Hermann Löns
Das zweite Gesicht
Hermann Löns

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Der Vollmond

Von allen Freunden, die Helmold hatte, war der Mond der älteste; ob es sein bester war, das erschien ihm freilich fraglich, als er in dem großen Himmelbette lag.

Treu und anhänglich war er zwar, aber er hatte die dumme Angewohnheit, immer dann zu kommen, wenn es Helmold am wenigsten paßte. Jetzt zum Beispiel hätte er gern geschlafen, um die Gedanken loszuwerden, die ihn fortwährend bissen; aber es ging nicht. Schon dreimal war er aufgestanden und hatte in den Park gesehen, der taghell vom Mondlichte war, und immer hatte er sich wieder hingelegt und den Versuch gemacht einzuschlafen. Schließlich gab er es auf; er lag mit offenen Augen da. Der Rücken tat ihm weh, sein Herz ging bald laut, bald leise, eben war ihm die Steppdecke zu schwer, dann wieder zu leicht. Und dann war diese aufdringliche Erinnerung da mit ihrem abgegriffenen Bilderbuche.

»Helmke, schläfst du noch nicht?« fragte ihn seine Mutter. Er sah sie vor sich mit ihren sanften Augen und vernahm ihre warme Stimme. Und er hörte, wie er ihr entgegenquiekte: »Ach, Muttchen, der Mond und ich, wir haben eben so prachtvoll zusammen gespielt.« Ja, der Vollmond, der war an vielem schuld gewesen, auch daran, daß Harmtien Hilgenberg auf einmal zu ihrer Muhme auf das Land mußte. Helmold lächelte. Harmtien Hilgenberg! Wenn die Mädchen Wadenmessen spielten war sie immer die Beste gewesen. Als sie dann einmal im Kirschbaum saß mit ihren weißen Strümpfen und ihren weißen Hosen, damit fing es an. Und dann der Wassergang und der Schloßwall! Ach ja! Schön war es doch gewesen, trotzdem es eine Kinderei war! Na, und schließlich kam der alte Hilgenberg dahinter, und es gab einen großen Krach. Beinahe wäre Helmold von der Lateinschule gejagt, und bei allen Müttern in der Stadt galt er als ganz verdorbener Junge. Er lächelte. Dafür galt er bei den Töchtern als gefährlicher Mensch, und das schadete ihm wenig.

Er seufzte. Das Bild an der Wand, das Swaantjes Mutter darstellte, sah ihn freundlich an. Ob das Mädchen auch wohl wachte? Sie hatte den ganzen Tag nicht gut ausgesehen; auch sie litt unter der Zudringlichkeit des Mondes. Ob er ihr auch Dinge erzählte, an die man sonst nicht denkt? »Kerl,« hatte der Mond oft zu Helmold gesagt, »Kerl, weißt du, wie dein Leben sein müßte: ein Gedicht von rot in Rot; rote Küsse auf rotem Blut! Die weite Haide, Kerl, ein blitzblanker Rappe zwischen den Beinen, den Bogen auf dem Rücken, den Köcher an der Seite, und in der Hand das Schwert, das mit dem damaszenischen Stichblatt, Kerl! Und dann, Kerl, hinter dir tausend Kerle, so wie du, Kerl, und die alle auf den Pfiff gehorchen, Kerl, und dann der Feind! Kerl, nichts sieht doch feiner aus, als rotes Blut auf einer mit Gold ausgelegten Klinge! Und dann, Kerl, wenn die Wölfe sich um Männerköpfe anknurren, Kerl, und du dich gebadet und umgezogen hast, dann Kerl, das Haus am Berge, das weiße, du weißt doch, unter den Eichen, und die beiden schönen Frauen, die dir entgegenwinken, Kerl, und dir geben, was du haben mußt, laute und leise Küsse, und heiße und kühle, so viel du willst. Was hältst du davon, Kerl?«

Helmold warf sich auf die andere Seite. Albernheit! Aber schön wäre es doch. Damals, in München, hatte er jeden Tag zweierlei Küsse bekommen, laute und leise, heiße und kühle. Wie Swaantje wohl küßte? Sicher leise und kühl. Er schüttelte den Kopf und wischte sich die Lippen ab. Würde sie ihn wohl küssen mögen, wenn sie wüßte? Die kleine sanfte Schneiderin, was war sie weiblich, Miezi hieß sie. Und das dicke heftige Tresl! Er wäre verhungert, hätte er die damals nicht gehabt. Sie hatte sich ihm aufgedrängt, und er hatte sich ihre heißen Küsse und ihre heißen Bockwürste gefallen lassen. Die Akademie hatte ihm den ehrenvollen Abschied gegeben, Schneeschüppen brachte nicht sehr viel ein, der Vormund schickte ihm kein Geld; eine schöne Patsche war es, in der er saß. Keine Wohnung und ein Hunger, ein Hunger! Kalte Pellkartoffeln hatte er einmal mit Wonne gegessen, zweiundzwanzig Stück, und amerikanisches Schmalz dazu. Wenn er gewollt hätte, konnte er damals Selchermeister werden, denn das Tresl hätte ihren Vater dazu herumgekriegt. Beinahe war er schon so mürbe, aber da traf ihn der Mond im englischen Garten. »Kerl, du wirst doch nicht? Bist wohl verrückt, Kerl! Würstemachen? Ja, wenn es in der Haide wäre! Aber hier, das hältst du nicht aus auf die Dauer. Komm mit, Kerl, ich will in die Haide!«

Helmold trat die Steppdecke von sich, aber dann zog er sie wieder über sich und streichelte sie; Swaantje hatte die Spitzenkante gehäkelt. Swaantje! Er sprach den Namen leise vor sich hin. »Du hast dich eigentlich noch so gut wie gar nicht erholt, lieber Vetter!«, hatte sie ihm gesagt; »du mußt hier nicht an deine Bilder denken!« Verächtlich verzog er den Mund. Seine Bilder! Die quälten ihn nicht. Ein Dutzend hatte er im Kopfe fertig, ein ganzes Dutzend, in diesen vier Wochen, seitdem er auf Swaanhof war. Und was für Bilder! Schulze in Firma Schulze und Schultze würde sich alle seine zehn klebrigen Finger danach lecken. Sechsmal hatte er ihm schon geschrieben und gefragt, ob er nicht das nächste Bild haben könnte. Früher war das anders; da mußte Helmold im Vorzimmer warten, bis ihm der Magen knurrte, und nachher hieß es: »Herr Schulze ist leider abgerufen!« Jetzt konnte er Herrn Schulze warten lassen, und der nahm es ihm nicht übel. »Ich habe Zeit, verehrter Meister!« grinste er. Und Hennig Hennecke sagte ganz ernst: »Malermeister, Herr Schulze, Malermeister!« Und Schulze lächelte schlagsahnig: »Ein Witzbold, der Herr Redaktör, ein geistreicher Kopf!«

Ja, daß er und Hennig Freunde wurden, das hatte er auch wieder dem Monde zu verdanken. Eigentlich war es zu dumm. Auf der großen Frühjahrskitschausstellung hatte die Jury endlich ein Bild von ihm angenommen und in die Ecke gehängt, wo das Tageslicht seine blendendste Negativität entwickelte. Hennecke hatte sein Verzeichnis dort liegen lassen und es abends geholt, und dabei hatte ihm der Vollmond Hagenrieders Bild gezeigt. »Die Nebelfrauen« hieß es, aber der Mond hatte Leberwürste aus den Elfen gemacht, und Hennecke hatte in seinem Berichte also geschrieben. Helmold lachte. Wo er hinkam, hielt man ihm die Zeitung unter die Nase. Fuchsteufelswild hatte er Hennecke auf eine Postkarte gemalt, wie der abends über eine Moorwiese lief und sich vor lauter gespenstigen Leberwürsten ängstigte, die ihre Mostricharme nach ihm ausstreckten, und die hatte er ihm geschickt.

Am anderen Tage klingelte es: »Sind Sie Hagenrieder? Ich heiße Hennecke! Wo pflegen Sie sich zu betrinken?« Nach einer Stunde waren sie ebenso angeheitert wie angefreundet.

Ach ja! Wer so sein könnte, wie dieser Mann! So ruhig, so bäurisch, so zielbewußt. Er hatte ihm das einmal gesagt. Hennig hatte gelacht, ein Buch aus dem Schranke gelangt, eine Stelle aufgeschlagen und gelesen: »Der wird nicht weit kommen, der von Anfang an weiß, wohin er geht.« Dann hatte er gesagt: »Also sprach der Korse. Merke es dir, du Dussel, und sei froh, daß du nicht diese verflucht übersichtliche Begabung hast, wie ich. Cognak oder Chartereuse?«

Helmold langte nach der Wasserflasche. In seinem Wohnzimmer hatte er Cognak. Aber er wollte nicht trinken; nun gerade nicht. Jedesmal, wenn er nicht hatte Maß halten können, war es bei Vollmond gewesen. Auch damals, als ihm das Leben auf der Kunstgewerbeschule den Atem nahm. Der Direktor, dieser Professor Römer, er meinte es ja gut, als er ihm eine Schwungfeder nach der anderen auszog. Und dann kam der bewußte Abend. »Nun noch die Schwanzfedern, dann der Professortitel und dann bin ich so weit,« hatte Helmold gedacht und sich derartig unter Sekt gesetzt, daß er drei Tage schwänzen mußte.

Er lachte, denn das Gesicht des Direktors war zu niedlich gewesen, als der ihn gefragt hatte, warum er weggeblieben war, und die Antwort bekam: »Ich hatte zu viel Sekt getrunken!« Na ja, und dann gab es Krach, und es war Schluß. Grete hatte erst ein langes Gesicht gemacht, sich aber bald sehr tapfer benommen. Tüchtiges Mädel! Schade nur, daß sie ihn so gar nicht verstand. Oder vielmehr, daß sie zu sehr auf sich gestellt war. Da war Swaantje anders. Die lehnte sich mehr an, gab sich mehr hin, war weniger Mensch für sich, mehr Weib.

Der Goldrahmen an der Wand blitzte. Im Garten rief das Käuzchen. Mehr Weib? Vielleicht schien das nur so. Wenn sie an einem anderen Platze stände, würde sie vielleicht weniger weiblich-hilflos wirken; körperlich wenigstens, oder vielmehr: leiblich.

Helmold nahm sein Tuch und trocknete sich die Stirne und die Brust. Er sah sie neben sich, den Kopf auf seinem Arme, und er nahm sie und küßte sie auf die Hände und den Mund und langte nach den Spitzen unter ihrem Kinn; aber da war sie verschwunden. Er lachte bitter. So ging es ihm immer; Hände und Mund, mehr bekam er von ihr nie, auch in Gedanken nicht, und im Traume schon gar nicht. Seine Stirne bezog sich, seine Augen stachen nach dem Bilde ihrer Mutter hin. »Wenn ein Mensch einen anderen liebt, müßte er es doch merken«, hatte Swaantje neulich gesagt. Professor Groenewold merkte es nicht, und Swaantje auch nicht.

»Vielleicht kommt das daher, weil ich sie gar nicht als Weib liebe«, dachte er. »Wie aber? Als Bruder, als Vater, als Künstler?« Er seufzte tief auf und fuhr sich über die Augen. Das ging nun Nacht für Nacht so; die eine Nacht las er, die andere dachte er. Wenn Grete da wäre? Aber nein! Liebte er sie noch? Düster sah er in die Falten der Vorhänge. Was ist Liebe? Zusammenklang, aber kein Nebeneinanderklang. Ebu Zeidun, du hattest recht, zu singen: ›Und wir brachen den Zweig der Liebe, und wir rissen seine Blüten herunter.‹ Und Henry Beyle wußte es auch, als er seiner Schwester schrieb: ›Wenn wirkliche Liebe in der Ehe besteht, so ist sie ein Feuer, das erlischt, und zwar um so schneller erlischt, je heller es gelodert hat. Die Natur läßt die Nerven nicht lange in derselben Spannung, und jeder häufig wiederholte Eindruck wird geringer und weniger fühlbar.‹ Als er jene Stelle zum ersten Male las, vor sieben Jahren, hatte er an ihrer Wahrheit gezweifelt; aber es stimmte schon.

Eine Mücke summte über ihn hin. »Wir drei, wir drei, wir drei«, summte sie. Ganz deutlich war das zu hören. Eine Totenuhr klopfte: »Wir drei, wir drei, wir drei«, klopfte sie. Die Turmuhr schlug: »Wir drei, wir drei, wir drei«, schlug sie. Wieder rief das Käuzchen: »Wir drei, wir drei, wir drei«, rief es. Die Wildenten schnatterten auf dem Burggraben: »Wir drei, wir drei, wir drei«, schnatterten sie. Grete oder Swaantje? Grete und Swaantje! Rot und grün! Laut und leise! Licht und Schatten! Heiß und kühl! Komplemente! Das eine ohne das andere nicht zu denken. Ergänzungen! Hälften! Nein, Drittel, erst ganz, wenn es hieß: Gretehelmoldswaantje! Swaantjehelmoldgrete! »Wir drei, wir drei, wir drei!«, klopfte sein Puls, schlug sein Herz, hauchte sein Atem.

Vor seinen Augen jagten sich seine Bilder und sangen ihm die Lieder, die er noch nicht kannte. Hier Wode, da Christus, der eine schwarz, der andere weiß, und dazwischen als Mittelbild des Tryptichons die Hinrichtung der Sachsen, rot in Rot. Christus und Wode sahen sich über das Bild an; Christus lächelte verlegen, Wode überlegen. Und das Bild sang: »Rose weiß, Rose rot, wie süß ist doch dein Mund!«

Er sang die Weise vor sich hin. Weg war sie, und eine andere kam angesummt, leise, wie eine Mücke. »Sie sangen ihm von Avalun, gelb war sein Haar«, klang es. Und da war das Bild: schneeweiße Sandhügel mit kohlschwarzen Schatten, die Sahara; davor tote Männer, Kabylen, lang, mit edlen Gesichtern; der eine mit rotem Bart und blauen Augen, der andere schwarz, Beni Benjamin, der Doktor. Und daneben mit Zuhältergesichtern, grinsend, wie Mandrills, französische Offiziere, Dirnen am Arm. Und dann Swaantje vor weißer Haide, und die Haide sang: »Rose Marie, Rose Marie, sieben Jahre mein Herz nach dir schrie«. Und noch ein Bild, furchtbar: Mönche vor einem Holzstoße, der brannte, und in den Flammen Frigges, der Süßen süßes Gesicht. Und eine weinende Stimme sang: »Dann blühen alle Blumen rot, so rot, so rosenrot.«

Frigge verschwand; Chali sah ihn an, doch sie hatte Gretes Augen, traurige Augen! Aber nein, Swaantjes Augen waren es, bitterböse Augen, Am Morgen war ihnen in der Stadt eine junge Frau begegnet; böse hatte sie nach Swaantje hingesehen, und deren Augen wurden zu Eis. »Kennst du die?« Swaantje nickte. »Du haßt sie?« Sie zuckte die Achseln. »Ich glaube.« »Weshalb?« fragte er weiter. Sie hob abermals die Schultern. »Ich weiß es nicht; ich glaube, sie haßt mich; das fühlt man. Gesprochen habe ich nie mit ihr.«

Liebe und Haß, was ist das? Die Buddhisten glauben, daß mit dem Tode die Seele zerreißt, und daß dann die Stücke neue Verbindungen eingehen, glückliche und unglückliche; daher kommt alle Wonne in die Welt und alles Weh, alle Liebe, aller Haß, jede Guttat, jede Bluttat. Ein schöner Gedanke und ein schrecklicher! Swaantje, gib mir das Stück meiner Seele, das du bekamst, als du geboren wurdest, und wenn du das nicht kannst, gib dich mir ganz! Kannst du das? Am Ende bist du zum Teil Mann! Unsinn! Aber nein: denn wenn eine Frau nicht etwas Mann wäre, wie könnte sie dann Knaben gebären, und wenn ein Mann nicht etwas vom weiblichen Wesen in sich hätte, wie wäre es ihm wohl möglich, ein Mädchen zu zeugen? Es gibt keine Grenzen zwischen den Dingen; sie werden gemacht! Es gibt keine Arten und Gattungen bei Pflanzen und Tieren; wir denken das System in die Natur hinein! Eine dumme Eselsbrücke ist das für uns einsichtsloses Pack. Man kann Umrisse malen, aber wo sind sie in der Natur? Auch die Moral, auch die Gesetze, sie sind künstliche Konturen. Wer sich in sie hineinbegeben kann, wohl ihm; jeder kann es nicht.

Der Mond, der hinter den hohen Pappeln herschielte, schüttelte mitleidig den Kopf, als er alles das mit ansehen mußte, was sein Freund sich dachte. Er tippte ihm auf die Schulter und flüsterte ihm zu: »Kerl, komm, wollen uns was erzählen! Kannst ja doch nicht schlafen.« Listig grinsend setzte er hinzu: »Sie schläft auch nicht.« »Was geht dich das an, alter Esel?« schnauzte der Maler, aber dann lachte er, stand auf, holte sich seine Zigarettendose und setzte sich in den einen Sessel, der in der tiefen Fensternische stand, und der Mond plumpste in den anderen.

»Berühmt siehst du nicht aus, Kerl,« sagte der Mond; »regst dich viel zu sehr auf. Mußt es machen wie ich, immer kühl bleiben, das setzt an.« Dabei klopfte er sich auf die strammsitzende Weste. »Halt die Schnauze, du dämlicher Affe,« fuhr ihn sein Freund an, aber dann fragte er: »Schläft sie wirklich nicht?« Doch der Mond war beleidigt; er antwortete nicht, und als Helmold ihm eine Zigarette anbot, dankte er; er sei nur Russen gewohnt und möge keine Herzegowinas.

Helmold grinste heimtückisch und dachte: »Warte nur, alter Karloffelkopp, ich kriege dich schon! Ich packe dich bei deiner Künstlereitelkeit; darauf fällt unsereins ja immer hinein.« Er blies den Rauch der Zigarette so, daß er dem anderen in die Stubbsnase zog; der atmete ihn verstohlen ein und schielte heimlich nach der Dose aus Tulasilber, die aufgeklappt auf dem Fensterbörde lag.

Der Maler sah in den Park, wiegte wohlgefällig den Kopf, nickte, sah den Mond an und sagte: »Kerl, so gut ist dir noch kein Gedicht gelungen, wie dieses da; allerhand Hochachtung!« Er zeigte nach dem Schloßgraben: »Köstlich, dieser trefflich gelungene Vergleich des Wassers mit einer silbernen Brücke, einfach köstlich!« Er steckte sich eine neue Zigarette an: »Du bist sonst sparsam mit Ausrufungszeichen, Kerl; aber wie du da mit der Pappel die hochpathetische Stelle zu betonen wußtest, das ist einfach Goethe!«

Er nickte und ließ seine Augen über den Park gehen: »Und wie famos, daß du hier und da nicht das Letzte sagst, sondern dem denkenden Leser Gelegenheit gibst, weiterzudichten, so dort bei der Epheustrophe; erst alles ganz bestimmt und klar, und dann diese geheimnisvolle, vielsagende, andeutende Dunkelheit.«

Dann setzte er hinzu: »Nur eine Kleinigkeit, Kerl, die stört mich. Der an und für sich ganz prächtige Vergleich des witzigen Baumschattens auf der Wand des Flügelgebäudes mit einem Wegweiser könnte fehlen; er ist überflüssig, und das Überflüssige ist immer unkünstlerisch, ist das Unkünstlerischste. Du kannst ja diese Stelle auch leicht streichen.«

Der Mond, der anscheinend gleichgültig, aber innerlich sehr gestreichelt das Lob hingenommen hatte, lächelte spitzbübisch. Er faßte erst in die eine, dann in die andere Tasche, machte ein ärgerliches Gesicht, und griff dann nach der Zigarettendose, indem er sagte: »Du erlaubst? ich habe meine im Überzieher stecken lassen!« Er zündete sich eine Zigarette an, ließ den Rauch aus den Lippen in die Nase steigen, atmete ihn ein, ließ ihn in zwei Ketten winziger Kringel aus den Mundwinkeln quellen, lächelte seinen Freund schelmisch an und sprach: »Meinst du, daß der Vergleich so überflüssig ist? Du glaubst, ich hätte ein einfaches Stimmungsgedicht geschrieben. Nimm einmal deine zwei bis drei Sinne zusammen und lies es mit Verstand, so wirst du finden, daß es ein zweites Gesicht hat. Weißt du, was es ist, Kerl?« Er sang halblaut: »Ein Lied der Liabe, ein Sang der Sehnsucht, ein Gebet an die guteste aller Göttinnen, an Frigge, die fröhliche Frau.«

Helmold zog die Augenbrauen hoch: »Das ist mir zu hoch, Kerl; das mußt du mir verklaren!« Der Mond grinste: »Also du hast den Vergleich mit einem Handweiser glücklich begriffen?« Der andere nickte. »Handweiser pflegen zu weisen.« Wieder nickte Helmold. »Na also!« lachte der andere, und als der Freund ihn dumm ansah, plinkte er ihm zu, und da schlug der Maler sich vor die Stirn, denn der blaue Schatten auf der weißen Wand zeigte nach dem Erker hin, hinter dem Swaantje schlief.

Bittend sah er den Freund an: »Du hast sie gesehen?« Der andere nickte listig lächelnd. »Bitte, lieber Dicker, erzähle, erzähle; was tut sie? schläft sie? Und wie geht es ihr? Geht es ihr gut, oder hat sie wieder ihre Schmerzen? Ach, Kerl, du weißt doch! Los, erzähle! Ich tu auch alles, was du willst. Soll ich dich in Öl malen oder in Pastell? Halbakt oder ganz? Kniestück oder stehend? Voll oder halbvoll?«

Der Mond nahm sich eine neue Zigarette, zündete sie an dem Stümpfchen der ausgerauchten an, blies den Rauch von sich, sah den Maler ernst an und begann: »Sie ist jetzt eingeschlafen, jetzt eben. Sie hatte Schmerzen, aber nicht sehr schlimme. Sie sah sehr schön aus. Ich habe sie gesehen, als sie sich umzog. Na, du weißt, ich sehe nicht mit Menschenblicken«, setzte er schnell hinzu, denn Helmolds Augen bewölkten sich. »Sie zieht sich niemals bei Licht aus; sie ist vor sich selber keusch.«

Er blies einen dicken Ring in den Park. Sieh mal, Kerl, ich kenne alle Frauen, die da waren, und sämtliche, die da sind. Ich sah noch wenige, die diesem Mädchen glichen. Bis vor zwei Jahren war noch kein Gedanke an einen Mann auf ihren Lippen zu sehen, ihre Brüste lebten still für sich hin, ihre Lenden schliefen, und ihr Schoß wußte nichts von sich selber. Das ist jetzt manchmal anders.«

Er runzelte die Stirn: »Ein sonderbares Menschenkind! Sonst weiß ich stets, an wen eine denkt, hier nicht. Zu flüchtig ist die Schrift, kaum zu lesen. Anfangs glaubte ich, so solle es heißen, aber dann sah ich, daß ich mich geirrt hatte. Außerdem, was sie denkt, es ist so wenig bewußt, daß schwer dahinter zu kommen ist, sehr schwer. Wenn ein unberührtes Weib eines Mannes liebend gedenkt, wird sie seiner gleichzeitig als Mutter, Schwester und Braut gedenken. Darum, lieber Helmold, du weißt, wir haben uns Aufrichtigkeit gelobt: sie denkt an dich.«

Der Maler sprang auf: »An mich?« Der andere drückte ihn in den Sessel zurück. »Ja, aber in welcher Weise, das, mein Lieber, weiß ich nicht.« Helmold keuchte: »Und der andere? Wie ist es damit?« Der Mond wiegte den Kopf hin und her: »An den denkt sie auch noch, aber in verblaßter Weise; an dich denkt sie mehr. Sie trägt Sorge um dich; sie denkt immer an dich. Ob aber nicht nur als Schwester, oder in der Art, wie eine Mutter ihres Kindes gedenkt, das kann ich dir wahrhaftig nicht sagen. Ich weiß nur das eine: ich bin heilsfroh, daß ich kein Mensch bin, denn sonst müßten wir uns auf krumme Säbel schlagen. Sie ist ohne Fehl trotz ihrer Fehler. Deren hat sie mehrere an Leib und Geist. Du weißt ja: ihre zu kleinen Hände, ihre allzugroße Nachgiebigkeit, und die zu stark entwickelte Willensschwäche, und dieser gänzliche Mangel an Selbstsucht. Und dann dieses allzu bewußte Vertiefen in Philosophie, Geschichte, Kultur, Dichtkunst und andere Allotria. Das ist mir zu unweiblich. Die Mitgift von Mannestum, die jedes Weib hat, braucht sie für ihre Bildung, statt für ihr Leben. Sie ist ein Stück Künstler, leider! Künstlertum verträgt sich nicht mit Vollweiblichkeit; das Erzeugen ist euer Vorrecht. Frauen haben etwas anderes zu tun, vielleicht besseres. Denn, wie du weißt: Kunst, was ist das? Ein Notbehelf für das Leben.«

Er seufzte: »Keiner weiß das so gut wie ich. Alle meine Werke und meinen ganzen Ruhm, ich gäbe das sofort hin für ein Stück gelebtes Leben.« Er stand auf: »Und nun, Kerl, es wird Zeit; ich muß fort. Und dir fallen ja die Augen zu. Bis morgen!«

Helmold stand müde auf. Er warf seine Zigarette in den Garten; wie eine Sternschnuppe fiel sie im Bogen in das Buschwerk. Vier Jahre waren es her, daß er mit Swaantje den sterbenden Sternen zusah. Sie hatte ihn gefragt: »Was hast du dir gewünscht, lieber Helmold?« Er hatte sie angelacht: »Ich wünsche nie etwas; ich will etwas. Aber was hast du dir gewünscht?« Sie lächelte: »Nichts; ich dachte erst daran, als es zu spät war.«

Ja, so war sie, wunschlos und unbegehrt. Und wenn er nur wüßte, ob er selber sie begehrte! Er hatte vergessen, den Mond danach zu fragen. Seine Seele begehrte ihre Seele. Das andere? Er prallte vor dem Gedanken zurück. Seine Lippen flatterten nach ihrer Stirne, seine Finger dachten an ihre Hände; aber scheu gingen sie an ihren Schultern vorbei und mieden ihre Hüften gänzlich. Wie oft hatte er sie nicht im Ballkleide gesehen! Niemals war sein Blut wärmer geworden, und sie war doch so schön an Hals und Schultern, und ihre Arme waren herrlich. Aber nie hatte sich die gemeine Habsucht neben ihn gestellt und mit dem Kopfe nach ihr gewinkt. Sogar damals nicht in jener schlaflosen Nacht, einer Nacht, voll von Rosenduft und Nachtigallenschlag, als er in den Büchersaal ging, um sich den Angelus Silesius zu suchen, und sie plötzlich vor ihm stand, im Nachtkleide, das Licht in der Hand, und der Schatten der Palmblätter mit unverschämten Fingern über ihre Schultern nach ihren Brüsten wies, die aus den Spitzen hervorsahen, die sie mit der linken Hand schnell zusammenraffte, als ihr Vetter ihr plötzlich gegenüberstand. Nur Schreck war es gewesen, was sie damals in seinen Augen hätte lesen können, und vielleicht eine reine Freude an ihrer Schönheit. Möglichenfalls hatte auf dem tiefsten Grunde seiner Seele ein zaghafter Wunsch schüchterne Worte gestammelt; doch sie waren von dem Willen überhört worden.

Nur wenn sie das weiche, lose Kleid aus weißer Wolle trug, hatten seine Arme zärtliche Gedanken gehabt, denn so verlockend fraulich sah sie darin aus. Einmal, als sie in rosenrot und weißgestreiftem, locker gerafftem Kleide vor ihm her durch die blühende Wiese schritt, hatten seine aktgeschulten Augen sich auf die Melodie ihres Leibes zu besinnen versucht; bis zu dem Texte hatten sie sich aber nicht hingetraut.

Die Schleiereule flog an dem Fenster vorbei; die Turmuhr schlug fünfmal; da legte er sich nieder. Aber noch zwei Viertelstunden mußte er sich von seinen Gedanken stechen lassen, ehe sie fortflogen.

Die Amsel sang schon seit Stunden, da tat sich die Tür leise auf, und Swaantje kam im Nachtkleid herein; unter dem weißen Gewande schoben sich ihre nackten Füße verstohlen über den Teppich. Sie hielt mit der einen Hand die Spitzen über ihrer Brust zusammen, die andere hatte sie vor den Augen liegen, so daß das Morgensonnenlicht warm auf ihrem gebogenen Arme spielte. Sie riegelte hinter sich die Tür ab, beugte ihr Gesicht über ihn und ließ ihre Lippen seinem Munde entgegenschweben; mit einem stummen Jauchzer legte er seinen Arm um Adda.

Denn Swaantje hatte sich verwandelt; Adda küßte ihn, Adda mußte er liebkosen, Adda, die ihm nicht mehr war, als ein hübscher, kluger, kaltherziger Mensch, der zufällig ein Weib war, mit dem kein einziger seiner geheimen Gedanken sich je beschäftigt hatte. Wehrlos mußte er sich der ungeliebten Frau hingeben, machtlos war er in ihren Armen, ohne Widerstand duldete er ihre langweilige Leidenschaft.

Mit einem Seufzer, aus Lust und Ekel gemischt, fuhr er in die Höhe, sah wirr um sich, sprang aus dem Bette, warf sein Nachtgewand von sich und stieg in das Bad. Erst als er fertig angezogen vor dem Spiegel stand, gelang es ihm, den Zug von Pein fortzuwischen, der um seinen Mund lag.

Aber als er genauer zusah, erblickte er hinter seinem Spiegelbilde einen anderen Mann, von den Füßen bis zum Kopfe in Eisen gehüllt, der ihn aus der Visierspalte mit herrischen Augen ansah, und als er sich die Augen näher anschaute, erkannte er, daß es seine eigenen waren, und er wunderte sich darüber.

Doch da war das zweite Spiegelbild auch schon verschwunden. »Nervenüberreizung«, dachte er und ging in das gelbe Zimmer.

 


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