Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Räuber

Herrn Henri Roujon zugeeignet

 

»Was ist der ›dritte Stand‹?« –

»Nichts.« – »Was sollte er sein?« –

»Alles.«

Sully

 

Pibrac und Nayrac, so hießen die durch eine Landstraße verbundenen Landstädtchen, die sich unter der Herrschaft der Orleans eine vollkommene Übereinstimmung der Sitten, der Geschäftsführung und der Lebens- und Anschauungsweise erfreuten.

Wie überall, zeichnete der Magistrat sich dadurch aus, daß er noble Passionen hatte; – und, wie überall, versöhnte der Bürger sich damit und hatte nichts dagegen einzuwenden. Man lebte also in diesen glücklichen Gefilden durchaus friedlich und fröhlich miteinander, bis es an einem schönen Oktoberabende dem alten Spielmann von Nayrac, der gerade total abgebrannt war, einfiel, den ihm begegnenden Küster von Pibrac im Schutze der Dunkelheit in ziemlich unverschämtem Tone um etwas Geld zu bitten.

Der Küster, der den alten Fiedler nicht erkannt hatte, bekam einen panischen Schrecken, machte aber gute Miene zum bösen Spiele und gab dem Alten ein reiches Almosen. Bei seiner Rückkehr nach Pibrac erzählte er sein Abenteuer, aber seine fieberhaft erregte Phantasie schmückte es in einer Weise aus, daß der alte Fiedler von Nayrac so dargestellt wurde, als sei er der Hauptmann einer den Süden verheerenden Räuberbande, die die Landstraße belagerte, die Reisenden beraubte und die friedlichen Bürger mit Erpressungen und Feuersbrünsten bedrohte.

Die braven Bürger der beiden Landstädtchen hatten dann natürlich das Ihrige dazu beigetragen, die Erzählung des Küsters gehörig aufzubauschen. Jeder übertreibt ja so gern, und außerdem ist es Tatsache, daß alle Besitzenden dazu neigen, diejenigen mit schwärzesten Farben zu malen, die sich unterstehen, etwas von ihrem Gelde in Anspruch nehmen zu wollen. Nicht als ob sie sich etwas hätten vormachen lassen. O nein, sie waren der Sache auf den Grund gegangen, hatten nach dem Abendtrunke den Küster selbst befragt. Der hatte freilich nicht viel zu sagen gewußt, aber dieses Wenige war genug; man wußte Bescheid! Unsere würdigen Kleinstädter jedoch, die der Leichtgläubigkeit des Volkes zu spotten pflegten, behielten ihr Geheimnis für sich, wie sie alles, von dem sie einmal Besitz ergriffen, mit Zähigkeit festzuhalten wußten, ein Merkmal, an dem man übrigens überall die sogenannten »aufgeklärten und vernünftigen Leute« erkennt.

Als am nächsten 15. November das Glockenspiel auf dem Bellfrid des Justizgebäudes von Nayrac die elfte Stunde verkündet hatte, kehrte jeder vergnügt aus der Weinstube nach Hause zurück. Der Hut saß dabei so verwegen auf einem Ohr der braven Bürger, der Schnurrbart war so keck nach oben gedreht, daß ihre lieben Frauen aufmerksam wurden, ihnen den Bart streichelten und sie ihren tapfern Musketier nannten, was offenbar beiden Eheleuten Vergnügen machte.

»Du weißt, meine Liebe,« sagte dann der Gatte, »daß ich morgen in aller Frühe fort muß.«

»Ach, mein Gott!«

»Nun ja, du weißt doch, daß der halbjährige Pachtzins fällig ist, und daß ich mir stets das Geld selbst von meinen Pächtern zu holen pflege.«

»Aber du wirst doch morgen nicht gehen wollen?«

»Warum nicht?«

»Die Räuber!«

»Pah! ... Mit denen werde ich schon fertig werden.«

»Nein, nein, du darfst nicht gehen,« sagte jede Ehefrau, wie sich das unter diesen Umständen für eine brave Gattin gehörte.

»Ich werde gehen; aber beruhige dich, mein Kind und höre mich an. Ich habe deine Angst vorhergesehen, und um dich zu beruhigen, bin ich mit den anderen Grundbesitzern, die ebenfalls die Pacht eintreiben müssen, übereingekommen, daß wir alle zusammen reisen wollen. Wir werden außerdem unsere Jagdflinten mitnehmen, und wir haben bereits einen sehr großen Wagen zu diesem Zwecke gemietet. Unsere Pachthöfe liegen ja alle ziemlich nahe beieinander, und wir werden dann am Abend alle zusammen zurückkommen. Also trockene deine Tränen, und da es Schlafenszeit ist, gestatte mir die Enden meines Foulards auf der Stirn zusammenzubinden und mich in Morpheus Arme zurückzuziehen.«

»Oh! Ihr wollt alle zusammengehen, das ist ja freilich etwas anderes. Du hast recht, es so zu machen wie die andern auch,« meinte jede Frau und beruhigte sich ganz.

Man schlief prachtvoll. Unsere braven Bürger träumten von blutigen Zusammenstößen, von Angriffen, Turnieren, Siegen und Lorbeeren. Man erwachte am andern Morgen frisch und tatenlustig.

»Nun also, voran,« murmelte man mit möglichst sorgloser Miene die Strümpfe anziehend, aber doch so laut, daß die Frau jedes Wort verstehen konnte. »Nun in Gottes Namen, voran! Man kann nur einmal sterben.«

Da blickte die Dame bewundernd auf ihren modernen Paladin, und da es Herbst war, steckte man ihm die Taschen voller Hustenbonbons.

»Den letzten Kuß,« sagten sie auf der Schwelle des Hauses.

Man traf sich, wie verabredet, auf dem Marktplatze, wo der Wagen bereitstand und wo schon einige der Herren, die Junggesellen, ihre Kollegen erwarteten. Sie ließen ihre Jagdgewehre in der Sonne funkeln und luden sie mit drohender Miene und gerunzelter Stirn.

Es schlug sechs Uhr. Die vierzehn Herren bestiegen den Wagen, in dem sie, eng aneinandergedrückt, alle Platz fanden; während die zurückgebliebenen Frauen an den Fenstern standen, die Taschentücher schwenkten und ihren Eheherren Abschiedsgrüße zuriefen, setzte sich das Fuhrwerk in Bewegung.

Um den Zurückbleibenden und vielleicht auch sich selbst Mut zu machen, sangen sie im Chor:

»Nun mutig voran,
In den Kampf, in den Krieg,
Wir vernichten den Feind,
Wir ziehen zum Sieg.« –

Diese letzte Zeile sangen unsere Helden mit drohend emporgehobenen Fäusten.

Der Gesang wurde begleitet von dem Peitschenklatschen des den Wagen fahrenden Rentners und von den regelmäßigen Huftritten der drei schweren Mecklenburger Pferde.

Der Tag verlief nach Wunsch.

Diese Bürger sind fröhliche Lebemänner, die ihre Geschäfte glatt abzuwickeln verstehen, dabei sind sie ehrlich – o so ehrlich, daß sie ein Kind um eines gestohlenen Apfels willen aufhängen würden.

Jeder der Herren speiste bei seinem Pächter, kniff beim Dessert dessen hübsche Tochter in die Backen, heimste das Pachtgeld vorsichtig in die Geldkatze und gab, nachdem das Geschäft geregelt, der Familie großmütig eine Reihe guter Ratschlage und weiser Sprichwörter zum besten, wie:

Gute Rechnung macht gute Freunde; Jedem das Seine; Wer arbeitet, betet; Jeder Beruf ist ehrenhaft; Wer seine Schulden bezahlt, verbessert seine Verhältnisse und andere schöne Redensarten mehr. Dann entzog er sich den allgemeinen Segenswünschen und nahm Platz in dem Wagen, der von einem Pachthofe zum andern fuhr, um die Reisenden abzuholen. Die Dämmerung brach herein, als man den Heimweg antrat.

Es war aber, als ob sich ein Schatten über die allgemeine Fröhlichkeit gesenkt habe. Nach den Erzählungen einiger der Pächter zu schließen, hatte der alte Fiedler Schule gemacht. Sein Beispiel war ansteckend gewesen. Der alte Halunke hatte sich, wie es schien, mit einer ganzen Bande wirklicher Diebe zusammengetan, und man behauptete, daß gerade jetzt, wo die Pachtzinse fällig geworden, die Straße wirklich nicht ganz sicher sei. So daß trotz der erheiternden Wirkung des reichlich genossenen Apfelweins, die sich jedoch rasch verflüchtigte, sich eine ziemlich gedrückte Stimmung unserer Herren bemächtigte.

Die Nacht brach herein. Der Schatten der Pappeln malte lange, schwarze Silhouetten auf die Straße, der Wind fegte durch die Bäume. Durch die verschiedenen Geräusche der Natur vernahm man die regelmäßigen Huftritte der Pferde, und aus der Ferne hörte man das Heulen eines verirrten Hundes. Fledermäuse schwirrten durch die Luft, und als der Mond, einmal die dichten schwarzen Wolken durchbrechend, unsere Reisenden beleuchtete, sahen sie alle sehr blaß aus ... Brrr ... Man drückte die Gewehre krampfhaft zitternd zwischen die Knie und versicherte sich von Zeit zu Zeit, ob auch die Geldkatze noch festsäße. Keiner sprach ein Wort. Eine bange Stille hatte sich über diese braven Herren gelagert.

Als man dann die Teilung des Weges erreichte, sah man sich plötzlich mit Grauen einem Trupp höchst verdächtig und gefährlich aussehender Gestalten gegenüber. Man vernahm das Stampfen von Pferden, eine schreckliche Stimme rief: »Halt, wer da?« und als im selben Augenblick der hervortretende Mond das Dunkel erhellte, sah man mit Schaudern, daß ein großer Wagen voller bewaffneter Männer unsern Reisenden den Weg versperrte.

Was für Männer konnten das sein? – Es waren offenbar Wegelagerer! Banditen! Räuber, das war ja nur zu klar.

Und doch war dem nicht so. Es war ganz einfach die Gruppe der Grundbesitzer des Schwesterstädtchens ... es waren die guten Bürger von Pibrac, die denselben Einfall gehabt hatten, wie die Herren von Nayrac.

Die friedlichen Rentner der beiden Städtchen trafen sich, nachdem sie ihre Gelder eingezogen hatten, zufällig auf dem Heimwege, das war alles.

Aber sie lagen so sehr im Banne der Angst, daß sie einander nicht erkannten. Sie jagten sich gegenseitig einen unbeschreiblichen Schrecken ein. Wie ein plötzlich über den See fahrender Windstoß das Wasser aufwirbelt und das unterste nach oben treibt, so tauchte gleichzeitig in dem Gehirn dieser guten Leute die fixe Idee auf, daß sie umzingelt und von der Räuberbande angefallen seien, vor der sie sich so sehr fürchteten.

Der Mond hatte sich wieder hinter den Wolken versteckt. Man hielt in der Dunkelheit flüsternd einen Kriegsrat, aber das Unglück wollte, daß, als die von Pibrac mit zitternden Händen ihre Gewehre ergriffen, der Hahn einer der Jagdflinten an der Wagenbank hängen blieb, der Schuß ging los, und die Kugel traf einen derer von Nayrac in die Brust, nachdem sie eine Terrine ausgezeichneter Gänseleberpastete zertrümmert, die jener instinktiv wie einen Schild vor die Brust gehalten hatte.

Ach, dieser Schuß! Er war wie der verhängnisvolle Funken, der das Pulvermagazin in die Luft sprengt. Die beiden Parteien gerieten in einen solchen Angstparoxismus, daß sie alle Besinnung verloren. Von beiden Seiten wurde nun gleichzeitig Feuer gegeben. Der Instinkt der Selbsterhaltung, sowie die Angst um ihr Geld machte diese Leute blind. Sie luden ihre Flinten und schossen mit zitternder Hand, ohne zu zielen, auf das Geratewohl in den Menschenknäuel hinein.

Die Pferde fielen, einer der Wagen stürzte um, und seine Insassen, von denen schon viele verwundet waren, lagen mitsamt ihren Geldkatzen auf der Erde. Man raffte sich auf, selbst die Verwundeten griffen mit dem Mute der Verzweiflung wieder nach ihren Flinten und, ohne daß in der Dunkelheit einer den andern hätten erkennen können, begann ein wildes Kämpfen, ein tolles Aufeinanderschießen; mit Löwenmut verteidigten diese braven Spießbürger ihr Leben und ihre Geldkatzen vor dem vermeintlichen Angriffe der Räuberbande. Ich glaube, wenn in dem wüsten Durcheinander Gendarmen vom Himmel gefallen wären, um Ordnung zu stiften, auch sie hätten ihr Leben lassen müssen. Selbst die Schwerverwundeten rafften sich noch einmal auf, um zu kämpfen und einer auf den andern zu schießen. Kurz, es war ein wahrer Vernichtungskrieg; diese ehrbaren, friedlichen Bürger hatten alle Besinnung verloren und gingen mit dem ganzen leidenschaftlichen Mute voran, der dieser Menschenklasse eigentümlich ist, wenn sie zum äußersten getrieben wird.

Während dieser Zeit saßen die wirklichen Räuber nicht weit davon friedlich um eine Kanne Landwein versammelt in ihrer Höhle, wo sie sich mit einem höchst harmlosen Kartenspiele die Zeit vertrieben. Diese sogenannte Räuberbande bestand in Wahrheit aus einem halben Dutzend armer Teufel, harmloser Landstreicher, die allerschlimmsten Falles mal gelegentlich hier und da eine Kruste Brot, ein Stückchen Speck oder ein paar gesalzene Fischchen gemaust hatten.

Der Lärm des Kampfes, das tolle Schießen hatte sie in ihrer Gemütlichkeit gestört. Bleich und verstört horchten sie auf den ihnen vom Winde zugetragenen Lärm, dessen Ursache sie sich nicht zu erklären vermochten. Sie sprangen auf und drängten sich um ihren Hauptmann. Der alte Fiedler aber hatte selbst den Gleichmut verloren; der brave Mann begriff absolut nicht, was da vorgehen könne, es ging über seinen Verstand. Da aber nach ein paar Minuten das Schießen immer noch nicht aufhörte, legte er den Finger nachdenklich an die Nase, und es schien ihm plötzlich ein Licht aufzugehen.

Den Kopf erhebend, sagte er: »Jungens, das gilt uns nicht, es muß da ein furchtbares Mißverständnis, eine Verwechslung stattgefunden haben. Wir wollen rasch unsere Blendlaternen anstecken und sehen, was es gibt – jedenfalls sind dort Verwundete, denen wir beistehen müssen ... Der Lärm kommt von der Hauptstraße ...«

Vorsichtig, und ohne sich aus dem Dickicht hervorzuwagen, schlich sich der Fiedler mit seinen Getreuen zu dem unheilvollen Platze heran, auf dem es allmählich stille geworden und dessen Greuel jetzt von dem Monde beleuchtet wurden.

Der letzte überlebende Bürger hatte sich, als er sein noch heißes Gewehr hastig wieder laden wollte, durch Unvorsichtigkeit selbst eine Kugel durch den Kopf geschossen.

Bei dem Anblick des schrecklichen Schauspiels all dieser Toten, die blutend auf dem Wege lagen, blieben die Räuber betroffen und fassungslos stehen. Sie trauten ihren eigenen Augen nicht.

Plötzlich pfiff ihr Hauptmann, und auf dieses Zeichen traten die ihre Blendlaternen tragenden Burschen im dichten Kreise um den Fiedler herum.

»Jungen,« murmelte er mit leiser Stimme, und seine Zähne klapperten vor Furcht: »Meine lieben Jungen! Wir müssen so schnell wie möglich das Geld dieser guten Bürger zusammenraffen, und dann fort damit, über die Grenze, die wir so schnell es geht zu erreichen suchen müssen. Dann aber dürfen wir nie mehr einen Fuß in dieses Land setzen.«

Als seine Genossen ihn erschrocken anstarrten und den Sinn seiner Worte kaum zu verstehen vermochten, deutete er auf die umherliegenden Leichen und sagte schaudernd die vielleicht im ersten Augenblicke albern erscheinenden und doch von tiefer Menschenkenntnis zeugenden Worte:

– »Sie werden beweisen ... daß wir es gewesen sind ...«

Das himmlische Abenteuer

Warum sollte man sich jetzt, nachdem Euphrasia, dies göttliche Kind, zum Lichte eingegangen, noch scheuen, es offen zu sagen, daß das Wunder, das sie zu erleben geglaubt, eine ganz natürliche Begebenheit war? Sicher ist, daß die kleine Heilige – die, im Alter von achtundzwanzig Jahren, in der Provence als Oberin des von ihr gegründeten Ordens der Armenschwestern starb – selbst gewiß keinen Anstoß daran genommen haben würde, wenn sie die natürliche Erklärung des ihr widerfahrenen Heils erfahren hätte: ihre ernst bewußte Demut würde nicht einen Augenblick dadurch beunruhigt worden sein.

Immerhin ist es doch besser, daß ich bis jetzt noch nicht davon gesprochen habe.

Ungefähr einen Kilometer von Avignon entfernt, erhob sich im Jahre 1860, nicht weit von den grünen Geländen, die stromaufwärts an der Rhone liegen, eine einsame Hütte von schmutzigem Aussehen; sie hatte nur ein Stockwerk, das durch ein einziges Fenster mit vergitterten Läden erhellt wurde. Die Hütte stand in der schützenden Nähe der Gendarmeriekaserne, die an der Grenze der Vorstadt auf dem Wege liegt.

Dort lebte ein alter Jude, den man Vater Moses nannte. Er war kein schlechter Jude, trotz seines verblichenen Antlitzes und seines Raubvogelschädels, dessen Glatze durch ein fest anliegendes Mützchen von unerkennbarem Stoff und Farbe bedeckt war, er war noch frisch und kräftig und wäre wohl imstande gewesen, in einigen Dauermärschen sogar mit Ahasver Schritt zu halten. Er ging jedoch sehr selten aus und ließ nur nach manchen Vorsichtsmaßregeln Besuch vor. Nachts schützte er seine schlecht geschlossene Türe durch eine ganze Anlage von Fuchseisen und Wolfsfallen. Dienstfertig, besonders für seine Glaubensgenossen, wohltätig für jeden, verfolgte er nur die Reichen, denen er gegen Wucherzinsen Geld lieh. Die skeptischen Ideen seiner Zeit änderten nichts an dem starren Glauben dieses praktischen und gottesfürchtigen Mannes: Moses betete, wenn er seinen Wucher getrieben, so gut, wie wenn er Almosen gegeben hatte. Da er in dieser Beziehung ein stark entwickeltes Ehrgefühl besaß, hielt er streng darauf, jeden, auch den kleinsten Dienst, der ihm erwiesen wurde, zu vergelten. Vielleicht hatte er auch für die frische Landschaft unter seinem Fenster ein gewisses Gefühl, wenn er manchmal mit seinen klaren, grauen Augen nachdenklich hinaussah. – –

Indessen befand sich auf einer kleinen Anhöhe, die die stromabwärts gelegenen Wiesen beherrschte, etwas, das ihm die Aussicht gründlich verdarb, und er wandte sein Auge beleidigt und mit einem übrigens leicht erklärbaren Widerwillen davon ab. Da war nämlich ein sehr alter Kalvarienberg, der nur seiner archäologischen Merkwürdigkeit wegen noch von den Behörden geduldet wurde. Man mußte einundzwanzig Stufen hinaufsteigen, um das große Mittelkreuz mit dem gotischen Christus, dessen Züge längst von der Zeit verwischt waren, zu erreichen. Daneben standen zwei kleinere Kreuze mit Diphas und Gesmas, den beiden Schächern.

Eines Nachts saß Vater Moses an dem halboffenen Fenster, die Füße auf einem Schemel, die Brille auf der Nase vor einem kleinen Tische, der mit Perlen, Diamanten, Gold und Wertpapieren bedeckt war; er war damit beschäftigt, seine Rechnungen in ein staubiges Register einzutragen.

Er hatte sich lange damit aufgehalten. Sein Geist hatte sich so vollständig in die Arbeit vertieft, daß seine Ohren taub für jedes Geräusch waren und einige entfernte, halb abgebrochene, seltsame Laute nicht vernahmen, die schon den ganzen Abend über das Schweigen und die Dunkelheit durchdrangen. Jetzt erhellte ein großartiger Mondschein das Land, alles war still.

»Drei Millionen!« rief Moses, indem er die letzte Ziffer unter die Totalsumme setzte.

Aber die Freude, endlich am Ziel seiner Wünsche zu sein, verwandelte sich plötzlich in Schrecken. Ein eisiges Gefühl ergriff seine Füße, er stieß den Schemel fort und sprang auf.

Entsetzen! klatschendes Wasser, welches das ganze Zimmer durchdrang, näßte seine mageren Beine. Das Haus krachte. Seine Augen irrten durch das Fenster und sahen, daß der Fluß aus den Ufern getreten war und die niedrigen Täler ringsum überflutete. Es war eine Überschwemmung, ein plötzliches, jäh wachsendes, schreckliches Austreten der Rhone.

»Gott Abrahams!« stammelte er.

Trotz seines tiefen Erschreckens entledigte er sich sofort der Kleider und Schuhe und behielt nur die geflickte Hose an; dann warf er die Kostbarkeiten, Gold, Diamanten und Papiere durcheinander in eine Ledertasche, die er um den Hals hing, er überlegte, daß er später sein verborgenes, vergrabenes Gold doch wieder finden würde. Rasch nahm er noch aus einem alten Koffer ein Bündel bereits durchnäßter Wertpapiere, dann stieg er auf die Fensterbank, sprach dreimal das hebräische Wort Kadosch, das heilig bedeutet, und stürzte sich in Gottes Namen als guter Schwimmer in die Flut.

Ohne viel Geräusch zerbarst die Hütte hinter ihm und versank in dem Wasser.

Nirgends ein Kahn! – – Wohin fliehen?! Er versuchte die Richtung auf Avignon zu nehmen, aber das Wasser vergrößerte die Entfernung, es war weit, viel zu weit für einen alten Mann. Wo sollte er ausruhen, wo festen Fuß fassen?

Ach, der einzige leuchtende Punkt – jene Höhe – der Kalvarienberg – dessen Stufen schon unter den schäumenden Wellen, dem Brausen der empörten Fluten verschwanden.

Soll er bei diesem Steinbilde Schutz suchen? Nein niemals! Dem alten Juden war es ernst mit seinem Glauben; obgleich ihn nun die Gefahr drängte, obgleich die moderne Idee der Toleranz dem Manne, der nun nach einer rettenden Arche suchte, durchaus nicht unbekannt war, so widerstrebte es ihm doch, gerade dem, der dort war, etwas verdanken zu müssen, und wäre dies auch nur sein irdisches Heil.

Sein Schatten fiel lang über die Wasser – – wahrhaftig, er mußte an die Sintflut denken. Er schwamm aufs Geratewohl. Plötzlich fuhr ihm ein kluger Gedanke durch den Kopf.

»Ich vergaß ganz,« sagte er prustend, während das Wasser ihm an beiden Enden des Bartes herablief, »ich vergaß ganz, daß da ja noch die armen Kerle, die Schächer sind! Meiner Treu, ich sehe gar nicht ein, warum ich mich nicht zu diesem prächtigen Gesmas flüchten sollte, bis man mich abholen kommt.«

Nachdem er so sein Gewissen beruhigt hatte, nahm er mit kräftigen Stößen seinen Weg durch die hochgehenden Wogen auf die drei Kreuze zu, die von hellem Mondschein beleuchtet wurden. Nach ungefähr einer Viertelstunde sah er, dessen Glieder bereits halb erfroren und schon steif zu werden begannen, die mächtigen Kreuze etwa hundert Meter vor sich. Sie schienen gerade aus dem Wasser aufzuwachsen.

Während er tief aufatmend überlegte und sich dann für das links stehende Holz entschied, sah er plötzlich, wie die beiden seitlichen Kreuze, die schwächer als das mittlere waren, wankten. Die Wucht der Rhone zerbrach das wurmstichige Holz und beide sanken lautlos in das schäumende Wasser. Bei diesem Anblick zögerte Moses, sich zu nähern, er wäre beinahe untergesunken. Er bekam den Hals voll Wasser, hustete und spie.

Nun hob sich nur noch der Umriß des großen Kreuzes geheimnisvoll vom Horizonte ab; es zeigte den bleichen Dornengekrönten, festgenagelt mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen. Dem Ersticken nahe und beinahe ohnmächtig, empfand der Greis nur noch das instinktive Gefühl Ertrinkender, sich zu retten. Verzweifelt beschloß er zu dem göttlichen Bilde hin zu schwimmen. Der Schatz, den er retten mußte, verdreifachte seine Kräfte und rechtfertigte zugleich diese Tat vor seinen Augen, die eine schreckliche Todesangst trübte. Am Fuße angekommen, ergriff er, ungern genug, das muß man zu seinem Lobe sagen, mit abgewandtem Kopfe den Stamm des Kreuzes. Das Wasser stieg und hob seinen Körper empor, rings um ihn ruhte tiefes Schweigen auf der unendlichen Flut.

»Oh, da unten! ein Segel! ein Boot!« Er rief, –

Man hörte ihn, man hatte ihn bemerkt!

In diesem Augenblicke türmte sich eine Woge hoch auf, hob ihn empor und warf ihn mit der Hand gegen die Wunde an der Seite des Erlösers.

Es geschah das so jäh und plötzlich, daß er kaum Zeit fand, sich anzuklammern, Leib an Leib und Kopf an Kopf mit dem Gekreuzigten. So hing er da mit abgewandtem Antlitz; die Brauen zogen sich über seinem durchdringenden hohlen Blicke zusammen, während die gabelförmigen Enden seines grauen Bartes weit ab standen und sich zitternd hin und her bewegten. Der alte Jude umfaßte mit den Beinen wie ein Steckenpferd das Bild dessen, der alles vergibt. Er mußte sich anklammern und schielte verstohlen nach dem, der nun auch sein »Erretter« war.

»Halt fest, wir kommen,« rief man ihm zu.

»Endlich,« seufzte Vater Moses, dessen Muskeln nachzugeben drohten. »Aber da hat mir doch einer einen Dienst erwiesen, von dem ich es nicht erwartet hätte. Da ich aber nicht gern jemand etwas schuldig bleibe, ist es nur gerecht, wenn ich ihn belohne, so wie ich einen Lebenden belohnen würde. Ich will ihm geben, was ich auch einem Menschen gegeben haben würde.«

Und während der Kahn sich näherte, durchsuchte Moses eifrig seine Tasche, um sich seiner Schuld zu entledigen; er zog ein Goldstück heraus und steckte es sehr sorgsam und so gut er nur konnte, zwischen die zwei gekrümmten Finger der festgenagelten rechten Hand. »Wir sind quitt,« murmelte er und ließ sich beinahe ohnmächtig in die Arme der Schiffer fallen.

Die sehr berechtigte Furcht, seinen Beutel zu verlieren, hielt ihn aufrecht bis zur Landung in Avignon. Dort kam er in dem warmen Bette eines Gasthauses bald wieder zu Kräften. – Einen Monat später zog er ganz nach Avignon, nachdem er vorher sein Geld unter den Trümmern seiner alten Wohnung hervorgescharrt hatte. Er lebte noch lange und war hundert Jahre alt, als er starb. –

Nun geschah es im Dezember des Jahres, das auf dieses ungewöhnliche Ereignis folgte, daß ein junges Landmädchen, ein sehr armes aber bildhübsches Waisenkind, Euphrasia, von einigen reichen Bürgersöhnen der Baucluse bemerkt worden war. Geärgert über ihre unerklärliche Sprödigkeit, beschlossen diese, sie durch Hunger zu zwingen, sich ihnen hinzugeben. Dank ihren Bemühungen geschah es denn, daß man sie bald aus der Werkstätte entließ, wo sie für ihre elfstündige Arbeit täglich einen Franken verdient hatte, der für ihren Unterhalt und ihre gute Laune völlig ausreichte. (Natürlich gehörte diese Fabrik einer hochangesehenen Familie.) An demselben Tage wurde sie auch aus ihrer Wohnung gejagt, für die sie morgens und abends Gott dankte. Ihre Mietsleute hatten selber Kinder zu versorgen und da – man muß gerecht sein! – konnten und durften sie mit gutem Gewissen sich doch nicht der Gefahr aussetzen, die schönen sechs Franken monatlich zu verlieren, die ihnen das kleine Speicherstübchen einbrachte. »Anständig ist sie, gewiß,« sagten sie sich, »aber mit dem besten Anstande kann man doch keine Miete bezahlen, wenn man arbeitslos ist! Überdies – vielleicht ist es zu ihrem eigenen Besten –« sie zwinkerten mit den Augen, »wenn man ein wenig hart gegen sie ist.«

So kam es, daß an einem Winterabend, als eben die klaren Töne des Angelus ertönten, das arme zitternde Kind durch die mit Schnee bedeckten Straßen schritt, und ohne zu wissen, wohin sie ging, ihre Schritte zum Kalvarienberge leitete.

Es waren wohl die Engel selbst, die sie hierher führten und deren Flügel ihre Schritte auf den verschneiten Stufen unterstützten, bis sie zu Füßen des Heilands matt niederfiel und den Kopf gegen das Kreuz lehnte, während ihre Lippen die treuherzigen Worte murmelten: »Mein Gott, hilf mir mit einem kleinen Almosen, sonst muß ich hier sterben.«

Da geschah es, daß aus der rechten Hand des alten Christusbildes, zu dem die Augen der Bittenden sich erhoben, plötzlich ein Goldstück auf das Kleid des Mädchens fiel, das durch dies Wunder zu neuem Leben erwachte.

Es war ein hundertjähriges Stück mit dem Bilde König Ludwigs XVI., dessen gelbes Gold auf dem schwarzen Kleide des auserwählten Kindes leuchtete. Gewiß war auch zugleich ein göttlicher Funken in die Seele dieser Himmelsbraut gefallen, der ihren Mut neu belebte. Sie nahm das Goldstück, ohne sich auch nur zu wundern, erhob sich, küßte lächelnd die Füße des Erlösers und kehrte in die Stadt zurück. Nachdem sie vernünftigerweise dem Herbergsvater zuerst die schuldigen sechs Franken gegeben, warf sie sich auf ihr kaltes Lager, aß ihr trockenes Brot und wachte, Begeisterung im Herzen, den Himmel vor Augen, kindliche Einfachheit in der Seele, dem Tag entgegen. Am andern Morgen schon begann sie, durchdrungen von der lebendigen Kraft des Glaubens, ihr heiliges Werk, trotz aller abschlägigen Antworten, trotz verschlossener Türen, trotz boshafter Worte, Drohungen und spöttischem Lächeln.

Und ihr heiliges Werk gelang! Heute ist die junge Glückliche aus dem Leben geschieden, siegreich über all den kleinen Schmutz dieses Lebens, glückselig ob des Wunders, das ihr Glaube schuf, zusammen mit dem, der alles vermag.

Das Geheimnis der schönen Ardiane

Das neue Häuschen des jungen Forstaufsehers Peter Albrun lag auf einem Hügel, der das Dorf Ypinx-les-Trembles beherrschte, das zwei Meilen von Perpignon entfernt und in einem Tale der östlichen Pyrenäen liegt, dessen Grenze nach Spanien zu von großen Tannenwäldern gebildet wird.

Hoch über einem Gießbach, der von den Felsen herabschäumte, lag der hübsche kleine Garten, in dem im Schatten hoher Oleander- und Johannisbrotbäume die schönsten Garten- und Wiesenblumen blühten und das lachende Häuschen mit ihrem süßen Duft erfüllten. Dahinter erhoben sich etagenförmig mächtige, reich mit Blüten behangene Akazienbäume, die, wenn die Brise der Pyrenäen sie bewegte, ihren Wohlgeruch bis hinab zum Dorfe entsandten. Es war wirklich ein kleines Paradies, dieses arme, aber hübsche Häuschen, in das Peter Albrun, dieser bildhübsche Bursche von achtundzwanzig Jahren mit der weißen Haut, den klaren, mutig dreinschauenden Augen seine junge Frau heimgeführt hatte.

Seine liebe Ardiane, die schöne Baskerin, wie man sie wegen ihrer Herkunft nannte, war in Ypinx-les-Trembles geboren. Sie hatte ihre Eltern sehr früh verloren. Als Kind war sie, einer Blume des Feldes gleich, mit den andern Waisenkindern des Ortes hinter den Schnittern hergezogen, um Ähren aufzulesen; als sie heranwuchs, hatte sie an der Heuernte geholfen, war dann Seilspinnerin geworden. Sie war bei einer alten Patin aufgewachsen, die ihr beim Tode der Eltern ein Obdach in ihrer Hütte gewährt hatte. Das junge Mädchen hatte ihr die erwiesene Wohltat reichlich vergolten, da sie später die Alte mit ihrer Hände Arbeit erhalten und bis zum Tode aufs treueste gepflegt hatte. Dabei hatte sich Ardiane Inféral jederzeit trotz ihrer berauschenden Schönheit durch ein tadellos mustergültiges Betragen ausgezeichnet. Peter Albrun hatte bei den Jägern in Afrika gedient und es bis zum Feldwebel gebracht. Als er in die Heimat zurückkehrte, fand er Anstellung bei dem Feuerwehrkorps der Stadt, mußte aber später seinen Abschied nehmen, da er sich bei einer großen Feuersbrunst, bei der er sich, wie bei allen vorherigen Gelegenheiten, durch seine Umsicht und Tapferkeit auszeichnete, sehr schwere Verletzungen davongetragen hatte, die ihn dienstunfähig machten. Als er nach langem Siechtum endlich genesen war, hatte man ihm in gerechter Anerkennung seiner Verdienste die freigewordene Stelle eines Forstaufsehers gegeben, und nachdem er sechs Monate lang in allen Ehren um sie gefreit, hatte er dann seine schöne Ardiane heimgeführt.

Es war an einem köstlichen Sommerabend, der Himmel war mit Sternen übersät. Ardiane saß, von einem weißen Nachtkleide umhüllt, in ihrem Strohsessel vor dem weit geöffneten Fenster. Ihr Hals war mit einer Korallenschnur geschmückt, und das schwarze Haar umrahmte in langen Locken ihre bleichen Wangen. Sie war damit beschäftigt, ihrem schönen, in ihrem Arme ruhenden Kind, das schon acht Monate alt war, die Brust zu geben. Träumerisch und beinahe mit einem etwas starren Blick ruhte ihr Auge auf dem schlafenden Dorfe, dem fernen Feld und dem dahinter liegenden Tannenwalde. Ihre Nüstern sogen wollüstig bebend den köstlichen Duft der Blumen und Akazienblüten ein, den der Nachtwind ihr entgegentrug. Hinter den fein gezeichneten, blutroten Lippen schimmerten perlengleich ihre sehr weißen, kleinen Zähne. Ihre Rechte, an deren zweitem Finger der goldne Trauring glänzte, spielte zerstreut in dem lockigen Haar ihres Mannes, der ihr zu Füßen lag, sein frisches, fröhliches Gesicht an die Knie der jungen Frau lehnte und seinem Kleinen zulachte.

An der Wand des mit gewöhnlichem hellblauen Papier tapezierten ehelichen Gemaches hing eine Flinte, auf dem Tisch stand eine brennende Lampe. Dicht bei dem aufgedeckten weißen Bett stand eine Wiege, über der ein Kruzifix hing. Auf dem Kamin prangte eine Weckuhr, die üblichen zwei Leuchter, ein paar eingerahmte Photographien und eine mit Wachholderzweigen gefüllte, bemalte Tonvase.

Ganz gewiß, sie war ein kleines Paradies, die Wohnung dieses jungen Paares, und ganz besonders an diesem Abend! Denn am Morgen des vergangenen Tages hatte das fröhliche Bellen der beiden Hunde dem jungen Forstaufseher einen Gast angemeldet. Es war eine vom Präfekten der Stadt gesandte Ordonnanz, die, o der Freude! Peter Albrun eine große Röhre von Weißblech überreicht hatte, die das Ehrenkreuz, das dazugehörige Diplom und den Brief des Ministeriums enthielt, in dem die besonderen Verdienste aufgezählt wurden, denen Peter Albrun es verdankte, daß ihm eine solche Auszeichnung zuteil wurde. Mit lauter, vor stolzer Freude zitternder Stimme hatte er im hellen Sonnenschein des Gartens seiner geliebten Ardiane das Schreiben vorgelesen. »Weil er sich während seiner Dienstzeit bei den algerischen Tirailleurs in Afrika in verschiedenen Gefechten durch seine Tapferkeit ausgezeichnet habe, weil er sich als Führer der Feuerwehr des Ortes bei den rasch aufeinanderfolgenden Feuersbrünsten, von denen die Gemeinde im Jahre 1883 heimgesucht wurde, durch seine Geistesgegenwart und seinen Wagemut hervorgetan und vielen Menschen das Leben gerettet habe, ohne der eigenen Gefahr zu achten, wobei er denn auch jene zwei schweren Verwundungen davongetragen habe, infolge deren er gezwungen war, den Dienst bei der Feuerwehr aufzugeben usw., usw.« Das war der Grund, weshalb Peter Albrun und seine junge Frau, obwohl es schon Schlafenszeit war, immer noch an dem Fenster ihres ehelichen Gemaches verweilten: sie durchkosteten in der Erinnerung noch einmal alle Freuden des heutigen Tages. Er hielt immer noch das Kreuz an dem roten Moirébande in der Hand und konnte es sich nicht versagen, von Zeit zu Zeit einen zärtlichen Blick darauf zu werfen.

Die köstliche, sternendurchfunkelte Sommernacht umgab das junge Paar wie ein Schleier von Glück und Liebe.

Das Auge der schönen Ardiane ruhte indessen nachdenklich auf gewissen, die Reihe der schmucken weißen Häuschen des Dorfes unterbrechenden Lücken, auf geschwärzten Mauerresten und Ruinen, die von den großen Feuersbrünsten herrührten, und die man bisher noch nicht weggeräumt hatte.

Im vergangenen Jahre war in Zeit weniger Monate siebenmal in nicht vom Monde erhellten, dunkeln Nächten plötzlich Feuer in Ypinx-les-Trembles ausgebrochen, das alle Male seine Opfer gefordert und in dem Menschen jeden Lebensalters umgekommen waren. Man vermutete allgemein, daß diese Brandstiftungen Schmugglern zuzuschreiben seien, die eine schlechte Aufnahme im Dorfe gefunden, und um sich zu rächen, in der Nacht Feuer angelegt hatten, um sich dann in den Tannenwäldern, dem Dickicht der Myrten und Espen zu verbergen und endlich über die Grenze zu verschwinden, ohne daß es den sie verfolgenden Gendarmen gelungen wäre, sie zu ergreifen. Wohin sie aber auch ihre Schritte gelenkt haben mochten, diese Bösewichter hatten wahrscheinlich doch um andrer Verbrechen willen den verdienten Lohn erhalten. Jedenfalls war seit einem Jahre kein Brandfrevel mehr vorgekommen.

»Woran denkst du, meine Ardiane?« murmelte Peter, die weiße Hand küssend, die liebkosend durch sein Haar und über seine Stirn glitt.

»An jene schwarzen Mauerreste, aus denen unser Glück erblüht ist,« antwortete die Baskerin, ohne den Blick davon abzuwenden. »Blicke dorthin! Es war, als jener Pachthof abbrannte, daß ich dich zum ersten Male wiedersah.«

»Ich glaubte, daß ich dich in jener Nacht überhaupt zum ersten Male gesehen habe?«

»Nein, es war das zweitemal,« antwortete Ardiane, »ich hatte dich zehn Tage vorher auf der Kirmeß von Prades zum ersten Male gesehen – freilich du, Bösewicht! hattest mich gar nicht bemerkt. Aber ich sah dich und erkannte beim ersten Blick, daß du der für mich bestimmte Mann seist. O Gott! Wie toll mein Herz schlug! Siehst du, damals war es, daß ich den festen Entschluß faßte, deine Frau zu werden – und du weißt es, was ich will, das will ich!«

Den Kopf erhebend, glitt nun auch Peter Albruns Blick über die im hellen Mondschein deutlich erkennbaren geschwärzten Mauerreste zwischen den Reihen der säubern Häuser der Dorfstraße.

»Ach, du Heimlichtuerin, davon hattest du mir nichts gesagt,« erwiderte er lächelnd. »Aber es war bei dem Brande der großen Hütte, dort hinter der Kirche, als ich mich leider so vergebens bemühte, das darin hausende alte Paar zu retten, daß ich von einem niederstürzenden Balken verwundet wurde, und da warst du es, die sich meiner annahm, mich zu deiner alten Patin, der Mutter Inféral, führte, mich mit dem köstlichen Glühwein erquickte – es war beinahe so, als ob du ihn schon für mich bereitgestellt hättest – und die mich dann so sorgsam pflegte... Aber ist das nicht seltsam? Ich kann es immer noch nicht verwinden, daß es mir damals nicht gelungen ist, die alten Leutchen zu retten; es preßt mir das Herz zusammen, wenn ich daran denke.«

»Ach was,« murmelte die Baskerin, »mit denen habe ich nicht so viel Mitleid, dazu kannte ich sie zu genau, von meiner Kindheit an haben sie mich schikaniert, haben meine kleinen selbstgefertigten Hanf- und Schnurarbeiten so schlecht bezahlt, mit drei und fünf Sous – und dabei maulten sie noch. Das häßliche alte Weib konnte es nicht ertragen, daß ich schön bin, sie hat übel von mir geredet und mich zu verleumden gesucht, wo immer sie eine Gelegenheit dazu fand. Und dabei waren diese Menschen so geizig. Nichts, gar nichts hatten sie für die Armen übrig. Wir müssen doch alle einmal sterben, und sie waren zu gar nichts nütze in der Welt, diese geizigen, mürrischen Alten. Glaub mir's, wenn wir verbrannt wären, so würden sie sich herzlich darüber gefreut haben. Denk also nicht mehr daran ... Aber sieh mal dort hinüber zu den Überresten der den Desjoncherets ungehörigen Hütte. – Das war ein prachtvolles Feuer, nicht wahr? An jenem Abend war es, wo du mich nachher zum ersten Male geküßt hast. Du hattest mit eigner Lebensgefahr und großer Mühe das Kind der Desjoncherets gerettet! Ach! Wie ich dich bewunderte! Und ich sage es dir, du warst schön in deinem Helme, der vom Widerscheine des Feuers rot erschien... O jener erste Kuß, – wenn du wüßtest...«

Wieder streckte sie die Hand aus, an der der Trauring im Sternenschein flimmerte, und auf eine andre Brandstätte deutend, fuhr sie fort:

»Und nun sieh dorthin, dort war es, wo wir uns verlobten – und dann nach dem Brande jenes Häuschens habe ich dir im Heuboden angehört; und oh, mein Peter, bei jenem letzten Brande war es, wo du die schwere und mir doch so teure Verwundung davontrugst!... Weißt du, ich sehe gern auf die zurückgebliebene, tiefe Narbe, ich liebe sie: ihr verdanken wir unser Glück, deine gute Anstellung als Forstaufseher, unsere Ehe und dieses Häuschen ... in dem unser Kind geboren wurde!«

»Ja, ja,« murmelte Peter Albrun, der ein wenig nachdenklich geworden war, »es beweist, wie Gott selbst das Böse zum Guten wenden kann... Und doch, wenn es mir gelänge, diese elenden Brandstifter vor meine Flinte zu bekommen...«

Sie wandte sich ab, ihre Augen blickten sehr ernst, und sie zog die Brauen so fest zusammen, daß sie sich berührten und nur eine schwarze Linie bildeten.

»Schweige Peter,« sagte sie. »Steht es uns zu, die Hände zu verfluchen, die das Feuer angelegt haben? Ich sage dir, daß wir ihnen alles verdanken, bis zu diesem Kreuz, das du in deiner Hand hältst. Denke doch einmal ein wenig nach, mein lieber Peter. Du weißt es sehr wohl, daß es nur in der Stadt eine Kaserne für die Feuerwehr gibt, die den Dienst nicht nur für die Stadt und zwei Vororte, sondern auch für drei Dörfer zu versehen hat. Du, ein armer Sergeant der Feuerwehr, mußtest unausgesetzt, Tag und Nacht, bereit sein, bei jeder Feuermeldung deine Leute zu alarmieren und sie in den Kampf gegen das entfesselte Element zu führen. Du warst wie ein Gefangener in deiner Kaserne, erhieltest niemals Urlaub und konntest dein Gefängnis nur dann verlassen, wenn dein Dienst es erforderte. Wenn du dich ohne Erlaubnis hättest entfernen wollen, riskiertest du, dein Gehalt und deine Stellung zu verlieren! Selbst wenn es brannte, gebrauchtet ihr beinahe eine Stunde, um hierhin zu kommen! ... Und nun bedenke meine Lage: ich saß hier in Ypinx und drehte meinen Flachs, womit ich fünf bis sechs Sous täglich verdiente ... und dabei mußte ich doch auch für die arme, hinfällige, alte Frau sorgen... das war oft sehr schwer, besonders im Winter. Ich hätte es ja machen können, wie andere es auch tun, hätte zur Stadt gehen, mich verkaufen können – aber du verstehst es doch, mein einzig Geliebter, daß mir das nicht möglich war! – Es ist also doch ganz klar, daß ohne diese schönen Feuersbrünste ich heute noch meinen Flachs im Dorfe drehen würde, während du, lieber Freund, dich mit dem schweren Dienst bei der Feuerwehr abplagen könntest. Wir würden uns dann niemals wieder gesehen, miteinander bekannt geworden und endlich zusammengekommen sein. Und ich glaube denn doch, daß unser gemeinschaftliches Leben hier ein bedeutend besseres ist. Glaube mir, das gilt mehr als alles, was sich mit jenen uns völlig gleichgültigen Menschen zugetragen hat.«

»Grausames Kind!« antwortete Albrun, »in deinen Adern fließt vulkanisches Blut.«

Mit einem so seltsamen Lächeln, daß ihm davor graute, fuhr die junge Frau fort. »Was diese Schmuggler betrifft, so haben sie wohl etwas anderes zu tun, als hierher zurückzukehren, um sich eines nichts wegen vor euch zu verantworten, laß sie in Frieden! Überhaupt können es ja doch nur die Einfältigen des Ortes im Ernste glauben, daß sie die Brandstifter gewesen seien.«

Ohne sich über seine Gedanken Rechenschaft geben zu können, blickte der Forstaufseher schweigend und sorgenvoll auf sein junges Weib.

»Wer sonst könnte es gewesen sein,« sagte er endlich. »Hier lebt alle Welt in bestem Einverständnis miteinander, jeder hat den andern gern und kennt ihn. Es gibt hier keine Diebe und Übelgesinnte, es hat hier niemals welche gegeben. Niemand anders als diese Schmuggler konnten ein Interesse daran haben ... Welch andere Hand ... hätte es gewagt ... aus Rache derartiges zu verüben?«

»Vielleicht ist es aus Liebe geschehen,« sagte die Baskerin. »Sieh, wenn ich liebe – das weißt du, würde ich den Geliebten erringen, und wenn Himmel und Erde darüber zugrunde gehen sollten! – Welche Hand konnte ein solches Verbrechen begehen, fragst du? Wie, mein Peter, wenn es nun die Hand wäre, auf die du eben deine Lippen drückst?«

Albrun, der seine Frau kannte, ließ entsetzt die Hand fallen, die er eben noch mit Küssen bedeckt hatte. Es lief ihm eiskalt über den Rücken, und sein Herzschlag stockte.

»Du scherzest, Ardiane?« sagte er.

Aber das seltsame, wilde Wesen, dieses berückend schöne, junge Weib schlang beide Arme um seinen Hals und, ihn mit berauschend leidenschaftlicher Zärtlichkeit fest an sich ziehend, flüsterte sie mit gebrochener Stimme und glühendem Atem dem jungen Mann ins Ohr:

»Peter! ... Es geschah doch, weil ich dich anbetete! Peter, es geschah, weil ich keinen andern Ausweg wußte, der furchtbaren, uns drückenden Armut zu entrinnen. Diese elenden Spelunken anzustecken war das einzige Mittel, uns zu sehen! Einander anzugehören und ein Kind zu bekommen.«

Bei diesen schrecklichen Worten riß sich Peter Albrun, der brave frühere Soldat, aus ihren Armen los, sprang auf und stand einen Augenblick hochaufgerichtet da. Dann aber ergriff ihn ein Schwindel, er taumelte hin und her. Ohne nur ein Wort zu antworten, schleuderte der Forstaufseher sein Ehrenkreuz in weitem Bogen durch das offene Fenster in den Gießbach hinaus – es stieß mit einer seiner Kanten so heftig auf einen Felsen an, daß es ihm einen Funken entlockte, ehe es im Schaume verschwand. Fast instinktiv streckte Albrun dann die Hand nach der an der Wand hängenden Flinte aus, aber er hielt plötzlich inne – sein Blick war auf das jetzt friedlich in den Armen seiner Mutter schlafende Kind gefallen.

»Dieses Kind soll Priester werden, um für dich die Absolution deiner Sünden zu erringen,« sagte er endlich nach einer langen Pause.

Aber die Baskerin war von einer sinnverwirrenden Schönheit, ihre Umarmungen waren so berauschend, ihre Küsse so glühend, daß es ihr schon gegen fünf Uhr morgens gelungen war, das Gewissen des jungen Mannes zu betäuben, und daß er in seiner schrecklichen Gefährtin keine Verbrecherin, sondern eine Heldin sah. In der Liebesglut, mit der Ardiane Inféral Peter Albrun an ihr Herz drückte, erstickte sein gerechter Zorn – und er vergab ihr. –

Und, um aufrichtig zu sprechen – warum sollte er ihr nach alledem nicht vergeben haben?

Wäre es vielleicht besser gewesen, wenn er ihr mit rauher Stimme »Lebewohl« zugerufen und davongegangen wäre? Man hätte dann wahrscheinlich drei Monate später in den Zeitungen gelesen, daß er einen ruhmvollen Tod in China oder bei den Hovas gefunden; sein armes Kind würde vielleicht in ein Waisenhaus gesteckt worden sein, und die schöne Baskerin würde in irgendeiner Stadt ihre Reize verkaufen und bei der Nachricht, daß sie Witwe geworden, die Achseln zucken und des Verstorbenen als eines richtigen Dummkopfes gedenken.

Das würden die Resultate einer zu rigoros durchgeführten Strenge gewesen sein.

Trotz dem Schatten des Geheimnisses, das auf ihnen ruht, dieses Geheimnisses, das sie streng behüten und das sie für immer miteinander verbunden hat, scheinen Peter und seine Ardiane ein glückliches Paar zu sein, das einander vergöttert! ... Es ist Peter sogar gelungen, sein Kreuz aus dem Gießbach herauszufischen; er hat dies Ehrenzeichen ja auch wirklich verdient und – er trägt es mit Stolz.

Wenn man in Erwägung zieht, was die Menschheit billigt, achtet und bewundert, so wird jeder aufrichtig und ernst denkende Geist zugeben müssen, daß dieser Ausgang durchaus wahrscheinlich ist.


 << zurück