werde im Grabe keine Ruhe finden, wird sie nicht mein, und bleibt sie nicht die Meine.«

Als Luise ihn zum Essen rief, sah sie ihn ganz erschrocken an, und seine Frau fragte ihn: »Was ist dir, Liebster? du siehst so krank aus.« Er lächelte ihr die Sorge fort: »Ich habe mich wohl erkältet, das Feuer wollte nicht brennen.« Er legte sich nach dem Essen zu Bett und stand erst am anderen Morgen wieder auf. Alle Arbeitslust war ihm vergangen, und eine beschämende Schlaffheit beugte ihn nieder. »Geh nach Stillenliebe!« riet ihm Grete. Er nickte. »Ja, Kind, ich muß hinaus; es war ein bißchen viel Anspannung in der letzten Zeit. Ich will mir die Knochen wieder munter pürschen.«

Als er den Koffer packte, zitterten ihm die Hände, so setzte ihm das Fieber zu, und in der Eisenbahn lähmte ihn eine so ermattende Schüchternheit, daß er es sich nicht verbat, als zwei dicke Viehhändler, die einen frechen Schnapsgeruch verbreiteten, die Fenster auf beiden Seiten aufrissen. Völlig durchgefroren und ganz blaß kam er an, holte sich aus dem Grogglase wieder warmes Blut und setzte sich auf Sauen an. Gleich am ersten Abend erlegte er eine angehende Sau, und als er zurückkam, fühlte er sich wohl und munter. Aber wohl zehn Male wachte er in der Nacht vor Durst auf, und jedesmal, bevor er einschlief, sah er in seinem fieberhaften Zustande Swaantjes Gesicht auf sich zuschwimmen, weiß, kalt, ohne Haare und Augenbrauen, mit blicklosen Augen und einem Mund, dessen Lippen sich versteckten. Sehnsüchtig nannte er es bei Namen und versuchte es zu streicheln, aber sofort zerfloß es zu nichts.

Müde und unfrisch wachte er um elf Uhr auf, und die Wirtin sagte bedauernd: »Sie gefallen mir gar nicht mehr; ich glaube, nach dem Essen bringe ich Sie gleich wieder zu Bette, mache Ihnen einen Tee und decke Sie bis zum Hals zu.« Er ließ sich ihre Fürsorge gefallen und fühlte sich dadurch erwärmt; doch bald darauf war ihm noch eisiger und unglücklicher zumute, und heftige Fieberschauer stießen ihn aus dem Halbschlafe. Sein Herz klopfte, sein Blut kochte, aus dem Muster der Tapete lösten sich fratzenhafte Gesichter los, jeder Laut von der Straße drang in zehnfacher Stärke zu ihm, und jede Farbe, die er um sich sah, sang ihm ein böses Lied.

So stand er bald auf, zog sich an, ging aber nicht hinaus, sondern spielte mit Klaus Ruler und dem Förster Karten und trank sich das Fieber fort. Am anderen Morgen fühlte er sich besser.

Es regnete nun drei Tage lang, und dann gab es Plattfrost. Eines Abends, als er reichlich müde von dem weiten Wege und durch und durch kalt vom langen Passen bei Annemieken saß und sich die Füße am Torffeuer wärmte, klagte er ihr sein Leid, und als er sie dabei ansah, kam sie ihm ganz anders vor als sonst, und er fand, daß das junge Weib ein neues Gesicht und fremde Bewegungen hatte. Sah sie eben noch wie Sophiee Pohlmann aus, so schien es ihm gleich darauf, daß sie ihn mit den Augen der Gräfin anblickte; dann wieder war sie Grete, gleich darauf Swaantje und hinterher Mariee oder Luise oder eine andere, die er geküßt hatte. Außerdem war die Diele bald hoch und hell, bald niedrig und duster; eben brannte das Feuer blau, gleich darauf grün und dann gar nicht; war die Katze jetzt ganz klein, so fing sie mit einem Male an, unheimlich zu wachsen, und während es vorhin nach Schweinefutter roch, war plötzlich ein strenger Duft von weißen Lilien da. Nun fing auch noch der Kesselhaken an, ihm böse Gesichter zu schneiden, um ihn sofort durch ein freundliches Grinsen zu versöhnen, aber da begann das Zinngeschirr an der Feuerwand, ihn auszulachen, das Spinnrad machte ihm einen albernen Knix, der Tranküsel winkte ihm spöttisch zu, und die Mährenköpfe am Herdrahmen wieherten und schnaubten gewaltig.

Doch alle das ängstigte ihn kein bißchen, sondern machte ihm Vergnügen. Er trank ein Glas Grog nach dem anderen und erzählte seine tollsten Witze, bis ihm einfiel, daß er nun schon drei Tage auf Spurschnee wartete, und lachend befahl er Annemieken, ihm welchen zu besorgen. Das Mädchen, das tüchtig mitgehalten hatte und dessen Augen von dem heißen Grog und den wilden Witzen nur so blitzten, lachte und sagte: »Ich werde es Großmutter sagen, und die soll dir geben, was du haben willst; und dann werde ich dir sagen, was du mir dafür schenken sollst.«

Da ging die Großmutter zu der Herdflamme und sagte ihr den Spruch, den ihre Mutter sie gelehrt hatte, ehe daß sie starb, und die Flamme lachte und nickte und wurde gleich siebenmal so lang und leckte mit sieben Zungen am Kesselhaken entlang. Dann warf die alte Frau die Schuhe hinter sich und winkte nach der Dönze. Da kamen drei Taubenfedern angeflogen und sieben Hühnerfedern und dreizehn Entenfedern und einundzwanzig Gänsefedern und dreiunddreißig Schwanenfedern, alle so weiß wie Schnee. Sie flogen um die rote Flamme, und die spielte Kriegen mit ihnen, bis sie eine nach der anderen fing und dem Rauche gab und ihm sagte: »Zeige ihnen, wo sie hinsollen, und sage ihnen, wie sie es machen müssen, und dann komme wieder und bring mir Bescheid.«

Der Rauch aber machte einen Knix, und dann wurde er wieder ganz lang und immer länger, bis er zum Dachloche hinausfuhr, und die siebenundsiebzig schlohweißen Federn nahm er mit. Nach einer Weile war er wieder da, warf sich vor der Flamme hin und sprach: »Ich habe alles getreulich ausgerichtet.« Und die Flamme erwiderte: »Denn so wollen wir schlafen gehen.« Und da lachte Annemieke und sagte: »Und wir auch!«

In der Nacht hatte Helmold einen blitzblanken Traum. Er sah Frau Holle auf der blauen Sternenwiese stehen und die Betten sonnen, in denen die erdenmüden Seelen ausschlafen. Da kamen drei Federchen angetrippelt, drei schneeweiße Taubenfederchen, stahlen sich durch das Gras und suchten so lange, bis sie an einem Bette eine Naht offen fanden, und dann kicherten sie und krochen hinein. Und es dauerte nicht lange, und sieben weiße Hühnerfedern kamen angelaufen; die machten es ebenso, und nach ihnen die dreizehn Entenfedern und hinterher die einundzwanzig Gänsefedern und die dreiunddreißig Schwanenfedern kamen auch all und krochen in das Bett.

»Was ist denn das?« sagte Frau Holle und stemmte die Hände in die Hüften, daß das weiße Fleisch ihrer Arme so reizende Falten in der Ellenbeuge schlug, daß gleich zwei Schmetterlinge kamen und sich dort niederließen. »Was ist denn das?« sagte Frau Holle, und ihr Kleid hüpfte vor der Brust, daß unten auf der Erde das Meer ganz still wurde, weil es solche Wellen nicht schlagen konnte. »Was ist denn das?« fragte Frau Holle und ihre Brauen wurden ganz schwarz, so sehr zog sie sie zusammen, und die Wetterwolken auf der Erde krochen vor Angst in die tiefsten Wälder. Aber dann lachte die schöne Frau, und der Sturm hörte sofort auf zu schimpfen, und der Donner fluchte nicht mehr hinter den Bergen. »Ahlmanns Mutter, Ahlmanns Mutter!« lachte die Hunderttausendschöne, »was machst du mir für Geschichten!« Und dann nahm sie ihr blitzblankes Messerchen und ritzeratz war die ganze Naht auf und holterdipolter flogen die weißen Federn von der blauen Wiese nach der grauen Erde.

»Hat dich was geträumt über Nacht, lieber Jägersmann?« fragte Annemieken. Sie stand vor dem Spiegel und machte sich ihr Haar. »Und was hat dich geträumt?« fragte sie und lachte Helmold mit ihrem Spiegelbilde an; das hatte dunkle Augen und schwarzes Haar und ein weißes Gesicht, und Helmold wußte es ganz genau, Annemiekens Backen waren rot wie Rosen, ihre Augen blau wie Bachblumen und ihr Haar sah aus, wie Haferstroh in der Sonne. Aber er schlief noch in sich, und da ging sie hinaus, und als sie wieder hineinkam, warf sie ihm eine Grabse voll Schnee auf den Mund, lachte und sagte: »Da hast du, was du haben wolltest. Und nun komm und iß; die Suppe schreit schon nach dem Löffel!«

Als er wegging, nahm sie die Katze auf, daß die ihm nicht über den Weg laufen sollte, und sie spuckte ihm in die Hacken und warf ihm ihren Schuh in den Rücken und wünschte ihm Pech den ganzen Tag und Hals- und Beinbruch, soviel es gibt, und lauter schlechten Anblick, und zwischen jedem, was sie tat und sagte, warf sie dreimal die Türe zu, und schließlich lief sie hinter ihm her, weinte zwei bittere Tränen über ihren süßen Mund und sagte: »Auf Wiedersehn, Nimmerwiedersehn, mein Jägersmann!«

Drei Vögel sah er, als er durch die Feldmark ging. Das erste war ein Stieglitz; sein Scheitel war rot wie Blut, Das zweite war ein Dompfaff; seine Brust war rot wie Blut. Das dritte war ein Kreuzschnabel; der war von oben bis unten so rot wie Blut. Und als er in den Wald hineinkam, sah er im Schnee eine Fährte; in der war rotes Blut. Alle sieben Schritte stand sie wieder im Schnee, rot von Blut. Und er sagte: »Du edeles Wild, adelig Getier, kein anderes Wild, gemeines Tier will ich jagen noch fangen, ehe daß du nicht mein bist.« Da kam der Häher und sagte: »Nein!« Da kam der Bussard und sagte: »Niemals!« Da kam die Krähe und sagte: »Nimmermehr!«

Er wurde traurig und sah, der Schnee war schwarz und die Tannen waren weiß, sein Herz wurde kalt und sein Gesicht wurde heiß, das Blut blieb ihm stehen und der Atem flog vor ihm weg, bis er die Wundfährte wieder fand; da wurden die Tannen schwarz und der Schnee weiß, sein Herz ward warm, und sein Gesicht wurde kalt, sein Blut fing an zu gehen und sein Atem beruhigte sich, und er lachte und sagte: »Du edeles Wild, adelig Getier, mein wirst du sein, ehe daß die Sonne schlafen geht, ehe der Fuchs auf Raub ausgeht und die Eule umfliegt!« »Nein!« sagte der Häher, »niemals!« der Bussard, »nimmermehr!« die Krähe; aber er lachte sie alle drei aus.

Und er ging und ging und ging den ganzen Tag. Er kam an den Teich, in dem die schöne Rosemariee sich ertränkt hatte, und nach dem Stein, wo der Förster erschossen wurde, und zu dem Kreuz, das da steht, wo die Nonne ermordet war, und er ging über die Haide und an dem Moore vorbei und durch den Wald, ließ den Morgen hinter sich liegen und den Mittag und den Abend, und alle seine Fußstapfen waren gefüllt, erst mit grüner Hoffnung, dann mit schwarzer Trauer und zuletzt mit grauer Angst. Seine Füße wollten ausruhen, seine Augen wollten schlafen gehen, sein Herz sprach: »Ich kann nicht mehr!« Er aber hörte nicht auf sie und ging weiter, immer dem roten Blute nach.

»Ich will dir helfen!« sprach der Schnee und machte die Nacht heller, und der Mond kam auch und alle Steine, die es gibt, und sie gingen rechts und links neben ihm, daß er die Fährte finden konnte. Er fiel hin und stand wieder auf, er setzte sich und ging weiter, er bückte sich über die Quelle und richtete sich empor, und blieb immer wieder stehen und redete seinen Füßen zu und seinen Augen und seinem Herzen und sagte: »Nur noch bis zum nächsten Blutsfleck, bitte nur noch dieses einzige Mal; dann sollt ihr auch schlafen, solange ihr wollt.« Aber wenn er da war und stehen blieb und um sich sah und horchte, ob er sein Edelwild nicht sah oder hörte, dann war nur der Wald da und der Himmel und der Mond, und der nickte ihm zu und sagte: »Immer weiter, immer weiter!«

Da kam er in einen dunkelen Wald, und die Finsternis sprach zu ihm: »Siehe!« Da sah er, wie der Wind über den Berg gelaufen kam; in seinen Händen trug er zwölf Glockenschläge. Dann trat die Stille vor ihn hin und sprach: »Horch!« Da hörte er die Nacht über den Wald springen; in ihrem Mantel trug sie ein Weinen, das war ganz fern und doch so nah, war sehr leise und doch so laut, und so bitter war es und so süß. Seine Füße starben vor Angst, sein Herz fiel tot um, und seine Augen brachen. Aber als der Wind den letzten Glockenschlag vor ihn hingelegt hatte, gab ihm der Tod sein Leben wieder in die Hände; die waren so kalt wie Eis. Und kalt wie Eis war er ganz und gar und konnte nicht fühlen und nicht denken und stand da wie ein toter Baum, wie ein lebloser Fels, wie eine abgestorbene Blume.

Doch der Sturm ermunterte ihn wieder; er hielt das Weinen über ihn, und daraus flossen Tränen auf ihn und weckten ihn auf, bis das Eis von seinen Augen schmolz, und seine Füße lebten wieder, und sein Herz stand auf, und da sah er, daß die rote Fährte im Schnee dort zu Ende war, wo er stand, und daß es zwei nackte Fußspuren waren, über und über rot von Blut. Seine Füße zitterten, sein Herz fing an zu bluten, und seine Augen weinten bitterlich, bis daß die beiden Fußspuren weißgewaschen waren. Das Alter lehnte sich gegen seinen Rücken, Falten krochen in sein Angesicht hinein, in sein Haar aber fiel der Schnee.

Das Weinen über seinem Haupte wurde zu einem Lächeln und stellte sich über die weiße Fährte im Schnee und winkte seinen Augen zu. Und als sie ihm folgten, kamen ihnen zwei andere Augen entgegen und gingen wieder zurück und blieben vor ihm stehen, weit genug von seinen Händen. Sie sahen ihn an und weinten Tränen, die fielen als Blut in die Fußspuren und füllten sie wieder bis zum Rande, und das Lächeln schlug die Hände vor das Gesicht und weinte leise, und das Weinen sah ihn mit Augen an, die voller Furcht waren und leer von Hoffnung, aber beladen mit Verzweiflung.

Seine Seele zitterte und schrie: »Was soll ich tun, ihr beiden Augen, beladen mit Angst, gefüllt mit Trauer, beschwert mit Grauen, daß ihr wieder lächeln könnt? Und du Weinen, bitterliches Weinen, sage mir, was beginne ich, daß du nicht mehr im Sturm umherirren mußt und in Frost und Kälte und einsamer Nacht? Und du Lächeln, banges Lächeln, sprich, was muß werden, damit du dich nicht mehr zu bergen brauchst hinter den Dornen und in den Disteln und unter den Nesseln? Und du, nackte Seele, was ist es, das dir wieder Ruhe gibt, auf daß du nicht mehr mit bloßen Füßen wandern mußt über Berg und Tal und Stock und Stein und Feld und Flur, blutend aus sieben Wunden, kalt bis in das Herz und müde bis auf den Tod?«

Da trat die Finsternis hinter ihn, die Einsamkeit winkte der Stille zu und die legte dem Sturme Schweigen auf. Der Mond ging zur Seite und nahm die Sterne alle mit; dunkel wurde es rund umher. Aber die Dunkelheit war klar, so daß er die rote Fährte im Schnee sehen konnte und die beiden Augen über ihr und einen blassen Mund und zwei Hände vor einer bangen Brust; die waren ineinander gefaltet. Eine Stimme, die war nicht hier noch da, nicht von gestern und nicht von heute, nicht leise und nicht laut, kam langsam aus den blassen Lippen zu ihm gegangen, stellte sich vor ihn hin und sprach:

»Du, von dem ich nicht weiß, wer du bist, den ich niemals gesehen habe, und der immer vor meinen Augen steht, vor dem ich vor Angst vergehe und vor Sehnsucht nach ihm sterbe, du, o du und du, was habe ich dir getan, daß du mich jagst barfuß und barhaupt und bloß durch Nacht und Schnee und Frost und durch Dunkelheit und Einsamkeit und diese Totenstille? Siehe, meine Augen bluten, meine Füße sind wund, mein Leib ist vor Kälte erstarrt. Mein Lächeln habe ich im Schnee verloren, meine Ruhe rissen mir die Dornen vom Leibe, der Sturm trägt mein Weinen vor mir her. Ich bitte dich, bitte dich so sehr, bitte dich um alles in der Welt, höre auf, mich mit Furcht zu schlagen, mich mit Angst zu peitschen, mich mit Jammer zu geißeln, da ich dir doch nichts zuleide tat.«

Seine Seele stöhnte auf; sie fiel auf die Knie, streckte die Arme aus, schluchzte auf und schrie: »So sage mir, arme Seele, gehetztes Herz, müder Geist, sprich, was soll ich tun, daß du dein Lächeln wieder findest, die Angst aus deinen Augen verlierst und dem Sturme dein Weinen aus den Händen nimmst? Was ich dir antat, ich weiß es nicht; aber ich will es wieder gut machen; büßen will ich es, wie du es mir sagst, mit Not und Tod oder einem Leben ohne Abend- und Morgenrot. Das schwöre ich dir bei den sieben Sünden, die bei mir stehen, drei zu meiner Rechten, drei zu meiner Linken und der einen, die über mir ist. Ich gelobe es dir bei allen Lüsten, die mich locken, und bei allen Süchten, die mich schrecken. Siebenmal schwöre ich es dir.«

Da sah ihn die Stimme, die nicht von gestern war und nicht von heute, und nicht hier noch da, und weder laut noch leise, freundlich an, und also sprach sie: »Ach halte deine Schwüre in der einen Hand und deine Gelübde in der anderen, und ich sehe, sie sind wahr und ehrlich und treu; so wisse denn: lege deine grünen Hoffnungen alle ab, wirf deine blauen Träume hinter dich und tritt weit fort von deinen roten Wünschen. Das ist das eine; aber das zweite ist dieses: zertritt das bunte Gedenken, reiße ab die lachenden Erinnerungen und rotte gänzlich aus das Wissen von dem, was du nicht wissen durftest. Das ist das andere; aber das letzte ist dieses: laß dein Lachen hier im Walde liegen und dein Weinen, wo deine Füße stehen, und all dein Fühlen mußt du der Einsamkeit geben und der Dunkelheit und der Stille. Ohne Wehr und Waffen gehe von hier, daß ich nicht mehr zittern muß, wenn deine Schritte meine Gedanken kreuzen, wenn deine Augen Schatten auf meinen Weg werfen und deine Sehnsucht über mein Herz hinwegfliegt. Gelobest du mir das?«

Seine Seele neigte ihr Haupt und gelobte es bei allem, was sie fürchtete, und da sprach die Stimme zu ihm, und noch freundlicher sprach sie, daß es wie Maiensonne auf seine Angst fiel, und also sprach sie zu ihm: »Siehe, meine Augen sie bluten nicht mehr so sehr, und meine Lippen röten sich ein wenig, und meine Hände zittern kaum noch, weil die Furcht sie nicht mehr so quält und die Angst und das Entsetzen; und nun höre: du hast gerufen heute: du edeles Wild, adelig Getier, mein sollst du sein, ehe daß die Sonne sinkt. Wenn die Sonne sank für dich wie für mich, keine Blume uns mehr blüht und Schmerz und Lust uns nicht mehr ihre Lieder singen, dann will ich dein sein, ganz und gar dein sein, für immer und ewig dein sein, du lieber, viellieber, geliebter Jägersmann.«

Als er in das Dorf zurückkam, riefen im Kruge die Fiedeln, und die Trompeten schrien, und eine Flöte lachte: »Komm tanzen, junger Jägersmann!« Er ging in den Saal und sah sich um. Annemieken stand da, schön wie immer, aber sie kannte ihn nicht. Sein Freund ging an ihm vorüber, aber er sprach ihn nicht an, und sein Freund warf seine Augen auf ihn, doch ohne Haß.

An der Wand hing ein Spiegel; der rief ihn zu sich hin. Er sah hinein und setzte sich auf die Bank der alten Leute.

 


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