Hermann Löns
Das zweite Gesicht
Hermann Löns

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Der Mohnblumenkranz

Am Abend aber lachte er sie alle miteinander aus, die Geister der sächsischen Männer, denn es waren auf einmal viele Blumen da, und die sahen ihn so herzlich an, daß seine Seele ihren Leib wiederfand und singend aus dem grauen Grabe zum grünen Leben hinaufstieg.

Es waren jedoch keine weißen Blumen, die vor seinem Grabe lagen, rote Mohnblumen waren es, und nicht Swaantje hatte sie dort niedergelegt, sondern Grete, seine kluge, gute und starke Frau hatte sie zum Kranze gewunden und zu Häupten seines Bettes aufgehängt; sie flüsterten ihm mit ihren leichtsinnigen roten Lippen so leise Schlummerlieder zu, daß er die ganze Nacht verschlief und den nächsten Tag, und nachdem er einen Bissen gegessen und einen Schluck getrunken hatte, schlief er abermals ein, denn ein frischer Kranz hing über seinem Bette, und den löste ein dritter ab, und so schlief Helmold Hagenrieder drei Tage und drei Nächte, und dann stand er in der Frühe auf und ging in seine Werkstatt, ging frisch und fröhlich an seine große Arbeit und pfiff ein Lied dabei.

Es hatte eine seltsame, lustige Weise, das neue Lied; leichtsinnig war sie und doch so tief, froh, und doch so schwül, und die roten Mohnblüten hatten es ihn gelehrt. Helmolds Augen strahlten, blickte er seine Frau an; und er küßte sie, wie seit langem nicht, seine liebe, gute Grete, die sich seiner Not erbarmt hatte, als er krank und elend und zerbrochen von Swaanhof kam und ihr sein bitterliches Leid geklagt hatte. Sie hatte ihm das Haar gestreichelt und die Stirne geküßt wie eine Mutter, und ihm zugeflüstert: »Ja, ja, mein armer Junge; sie soll kommen; ich selber will sie rufen.«

Deshalb konnte er mit einem Male wieder lachen und flöten und singen; darum aß er, wie lange nicht, und schlief fest und lange wie ein Kind, und küßte seine Frau, wo er sie zu fassen bekam, und sang ihr jede Nacht das Lied von dem roten Mohn in die Ohren; und wenn dann am anderen Morgen Frau Grete ihre Zöpfe flocht, dann lachte sie ihr Spiegelbild an und dachte: »Wie eine junge Frau seh' ich aus; wie eine ganzganz junge Frau!«

Zum roten Mohn gehören blaue Kornblumen, und da Helmolds und Gretes Backen von Tag zu Tag mehr den roten Blumen ähnlich wurden, so sahen ihre Augen von Nacht zu Nacht blauer aus, denn die volle Sonne lag auf ihnen; rund herum war das Feld so gelb wie Gold und versprach eine Ernte, wie sie lange nicht gewesen war, reif und schwer. Kein Landregen schlug sie zu Boden, kein Sturm zerzauste sie, kein Schloßenfall knickte sie ab; jeden Tag hingen die Ähren tiefer, und wenn der Wind über sie ging, dann rauschten sie leise, rauschten ein heimliches Lied, bis Helmold es vernahm und es erst leise und dann immer lauter pfiff, und was er flötete, das malte er auf einen neuen Karton, erst in leisen Strichen, dann in halblauten Linien, und schließlich in hellklingenden Farben.

Aus warmen Liedern, heißen Küssen und glühenden Farben waren die Entwürfe entstanden, die auf den drei großen Kartons an den Wänden zu sehen waren, und wenn Helmold, seine Frau im Arme, davor stand, dann schüttelte er den Kopf, lachte und sagte: »Jetzt weiß ich erst, daß ich etwas kann. Aber was kriege ich von dir dafür?« Dann nahm sie ihn in die Arme, reckte sich an ihm hinauf, zog seinen Kopf an ihren Mund und flüsterte ihm etwas zu, das kein dritter Mensch hören durfte, und es war doch weiter nichts als das Lied vom roten Mohn. Jeden Tag mußte sie es ihm in das Ohr summen, den einen Tag das eine, den anderen Tag das zweite, den dritten das dritte Stück, und als er in der Eisenbahn saß und dahin fuhr, wo aus den Entwürfen Werke werden sollten, sah er auf den kahlen Feldern lauter rote Mohnblumen vor sich, und als der Abend ihm die Landschaft vor den Augen fortnahm, blühten rote Mohnblüten in den Wolken auf, immer mehr, bis sie den ganzen Himmel erfüllten.

Jedweden Tag bekam Frau Grete eine Karte mit roten Mohnblüten, eine einzelne oder ein ganzes Feld voll darstellend; sie legte sie alle der Reihe nach in einen Kasten aus kornblumenblauem Samt, besah sie jeden Abend, zählte sie immer und immer wieder und sang sich selbst mit dem Liede in den Schlaf. Doch am Tage vor dem Julfeste kam keine Mohnblumenkarte, da kam der, der mohnblumenrote Küsse zu verschenken hatte, und ganze Fäuste voll brachte er davon mit, drei große Sträuße, für jeden Feiertag einen. Und daran sahen sich ihre Augen, die vom vielen Sticken und Nähen und Kochen und Backen ein wenig blaß geworden waren, wieder so blau, wie Kornblumen, und auch die Augen ihres Mannes, die zu viel Farbe hatten hergeben müssen in den letzten Wochen, färbten sich voller.

»Nun noch zwei oder drei Monate, Gretechien,« lachte er, »und dann singe ich wieder in meiner Werkstatt, denn ich habe noch manches Lied in den Augen, das du nicht gesehen hast. Ich bin froh, daß ich alle die drei Bilder auf einmal angelegt habe, und du solltest mich einmal bei der Arbeit sehen; ich sage dir, es ist die reine Kilometerfresserei! ›Sie müßten sich eigentlich Rollschuhe anschnallen,‹ sagte der Herzog neulich. Ich hatte nicht gewußt, daß er kam, und achtete gar nicht darauf, daß mehrere Leute eingetreten waren, denn ich war in voller Arbeitsbrunst. Ich hatte grade am rechten Seitenbilde gemalt, du weißt doch, das Kriegsbild, und da fiel mir etwas am linken Seitenbilde ein, und ich sauste das Hängegerüst entlang und malte an der anderen Seite und flötete dabei, wie ein Scherenschleifer. Wie ich nachher hörte, hat der Adjutant mich darauf aufmerksam machen wollen, daß der hohe Herr da sei, aber der hatte abgewinkt und mir lachend zugesehen, bis ich nach dem Mittelbilde hinlief, denn mir fiel ein, daß noch ein bißchen Schatten mehr das Gesicht der jungen Frau heller machen würde. Na, und da sagte der Herzog denn das.«

Er lachte: »Du, ich glaube, der mag mich. Grade weil ich so demokrätzig-urwüchsig bin; die Pomadenmanieren hat er ja den ganzen Tag um sich. Ich habe Angst, daß ich mir den Professortitel zuziehe, und so was färbt auf das Talent ab. Ein Orden wäre mir lieber, dann würden die Leute doch sehen, daß ich ein ordentlicher Mensch bin.« Er lachte lustig. »Übrigens wird seine Hoheit mir sitzen. Ich hatte, als er das Tryptichon besah, ihn schnell ein paar Mal auf den Hilfskarton skizziert, und das hatte man ihm gesteckt. Wenn ich nur wüßte, welches von seinen zwei Gesichtern ich nehmen soll, das Pflichtgesicht oder das Wunschgesicht, ob ich ihn als Landesvater oder als Heerführer male. Weißt du, der Mann tut mir leid! Bei dem Temperament, bei der Unmasse von Willen immer und ewig den kühlen Herrn von Stande markieren zu müssen, hol's der Kuckuck, da ist es kein Wunder, wenn der Charakter allmählich etwas viereckig wird. Wenn unsereins am falschen Platze ist, na, dann dudelt er sich einmal einen an und schimpft sich die Wut vom Balge; das kann er sich natürlich nicht leisten. Ich habe mich früher manchmal über das Hin und Her bei ihm geärgert, aber als Hennecke mich damals bei der Hofjagd einmogelte und ich den Mann eine Stunde lang auf drei Schritt sah, da wußte ich Bescheid. Natürlich, er ist ein Mensch und hat Fehler; aber er hat Leidenschaft im Leibe und ist imstande, sich zu begeistern, also kein Philister. Philistern verzeihe ich eine Ziellosigkeit nie; Karrengäule müssen ihren Trott gehen; Rennpferde dürfen einmal ausbrechen.«

Er sah seine Frau zärtlich an: »Wenn wir uns nicht gefunden hätten! Ich glaube, ich wäre vor die Hunde gegangen ohne dich. Ja, du hast erst etwas aus mir gemacht; mit einem Ruck kam ich von der Erde aus dem Naturalismus in den Realismus, und nun stehe ich mit beiden Hinterbeinen im Idealismus, komme über mich hinaus. Herrgott, soll das jetzt ein Leben werden! Hätte ich nur erst die Bilder fertig! Denn was ich alles noch im Leibe habe, das ahnst du gar nicht, und reden kann ich darüber auch nicht eher, als bis ich der Sache in das Gesicht sehen kann. Nur das eine will ich Dir verraten: ich male fortan nur Tendenz.« Seine Frau sah erstaunt auf, und er lachte: »Jawohl, Liebste, Tendenz, faustdicke Tendenz, so faustdick, daß sie mir keiner vorwerfen kann! Meine Tendenz ist: meinem Volke den Rücken mit Franzbranntwein einzureiben, es mit Freude und Grimm zu füttern und mit Wonne und Weh zu tränken, damit es so bleibt, wie es ist, sich nicht verplempert in fremder Art und nicht vergißt, daß es zwei Gesichter hat: ein gutmütiges und ein bösartiges; denn wir kriegen allmählich zu viel Gemütsembonpoint, seufzen, wird irgendwo ein Schweinehund geköpft, und stöhnen, wenn wir die Knarre zur Hand nehmen sollen,«

Er ballte die Hände, reckte die Fäuste und dehnte die Brust: »Einen Krieg, den möchte ich noch erleben, aber aktiv!« Seine Frau sah ihn entsetzt an, er aber lachte, drückte sie an sich und flüsterte: »Weißt du das Lied noch, das Lied von dem rotroten Mohn? Wir wollen es nicht vergessen; es ist das schönste Wiegenlied für große Kinder!«

Sie vergaßen es nicht; als Helmold wieder abgereist war, flogen die Mohnblumenkarten jeden Morgen in das Haus. Manchmal war nur eine kleine, schüchterne Blüte in eine Ecke gemalt, während, der übrige Raum voller Schrift war; dann kam eine, über die sich die Blüten von einer Ecke in die andere zogen, oder eine andere, auf der sie einen Rand bildeten oder einen Fries. Wenn aber eine eintraf, auf der ein Kranz von den glühenden Blumen zu sehen war, dann seufzte Frau Grete auf und ging abends nicht so früh schlafen, und wenn sie es tat, dann trat sie vorher in das Schlafzimmer ihres Mannes und streichelte das Kopfkissen.

Aber als die Amsel schon übte und die Finken bereits stümperten, die Schneeglöckchen über den Buchsbaum sahen, und der Haselbusch mit goldenem Staube um sich warf, kamen die Karten immer spärlicher, und fast nie war eine rote Blume darauf zu sehen, und wenn das doch so war, dann war sie mit Rotstift flüchtig hingestrichen, und Frau Grete wurde wieder ganz traurig.

Bis dann der Tag kam, an dem der Frühling sein erstes gelbes Extrablatt in den Garten flattern ließ, an dem der Fink sagte: »Jetzt kann ich es aber!« und die Amsel: »Und ich erst recht!« Da rollte ein Wagen vor das Haus, hielt mit einem Ruck, und Frau Grete stürzte die Treppe hinunter, denn Gift und Galle, die beiden Teckel, stießen den Ruf aus: »Herrchen ist da!« und jaulten und kläfften und winselten und kratzten die Ölfarbe von der Haustüre, und als die Frau die Türe aufriß, stand Helmold vor ihr, küßte sie, drückte sie, daß ihr schwach wurde, und rannte die Treppe hinauf, um Swaan und Sweenechien zu küssen. Dann lief er in die Werkstatt, atmete tief auf, ging in den Garten, liebelte die Hunde ab, sagte allen Blumen guten Tag und den Fischen in den Teichen auch. Dann wurde er allmählich vernünftig und ging in die Veranda, wo nach einiger Zeit seine Frau eintrat. Er drehte sie um und befahl: »So stehen bleiben!« und als sie sich umwenden durfte, sah sie, daß er einen Orden vor der Brust hatte.

»Ja, weißt du, ich hatte die Wahl: Professor oder ordentlicher Mensch! Na, da sagte ich: Exzellenz, so'n Professortitel, wenn man den alle Tage trägt, der sieht dann schließlich so aus, wie ein alter Gehrock; dann bitte ich lieber um etwas, das sich nicht so leicht abträgt, weil man es bloß an hohen Tagen anzieht. Hat der alte Herr gemeckert! wie eine Bekassine! Ja, und nun habe ich nicht nur einen Vogel im Kopf, sondern auch einen vor der Brust, aber einen, der sich sehen lassen kann.« Sweenechien wollte gern den Vogel sehen, den ihr Vater im Kopfe hatte; da sich das nicht gut bewerkstelligen ließ und um sie auf andere Gedanken zu bringen, wurde der Koffer ausgepackt, und nun gab es ein Gequieke und Gejubel in der Veranda, daß der Buchfink beschämt den Schnabel hielt und die Amsel geärgert fortflog. Aber was hatte der Vater nicht auch alles mitgebracht! Das war noch viel schöner, als zum Julfeste, denn da wußte man im voraus, daß man etwas bekam. Swaan wußte nicht, bei welchem Buche er zuerst anfangen sollte zu lesen, Sweenechien sah ratlos von der blonden zu der braunen Puppe, und die Luise und die Minna standen da und machten ganz dumme Gesichter wegen der schönen Sachen, die sie bekommen hatten, und vergaßen beinahe, sich zu bedanken. Als sie im Hausflure waren, fielen sie sich um die Hälse und küßten sich, und vor einer Stunde hatten sie sich noch gefährlich gezankt.

Frau Grete aber bekam ein Kästchen; als sie es aufmachte, jubelte sie hell auf, schlug die Hände zusammen und küßte ihren Mann auf beide Backen, denn in dem Schächtelchen lag ein Schmuck für ihren Hals, wie sie sich ihn in ihren waghalsigsten Träumen nicht gewünscht hatte. Aber als ihr Mann aus der Innentasche der Weste einen grünen Lederumschlag nahm und ihr gab und sie einen Tausendmarkschein nach dem andern hervorholte, wurde sie mit einem Male feuerrot und steckte das, was unter dem letzten Scheine lag, schnell wieder in den Umschlag, denn das war eine roggengrüne Karte, und darauf war ein Kranz aus roten Mohnblumen gemalt.

Helmold Hagenrieder fehlte es jetzt nie an einem Kranze aus Mohnblüten zu Häupten seiner Bettstatt, und so mangelte es ihm auch niemals an kühlendem Schlummer nach heißem Schaffen. Denn heiß waren seine Tage, heiß und lang. Schon in aller Frühe, wenn die Amsel zu singen begann, war er in seiner Werkstätte und malte. Bild um Bild entstand, nun ein lichtes, frohes, reines, ohne eine andere Tendenz, als so wirken zu wollen, wie eine lächelnde Blume oder eine lachende Frucht, und dann andere, die zwei Gesichter hatten und eine doppelte Sprache redeten.

Seine beiden Saharabilder entstanden, die Söldner und die Sieger, die zum Tode ermatteten Fremdenlegionäre, im glühenden Sonnenschein durch den Sand watend, darstellend, und die erschossenen Kabylenhäuptlinge im grellen Mondenlicht. Dann wurde die Hinrichtung der Sachsen an der Halsbeke bei Verden beendet und gleichzeitig Frigges Flammentod, und hinterher kam das bitterböse Bild von Wodes Zorn. Auf einer dunkelgrünen Melodie hatte Helmold den Stoff gepflückt, so verträumt, wie sie an einem weichen Sommerabend erklingt, wenn die Mädchen eingehakt über die Dorfstraße ziehen und so lange singen, bis es den Jungens unter dem Brusttuche brennt. Aus Lindenblüten und Blättergeflüster war sie gewebt, und das Lied, das ihm dabei kam, begann also: »Ach ich war den ganzen Tag allein, denn mein Schatz der konnt nicht bei mir sein.« Das Bild aber stellte eine lachende pfälzische Landschaft dar, grüne Rebengärten an roten Felsenhängen; doch im Mittelgrunde brannte ein Dorf und im Vordergründe lagerten Soldaten Turennes. Der Rahmen war dunkeleisengrau; er wies unten einen kaum sichtbaren Fries von Menschenschädeln auf, rechts und links den krähenden gallischen Hahn und oben zwischen zwei wütend schreienden Raben Wode Wutblick; der Gott aber trug die Züge des Fürsten Bismarck.

Dazwischen entstand ein Bildnis nach dem anderen; denn seitdem Helmold den Herzog hatte malen dürfen, und in einer Auffassung, die allem Herkommen entgegen und dabei doch so schlicht und natürlich war, wollte alle Welt von ihm gemalt sein, und er konnte sich vor Aufträgen nicht retten, trotzdem oder weil er Preise nahm, daß Frau Grete oft sagte: »Du machst es ein bißchen zu grob.« Aber dann lachte er und sagte: »Bisher nahm ich Gesellenlöhne; jetzt lasse ich mir Meisterpreise zahlen. Das verlangt die Zunftehre«. Es kam ihm aber gar nicht darauf an, einen Menschen, den er gern hatte, oder dessen Kopf ihm gefiel, ohne Entgelt zu malen; wenn aber der Kunsthändler Schultze ihm sagte: »Machen Sie es ein bißchen billiger, verehrter Herr Hagenrieder, dann nehme ich die doppelte Anzahl Studien,« so hieß es: »Wenn Sie mir noch einmal ein solches Angebot machen, dann sehe ich mich nach einem anderen Verhältnisse um.«

Er hatte so viel zu tun, daß er wie ein spielendes Kind dahinlebte; er aß wie ein Drescher und schlief wie ein Dachs; wenn die Nacht auch manchmal nur drei oder vier Stunden für ihn hatte, weil es ihn in aller Frühe schon nicht mehr im Bette litt, er schlief so fest und traumlos, daß die drei Stunden mehr Frische bei ihm ansetzten, als sonst deren neun. Das Wetter, von dem er im Sommer vorher immer bis zur Unerträglichkeit abhängig gewesen war, kümmerte ihn gar kein bißchen; der Vollmond war schlecht auf ihn zu sprechen, denn er hatte ihn links liegen lassen und war kein einziges Mal mit ihm losgezogen, wenn der ihn abholen wollte. Er trank überhaupt nur dann etwas, wenn es gar nicht anders ging, und wenn er im vorigen Jahre ohne die Zigarre oder die Zigarette nicht zu denken war, so rauchte er jetzt nur nach den Hauptmahlzeiten, wenn er mit seiner Frau plauderte.

Die war jetzt viel bei ihm in der Werkstätte und freute sich über sein federndes Wesen und besonders darüber, daß er von Swaantje ganz selten sprach und dann nur wie von einer guten Freundin. Ganz langsam und vorsichtig versuchte sie, ihm den Gedanken an das Tryptichonleben, den sie in ihm heraufbeschworen hatte, auszureden. Frau Gesina war krank gewesen, und Swaantje war deswegen nach Swaanhof gereist und hatte Grete eingeladen. Als Frau Hagenrieder wiederkam, brachte sie ihrem Mann einen schönen Gruß mit und sagte dann: »Wir haben sehr viel gelacht, denn Swaantje sagte: ›Daß ich simple Landpomeranze es noch einmal bis zur Romanheldin bringen würde, das hätte ich nicht gedacht.‹ Ihr Mann, der gerade die Zeitung las, hatte nicht mehr gezeichnet als ein Rehbock, an dem die Kugel vorbeiflötet, und hinterher hatte er ganz ruhig mit ihr über sein Verhältnis zu dem Mädchen gesprochen: »Sie war nötig für mich, liebe Grete,« sagte er, »und bleibt es auch wohl; doch nicht als Weib, glaube ich. Damals, als ich ganz zerknittert von Swaanhof zurückkam, meinte ich, es wäre anders; aber das war wohl nur ein Ausfluß meines gebrechlichen Zustandes. Von jeher wird mein Gefühl zu ihr auf einem anfangs unbewußten, dann klar sehenden Mitleid aufgewachsen sein, und wenn ich sie so recht von Herzen glücklich sähe, wird sie mir nicht mehr sein als Hennig, denn auf dessen Liebste bin ich ja auch nicht eifersüchtig, und ich liebe ihn doch sehr. Freilich, er ist ein Mann, und sie, scheinbar wenigstens, ein Weib, und so hält es schwer für mich, daß ich mich ihr gegenüber von allgemein männlichen Vorstellungen frei mache. Aber selbst, wenn ich ihr gegenüber Wünsche hätte, so dumm bin ich nicht, daß ich ihnen grüne Blätter vorwerfe; denn erstens liebt sie einen anderen, und zweitens ist keine Möglichkeit vorhanden, daß sie mein sein könnte. Aber ich würde mich freuen, sie bald wieder zu sehen; wir haben ja auch einen Wechsel auf Sicht von ihr. Und jetzt habe ich bald Zeit für lieben Hausbesuch; denn sonst gewöhne ich mir das Malen noch so an, daß es ein Laster wird, wie einst meine Rauchsucht. Außerdem muß ich zur Brunft nach Stillenliebe, denn sonst wird der Prinz öde. Und ich merke es doch, daß auch Arbeit, die man mit Freude tut, schließlich die roten Blutkörperchen auffrißt. Solange man im Trott bleibt, weiß man nichts davon; sobald es aber prr heißt, klappt man um.«

Das fand Grete auch, denn ab und zu sah sie in dem Benehmen ihres Mannes leichte Schatten, die die heranziehende Nervenüberspannung vorweg warf. Er arbeitete schon unregelmäßiger, schaffte den einen Tag sehr viel, tat dann drei Tage nichts, stand den einen Morgen um fünf Uhr, den folgenden Vormittag um elf Uhr auf, wurde hier und da ungeduldig, und klagte darüber, daß die Nachbarn ihm zu laut wären, während er sonst gesagt hatte: »Je mehr in den Nachbargärten gelacht und gesungen wird, um so lustiger werde ich.« Wenn Swaan, wie es seine Art war, bei jedem Geschenk, das ihm der Vater mitbrachte, fragte: »Was hat es gekostet?« so hatte dieser früher gelacht und gemeint: »Der wird wie sein Großvater und wird nicht erst kreuz und quer durch das Leben stolpern, ehe er sich zurechtfindet.« Jetzt zog er die Stirne kraus und fuhr auf: »Junge, was soll das heißen; vom Geld redet man in anständiger Gesellschaft nicht,« und zu Grete sagte er hinterher: »Der Junge rückt täglich mehr von mir ab.« Auch bei Sweenechien wollte er das finden; sie war ihm zu selbstbewußt: »Wird wohl später auch anfangen, den Vermännerungsschwindel mitzumachen,« brummte er; »früh streckt sich, was ein tauber Halm werden will.«

So war seine Frau recht froh, als Swaantje sich endlich anmeldete: »Ich muß Euch doch noch vorher wiedersehen, Ihr Lieben,« schrieb sie, »denn ich will mit Tjark und Ilsabe nach Italien. Ich freue mich kindisch.« Auch Helmold freute sich: »Das wird ihr gut tun; sie braucht Sonne und Luxus. Es wird ihr Spaß machen, einmal Geld zu vertun.« Er war so aufgeräumt, daß er kaum zusammenzuckte, als Grete ihm eines Morgens sagte: »Ich denke, es ist besser, Swaantje schläft nicht in dem großen Fremdenzimmer, sondern in dem kleinen, schon damit ich ihr beistehen kann, wenn sie ihre Schmerzen bekommt.« Nach dem Kaffee aber sagte Helmhold, der mittags schlecht gegessen und dann geschlafen hatte, was ihm nie gut bekam: »Die Bemerkung von heute morgen hättest du im Munde behalten können, Grete; ich habe ihren Untersinn wohl verstanden. Wofür hältst du mich eigentlich? Glaubst du«, er machte eine zornige Handbewegung, und warf seine Zigarre in den Garten, »ich bin ein Mann, der einem solchen Mädchen gegenüber sich von bequemer Gelegenheit bereden läßt?« Sie schüttelte unwillig den Kopf, er aber fuhr fort: »Überhaupt, deine Art und Weise, Swaantje in der letzten Zeit langsam bei mir abzubrechen, gefällt mir sehr wenig; ich bin doch nicht verliebt in sie, sondern ich liebe sie. Wie, das ist mir selber schleierhaft. Jedenfalls: tritt Verliebtheit in dem von dir befürchteten Sinne hinzu, ich würde nie etwas von ihr nehmen, was sie mir nicht mit beiden Händen schenken würde, noch nicht einmal einen Kuß.«

Er steckte sich eine neue Zigarre an, die dritte seit einer Stunde, und sagte: »Bedenke, was du mir damit angetan hast, und wer die ganze Schuld trägt; ich sicher nicht! Hättest du damals nicht die fahrlässige Redensart von dem Tryptichonleben gemacht, so wäre ich wohl kaum daraufgekommen, daß mir das Mädchen mehr sein könnte als eine liebe Freundin. Jedenfalls versuche nicht, die Sache so hinzustellen, als wenn ich den Stein in das Wasser geschmissen hätte.«

Er sagte ihr, er wolle allein ausgehen. Das tat er denn auch, und er beruhigte sich durch einen strammen Marsch. Er dachte an die rosenroten Stunden, die er mit Grete verlebt hatte; er krempelte sich selber um und kam zu dem Ergebnisse, daß ihn zu Swaantje weiter nichts hinziehe als eine rein seelische Neigung, und er trat in Gretes Spur und fand, daß sie alles, was sie gesagt hatte, aus ihrem leichtherzigen Denken hatte herausspringen lassen. »Aber,« sagte er sich, »ob mir nun einer einen Stein mit oder ohne Absicht gegen den Kopf wirft, eine Beule gibt es auf jeden Fall.« Wenn er sich das Herz auch noch so blank zu reiben suchte, etwas blind blieb es doch, und so war er ganz froh, als er im Osterkruge den Vorsteher und den Hegemeister traf, und es war fast zwei Uhr, als er nach Hause kam. Er wachte um sechs auf, aber da er müde war, drehte er sich wieder um und schlief bis elf Uhr, und das war das Allerdümmste, was er tun konnte, denn immer machte ihm Nachschlaf Falten in die Stirne.

So war auch dieser Tag verloren. Die Farben wollten nicht laufen, die Pinsel waren bockig, die Leinewand sträubte sich; wütend lief er aus der Werkstatt und ging mit Grete aus. Aber an jedem Worte, das sie sagte, stieß er sich die Schienbeine wund. Einige fortgeworfene Wiesenblumen, die zertreten auf dem Wege lagen, entlockten ihr den Ausruf: »Wie schade!« Er lachte und zeigte auf eine Fichte, die der letzte Sturm umgestoßen hatte: »Wenn etwas Kleines kaput geht, das beseufzt ihr; an der Leiche eines Riesen geht ihr gleichgültig vorbei.« Die Sonne verabschiedete sich in aller Form. »Welch' ein schöner Sonnenuntergang!« rief Grete. »Ein Untergang kann nie schön sein,« spottete er. Es wurde dunkel im Walde; Grete nahm seinen Arm. »Du erlaubst doch?« bat sie. »Natürlich,« lachte er; »es ist ja eine Wonne, einmal zu fühlen, daß du auch nur ein schwacher Mensch bist. Aber so seid ihr; in der Dämmerung laßt ihr euch von uns führen, am hellen Mittag nehmt ihr uns an die Strippe.« Grete sprach nun kein Wort mehr, und stumm gingen sie nach Hause.

Er ging auch diesen Abend wieder aus, kam aber bald zurück und begab sich in die Werkstätte. Um zehn Uhr hörte seine Frau von der Veranda aus, daß er flötete und sang. Sie freute sich, denn nun wußte sie, daß er malte. Die Melodie war ihr unbekannt, und deshalb ging sie den moosigen Weg so weit entlang, bis sie die Worte verstand; die lauteten: »Und kann es nicht die Lilje sein, so pflück ich mir ein Röselein!« Ihr wurde traurig zumute, denn es schien ihr, als ob das Lied ihr mit der Faust drohe; ihr war zu Sinne, als läge sie im Halbschlafe in einer Wiese und im langen Grase kröche etwas auf sie zu, von dem sie nicht wußte, was es war, eine harmlose Natter oder die böse Adder. Darum war sie froh, als am anderen Morgen ihr Mann im Jagdanzuge vor ihrem Bette stand, sie auf die Stirne küßte und sagte: »Ich bleibe vielleicht drei oder vier Tage fort; ich muß mal hinaus; ich fahre nach Ueldringen.« Sie wunderte sich, daß er reiste, weil am folgenden Tage Swaantje kommen wollte; aber sie dachte: »Er will sich auf sich selber besinnen.«

Als sie nachher in die Werkstatt ging, um Staub zu wischen, sah sie einen Haufen Papierfetzen in der Ofenecke liegen. Sie hob einige auf und wurde erst rot und dann weiß; es waren die Reste von zwei Arbeiten, an denen er Jahre lang geschrieben hatte, allerlei Gedanken über das Verhältnis der Kunst zum Leben und die Ergebnisse seiner Studien über die Technik des Malens. Sie sammelte die Fetzchen auf, Tränen in den Augen, verschloß sie in einer Truhe in ihrem Schlafzimmer und ging müde an ihre Arbeit.

Dann kam Swaantje. Sie sah blaß und nervös aus, und als sie Grete ansah, fiel sie ihr um den Hals, küßte sie und fragte: »Aber, liebste Grete, wie siehst du aus? Was hat sich zugetragen?« Als sie hörte, daß Helmold zur Jagd gefahren war, drehte sie sich schnell nach Sweenechien um, die gerade in das Eßzimmer kam, nahm sie auf den Arm und küßte sie trotz deren Gestrampels ab, denn Kinder gingen nicht gern zu dem Mädchen, das von sich selber einmal gesagt hatte: »Kinder mögen mich nicht, und ich kann damit nichts anfangen.« Helmold hatte damals ganz ernst geäußert: »Bis du eigne hast; vernünftige Frauen machen sich aus anderer Leute Kindern nichts und sparen sich die Liebe für ihre eigenen auf. Grete ist es ebenso gegangen. Die Abknutscherei fremder Kinder ist eine Spezialität hysterischer Weiber!«

Grete fand überhaupt, daß Swaantje ganz anders geworden war; ihr Mund sah aus, als schäme er sich, daß er noch nie geküßt war, ihre Augen hatten einen verlassenen Blick, und ihre Hände wirkten noch hoffnungsloser denn zuvor. Es dauerte auch eine geraume Zeit, ehe Swaantje den alten Ton wieder fand und mit Grete darüber scherzte, wie es nun werden solle, ob sie beide Helmolds wegen auf Säbel oder Pistolen losgehen oder ihn ausraten sollten. Sie zogen das Letzte vor, doch Swaantje gewann immer, tröstete Grete aber und sagte: »In den Monaten mit R sollst du ihn haben, und in den anderen nehme ich ihn; ist das nicht lieb von mir?« Als sie aber ihren Koffer auspackte und Grete sie fragte: »Hast du das weiße Wollkleid nicht mit, in dem Helmold dich so gern sah?« da schüttelte sie den Kopf, wie ein Pferd, das sich der Bremsen erwehren will, und sprach schnell von etwas anderem.

Am Abend des dritten Tages, daß Swaantje da war, sagte Grete: »Jetzt wird er gleich hier sein!« Aber er kam nicht. Am Abend des vierten Tages war sie sehr unruhig und brachte kaum einen Bissen herunter, und Swaantje ging es ebenso. Als die Uhr dreiviertel auf sieben schlug, sprang die Frau plötzlich auf, nahm das Mädchen in den Arm und schluchzte: »Ach, Swaantien, ich habe eben einen so furchtbaren Schreck gekriegt! Fühle nur, wie mein Herz klopft!« Aber als sie aufsah, bemerkte sie, daß auch Swaantje kreideweiß aussah, und sie fühlte, daß deren Herz ebenso sprang wie ihr eignes.

Der Abend verlief trostlos; bis ein Uhr blieben sie auf, denn um dreiviertel auf eins lief der letzte Zug ein, mit dem Helmold kommen konnte; doch er kam nicht. Dann gingen sie zu Bett, ließen aber die Türen auf. Um zwei Uhr hielt Grete es nicht mehr aus; sie sah, daß Swaantje noch Licht hatte, ging zu ihr und sah sie so bittend an, daß das Mädchen ihre Decke zurückschlug und sagte: »Komm, liebe Grete!« Die Frau legte sich neben sie, nahm sie in den Arm und weinte so lange, bis sie einschlief. Swaantje drückte das Licht aus und sah in die Dunkelheit; das Bohren in ihrer linken Schläfe ging von Stunde zu Stunde tiefer; sie hielt aber stand, bis die Amsel zu singen begann und der Morgen ihr zunickte. Da endlich fielen ihr die Augen zu.

Um acht Uhr wachte Grete auf und sah sich verwundert um. Dann sah sie Swaantje an und erschrak; das Mädchen war totenbleich und hatte ganz farblose Lippen. Sie stahl sich aus dem Bette und zog die Vorhänge fest zu; aber ehe sie das Zimmer verließ, bückte sie sich und küßte Swaantje ganz leise auf die böse Schläfe. Das Mädchen lächelte und flüsterte: »Guter Helmold!« Die Frau zuckte zurück.

Kurz vor dem Mittagessen kam ihr Mann. Er sah ganz braungebrannt aus, hatte klare Augen und eine helle Stimme. Er küßte seine Frau herzlich und bewillkommnete Swaantje freundlich. Beim Essen sagte er: »Ihr seht beide wie die verhagelten Lohgerber aus, denen die Petersilie fortgeschwommen ist. Habt ihr gestern was gegessen, was euch unbemessen, oder was ist?« Swaantje sah auf ihren Teller, aber Grete sagte: »Ich habe mich gestern auf einmal so um dich geängstigt und Swaantje damit angesteckt.« Ihr Mann lachte: »Neuer Bacillus, Spirococcus terroris; den solltest du monographisch behandeln; dann bist du eine berühmte Frau,«

Nach dem Essen sagte er: »Nun, damit du es weißt: ich habe mit einem Wilddiebe erst höfliche Redensarten und dann grobe Schrote gewechselt. Der Mann schoß Schwarzpulver; deshalb habt ihr den Krach bis hierher gehört.« Beide Frauen sahen ihn entsetzt an, er aber lachte: »Der dumme Kerl schießt mir den besten Bock vor der Nase zusammen, und als ich ihm sage, er solle mir wenigstens das Gehörn lassen, verjagt er sich so, daß ihm vor Bammel der zweite Schuß herausrutscht und mir gerade in den Arm. Übrigens nicht der Rede wert! Na, wie man begrüßt wird, so soll man sich bedanken; ich schoß ihm die langen Stiebel voll Nummer drei, und da gab er mir vor Rührung gleich den ganzen Bock. Ich habe ihm die Leber und die beiden Blätter gelassen, und dann haben wir zusammen einen auf den Schreck genommen. Es ist ein ganz famoser Kerl!« Swaantje sah ihren Vetter an, lächelte und sagte: »Du bist doch wirklich ein zu guter Mensch, lieber Helmold!«

Er lachte: »Das sagen alle Leute, die mich nicht genau kennen. Der Prinz sagt, ich wäre ein Biest, und gerade deswegen könne er mich so gut leiden. Na ja, er ist das nicht, und hätte das Geschick dem guten Samlitz nicht so und so viele Erbtanten in die Wiege gelegt, ich möchte wohl wissen, wie der sich durch das Leben schlängeln wollte. Ich behandele ihn ja mehrstens etwas ruppig, schon damit er nicht noch millionärrischer wird. Ein wahrer Segen, daß er bloß seine Zinsen aufessen darf; sonst hätte er in drei Jahren alle meine Bilder und ich seinen Mammon nebst diesbezüglichen üblen Folgen. Scheußlich, mit einem Geldschrank um den Hals auf die Welt zu kommen!«

Swaantje lächelte und fragte dann: »Bist du mit ihm so befreundet, wie mit Hennecke? Und was ist es für ein Mann?« Ihr Vetter blies den Zigarrenrauch gegen die Decke: »Befreundet? Ja; aber mit einer Barriere darum; es bleibt immer eine Menge Form zwischen uns. Ich verstehe manches an ihm nicht.« Er sah den Rauchringeln nach: »Aber ich bin ihm Dank schuldig. Hätte er mir damals nicht meine alten Schinken abgekauft, dann hätte Grete waschen gehen können, und ich konnte mit meiner Leier von Destille zu Destille ziehen oder Schnellmaler im Tingeltangel werden.« Swaantje schüttelte den Kopf: »Allerdings, du brauchtest damals das Geld sehr nötig, und ich bin heute noch dir und Grete sehr böse, daß ihr euch nichts merken ließet; sehr böse! Aber bedenke, wer war der Mäzen? Doch wohl du, denn die Bilder sind heute das Zehnfache wert.« Helmold nickte: »Jawohl; aber erstens gab damals kein Mensch auch nur die Materialkosten dafür, und zweitens hatte der Prinz zu jener Zeit selber bloß lumpige fünfzigtausend Mark Jahreseinkommen; also hat er sie mir sehr gut bezahlt.« Swaantje gab ihm die Hand über den Tisch: »Helmold, ich freue mich über dich!«

Zum ersten Male sah er sie jetzt in der alten Weise an, und fünf Minuten darauf hatte sie keine blauen Schatten mehr unter den Augen. Aber der alte Klang war doch nicht in seiner Stimme, wenn er mit ihr sprach; er hielt sich von ihr zurück, das merkte sie, und obgleich sie sich Gretes wegen darüber freuen wollte, so tat es ihr doch bitter weh, zumal sie fand, daß auch zwischen ihrem Vetter und seiner Frau eine Glasscheibe war. So beschloß sie nach drei Tagen abzureisen; aber da schlugen Grete und Helmold einen solchen Lärm, daß nichts daraus wurde, zumal ihr Vetter noch sagte: »Ehe die weiße Haide nicht fertig ist, kommst du nicht fort; ich habe schon dein ganzes Schuhzeug eingeschlossen.« So saß sie ihm denn einige Vormittagsstunden, bekam das Bild aber nicht zu sehen.

Ihren Augen gegenüber hing ein kleines Bild, das einen weiblichen Akt darstellte, der auf einer weiten, im Hintergrunde mit Birken besäumten Haide unter einem hellblauen, mit weißem Gewölk bedeckten Himmel stand. »Das ist ein entzückendes Bild, lieber Helmold,« sagte sie, »ein ganz entzückendes Bild.« Aber weiter sagte sie nichts; sie wußte, Geld nahm er von ihr nicht. Sonst sprachen sie wenig miteinander, wenn er malte; auch flötete, summte und sang er nicht dabei. Sie wußte wohl, warum er das nicht tat, aber ihr Herz tat ihr doch weh. Sie schlief keine Nacht vor dem Morgengrauen ein und sah, daß ihr Vetter von Tag zu Tag ernster und blasser wurde; jede Nacht vernahm sie, wie er sich leise im Bette herumdrehte, ab und zu hörte sie Papier rascheln; er las also.

»Heute müßt ihr beide allein ausgehen, Kinder,« sagte Frau Grete, die inzwischen ihre Seelenruhe wiedergefunden hatte, als sie sah, wie Helmold sich zu Swaantje stellte; »Tante Rößler hat mich gebeten, zu kommen; ihr geht es nicht gut, und für Swaantje ist es kein Genuß, die Geschichte von dem offenen Bein von A bis Z anzuhören. Ich gehe aber erst um sieben Uhr hin, denn bis dahin habe ich zu tun. Also seht zu, wie ihr die Zeit totschlagt.« Da Helmold die letzte Hand an Swaantjes Bild legte, war er erst um vier Uhr zum Ausgehen fertig. Swaantje, die die ganze Nacht wieder vor Schmerzen nicht geschlafen hatte, sah sehr hinfällig aus, »Willst du lieber hier bleiben?« fragte er; »ich gehe nur deinetwegen. Du weißt ja, Spazierengehen, dazu bin ich zu sehr Bauer.« Swaantje wäre am liebsten daheim geblieben; aber Grete hatte sie gebeten: »Geh ja mit; er hat zuviel gearbeitet und muß hinaus; und dir ist es auch gut.«

Sie fuhren mit der Straßenbahn in eine Gegend, die das Mädchen noch nicht kannte. Helmold stellte ihm die Landschaft in prickelnder Weise vor. Aber wenn auch das, was er sagte, wie Demanten funkelte, so klang es doch ebenso kalt. In der Gartenwirtschaft, in der sie einkehrten, war er von der höflichsten Besorgtheit für sie; aber die Zuneigung, die sonst seine Handlungen durchleuchtete, fehlte.

Die Sonne schien hell, die Luft war warm und blitzte von allerlei winzigem Getier, ein neckischer Wind kraulte den Bäumen die Köpfe, der Himmel war hoch, und seine lichte Bläue hoben weiße Windwölkchen, so zart wie mit einer Schnepfenfeder gezogen; dazu lachten die bunten Herbstblumen nur so, und die Stare sangen, als wenn eben der Mai eingezogen sei; doch Helmolds Worte waren wie ein leiser Nordwind. Er erzählte, als wäre er der fröhlichste Mensch von der Welt; doch sein ganzes Geplauder war nicht das von Kamerad zu Kamerad, sondern von dem Herrn der guten Gesellschaft zu einer sehr geschätzten Dame aus denselben Kreisen. Kein einziger kecker Witz, kein gewagter Vergleich entschlüpfte ihm. Das Mädchen schauerte zusammen.

»Friert dich?« fragte er. Ja, sie fror, sie fror sehr. Früher hatte er sie nie angesprochen, ohne hinzuzusetzen: »Liebe Swaantje« oder »Kleine« oder »Maus«; früher lachte er sie mit dem Herzen und den Augen an; jetzt lächelte er nur noch mit dem Gesichte. »Helmold,« begann sie mit einem unabsichtlich bittenden Ausdruck in der Stimme, als sie durch den Wald gingen, »lieber Helmold!« Er sah sie von der Seite an. »Und, liebe Swaantje?« fragte er und sie fuhr fort: »Was ich dir jetzt sage, ist vielleicht sehr töricht von mir, aber sage ich es nicht, so bin ich unehrlich. Das, was ich dir damals in deiner Werkstatt sagte, das ist vorbei.« Sie atmete schwer. Er blieb nicht stehen, er sah sie nicht an, er änderte auch seine ruhige Sprechweise nicht, als er fragte: »Wie ist das gekommen?« Sie zitterte, als sie antwortete: »Vielleicht nur, weil ich es dir gesagt habe.« Er nickte: »Wahrscheinlich; Sprechen und Weinen erlöst.« Er schwieg eine Weile. Sie sah ihn verstohlen von der Seite an; sein Gesicht zeigte keine Bewegung.

Ein Herr mit grauem Vollbarte begegnete ihnen, sah Helmold aufmunternd an und grüßte, als dieser keine Miene machte, zuerst zu grüßen, ganz tief, und Helmold erwiederte gemessen. »Wer war das?« fragte das Mädchen. Ihr Vetter lachte: »Ein hohes Lokaltier, unser Oberbürgermeister. Er denkt, weil er Ober im Kunstverein ist, müßte ich zuerst grüßen, auch wenn ich mit einer Dame gehe. Na, jetzt braucht er sich den Knigge nicht zu kaufen«.

Erst nach einer geraumen Weile begann er wieder: »Ja, Swaantje, ich weiß nicht, ist das nun gut für dich oder nicht? Einerseits bin ich froh, daß du diese taube Neigung zu den übrigen Pensionsandenken gepackt hast; anderseits: nun hast du gar nichts auf der Welt, noch nicht einmal einen Kummer. Ich hoffe, daß die Reise mit Terborgs dich aufrappelt; alle das viele Schöne aus alter und neuer Zeit, das du sehen wirst!«

»Gieb mir deinen Arm,« bat das Mädchen, »mir ist etwas schwindlig.« Er führte sie zur nächsten Bank: »So, wir sind ein bißchen weit gegangen,« sagte er und lächelte, aber nur mit den Lippen; »in fünf Minuten sind wir bei der Haltestelle.«

Beim Abendessen mußte sie sich ein Kissen ausbitten, so schmerzte sie der Rücken, und nach dem Essen ging sie sofort zu Bett, so todmüde fühlte sie sich. Alle Glieder taten ihr weh, aber schlafen konnte sie nicht. Auch Helmold schlief nicht. Durch das Schlüsselloch kam ein dünner Lichtschein, ab und zu knarrte sein Bett leise, sie hörte, wie er in dem Buche blätterte und dann roch sie, daß er rauchte. Sie wußte, daß er sonst nie im Bette rauchte; es mußte ihm also sehr schlecht gehen.

Es war drei Uhr, da hörte sie, wie er leise aufstand und Wasser in ein Glas goß; ein Papierchen knitterte, ein Teelöffel klirrte in dem Glase. »Veronal«, dachte sie, und unter ihrem Mitleid glitzerte blanke Freude: »Er hat sich verstellt,« schrie es in ihr; »er liebt mich noch, denn sonst würde er schlafen.« Ihr Kopf fiel hintenüber, und sie schlief ein.

Als sie am anderen Vormittag in der Werkstätte auf dem Ruhebette lag und ihrem Vetter zusah, der aus ihrem Bilde die letzten Spuren der Maltechnik entfernte, »denn, wo man noch Technik sieht, da ist keine, und deshalb ist Segantini viel früher gestorben, als er verantworten konnte,« hatte er gesagt, da fing er mit einem Male zu sprechen an, konnte aber nie den Weg zu dem Punkte finden, den er in der Nacht vor sich gesehen hatte, auch kam bald Grete, Sweenechien an der Hand, und dann Luise, die irgend etwas aus dem Nebenraum holen wollte, und so wurde es Mittag. Hinterher gingen sie selbdritt aus, und abends kam Hennecke. Er sah sich erst die neuen Bilder an, fand den Mädchenakt auf der Haide herrlich, aber als sein Freund fragte, was er von den Saharabildern und von Wodes Zorn halte, tat er, als habe er es nicht gehört, und ebenso verhielt er sich, als Helmold ihm sagte: »Du, Hennig, es ist ganz ulkig: zu jedem Bilde habe ich jetzt ein Lied.« Bei Tische war Helmold sehr aufgeräumt, doch sah er, wenn er sprach, meist seinen Freund an. Grete fand aber bald heraus, daß er nicht bei der Sache war, und wenn Helmold mit Swaantje sprach, ließ Hennig einen kurzen Blick über das Paar fliegen, als suche er im Dunkeln den Weg.

In dieser Nacht schlief Swaantje fast gar nicht; sie mußte immer an den einen heimlichen Blick denken, den ihr Vetter ihr zugeworfen hatte, als sie mit Hennig und Grete in eifriger Unterhaltung war; er hatte geglaubt, sie sähe es nicht, und so hatte er sich nackt ausgezogen.

Als sie dann am nächsten Vormittag von Helmold in die Werkstatt gebeten wurde, mußte sie an sich halten, um sich nicht zu verraten, denn ihr Vetter sah ganz alt und krank aus. Er zeigte ihr mit erkünstelter Unbefangenheit einige Studien aus der Umgegend von Mecklenhusen, nötigte sie dann auf das Ruhebett, legte ihr die Schlummerrolle unter den Nacken, deckte sie warm zu und sagte: »Schlaf noch ein bißchen; du siehst müde aus, Kleine!« Sie schlief sofort ein, wachte aber bald wieder auf, und als sie unter den Wimpern nach ihm hinblickte, sah sie, daß er vornübergebeugt im Sessel saß und sie mit hoffnungsloser Zärtlichkeit anblickte.

Sie schlug die Augen voll auf; er lächelte sie an, redete erst von diesem und jenem, und dann klagte er ihr mit gleichgültig klingender Stimme seine Herzensnot. Sie antwortete, als Helmold endlich schloß: »Du tust mir sehr leid, Vetter, aber in diesem Punkte gibt es für mich keinen anderen Weg als den, den mir Religion und Sitte weisen; das wirst du selbst wissen.« Er nickte, und sein Gesicht sah ganz gleichmütig aus, auch klang seine Stimme alltäglich, als er leichthin sagte: »Natürlich weiß ich das; du bist Dame, bist höhere Tochter, verfügst also über einen mündelsicheren Fond von Konventionsmoral. Ich verstehe dich nicht nur vollkommen, ich schätze dein Verhalten auch in vollem Maße, denn: entsetzlich wäre mir der Gedanke, eine angeheiratete Kusine zu besitzen, die selbst dann, wenn es auf Tod und Leben geht, ihre Ladyleikigkeit vergäße. Aber länger halte ich es nicht aus, und das Beste ist, ich mache Schluß; für Grete und die Kinder ist einigermaßen gesorgt«. Swaantje sprang auf: »Auch das noch!« stöhnte sie und verließ müden Schrittes die Werkstatt.

Helmold warf ihr einen bösen Blick nach und knirschte mit den Zähnen; dann aber zog er den Vorhang von ihrem Bilde und sah es lange an. Danach langte er den Mädchenakt auf der Haide von der Wand, suchte einen Grabstichel und stach in die Ecke des Rahmens die Buchstaben hinein: H. s. l. Sw., ging in das Wohnhaus, überzeugte sich davon, daß Swaantje in der Küche war, trat schnell in ihr Schlafzimmer, legte das Bild auf den Spiegeltisch und trat wieder in die Werkstätte.

Als er zum Essen kam, bemerkte er einen harten Zug um den Mund seiner Frau, und daß Swaantjes Gesicht vor Kälte starrte. Er aß fast nichts und sprach kein Wort, antwortete kaum, wenn er angeredet wurde und horchte noch nicht einmal auf das Geplauder der Kinder. Als Swaantje das Zimmer verlassen hatte, fragte er: »Gehen wir aus?« Seine Frau schüttelte den Kopf: »Ich habe keine Zeit.« Er sah aus dem Fenster, sprach längere Zeit nichts, und dann warf er über die Schulter hin: »Na, dann will ich mit Swaantje nach dem Villerloh.« Seine Frau legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn bittend an: »Du, Helmold, sei nicht böse, aber du mußt das verstehen: Swaantje hat mich gebeten, sie nicht mit dir allein zu lassen; ihr ist das peinlich.« Er sah sie mit gleichgültigen Augen an: »So? schön; ich werde der Dame weitere Peinlichkeiten ersparen.« Damit ging er aus dem Zimmer und verließ gleich darauf das Haus.

Er kam nicht zum Vesper, er kam nicht zum Abendessen. Grete und Swaantje saßen bis zwei Uhr auf, aber er kam nicht. Es war fünf Uhr, da hörte Grete die Haustüre gehen. Sie horchte und vernahm, daß ihr Mann in die Werkstatt ging, und als sie an das Fenster trat, sah sie, daß er Licht gemacht hatte, und daß sein Schatten auf und ab ging.

Um acht Uhr morgens ging sie zu ihm, um ihn zu fragen, ob er nicht frühstücken wolle; aber die Türe war verschlossen. Er erschien auch zum Mittag nicht, obgleich Sweenechien, die zu ihm geschickt war, lange an der Tür rappelte und in einem fort bettelte: »Väterchen, essen kommen!« Zum Vesper aber kam er, aß jedoch fast nichts, tat so, als wäre nicht das Geringste vorgefallen, hatte aber flackrige Augen und ein welkes Gesicht. Er behandelte Swaantje höflich, doch wie einen Menschen, an dem ihm nicht ein bißchen gelegen war, und drehte seiner Frau mit liebenswürdiger Härte jedes Wort im Munde herum, bis sie aufstand und hinausging.

»Lieber Helmold,« bat Swaantje, »sei doch nicht so zu Grete!« Er sah kalt an ihr vorbei, ging in sein Zimmer, zog sich um, verließ das Haus und kam erst am anderen Morgen wieder, ganz fahl im Gesicht und mit breiten Schatten unter den Augen, setzte sich an den Tisch, aß wieder fast nichts und sprach kein Wort, bis seine Frau an zu weinen fing. Da stand er auf und ging in die Werkstatt.

Swaantje ging ihm nach. »Helmold,« bat sie und faßte seine Hand. Er sah sie kühl an und deutete auf einen Sessel; müde sank sie hinein. »Tut mir leid, Swaantje, daß du gekommen bist, sehr leid, deiner Nerven wegen. Aber schließlich: mir geht es ja nicht besser.« Er sah sie feindlich an: »Die arme Grete, nicht wahr? Und der böse Mann, nicht wahr? Die gute Frau hat ihrem lieben Mann die Augen geöffnet, und nun ist sie böse, daß er sehend geworden ist. Solche bodenlose Gemeinheit von dem Kerl! So ist nämlich die weibliche Logik. Erst heißt es: Mach was du willst! dann: wir drei! und schreit dann so ein dämliches Männerherz vor Glück auf, dann tritt man mit dem Absatze darauf und ist noch peinlich,« er sprach das Wort gallenbitter aus, »peinlich berührt, quietscht es.«

Er sah das Mädchen spöttisch lächelnd an: »Fräulein Swaantje Swantenius ist es peinlich, mit ansehen zu müssen, wenn ein Mann sich zu ihren Füßen in Todeskrämpfen windet, denn sie hat die höhere Töchterschule besucht und ist in dem vornehmsten Pensionat der Residenz verbildet worden. Sie würde ja gern alles für ihn tun, nur das eine nicht, denn sie ist eben Dame. Und so läßt sie ihn sich totquälen, obgleich sie ihn liebt.«

Swaantje sah an ihm vorbei, als sie mit blasser Stimme antwortete: »Ich habe dir doch nichts gesagt!« Er zwang sie, ihn anzusehen und sagte in ruhiger Weise: »Danke, das genügt mir! Menschenskind,« fuhr er dann fort, und seine Stimme zitterte, »sollen wir denn alle dreie zugrunde gehen? Ich kann ohne dich nicht leben und du ohne mich auch nicht, und wärest du nicht so charakterlos charakterfest, so würdest du zu mir kommen und sagen: ›Da!‹ Denn, das mußt du wissen, erbetteln will ich mir nichts von dir, und überrumpeln will ich dich auch nicht, denn ich bin nicht in dich verliebt, ich liebe dich eben nur, und ich will, daß du dich mir aus vollem Herzen schenkst.«

»Swaantje,« bat er und trat auf sie zu, ihre Hand fassend, »sieh doch: du weißt, wer ich bin, daß ich meinem Volke etwas sein werde. Meinst du, es wäre so sehr schlecht, hülfest du mir dabei? Ich will ja nichts,« und dabei brach seine Stimme, und die Tränen kamen ihm in die Augen, »als ein ganz klein bißchen Hoffnung, weiter nichts. Und bedenke: Grete und ich sind geschieden; nur du kannst uns wieder verbinden. Ihr seid für mich eins: seid das Weib. Bist du nicht mein, kann ich Grete nicht mehr in Liebe ansehen. Glaube mir, ich handele nicht leichtsinnig; ginge es nicht auf Tod und Leben, ich hätte dich nicht in eine so schwierige Lage gebracht. Und du mußt daran denken, daß Grete alle, aber auch alle Schuld hat. Jetzt heißt es: ja, ich konnte doch nicht denken, daß du das ernst nähmest! Es ist schrecklich: da stößt einen die Frau mitten in das helle Feuer, und kriegt man Brandblasen, dann ist sie empört.«

Mit düsteren Augen sah er aus dem Fenster, in das die Morgensonne hineinlachte. »Ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr; ich kann bloß noch malen und rauchen. Ich werde noch nicht einmal mehr betrunken. Noch eine solche Woche, und in mir zerreißt etwas. Ich bin ein ganz armer alter, kalter, toter Mann geworden, der um ein Blöckchen Hoffnung bettelt, und die beiden Frauen, die da vorgeben, sie lieben mich, schlagen mir die Tür vor der Nase zu.« Er lachte trocken auf und sang den Endreim des sozialdemokratischen Liedes: »Denn ich bin Mitglied von dem Verein gegen Verarmung und Hausbettelei.«

Swaantje schüttelte sich. »Frierst du, liebe Kusine?« fragte er. »Da steht Kognak! Mir hilft er nicht mehr gegen die Gänsehautbildung auf dem Herzen. Vorige Nacht habe ich acht Kognaks, drei Grogs und unglaublich viel Sekt getrunken und bin doch nicht warm geworden, trotz der beiden zwar etwas leichten, aber bildhübschen und sehr lustigen Mädel, die rechts und links bei mir saßen und sich wie barmherzige Schwestern gegen mich benahmen. Die eine heulte sogar und sagte: ›Was fehlt Ihnen eigentlich? Ich möchte Ihnen so gern helfen!‹ Ja, eine Dame war das nicht, aber ein Weib, und darum tat ich ihr leid, und es war doch nicht viel mehr, als ein Allermannsliebchen.«

Er rückte sich eine Staffelei zurecht und malte; barsch ging der breite Pinsel über die Leinwand. Dann lachte er: »Malen kann ich noch, sehr gut sogar; aber es langweilt mich. Hast du das Bild gefunden?« Swaantje nickte, sah aber nicht auf, als sie sagte: »Ja, und du wirst verstanden haben, warum ich dir nicht danken konnte.« Er lächelte freundlich und nickte: »Ja, so dumm ist er nicht. Hätte Fräulein Swantenius sich bedankt, so hätte sie Herrn Hagenrieder notwendigerweise in den Arm nehmen müssen, und das schickt sich doch nicht. Und so hat man sich den Dank erspart, an dem mir übrigens den Kuckuck etwas liegt.«

Das Mädchen seufzte schwer auf. Er schüttelte den Kopf: »Helmold Hagenrieder wird weiter malen; Swaantje Swantenius wird weiter als zweckloser Mensch dahinleben und langsam eine alte Jungfer werden, die nur etwas voll und ganz durchgelebt hat, nämlich ein Leben, das keins war. Und wenn sie alt und grau ist, dann wird sie doch einmal nachts in ihrem Bette weinen und wimmern: ›Ich habe es verpaßt!‹ Oder wie denkst du dir dein Leben?« Das Mädchen nickte: »Genau so!« Er sah sie herrisch an: »Und du glaubst, das werde ich dulden? Glaubst du, ich bin ein dummer Junge, der nach einem Küßchen gibbert? Ich will dich ganz haben, und du wirst dich mir ganz geben, und freiwillig wirst du das tun; denn obzwar du Dame bist, so bist du nebenbei doch noch etwas Mensch und ein wenig Weib geblieben und viel zu gebildet, um nicht einsehen zu müssen, daß Sitte und Gesetz Papier sind, und daß Not kein Gebot kennt. Ich will nicht in dich dringen, aber ich bitte dich, Swaantje: gib mir ein wenig Hoffnung, ein ganz klein wenig, nur so viel, daß ich mein Leben eben damit friste.«

Er ging zu ihr hin und faßte ihre Hände. »Willst du das?« Sie sah an ihm vorbei und schüttelte leise den Kopf. »Kind,« flüsterte er, »ich brauchte dich ja nur umzufassen und zu küssen, denn ich sehe durch dich hindurch wie durch Glas. Aber ich will das eben nicht, denn ich liebe dich. Also du gibst mir keine, aber auch gar keine Hoffnung?« Abermals schüttelte sie den Kopf. »Na, dann vereinfacht sich der Fall, und die Sache liegt so: dann stehe ich hier ganz allein, Grete und die Kinder da, und du dort. Denn von dem Augenblicke an, daß ich weiß, ich habe keine Hoffnung mehr, habe ich keine Verwendung mehr für das, was man Herz nennt. Also reden wir von etwas anderem.«

Er pfiff leise vor sich hin und malte weiter. »Weißt du, Swaantje,« fing er dann an, »was ich glaube? Du hast eigentlich recht! Im Grunde passen Männer und Frauen überhaupt nur so zueinander wie die Nuß und die Hülle. In der Jugend halten sie zusammen; sind sie reif, dann verlieren sie den Zusammenhang, weil jeder sich auf sich selbst besinnt. Wenn Stahl und Stein zusammenkommen, gibt es rote Liebesfunken; aber Stahl bleibt Stahl und Stein Stein; höchstens splittert der eine etwas ab, und der andere kriegt Kratzen. Zu was also das ganze Gehampel? Ich bin ein Mann von über vierzig, du gehst auf die dreißig; die schönste, dümmste Zeit liegt hinter uns. Darum tun wir gut, vernünftig zu sein. Der eine stickt sich ins Grab, der andere malt sich hinein, derweilen das junge Blut sich liebt und küßt und Wonne und Weh leidet. Ein Segen, daß wir beide klüger sind. Nicht, Swaantje?«

Das Mädchen sah ihn hilflos an; ihr Gesicht war blaß und mager. Er ging zu ihr und streichelte ihr die Backen. »Arme Kleine! So quälen wir uns beide, aus Feigheit, aus Rücksicht, aus Mangel an Naivheit. Bald ist es Winter. Anstatt daß wir uns der letzten Blumen freuen, gehen wir daran vorüber. Nachher tut uns das leid.« Er steckte sich eine Zigarre an. »Na, vielleicht komme ich doch noch darüber hinweg, obgleich ich das nicht hoffen will, denn dann danke ich bestens für mich.« Swaantje sah ihn erst an. »Helmold, du hast doch noch immer deine Kunst!« Er lachte lustig: »Ich pfeife darauf! Kunst, weißt du, was das ist? Ungelebtes Leben! Sieh dir die Griechen an; nie hat ein unglücklicheres Volk gelebt. Sie waren sehr unglücklich; sonst hätten sie es nicht in der Kunst so weit gebracht. Die Römer hatten keine Kunst, die lebten ein lebendiges Leben. Die Kunst ist wie ein Spiegel; vorne Farbe und Leben, hinten Pappe.«

Er ging an den Bücherschrank, nahm den Angelus Silesius heraus, schlug ihn auf, reichte ihn Swaantje und sagte: »Lies die grün angestrichene Stelle.« Das Mädchen las und bekam ganz enge Lippen, denn da stand: »Die Braut verdient sich mehr mit einem Kuß um Gott, denn alle Mietlinge mit Arbeit bis in den Tod.« Er nickte ihr spöttisch lächelnd zu: »Ja, der frumbe Mann wußte Bescheid; die Liebe ist alles, das andere ist nichts. Aber: wie du willst! Mögest du nie wissen, was Reue ist! Ich weiß es. Als ich ein junger Kerl war, gab ich unserem netten Dienstmädel mal einen Kuß, rein aus Übermut. Als ich zu Bette ging, machte sie leise ihre Kammertüre auf und flüsterte: ›Gute Nacht, Herr Hagenrieder.‹ Ich wollte aber keinen Unfug machen und nickte ihr nur zu. Am anderen Tage fuhr ich nach München. Die Augen, die das Mädchen mir machte, als ich an ihr vorbei aus dem Hause ging, vergesse ich mein Leben nicht, und wenn ich einmal in die Hölle komme, so ist es wegen einer Unterlassungssünde.«

Seine Frau kam herein. Mit scheinbarer Unbefangenheit schlug sie für den Nachmittag einen gemeinsamen Spaziergang vor. Helmold nickte. »Mir ist alles gleich,« sagte er. Aber im Walde wuchs seine Übellaune von Minute zu Minute; die schlaflosen Nächte wirkten nach. So wurde es ein ungemütlicher Spaziergang. Mit zersetzender Geistreichigkeit machte er sich über die Natur, das Wetter, die Menschen und die ganze Welt lustig, und quirlte auf dem Heimwege Ernst und Hohn so durcheinander, daß seine Frau und Swaantje die kalte Angst in das Genick faßte.

»Weißt du, liebe Grete,« meinte er, »du müßtest eigentlich Romane schreiben, denn du hast ein bedeutendes Erfindertalent. Sieh mal, dieser hier, in dem wir drei die Hauptpersonen sind, ist doch einfach eine glänzende Leistung. Sag' mal, wie hast du dir den Schluß gedacht? Blumenthal-Schönthansch oder Shakespeare-Sophokleïsch? Hm? Denn du hast doch ein Ziel gehabt, als du das erste Kapitel anfingst?«

»Wißt ihr was, Kinder,« und er nahm in den einen Arm Grete und in den anderen Swaantje, »wir wollen uns hinsetzen und jeder einen Schluß schreiben, oder habt ihr zwei beiden schon einen fertig? So scheint mir das wenigstens. Ich bin in der Beziehung etwas unbegabt. Bin überhaupt ein dummes Luder, das alles ernst nimmt, was seine Frau im Scherz sagt. Vor sieben Jahren sagte sie: ›Die Hauptsache ist, Helmold, daß wir beide immer gute Freunde bleiben.‹ Heute weiß sie nichts mehr davon, denn die Hauptwaffe der Frauen ist das abstellbare Gedächtnis.«

»Übrigens: wie famos die Schatten da sind! Genau so wie die, die deine Worte über mein Herz warfen; das sieht wie ein rotes Zebra aus. Ihr könnt es später auf den Jahrmärkten sehen lassen. Und das da ist die Venus, der sogenannte Liebesstein. Sie zittert; ihr ist kalt. Mir auch. Ach, Kinder, ist das ein schöner Abend! Sieh, da ist ja auch der Mond. Na, Kerl, was sagst du nun? Jetzt habe ich die beiden Frauen, die laute und die leise; es fehlt nur noch der Schimmel und die Wölfe, die sich um Männerköpfe beißen. Kerl, es ist alles Schwindel, alles; ich habe überhaupt keine Frau, nur eine Frau Gemahlin, geborene Möllering.« Er pfiff sein frechstes Lied.

Zum Abendessen kam Hennecke; Grete hatte ihn herbeigebeten und ihm gesagt, wie es um Helmold stand. Beim Essen wurde von der Sache nicht gesprochen. Hinterher sprach er erst mit Helmold und versuchte, ihn umzustimmen; das gelang ihm nicht. Dann ging er zu Grete. Swaantje kam in das Zimmer. Nach einem langen Schweigen fragte sie ihren Vetter: »Weiß er es?« Er nickte: »Ja, von Grete, von mir nicht.« Das Mädchen fragte weiter: »Was denkt er von mir?« Sie zuckte zusammen, denn ein Blick wie ein Messer streifte sie. Und abermals zuckte sie zusammen, als Helmold antwortete: »Das denkbar Schlechteste,« und zum dritten Male, als er fortfuhr: »nämlich, daß du dich völlig als Dame benommen hast!«

Er ging im Zimmer auf und ab: »Ich bin mit ihm fertig, denn er hat dich in meinen Augen herabgesetzt. Er sagte: ›Sie ist ein Weib, also auch nicht wert, daß man ihretwegen auch nur ein einziges Haar grau werden läßt.‹ Er denkt nicht besonders von euch. Als ich ihm Gretes Verhalten darstellte, lachte er und sagte: ›Darüber wunderst du dich? Nimmst du denn Frauen ernst? Mein Lieber, du bist über vierzig! Freu' dich, daß es Kinder sind und bleiben, die nicht aus Gemeinheit unwahr sind sondern aus Instinkt.‹ Na ja, die Mädchen, mit denen er verkehrt, mögen so sein. Ich denke besser von Grete und von dir, oder dachte so, und deshalb bin ich so elend geworden.«

Er ging auf das Mädchen zu, gleich als wollte er sie anfassen; sie sprang auf und stellte sich hinter den Sessel. Er schüttelte belustigt den Kopf: »Habe keine Angst; ich will dich nicht mehr. Das eine Wort: ›es ist mir peinlich‹ hat mir gezeigt, wer du bist. Und wenn wir beide eine Woche allein wären, und du trügest jeden Tag das weiße Kleid, ich würde stets die Dame in dir achten, die Dame, die umfällt, wenn ihr eine Maus über den Weg läuft, und die den einzigen Mann, der das Weib in ihr sah, und den sie zum Sterben liebt, aus ganz gemeiner Feigheit umkommen läßt. Ich will dir etwas zum Andenken schenken.« Er ging in das Atelier und kam mit einem gerahmten Pastellbildchen wieder. Es stellte einen Sarg dar, der auf zwei Stühlen mitten in einer Wiese stand; in dem Sarge lag Helmold Hagenrieder, wie er nun war, und sah spöttisch auf Helmold Hagenrieder hinab, wie er einst war.

Swaantje legte das Bild entsetzt fort und sah verstohlen ihren Vetter an. Sie fand, daß seine Schläfen ganz grau waren, und daß er Altemannsfalten über dem Munde und neben den Augen hatte. Sie stand auf und ging auf ihn zu, aber da kam Hennecke mit Grete.

Um Mitternacht gingen Grete und Swaantje zu Bett; Helmold und Hennig saßen noch lange auf. Hennecke versuchte in seiner ruhigen Art dem Freunde aus dem Gestrüpp herauszuhelfen. Helmold hörte geduldig zu, aber dann sagte er: »Du hast vollkommen recht, und Grete hat recht, und Swaantje hat recht. Hier handelt es sich aber nicht darum, sondern darum: soll ich leben oder sterben? Ich glaube übrigens, es ist für das eine schon zu spät; denn ich bin bereits tot!«

Er sah Hennig mit harten Augen an: »Sage mal, Grele sagte vorhin, du hättest gesagt: ›Wenn ich eine Schwester hätte, und ein verheirateter Mann näherte sich ihr in der Weise, wie es hier vorliegt, den schösse ich tot.‹ Ist das wahr? Hast du das gesagt?« Hennecke bekam einen schmalen Mund: »Muß ich antworten?« Der andere nickte, ihn starr ansehend, und Hennig antwortete: »Nein, das hat deine Frau gesagt, nicht ich; das konntest du dir doch wohl gleich denken.« Helmold holte schwer Luft: »Um dir zu beweisen, was aus mir geworden ist; als Grete mir das sagte, antwortete ich ihr: ›Hat er das gesagt, dann kenne ich ihn nicht mehr.‹ Wer nur im geringsten gegen mich ist, ist mein Feind. Pfui, wie kann eine Frau so handeln!« Hennecke zuckte die Achseln: »Was soll sie machen? Sie ist eine Frau! Sie hat andere Ehrbegriffe, sie kennt nur eine Moral: ihren und der Ihren Vorteil. Du hast deiner Frau viel zu danken und darfst ihr die Unbesonnenheit, die doch lediglich ein Ausfluß ihrer arglosen Natur ist, nicht übelnehmen.«

Das hatte sich Helmold schon viele hundert Male selbst gepredigt; darum sah er seine Frau am anderen Morgen doch böse an, als sie sagte: »Swaantje fährt heute; sie leidet zu sehr.« Er sagte erst nichts, aber dann trat er auf sie zu und nahm sie in den Arm. »Grete,« bat er, und seine Stimme war wie eine Nacht ohne Mond und Sterne, »sei doch nicht so hart! Sieh mal, ich sterbe daran. Ich kann doch nichts dazu. Du sagst, du liebst mich; beweise es mir!« Seine Frau machte sich von ihm los; ihre Stimme klang spitz, als sie antwortete: »Was soll ich denn tun? Wenn es irgend jemand anders wäre; aber meine eigene Kusine?« Er sah sie starr an. »Erinnerst du dich, was du mir sagtest, als ich von Swaanhof zurückkam?« Sie zuckte die Achseln: »Was sollte ich machen? Du wärest krank, und ich dachte ja auch, daß deine Liebe zu Swaantje lediglich Mitleid sei. Ich habe nicht geahnt, daß du derartige Absichten hattest!«

Da polterte er los. Er legte sich so wenig Zwang auf, daß Swaantje entsetzt hereingestürzt kam. Aber auch da bremste er sich nicht, sondern schüttelte alle die Angst und die Wut und allen Kummer und Grimm vor den beiden Frauen aus. Als er herauszischte: »So höre denn: ich liebe dich nicht nur nicht mehr, ich hasse dich. Du hast mich von oben bis unten belogen, hast kein Mittel gescheut, um mich zu zerbrechen, hast sogar meinen einzigen Freund gegen mich auszuspielen versucht. Ich bin fertig mit dir!« und seine Frau den Hieb damit zurückgab, daß sie ihm eine Scheidung vorschlug, da lachte er und sagte: »Schön! Doch gehst du, so sieh zu, wie du leben willst. Mir ist es recht, aber ich kümmere mich dann in keiner Weise weiter um dich, und die Kinder bleiben bei mir. Oder sie können wählen, denn mir liegt jetzt an nichts mehr etwas, und sie ähneln ja auch dir mehr als mir. Sobald du den ersten Schritt tust, verkaufe ich alles, was mir gehört, und gehe irgendwohin, wo nicht Weiberköpfe, sondern Männerfäuste herrschen; denn dieses ganze verfluchte Land mit seinem verbildeten Gesindel ist mir ekelhaft.«

Grete, die ganz weiß aussah, bekam einen roten Kopf, und ihre Augen funkelten, als sie rief: »Ich denke, du willst dir Swaantjes Liebe erringen; meinst du, daß dieses der Weg dazu ist?« Er lächelte freundlich: »Nein, denn ihre Liebe habe ich. Mir liegt übrigens nichts mehr daran. Jetzt kannst du sie mir schenken, und ich nehme sie nicht. Außerdem ist das meine ureigenste Angelegenheit, ob ich Swaantje liebe oder nicht, und geht weder dich noch sie etwas an. Überhaupt liebe ich sie nicht mehr; ich liebe das Gespenst meiner Liebe zu ihr. Ich kann keine Menschen mehr lieben, denn ich bin tot. Mein Herz ist nicht mehr da; ich habe eine Fiedel daraus gemacht und spiele jede Farbe darauf, die es gibt. Ich bin Künstler geworden; aber ein Mensch bin ich nicht mehr. Das habe ich euch zu verdanken, dir, liebe Grete, und dir, Swaantje; ich danke euch herzinnig dafür.« Er küßte beiden die Hand und ging in die Werkstatt.

Ruhig und besonnen arbeitete er an seinem neuesten Bildnisse weiter. Da fielen seine Blicke auf die Saharabilder, und auf Wodes Zorn. Er stutzte, rückte die Bilder zurecht, trat zurück, und dann nahm er den breitesten Pinsel, tauchte ihn in einen Farbentopf und strich mit festen Zügen die Bilder aus.

Als er fast damit fertig war, trat Swaantje ein. Er ließ sich nicht stören und erst, als sie trocken aufschluchzte, sagte er: »Nun sag' bloß noch: ›Die schönen Bilder!‹, und dann müßte Grete noch sagen: ›das schöne Geld!‹, und dann hätte ich einen Grund, einmal wieder von Herzen zu lachen.« Aber als er das Mädchen genau ansah, sprang er zu, geleitete sie zu dem Sessel und rückte einen anderen daneben, in den er sich setzte. Er faßte ihre Hand: »Ich weiß, ich weiß, Kind, in welcher schweren Herzensnot du dich befindest, und wie sehr du darunter leidest, und daß Grete so unglücklich ist. Aber bedenkt ihr denn nicht, daß ich mehr bin, als ein beliebiger Herr Soundso? und daß ihr, helft ihr mir, einem Manne das Leben neu schenkt, der dazu berufen ist, seinem Volke große Werte zu schaffen? Wiegt das nicht die ernstesten Bedenken auf? Und ich will ja so wenig, will weiter nichts, als ein bißchen Hoffnung, mit offenen ehrlichen Händen gegeben. Und darum bitte ich dich: gib mir einen Kuß, einen einzigen, einzigen Kuß; ich will dir alles dafür geben, was ich habe: meine ganze Vergangenheit und alle meine Zukunft.«

Bittend sah er das Mädchen an; aber als sie schwieg und an ihm vorbeisah, stand er auf. »Swaantje,« rief er, »du weißt, meine besten Bilder habe ich behalten. Ich schenke sie dir. Mache damit, was du willst! Gib sie irgend einem Schuster; er darf auch sein Zeichen darunter setzen. Aber gib mir einen Kuß, oder laß dich von mir küssen! Nur ein einziges Mal, sonst geht es so nicht mehr weiter. Neulich, in der Bar, habe ich Heulkrämpfe gekriegt, daß alle die leichten Mädels und sämtliche schwergeladenen Gäste es mit der Angst bekamen. Ich bin fertig. Ich heule jede dritte Nacht mein Kissen naß. Grete merkt das nicht; aber sieh dir einmal die Augen an, mit denen unsere Luise mir nachsieht. Das Mädchen ist verlobt, und sie hat ihren Schatz gern. Aber, wenn ich winke, kommt sie; aus mütterlichem Mitleid. Alle Frauen und Mädchen sehen mich an, als wollten sie mich in den Arm nehmen, so dauere ich sie. Und ich komme mir vor, wie ein ganz kleines Kind, das liebgehabt werden will, weil es hungert und friert. Was habe ich früher die Leute beneidet, die sorglos leben konnten und die, die sich mit Lob wuschen und in Ruhm badeten. Jetzt bin ich so gut wie berühmt, was ich male, ist Gold wert; ich beherrsche die Technik autokratisch. Aber ich bin ärmer als damals in München, als ich mit der Miezi in einer Bodenkammer lebte und froh war, wenn ich Brot und Wurst hatte. Meine Haare sind grau geworden, meine Augen sind kalt, und mein Herz vereist langsam. Meine eigene Frau stieß mich in den Tod, und du stehst dabei und siehst zu. Hätte ich nicht diesen Indianerkörper, ich wäre längst auch leiblich tot.«

Er trat dicht vor das Mädchen hin und sah sie lange an; sie blickte an ihm vorbei. »Du leidest ebensoviel wie ich, Swaantje,« begann er endlich wieder; »vielleicht noch mehr, denn du hast Angst zu sprechen, und du wagst nicht mich anzusehen. Ich will dich auch nicht weiter quälen, denn du tust mir sehr leid, und ich liebe dich mehr als je zuvor. Was ich vorhin sagte, war nichts als Wut. Ich werde dich immer lieben, so oder so, auch wenn ich tot bin.« Sie zuckte zusammen. »Habe keine Angst, ich töte mich nicht. Es hätte gar keinen Zweck mehr; denn ich bin schon tot. Tote darf man küssen, Swaantje, darf man auf Nimmerwiedersehen küssen, denn sie küssen nicht wieder. So gib mir denn den einen Kuß.« Er beugte sich zu ihr, faßte sie um Kinn und Nacken und näherte seinen Mund ihren Lippen. Aber je näher er ihr kam, um so mehr versteckten sich ihre Lippen, um so starrer sah sie gegen die Wand, um so krampfhafter hielt sie den Atem an, und so streifte er mit den Lippen eben ihre Stirne, ließ sie los und ging aus der Werkstatt.

Beim Mittag war er sehr ruhig, sprach auch ganz freundlich mit seiner Frau und scherzte mit den Kindern. Als Swaantje reisefertig war, fragte er: »Darf ich dir einmal schreiben?« Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. Dann sagte er ganz geschäftsmäßig: »Dein Bild schicke ich dir, wenn es fertig ist. Die weiße Haide muß heraus; sie drückt zu sehr auf dein Gesicht. Überhaupt habe ich in der letzten Zeit viel Quatsch gemalt; ich hatte ja auch meist Fieber. Ich werde jetzt nach Stillenliebe fahren; vielleicht hilft mir die Jagd. Und nun, liebe Swaantje, verzeihe mir alles, was ich dir antat. Ich bin krank, sehr krank. Und ich will mir Mühe geben, daß hier wieder alles so wird wie früher. Lebe wohl; der Wagen ist da!« Er reichte ihr die Hand hin; sie legte die ihre lose hinein, ohne ihn anzusehen, und ging die Treppe hinab, wo Grete sie erwartete.

Beide stiegen ein, ohne sich umzublicken. Er sah dem Wagen so lange nach, bis er um die Ecke verschwand; dann ging er in die Werkstatt, und Gift und Galle, seine beiden Teckel, folgten ihm mit gesenkten Ohren und hängenden Ruten.

 


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