Hermann Löns
Das zweite Gesicht
Hermann Löns

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der eiserne Ritter

Die Sonne spielte mit den Stäubchen Kriegen, als er durch das Treppenhaus ging; sie fiel durch die grünen und roten Fensterrauten und warf bunte Streifen durch den Raum, die als seltsame Flecke an den Wänden hängen blieben.

Helmold ging auf dem Läufer; deshalb wunderte er sich, daß seine Schritte klirrten, als habe er Reitstiefel an. Er drehte sich um, denn er dachte, der Reitknecht sei hinter ihm; aber als er den Kopf wandte und sein Blick in den Pfeilerspiegel fiel, sah er den eisernen Ritter darin stehen und zu ihm herübernicken. »Kaltwasserheilanstalt!«, dachte er.

Swaantje stand am Fenster, als er in das Frühstückszimmer trat; sie hatte das gefährliche Kleid an. Als sie ihn anlächelte und ihm die Hand bot, wurde ihm weh um das Herz, und ein bitterer Geschmack war in seinem Munde. Er dankte stumm, als sie ihm in ihrer lautlosen Art die Brotschnitten zurechtmachte und hinreichte, ihm den Tee eingoß und freundlich sagte: »Nun iß, lieber Helmold, und erzähle mir, was dich geträumt hat!« Er sah sie so entsetzt an, daß sie erst auflachen wollte, aber dann neigte sie sich über den Tisch, griff seine Hand und fragte: »Was hast du für einen traurigen Mund? Wieder schlecht geschlafen? Du sollst hier nicht an deine Bilder denken; das hast du mir doch versprochen.«

Ihr Vater und seine Schwester kamen; erleichtert atmete Helmold auf. Der alte Herr sah die Post durch. Er machte ein böses Gesicht, und Frau Gese fragte ihn besorgt: »Sind die Kurse wieder gefallen, liebster Ollig? Ich habe es mir gleich gedacht, denn wir haben nun einmal kein rechtes Glück; mein Los hat auch wieder eine Niete gehabt. Und denke dir, Pinke hat sagen lassen, mehr als acht Pfennige gäbe er für die Eier nicht mehr! Das ist doch wirklich stark. Swaantien, hast du schon gefragt, wie viele heute da sind?« Das Mädchen nickte. »Und ob das weiße Perlhuhn noch immer nicht da ist?« Das Mädchen antwortete durch ein Kopfschütteln. »Vergiß ja nicht, Fenna zu sagen, daß sie nicht wieder von der besten Butter für die Leuteküche nimmt, und Janna soll keine Zeitungen mehr zum Feueranmachen nehmen, sondern Reisig. Das Mädchen bringt mich noch um mit ihrer Verschwendungssucht!«

Sie wandte sich an Helmold: »Ich werde nach Adda schicken; die kann heute nachmittag mit euch gehen, wenn ihr nach dem alten Heidengrabe wollt. Denn so sagtest du doch gestern, lieber Helmold?« Er wollte schon sagen: »Sehr angenehm!«, aber da sah er in dem Pfeilerspiegel den Mann im Harnisch stehen und verächtlich lachend den Kopf schütteln, und so antwortete er: »Ich verzichte; ist für Adda kein Genuß und für uns erst recht nicht!«

Die Tante seufzte: »Sie tut es ja nur Eurethalben.« Helmold sah erstaunt auf: »Unserthalben? Uns liegt gar nichts daran daß sie neben uns hertappelt und andauernd über die Gefahr stöhnt, der sie ihren Teint aussetzt.« Die alte Dame machte ihre kummervollsten Augen: »Aber, lieber Helmold, allein solltet ihr beiden nicht so viel ausgehen. Frau Bergedorf machte neulich schon eine Bemerkung darüber!« Der eiserne Ritter nickte; seine Augen funkelten höhnisch durch die Visierspalte. »Bist du derselben Ansicht, liebe Muhme,« antwortete Helmold höflich, »so füge ich mich durch Abreisen. Was die Gaffelzange vom Duttenhofe sagt, ist mir gleich. Übrigens hat sie recht, übel von ihren Mitmenschen zu denken; ihr Vorleben ist ja auch danach,«

Er sah in den Spiegel; der gepanzerte Mann nickte beifällig. Die Muhme sank hinter der Kaffeemütze zusammen. Helmold warf leicht hin: »Na, sie kann sich beruhigen, in zwei, höchstens drei Tagen muß ich fort; ich habe ein Dutzend Bilder im Leibe. Aber heute und morgen will ich Swaantje noch für mich haben. Also verschone mich mit Adda, bitte! Kommst du mit in den Park, Swaantje?« Das Mädchen nickte und stand auf.

Im Hausflur schüttelte er sich wie ein nasser Hund und lachte. »Muhme Geses Piepmatz ist bald schlachtereif; kommt sie mir noch einmal so dumm, dann male ich sie als Göttin der alles aufweichenden Philisterhaftigkeit und die Bergedorfen daneben als die der kleinstädtischen Niedertracht, aber beide als Ganzakte, die eine als Braten, die andere als Knochenbeilage. Und darunter schreibe ich: Hätt' Eva so oder so ausgesehn, brauchte Adam nicht aus Eden zu gehn!«

Das Mädchen lächelte, aber dann flehte sie: »Bitte, Helmold, die Tante ist so gut; und sie hat dich so gern. Gestern sagte sie es noch.« Er knurrte: »Ich verzichte auf eine Liebe, die mir nicht bekommt; Schwindel ist das. Bitte, laß mich ausreden! Deine Muhme, ich habe dir das schon einmal in scherzhafter Weise gesagt, ist ein Ungetüm, das inkognito reist, ein menschenfressendes, kannibalisches Geschöpf. Gestern hat sie in einer Stunde achtzehn geschlagene Male gesagt: ›Swaantien, hast du dies getan? Swaantien, hast du auch daran gedacht?‹ Hätte sie es noch einmal getan, so hätte ich gesagt, die Krebssuppe wäre nicht geraten oder sonst etwas bodenlos Ruchloses.‹

Er zischte durch die Zähne: »Vierundzwanzig Jahre bist du alt, und sie behandelt dich, als ob du vierzehn wärest. Jede Spur von Selbständigkeit nöhlt sie dir fort. Sie hat es durchgesetzt, daß du nicht nach Rom kamest; sie hat es vereitelt, daß du Krankenschwester wurdest; sie hat dich glücklich so weit gebracht, daß du eine Art von besserer Großmagd geworden bist. Du mußt stundenlang dabeistehen, wenn die Renekloden oder irgendein sonstiges besseres Baumgemüse abgenommen wird, damit die Mägde ja keine essen! Keine Stunde am Tage hast du für dich. Der Deuwel soll darein schlagen!«

Er faßte sie an der Hand und zog sie in die Ebereschenlaube, die ganz rot von den reifen Beeren war. »Sieh mal, liebes Kind, ich habe mich allein durchgerungen; ich habe mir ein Wissen angeeignet, das sich sehen lassen kann; ich habe vier Erdteile bereist, habe gehungert und verschwendet, beides reichlich; habe geliebt und gehaßt, und nicht zu knapp; habe mit Fürsten und Verbrechern an einem Tische gesessen; habe die ganze Weltgeschichte in mich aufgenommen; alle philosophischen Systeme durchgekaut; zu vielen Göttern gebetet und vielen entsagt; mehr Wonne und Weh erlebt, als tausend Menschen, und deine Muhme sieht von der Höhe ihres Unternivos auf mich herab, wie die Katze auf dem Dach auf den Löwen; denn: Renekloden einmachen, das kann ich freilich nicht so wie sie, und mir geht jedes tiefere Verständnis für die metaphysische Bedeutung der Muskatnuß bei der Zubereitung des Blumenkohls ab.«

Er holte eine Zigarre heraus. »Du erlaubst, Liebe? mit Dampf geht es besser. Du hast wegen deiner Neuralgie zehn Ärzte gefragt und zwanzig Kuren gebraucht. Ich werde dir etwas sagen: ich schlage Muhme Gese tot, wir beerdigen sie mit Musik, lassen die vorschriftsmäßigen drei Zähren auf ihr Grab tröpfeln, und ich wette: in vier Wochen bist du nicht mehr Swaantjen, die arme, verwaiste, hilflos betantete Nichte, sondern Swaantje Swantenius, meine schöne, kluge und stolze Base. Bei der Sonnenrune und dem heiligen Kreis, meine Geduld hat ein Ende! Ich bin ja nur ein Schwippvetter, der hier nichts zu sagen hat, aber ich werde, bevor ich abreise, einen solchen Höllenlärm schlagen, daß Muhme Gesina drei Tage lang von Angst und Baldriantee lebt und alle ihre Kommodenschiebladen nach Herzkrämpfen durchkramt. Und wenn sie mir nicht bei den Manen ihres Mopses verspricht, dich auf zwei Jahre aus dem Stalle zu lassen, dann erzähle ich es überall, ich hätte abreisen müssen, weil Frau Gesina Stieghölter geborene Swanteniussen mir andauernd schmutzige Anträge gemacht hätte.«

Swaantje mußte nun doch lachen; ihr Vetter aber fuhr fort, indem er dabei wütend paffte: »Der Mensch hat an erster Stelle Pflichten gegen sich selber. Deine Pflicht ist, aus dir das zu machen, wozu dich das Schicksal bestimmt hat, aber dich nicht selber im Grundrisse zu verzeichnen und in der Fassade zu verkorksen. Du mußt heraus aus deiner Watteverpackung, mußt etwas erleben, Gutes und Schlimmes, aber nicht dasitzen, bis du jenseits von Gut und Böse bist, dein Herz an einen Mops hängst und drei Stunden darüber redest, daß der Gerichtsrat Meyer seinen Lehnstuhl neu hat überziehen lassen. Ich mache mir aus deiner Bibel nicht viel; sie liegt mir nicht, aber es steht doch manches vernünftige Wort darin, so von dem Pfunde Sterling, mit dem man wuchern soll. Glaubst du denn, ich weiß nicht, wie dir zumute ist? Nun bin ich bald vier Wochen hier, und in der ganzen Zeit habe ich keine Nacht mehr als drei Stunden geschlafen, und manche gar nicht. Heute war es Halbsechse, als ich einschlief! Du meinst, weil ich an meine Bilder denke? Ich pfeife darauf! An dich habe ich gedacht, um dich mir Sorge gemacht; denn ich kann es nicht ansehen, wie die Frau dich auf kaltem Wege hinrichtet, und das tut sie. Aber ich kenne dich und weiß, bei dir hat alles Reden keinen Zweck, weil du verbrecherisch selbstlos bist, und das macht mich so mutlos.«

Beim Mittagessen war er von blendender Kälte, denn der eiserne Mann sah ihn fortwährend aus dem Spiegel an. Deshalb versalzte er der Muhme die Suppe mit gleißenden Widersprüchen, verpfefferte ihr den Braten mit funkelnden Vergleichen und übersüßte ihr den Schokoladenpudding mit irrlichternden Witzen, bewies ihr auf das höflichste, daß sie eine Gans in Großfolio sei, und überzeugte sie auf das verbindlichste, daß sie am besten täte, nichts zu sagen. So aß sie denn kaum so viel, wie die drei anderen zusammen, und war selig, sah Helmold sie einmal nicht spöttisch an. Auch sagte sie nichts, als er nachher in weißer Bluse, Kniehosen und langen Strümpfen, die Jacke auf dem Arme, herunterkam, und sie seufzte noch nicht einmal, als er auf ihre Frage: »Wollt ihr denn kein Butterbrot mitnehmen?« antwortete: »Im Gegenteil; einmal ist das kleinbürgerlich, und dann wollen die Wirte auch leben.«

Es war ein Tag in Blau und Gold. Der Himmel war hoch, die Sonne lachte über das ganze Gesicht, die Feuerbohnen, Sonnenblumen und Georginen hinter den Zäunen freuten sich ihres Lebens. Und Helmold auch. Er hatte den unbarmherzigen Zug um die Lippen verloren, und hinter dem frohen Leuchten seiner Augen schimmerte eine geheime Zärtlichkeit, wenn er Swaantje ansah, die ihr rosenrotes Kleid, ihr Morgenrotkleid, wie er sagte, anhatte, und den weißen, weichen, mit einem rosenroten Bande umwundenen Hut. Tausende von goldenen Gedanken blitzten vor ihm über den Weg hin, und nur ab und zu summte ein schwarzer oder brauner dazwischen herum. Hinter ihm her aber schritt der eiserne Ritter; das Klirren seiner Sporen klang gut zu Swaantjes hellem Lachen, mit dem sie Helmold für sein fröhliches Geplauder dankte.

Zwei Bauermädchen kamen ihnen entgegen und boten ihnen die Tageszeit. Sie streiften ihn trotz seiner auffallenden Kleidung kaum mit den Augen, sahen Swaantje aber voll andächtiger Bewunderung an. »Merkwürdig!« dachte er; »alle Frauen sehen sie an, und jeder Mann blickt an ihr vorbei! Woher das wohl kommt? Sie ist ihnen zu geistig, zu hoch, zu unnahbar; ein goldenes Gitter von Reinheit ist vor ihr.«

Der Fußweg unter den Hängebirken war so schmal, daß Helmold hinter ihr gehen mußte. Ein Fest war das für seine Augen, wie sie vor ihm herschritt, umflossen von dem leichten Kleide, dessen lose Formen ihren hochadeligen Wuchs geflissentlich hervorhoben. Der Ritter flüsterte ihm über die Schulter zu: »Sie ist die Schönste, die Allerschönste: wer sie lieben darf, den kann kein Himmel mehr lohnen und keine Hölle mehr schrecken.« Aber Helmold zuckte die Achseln.

Eine Viertelstunde hatten seine Blicke nun schon die Locken ihres Nackens geküßt, ohne daß ihre Wangen roter wurden, ohne daß sie sich umwendete, und er wußte es: jedes Weib, dem er in den Nacken blickte, drehte sich nach ihm um. Er sah sich nach dem Ritter um; der lächelte und flüsterte: »Das Windröschen blüht in einer Stunde auf, die Rose braucht mehr Zeit dazu.«

Aus den Zweigen der Birken lispelte die Hoffnung Helmold verheißungsvolle Worte zu; aber da flog ihm ein dicker, schwarzer Gedanke mitten in das Gesicht; er dachte an den Mann, den Swaantje liebte. Doch dann wiegten sich seine Blicke wieder in den Falten ihres Kleides, das über dem grauen Fußsteige schwebte wie Morgenröte über einem Flusse.

Als sie vor dem Donnerkruge waren, setzte er die hohlen Hände vor den Mund und schrie wie ein Haupthirsch vom zwölften Kopfe. Die hübsche Wirtin schoß aus der Tür heraus, lachte, gab ihm die Hand und rief: »Nein, haben Sie sich aber nüdlich gemacht, Herr Hagenrieder!« und dann war sie fertig mit ihm und machte zu Swaantje dieselben andächtigen Augen wie vorhin die beiden Bauermädchen.

Sie deckte unter der Linde. Als sie den Kaffee herbeitrug, stellte sie in einen alten Krug, auf dem ein springendes Pferd zu sehen war, einen mächtigen Busch von Astern, Ringelblumen und Georginen auf den Tisch, so daß Helmold ihr eine Kußhand zuwarf und rief: »Großartig, Frau Trui; nun haben wir alles, was wir brauchen.«

Er hatte seine lichte Laune wieder. Seine Augen lachten, als Swaantje ihm den Kaffee aus der bauchigen Zinnkanne eingoß, und er aß in einem fort, nur um sich an den leisen Bewegungen ihrer Arme zu erfreuen, wenn sie ihm vorlegte. Aber dann sah er ihre Hände an, und ein mütterliches Mitleid stieg in ihm auf: »Arme, kleine, müde, entsagungsvolle Hände!« dachte er, und ein bitterer Zug schloß seine Lippen; »Hände, deren Seele nur gedacht und nie gelebt hat, die von Sehnsucht erzählen, aber von keinem Wunsche; Hände, die im Schatten aufwuchsen!

Doch da flüsterte der Ritter ihm etwas in das Ohr. Entsetzt prallte er zurück und machte Kontrahieraugen; aber als er den eisernen Mann ansah und merkte, daß der keinen häßlichen Spott mit ihm trieb, da nickte er ihm verstohlen zu, gab ihm heimlich die Hand und war wieder der lustige Kamerad. Fortwährend erklang Swaantjes fröhliches Lachen, so viel bunte Witze und farbige Schnurren breitete er vor ihr aus, und die Falte der Entsagung zwischen ihren Brauen war nicht mehr zu sehen.

Sie gingen dann die heiße Landstraße entlang, bogen zwischen den kühlen Wallhecken ein, kamen über die sonnenbeschienene Haide und durch Wiesen, glitzernd von Licht. Solange sie nebeneinander gingen, blieb der Mann im Harnisch taktvoll zurück; wurde aber der Weg schmal oder morastig, so daß das Mädchen vorangehen mußte, sofort war der Ritter wieder neben Helmold und flüsterte ihm durch die Visierspalte zu: »Vergiß nicht, was ich dir geraten habe!« und Helmold sah ihn an und schüttelte den Kopf.

Ja, er wollte es wagen, mochte daraus entstehen, was da wollte! Eine übermütige Lust überkam ihn. Mit schmetternder Stimme begann er ein schalkhaftes Volkslied; in den Schlußreim aber legte er jedesmal alle Süßigkeit der Sehnsucht. Er sprang von Hott zu Hüh und kam immer wieder geschickt darauf zurück, daß Kunst, Wissenschaft, Religion und Philosophie nichts seien gegen ein bißchen erlebtes Leben; aber das beste an ihm sei und bleibe die Liebe zwischen Mann und Weib. Das Mädchen hörte aufmerksam zu, doch ihre Wangen blühten nicht voller auf, und ihr Atem ging seinen gewohnten Weg. Aber wenn er auf den wundersamen Zusammenklang von Schatten und Licht, auf die Unter- und Übertöne der Landschaft, auf den geheimen Sinn der Blumen und auf das beredte Schweigen der Bäume hindeutete, dann schenkten ihm ihre Augen zärtliche Blicke.

Kalt durchschauerte es ihn, wenn bei jedem ernstgemeinten Worte ihr innerstes Wesen sich gegen seine Brust lehnte. Mit barschem Griffe faßte er mitten in ihr religiöses Gefühl hinein, als sie von der Seligkeit des Glaubens sprach. »Du verabscheust den Selbstmord, liebe Swaantje,« begann er, »aber was ist denn Glauben anders als Selbstmord? Wer glaubt, dem ist das Leben kein Problem. Er kann sich getrost begraben lassen; für ihn gibt es keinen Kampf mehr. Ich aber will kämpfen; sonst danke ich für das Leben. Wir Germanen sind niemals gläubig gewesen. Religion hatten wir immer, aber eine Diesseitsreligion; das Jenseits versparten wir uns für später. Mit beiden Beinen standen wir auf dieser lieben Erde, lebten unser Leben in Zucht und Sitte, berauschten uns nicht an Wollust und Grausamkeit und brauchten daher auch nicht, wie die Asiaten, Opiate wie Reue und Buße. Zu unsern Göttern standen wir wie zu unsern Fürsten; wir zahlten ihnen pünktlich den Zins, machten Front, fuhren sie vorbei, und damit holla! In unser persönliches Leben durften sie nicht hineinreden. Ich habe mehr als einmal mit dem Tode Kugeln gewechselt; aber niemals ist mir dabei der Gedanke gekommen, daß ich vorher erst ein reines Hemd anziehen müsse, für den Fall, daß ich plötzlich vor jemand stehen würde, der erst meine Wäsche ansähe, ehe er mir die Tür aufmachen ließ. Wir sagen: wir sind Christen, aber wir sind es nicht; wir können es auch nicht sein. Christentum und Stammesbewußtsein vertragen sich ebensowenig, wie Sozialismus und Kultur. In der Theorie sind wir Christen; aber sobald es an die Praxis geht, in Politik, Geschäft und dergleichen, dann sind wir genau solche Heiden wie die Männer, die dort schlafen gelegt wurden.«

Er zeigte nach dem Tödeloh hin, der sich vor ihnen über der Kiefernhaide erhob, und von dem das verbuhlte Gurren eines Ringeltäubers herüberklang. Die Sonne stand noch hoch, so daß die gewaltigen Wachholderbüsche halb schwarz, halb goldig aussahen; aber die Ferne war in dichten Duft gehüllt, und über dem Bachgrunde lag der Nebel wie der Atem eines Hünen.

Der Fußweg war so schmal, daß Helmold die Gelegenheit benutzte, um hinter der Heißgeliebten herzugehen. Er drehte sich um und nickte seinem Hintermanne zu. Ja, er wollte es wagen! Sie sollte etwas erleben! Er wollte sie umfassen und küssen und das Weib in ihr wecken; der Föhn seines Atems sollte das Gletschereis von ihrer Seele schmelzen und der Platzregen seiner Küsse den Staub von ihrem Herzen waschen.

Sie sollte sein werden, ehe die Sonne hinter dem Wahrbaume zu Boden glitt. Er wollte jedes Gedenken an den anderen in ihr fällen, wollte Feuer in ihre Vergangenheit werfen und das taube Gekräut totbrennen, um Platz für die junge Saat zu schaffen.

Absichtlich blieb er hinter ihr, mit Fleiß ließ er sie vor sich hergehen. Seine Lippen sollten dursten nach ihrem Munde und seine Hände hungern nach ihrem Leibe; sinnlos sollten sie vor Liebe werden.

Er pflückte einen langen Halm und ließ dessen Spitze über ihre Wangen gleiten; lässig strich sie mit der Hand nach der Stelle hin. Als er zum dritten Male den Scherz machte, sah sie sich um und lächelte ihm schalkhaft in die übermütig funkelnden Äugen. Er sang leise und mit aller Zärtlichkeit, die er in seine Stimme legen konnte, ein verträumtes Liebeslied, das das Volk sich erdachte, und in dem das Allerletzte zwischen Mann und Weib gesagt wird, aber als er endete: »Denn deine Unschuld und die mußt du lassen bei dem Jäger auf der Lüneburger Haid«, da blieb sie stehen, sah ihn mit leuchtenden Augen an und sagte: »Das ist ja ein köstliches Lied; das habe ich noch nie gehört!« Ein kalter Schauder lief ihm über das Herz; sie sah das Kunstwerk in dem Liede und fühlte nichts dabei. Mutlos ließ er den Kopf hängen und schritt hinter ihr her; ihm war, als müßte er sie schlagen.

Doch der Ritter flüsterte ihm zu: »Sie ist ein unberührtes Weib; wer sie zuerst küßt, den wird sie lieben. Und du willst sie küssen, wirst sie küssen, mußt sie küssen, schon ihretwegen, um sie zu erlösen, damit sie sich herausringt aus dieser blutlosen Nonnenhaftigkeit, aus diesem unmenschlichen Vegetieren, aus diesem geschlechtlosen Unleben. Das willst du, das mußt du, und das wirst du!«

Der urzeitliche Friedhof lag in zufriedenem Schweigen da; der Stechpalmen Korallenschmuck leuchtete heiß aus dem kalten Blattwerke, das sich hinter dem grauen Seelenhause erhob. Swaantje nahm aus dem bunten Strauße, den ihr Frau Heinemann mitgegeben hatte, eine schneeweiße Aster, zwei blutrote Georginen und vier von den grellen Ringelblumen, band sie mit einem blonden Halme zusammen und legte sie vor die Tür der Urahnenkapelle hin. Dann ließ sie sich auf der Jacke nieder, die Helmold für sie über das schimmernde Moos gelegt hatte, und er setzte sich zu ihrer Linken.

Sie saß ein wenig unter ihm, so daß er sie mit den Augen umspannen konnte. Wild schlug sein Herz und dann wieder zaghaft. Ein dumpfer Druck lag auf seinem Gehirne, und seine Kehle war wie eingeschnürt. Aber kein heißer Schauer lief ihm über die Brust, und keine süße Erwartung fieberte in seinen Lippen; nur eine bleiche Furcht hockte hinter ihm, und vor ihm kauerte die Hoffnungslosigkeit, von oben bis unten in Spinneweben gekleidet.

Swaantje sah in die Sonne, die rot und rund über dem weiß atmenden Bruche stand. Sie wandte sich nach Helmold, sah ihn zärtlich an und sagte: »Vetter, wieviel Schönes habe ich dir doch zu verdanken; ich hätte nicht geglaubt, daß der Herbst mir so viel bringen würde.« Ihre Augen schimmerten feucht, als sie ihm die Hand gab; kühl lag sie in seinen heißen Fingern, so kühl, daß er sie nicht festzuhalten vermochte.

Aber da flüsterte ihm der Ritter zu: »Jetzt sprich ihren Namen so zärtlich aus, wie du kannst, und sieh ihr so bittend in die Augen, wie du es vermagst, und dann nimm sie und küsse sie, bis ihre Seele in der deinigen ertrinkt.«

Helmold nickte und sah das Mädchen an, das verträumt nach der Sonne hinblickte, die sich immer schneller dem Wahrbaume näherte, dessen schwarze Krone wie eine böse Rune über dem Milchsee stand.

»Swaantje,« begann er, und er erschrak, denn seine Stimme klang ganz blaß. »Vetter?« antwortete es ihm, aber dabei sah Swaantje unverwandt in die Sonne. »Liebe Swaantje«, begann er von neuem, und er spottete in sich selber über die Farblosigkeit seiner Stimme; »du hast mir kürzlich etwas gesagt; nun will ich dir auch etwas sagen: ich liebe dich.«

Er sah scheu zur Seite, denn da stand der Ritter, stampfte mit dem Fuße, daß es klirrte, lachte verächtlich und fauchte durch das Visier: »Dümmer konntest du es gar nicht anfangen!«

Swaantje war kaum zusammengezuckt; sie sah nach der Sonne, und Helmold fuhr fort: »Ich liebe dich seit sieben Jahren. Ich habe dich vom ersten Tage an geliebt. Ich habe dich schon geliebt, ehe daß ich dich kannte, ehe daß du lebtest.«

Er seufzte tief auf: »Ich weiß das erst seit jenem Abend, als Grete sagte: Du müßtest immer bei uns bleiben, Swaantje; ich dächte mir das reizend, wenn wir drei immer zusammen blieben. Ich wäre dann deine Sonnenfrau, Helmke, und Swaantje wäre dein Mondweiberchen.«

Das Gesicht des Mädchens war blutlos geworden; geisterhaft hob es sich von dem dunklen Wachholderbusche ab; ihre Augen hingen fest an der Sonne, die mit bösem Blicke über dem Wahrbaume stand.

Helmold half einem Käfer auf, der im Sande auf dem Rücken lag; dann sprach er weiter: »Du weißt, daß Grete am anderen Morgen fragte: ›Ist dir nicht gut?‹ Ich hatte in der Nacht kein Auge zugetan. Ich habe seitdem überhaupt noch nicht wieder geschlafen. Es ist seither keine Stunde gewesen, daß ich nicht an dich gedacht habe. Und deswegen kam ich nicht zu euch. Aber schließlich sah ich ein, daß ich zugrunde ging, wenn ich dich nicht wiedersah. Ich habe wie ein Verrückter gearbeitet; sonst wäre ich irrsinnig geworden. Ich habe seitdem mehr gemalt, als andere in zehn Jahren zuwege bringen. Aber ich habe es als totkranker Mann gemalt. Schließlich mußte ich dich sehen und kam. Am Tage lebte ich; in jeder Nacht starb ich. Du weißt, wie ich des Morgens aussehe, und du weißt, wie anders mein Gesicht wird, wenn ich eine Viertelstunde bei dir bin. Ich habe mich ganz genau daraufhin untersucht, wie ich dich liebe, ob als Bruder, ob als Vater; aber ich liebe dich als Mann; ich will dich. Und deshalb muß ich dir das alles sagen, denn sonst, ich bin meiner nicht mehr sicher, und wenn ich dein Vertrauen verlöre, dann müßte ich mein Leben fortwerfen. Denn das würde ich verlieren, hätte ich das getan, was ich mir vorhin vorgenommen hatte: dich in den Arm zu nehmen und in mein Herz hinein zu küssen.« Der Ritter schüttelte den Kopf und ging langsam von dannen.

Helmold und Swaantje sahen nach dem Wahrbaume, dessen unheimliche Zauberrune mit Gold unterlegt war. Dann sprach das Mädchen: »Helmold, das ist furchtbar, das ist entsetzlich. Ich wollte, ich könnte dir helfen, aber ich kann es nicht. Selbst wenn das nicht wäre, wovon ich dir sprach, könnte ich dir nicht helfen. Ich bin sehr unglücklich darüber, denn du tust mir so unsäglich leid, und doch bin ich stolz darauf, sehr stolz, und ich danke dir, du hast mir ein großes Leid geschenkt, und eine große Freude. Wenn ich dir nur helfen könnte, liebster Helmold! Aber du weißt es selbst, daß ich das nicht kann. Nicht wahr?«

Sie sah ihn zum erstenmal wieder an; er nickte ihr mit ernstem Gesichte zu, bückte sich und küßte ihre Hand, und sie zuckte merkbar zusammen, denn sie fühlte, daß eine Träne darauffiel. »Armer Helmold!« flüsterte sie und sah dahin, wo die riesenhafte Rune stumpf und tot vor dem rosenroten Himmel stand, während darüber ein Stern aufgehen wollte.

Der Ritter kam wieder herangeschlichen: »Noch ist es Zeit, noch ist es nicht zu spät!«, raunte er heiser; »greif zu! Eine Stunde wie diese kommt niemals wieder. Küsse sie! Mein Wort darauf, sie ist dein.«

Helmold sah ihn ungläubig an. Swaantje schauderte zusammen. »Steht hier irgendwo Irrkraut?« fragte sie und drängte sich ganz dicht an ihn heran, so dicht, daß ihre Backe an seiner Schulter lag und ihre Lende seinen Schenkel berührte. »Nun oder nie!« zischte der Mann im Harnische ihm zu, und Helmold näherte von hinten seine Hand, mit der er sich in das Moos gestützt hatte, der Schulter des Mädchens; aber da sah sie ihm ängstlich in die Augen und flüsterte: »Steht hier welches? Ich fürchte mich!« Er gab ihr die Hand und half ihr auf. »Feigling, Dummkopf!« rief ihm der Ritter zu und ging laut lachend durch den hohen Adlerfarn, daß es rauschte.

Der Abendwind warf mit dem dunkelgrünen Geruche des zertretenen Krautes um sich, und Swaantje schauderte abermals zusammen. »Schrecklich, wie das Farnkraut riecht! Hast du keine Angst davor?« Er lächelte: »Nein, ich habe vor nichts Angst!« Er legte ihr das Spitzentuch um die Schultern, zog die Jacke an und reichte ihr den Arm; ohne Zögern legte sie ihre Hand hinein und lehnte sich fest an ihn, wie er es liebte. Als er sich umdrehte, stand der Ritter an einen Baum gelehnt und blickte ihm höhnisch nach; er sah wie ein hoher, spitzer Wachholderbusch aus.

Krähen flogen über sie hinweg und schrieen sich heiser; schweigend ruderte ein Reiher dem Flusse zu. Der Himmel sagte einen zweiten Sonnentag an; hell stand der Liebesstern da.

Lange Zeit sprach Helmold nicht, dann begann er: »Du verstehst doch, Swaantje, daß ich dir das alles sagen mußte?« Sie nickte ernsthaft. »Und ich muß es auch Grete sagen.« Sie nickte abermals. »Und obzwar ich mir dadurch, daß ich dir meine Liebe in dieser Weise offenbarte, alle und jede Hoffnung genommen habe, ich bin doch froh darüber, daß ich es tat. Und ich bin froh, daß es so gekommen ist. Ich hatte immer die Angst, daß ich alt und kalt geworden wäre; wer liebt, ist nicht alt. Ich weiß, daß ich noch jung bin und ein Herz habe; denn es blutet, und das danke ich dir. Ich war so hoffnungslos, Grete und ich, wir haben uns heiß geliebt. Das ist vorbei. Sie ist zu sehr selbsteigene Persönlichkeit, um in mir aufgehen zu können; alles in ihr wehrt sich gegen mich. Darum macht sie mir so oft, oder eigentlich immer, Opposition. Das kann ich nicht vertragen, denn ich bin eine Herrennatur und will keinen Widerspruch; von meinem Lebensgenossen wenigstens nicht. Wer mir widerspricht, ist mein Feind. Die Frau aber soll der beste Freund des Mannes sein. Grete kann mir das nicht sein; mein Wesen und ihres stammen aus verschiedenen Ländern, meines aus Nord, ihres aus Süd. Uns trennt eine Weltanschauung, eine Lebensauffassung. Ihr Wollen drängt von sich zur Welt; mein Wille geht von dem, was da ist, zu dem, was ich bin. Sie ist zentrifugal, ich bin zentripetal. Sie lebt; ich schaffe. Wir haben aneinander keinen Teil.«

Er blieb stehen, zündete sich eine Zigarre an, und als er bemerkte, daß das Mädchen totenblaß aussah, strich er ihm sanft über die Backen, gab ihm den Arm und sprach im Weitergehen: »Trotzdem gehören Grete und ich zusammen, denn sie liebt mich, und ich liebe sie; und dann haben wir Kinder. Ich weiß, was du denkst, aber ich sage dir: trennte ich mich von ihr, und liebtest du mich auch, so wie ich dich liebe, du kämest dann erst recht nicht zu mir, und solange Grete meine Frau ist, habe ich auch keine Hoffnung, daß du mein wirst. Das ist mir alles ganz klar. Zudem: du liebst einen anderen.«

Der Arm des Mädchens zuckte in dem seinigen, und er fühlte, wie sie sich fester gegen ihn lehnte. »Friert dich?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf, und er fuhr fort: »Wenn der, den du liebst, dich liebte, und er brächte dir das Glück, dann könnte ich wieder ein froher Mann sein.« Sie schauderte wiederum zusammen und lehnte sich noch fester an ihn. »Du frierst doch wohl?« fragte er; »willst du meine Jacke haben? Ich brauche sie nicht.« Sie wehrte ab und flüsterte, und süßer als je zuvor, erschien ihm der Tonfall ihrer Worte: »Dann mußt du mich aber sehr lieb haben, Helmold!« Er antwortete erst nicht, aber dann sprach er mit ernster Stimme: »Mehr als meine Kunst.«

Der Ritter flüsterte hinter ihm: »Aber Mensch, sie will ja, daß du sie küssest! Küsse sie! Sie liebt dich und nicht den anderen!« Doch Helmold, der bemerkt hatte, daß Schauer auf Schauer das Mädchen schüttelte, blieb stehen, zog seine Jacke aus und befahl: »So; kleine Mädchen haben zu gehorchen!« und so verstand er nicht, was der Mann im Harnisch ihm zuraunte. Er half Swaantje, die mit niedergeschlagenen Augen dastand und beklommen atmete, in die Jacke, und dann sagte er: »Nun wollen wir etwas schneller gehen«, und eine lustige Weise flötend, schritt er, das Mädchen am Arm, an dem Ritter vorbei, der schwarz und gespenstig auf der Haide zurückblieb.

Tief im Walde ließ der Kauz sein blutrotes Lied erschallen; vom Flusse her heulte ein Dampfer; es klang fast genau so. Der Mond kam hinter den Kiefern hervorgegangen; sie spannen lange Schatten über den weißen Weg.

Helmold lachte auf: »Hör, Swaantje, die beiden! Was sich liebt, das neckt sich. Denk dir das Bild: Der Waldkauz balzt den Dampfer an! Findet er Gehör, so gibt es ulkige Küken: kleine Dampferchen, die auf die Mausjagd gehen, oder Ulenküken, die nach Steinkohlen piepen. Und nun reden wir nicht mehr davon!« Er schwenkte ihren Arm auf und ab und pfiff die Kasatschka.

»H'ach!« fing er dann an; »die möchte ich noch einmal tanzen. Das ist ein Tanz, der nach roten Küssen und nach roten Messerklingen riecht! Tanzen ist: trampeln, daß die Diele donnert, und die Mädchen hin- und herschmeißen, bis sie windelweich sind, aber nicht diese betutige Dreherei, wie sie jetzt in Mitteleuropa im Schwange ist. Überhaupt: Ballschleppe und Tanzen! Das ist schon mehr Fesselballonbetrieb. Etwas angetrunken muß man auch sein, und die, mit der man tanzt, muß hinterher zu allem Ja sagen; sonst ist das einfach zuchtlos. In der Ukranja habe ich mit einer getanzt, Marja hieß sie und war ganz hellblond; aber sie hatte den Satan im Leibe!«

So prahlte er und erzählte Kasakenschwänke und Witze, die er in der Herzegowina gehört hatte, und Schnäcke im Hamburger Ewerführerplatt und Schnurren in pfälzischer und ostpreußischer, schlesischer und bayerischer, münsterscher und berliner Mundart, eine immer toller als die andere, so daß Swaantje mehr als einmal hell auflachen mußte. Er blieb auch den ganzen Abend lustig und versöhnte Tante Gesina gänzlich wieder, denn er machte gar keine kecken Witze, sondern blieb völlig in der guten Weise des Marktfleckens.

Um elf Uhr ging er zu Bett und las bis zwölf Uhr im Herodot. Dann blies er das Licht aus und sah gegen die Decke, die taghell vom Mondlichte war. Um ihn summte ein neues Lied, erst leise dann laut, bis seine Lippen die Weise nachsummten: »Am Himmel steht ein goldener Stern dahinten über dem Walde«. Und ein neues Bild reimte sich darauf; ganz kühl zog er es in den Vordergrund seines Bewußtseins: gelben Sand, weißglühende Sonne, ein Trupp französischer Fremdenlegionäre, alle blondbärtig und blauäugig, halb verrückt vor Durst durch den Sand stolpernd; neben ihnen, zu Pferde, ihre Zigaretten rauchend, die schwarzbärtigen Offiziere, darüber ein Aasgeier.

Plötzlich warf er sich auf das Gesicht, biß in das Kopfkissen, weinte, daß es ihn schüttelte und flüsterte: »Swaantje, meine geliebte, süße Swaantje!« Eine halbe Stunde lag er so da. Dann stand er auf, wusch sich das Gesicht, trank die Wasserflasche fast leer, sah in den Park, holte sich seine Zigarettendose und wollte sich damit vor das Fenster setzen. Aber als er an dem Spiegel vorbeikam, prallte er zurück: der Ritter stand da. Seine Rüstung blitzte weiß, das Visier hatte er heruntergeklappt; er sah an ihm vorbei, wie an einem wortbrüchigen Hallunken, und wies mit dem Finger nach dem Seelenhause im Tödeloh.

Helmold stellte die silberne Dose hin und legte sich nieder. »Elende Hyperästhesie!« dachte er, als ihm die Augenlider zufielen.

 


 << zurück weiter >>