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Catalina

Es war an einem schönen Sommerabende, als ich den Entschluß faßte, meine reizende, einsam am Ufer der Marne gelegene Villa mit ihrem geschützten, im Winter warmen, im Sommer köstlich schattigen Garten zu verlassen und für einige Zeit dem Reize des Studierens meiner deutschen metaphysischen Bücher, meines Klaviers von Ebenholz mit seinem reinen sympathischen Ton, meines Schlafrockes mit den großen halbverblichenen Blumen, den bequemen Pantoffeln, der friedlichen Studierlampe, kurz, des ganzen Zaubers meiner selbstgewählten träumerischen Existenz zu entsagen, um für einige Wochen in das Exil zu gehen.

Ich hatte folgenden Grund: In der letzten Zeit hatte ich meine Studien mit großem Nachdruck und mit Einsetzung meiner ganzen jugendlichen Energie betrieben. Ich fühlte, daß es notwendig war, eine Weile auszuspannen und meinem Geist Ruhe zu gönnen und beschloß daher eine möglichst aufheiternde Reise zu machen, bei der ich mich nur von den Zufälligkeiten der phänomenalen Welt zerstreuen lassen wollte, deren friedlicher Charakter mich von dem überreizten Zustand, in den ich geraten, erretten sollte, und die mich die ernsten Fragen, mit denen ich mich wohl etwas zu intensiv beschäftigt hatte, vergessen machen sollte. Ich wollte für eine Weile nicht denken, wollte geistig ausruhen, mit offenen Augen träumen, wie jeder andere Durchschnittsmensch. Es war zweifellos, daß eine solche Erholungsreise für meine kostbare Gesundheit sehr nützlich sein würde, denn es war Tatsache, daß ich über meinen alten Schmökern die Frische eingebüßt hatte und dahinsiechte. Kurz, ich hoffte durch eine gründliche Zerstreuung das geistige Gleichgewicht wiederzufinden, um dann bei meiner Heimkehr mit frischen Kräften die Arbeit wieder aufnehmen zu können.

Da mir sehr daran gelegen war, bei diesem Ausfluge jede Gelegenheit zu denken oder mit Denkern zusammenzutreffen zu vermeiden, so studierte ich aufmerksam die Landkarte und entdeckte nur ein Land, dessen phantastischer, künstlerischer und orientalischer Boden doch der Menschheit niemals einen Metaphysiker geschenkt hat. Diese Worte werden genügen, um jeden erkennen zu lassen, das es die Iberische Halbinsel ist, die ich meine.

An dem Abende, an dem ich den Entschluß, zu reisen, faßte, sah ich in der Gartenlaube, wo ich die opalfarbenen Wölkchen meiner Zigarette verfolgend und eine Tasse edlen Mokkas schlürfend, mir die Freuden meiner beabsichtigten Reise ausmalte und unwillkürlich fröhlich ausrief: »Auf zu einem fröhlichen Bummel durch Spanien! Ich will mich treiben lassen, mich an den Meisterwerken der schönen sarazenischen Kunst ergötzen, ich will in den glühenden Farben der alten Meister schwelgen, die Schönheit der sich hinter ihren Fächern verbergenden schwarzäugigen Frauen Andalusiens bewundern! O, wie freue ich mich auf den Anblick der herrlichen alten Städte, über denen sich der tiefblaue Himmel spannt, und die von den interessantesten Erinnerungen erfüllt sind! Wie oft habe ich nachts bei meiner Lampe die Beschreibungen der Reisenden und Touristen über dieses interessante Land gelesen. Ich werde Cadix, Toledo, Cordova, Granada sehen. Ich will Salamanka, Sevilla, Murcia, Madrid und Pampelone besuchen. Es ist beschlossen, ich reiste. –

Da mir aber immer die einfachsten Abenteuer, die friedlichsten Zwischenfälle und Ereignisse am besten behagen und meiner stillen Natur am meisten zusagen, so beschloß ich zuerst, eins jener Reisehandbücher zu kaufen, durch die man ganz genau erfährt, was man sehen wird und wodurch ein nervöses Temperament sich vor jeder unerwarteten Aufregung schützen kann.

Am andern Morgen ordnete ich meine Angelegenheiten, versorgte mich mit einem bescheidenen aber völlig ausreichenden Portefeuille, packte meinen leichten Handkoffer, und nachdem ich der ganz verblüfft aussehenden Haushälterin die Sorge für mein Heim anvertraut hatte, machte ich mich auf den Weg und war in weniger als einer Stunde in der Hauptstadt.

Ohne mich aufzuhalten, winkte ich einen Kutscher heran und befahl ihm, mich sofort nach dem Südbahnhof zu fahren. Ich reiste über Bordeaux und erreichte Arcachon schon am andern Morgen. Nachdem ich ein köstlich erfrischendes Seebad genommen und darauf vortrefflich gefrühstückt hatte, lenkte ich meine Schritte der Reede zu. Dort fand ich einen Dampfer, der grade nach Santander abgehen sollte, – rasch entschlossen löste ich eine Fahrkarte. Der Anker wurde gelichtet. Schon am Spätnachmittag trug eine leichte, vom Lande wehende Brise uns den Duft blühender Orangenbäume entgegen, und bald darauf sahen wir die spanische Küste, an der das reizende Städtchen Santander von grünen Hügeln umschlossen uns entgegenwinkte.

Der Abend tauchte das Meer in tiefviolette Töne, während es im Westen von der untergehenden Sonne wie mit Gold übergossen schien. Unser Schiff suchte seinen Weg durch die den Hafen erfüllenden Fahrzeuge, eine von dem Landungsplatze ausgeworfene hölzerne Brücke fiel auf den Bug, und dem Beispiele der andern Passagiere folgend, ging ich sofort an Land und befand mich bald auf dem von der Abendsonne erhellten Kai inmitten einer mir völlig neuen Umgebung.

Man lud Schiffe aus. Große Kollis mit erotischen Produkten, Käfige mit australischen Vögeln, große Körbe mit fremdländischen Pflanzen wurden aufeinandergetürmt. Der Duft von Vanille, Ananas, Kokusnüssen, erfüllte die Luft. Ungeheure Lasten, die mit Etiketten aus den Kolonien gezeichnet waren, wurden aus den Schiffen gehoben und auf große Frachtwagen verpackt, die rasch in der Stadt verschwanden. Da ich mich etwas ermüdet fühlte, schlenderte ich nur langsam voran. Ich hatte meinen Handkoffer einstweilen noch an Bord gelassen und wollte mich nach einem provisorischen Aufenthalt für die Nacht umsehen, als ich plötzlich unter den Marineoffizieren, die, um die frische Abendluft zu genießen, auf dem Damm spazieren gingen, das Gesicht eines alten Freundes zu erkennen glaubte, eines Kameraden meiner in der Bretagne verlebten Kindheit. Nachdem ich ihn scharf angeblickt hatte, entdeckte ich, daß ich mich nicht getäuscht hatte, er war es wirklich. Ich ging auf ihn zu.

»Habe ich nicht die Ehre, Herrn Gérard de Villebreux vor mir zu sehen?« fragte ich.

Ich hatte kaum meine Frage vollendet, als er mit der ganzen Herzlichkeit, die sich gewöhnlich zwischen Landsleuten entwickelt, die einander in fremdem Lande begegnen, meine beiden Hände ergriff und herzlich schüttelte.

»Du,« rief er erfreut, »du hier! Aber wie kommst denn du nach Spanien?«

»O, das ist einfach genug, ich befinde mich auf einer kleinen Erholungsreise, mein lieber Gérard.«

Mit zwei Worten verständigte ich ihn von dem Zwecke meiner harmlosen Reise.

Dann setzten wir Arm in Arm, wie zwei gute alte Freunde, die sich beide des Wiedersehens freuten, und lebhaft miteinander plaudernd unseren Weg fort.

»Ich,« so erzählte mir Gérard, »bin schon seit drei Tagen hier. Ich habe verschiedene große Reisen um die Welt gemacht und lehre augenblicklich von Guyana zurück. Ich bringe für den Zoologischen Garten in Madrid eine große Sammlung von Kolibris mit, deren Flügel aussehen, als ob sie mit den kostbarsten Edelsteinen eingelegt wären. Aus Brasilien führe ich viele seltene Orchideenzwiebeln ein. Die Orchidee ist die Blume der Zukunft, und die Europäer werden sowohl von ihrer Farbenpracht, wie von ihrem berauschenden Dufte überrascht und entzückt sein. Außerdem aber, mein Freund, habe ich einen ganz besonderen Schatz mitgebracht ... Ich werde dir Gelegenheit geben, ihn zu bewundern, er schimmert in gelbrötlicher Pracht, und ... er ist wenigstens 6000 Franken wert ...«

Er hielt inne und flüsterte mir schelmisch in das Ohr:

»Rate ... rate ... was es ist ...«

In diesem Augenblick glitt plötzlich eine zarte schlanke, topasfarbige kleine Frauenhand zwischen ihn und mich und legte sich leicht wie der Flügel eines Paradiesvogels auf die goldene Epaulette des Leutnants.

Wir wandten uns um.

»Catalina!« sagte fröhlich Herr de Villebreux, »nun, das muß ich sagen, der heutige Abend bringt mir Glück.«

Es war ein farbiges, sehr junges Mädchen, fast noch ein Kind. Sie trug ein rotes Seidentuch um den Kopf geschlungen, unter dem sich tausend tiefschwarze wollige Löckchen hervorstahlen, die lustig ihr freundliches, hübsches Gesicht umspielten. Sie war rasch hinter uns hergelaufen und daher etwas außer Atem, ihr purpurroter, üppiger Mund war halb geöffnet und ließ zwei Reihen blendend weißer Zähne sehen, sie atmete schnell.

»Olé!« rief sie.

Ihre schwarzen Augen funkelten, ihre Wangen waren ambrafarbig, und ihre Nüstern blähten sich, während sie wollüstig die aus den fernen Antillen kommenden, die Luft erfüllenden Wohlgerüche einatmete. Ein Musselineschal, der ihre Arme ganz unverhüllt ließ, bedeckte leicht die junge Brust. Über der braunen Seide der spanischen Basquine, die ziemlich geschmacklos mit Goldtressen besetzt war, hing ein gitterartiger, leichter, flacher Blumenkorb, der mit kaum halb erblühten Moosrosen, mit Tuberosen und Orangenblüten gefüllt war. Am Armband ihres linken Armes klapperten ein paar Kastagnetten von Mahagoniholz. Ihre zierlichen Kreolenfüßchen steckten in hübsch gestickten Schuhen, und sie bewegte sich mit jener trägen Grazie, die den Bewohnerinnen der Havanna eigentümlich ist. Es schien, als ginge ein süßer wollüstiger Hauch von diesem reizenden liebenswürdigen Kinde aus. Die letzten Sonnenstrahlen schimmerten auf den Kupferverzierungen des baskischen Tamburins, das auf ihrer Hüfte hing.

Schweigend steckte sie uns eine Moosrosenknospe in das Knopfloch und zwang uns dadurch, den ihrem Haare entströmenden Wohlgeruch einzuatmen.

»Wir wollen zusammen speisen, wir drei, nicht wahr?« sagte der Leutnant.

»Gern, nur – – – ich habe noch kein Unterkommen für die Nacht,« antwortete ich, »ich bin erst eben angekommen.«

»Um so besser. Unser Wirtshaus ist da unten an der abfallenden Felsenküste, es hat den Blick auf das Meer. Es ist das hohe alleinstehende Haus, das etwa 200 Schritte von uns entfernt liegt. Siehst du, wir wollen gern immer unsere Schiffe im Auge behalten. Wir werden in dem unteren Saale mit einigen mir befreundeten Offizieren der Marine zusammen speisen, und zweifellos werden noch andere Blüten der weiblichen Flora Santanders unsere Tafel zieren. Der Wirt hat neuen Jerez. Der trinkt sich wie klares Wasser, dieser köstliche Herrenwein von jerez! Aber man muß doch vorsichtig damit sein, wenn man ihn nicht gewohnt ist,« fügte er hinzu, die Taille der hübschen Mulattin mit dem Arme umschlingend, was sie sich willig gefallen ließ, ohne den Blick von uns zu lassen.

Nun hatte die Sonne den letzten Abschiedsgruß gesandt, rasch brach die Dämmerung herein. Noch leuchteten die Wogen am fernen Horizonte wie glühende Kohlen. Die von Osten kommende Brise war von scharfem, salzigem Duft erfüllt. Catalina lief vor uns her und versuchte es, mit ihrem Tamburin ein paar Schmetterlinge zu erwischen, die von den Orangenbäumen her dem Meere zuflatterten. In dem blaßblauen Abendhimmel ging die Venus auf.

»Schade, daß wir heute nacht keinen Mondschein haben werden,« sagte Herr de Villebreux zu mir, »wir hätten dann noch einen hübschen Spaziergang durch die Stadt machen können – bah – ich denke, wir tun noch etwas Besseres ...«

»Ist dieses reizende Kind deine Geliebte,« frug ich ihn.

»Nein; sie ist eine der Blumenhändlerinnen des Kais. So etwas ist rührend anspruchslos, lebt von Orangen, Zigaretten und Schwarzbrot, aber ihre Liebe schenkt diese Art von Mädchen nur denen, die ihnen gefallen. Es gibt in den spanischen Hafenstädten sehr viele solcher Rosenspenderinnen. Nicht wahr, es geht hier etwas anders zu als in Paris? Die Sitten aus dieser Erde sind eben alle fünfhundert Meilen weit vollständig andere. – Meine Liebste befindet sich auf dem vierundvierzigsten Grad südlicher Breite. – Übrigens, wenn Catalina dir gefällt, so amüsiere dich mit ihr. Sie hat sich dir vorgestellt, und du bist eingeführt. Also geniere dich nicht. – Hier ist unser Hotel.«

Der Wirt, dessen Haar in einem spanischen Netze hing, empfing uns sehr freundlich.

Aber in dem Augenblicke, als wir die Schwelle überschreiten wollten, hielt der Leutnant plötzlich inne, er schien von einem jähen Schrecken überfallen zu werden, denn er wurde sehr bleich und zitterte. Ohne jeden Übergang hatte das heitere sympathische Gesicht des jungen Mannes einen ernsten, fast feierlichen Ausdruck angenommen.

Er ergriff meine Hand, und nach einem Augenblick ernsten Nachdenkens sagte er, mir fest ins Auge sehend:

»Verzeih mir, lieber Freund. In der Freude und der Überraschung, dich so plötzlich wiederzusehen, habe ich ganz vergessen, daß heute ein Gedenktag ist, an dem ich mich nicht zerstreuen darf und will. Mit einem Worte: dies ist der Tag, an dem ich vor drei Jahren meine teure Mutter verloren habe, und ich möchte den heutigen Abend allein mit meinen Erinnerungen verleben. Ich bewahre die Reliquien dieser geliebten und heiligen Frau in meiner Kajüte, und dorthin möchte ich mich jetzt zurückziehen. Also, reiche mir die Hand und lebe wohl bis morgen. Tröstet euch über meine Abwesenheit, so gut es geht,« sagte er, uns beide schelmisch anschauend. »Morgen früh komme ich, dich zu wecken. – Ein Zimmer für den Herren,« rief er dem Wirt zu.

»Es tut mir sehr leid, mein Herr,« sagte dieser, »aber es ist leider kein Zimmer frei.«

»So,« sagte Herr de Villebreux zerstreut, »weißt du, dann ist es am besten, du benutzt für diese Nacht mein Zimmer. Du wirst gut darin schlafen, das Bett ist vorzüglich.«

Er sah traurig aus und schien ganz in trübe Gedanken versunken zu sein. Er reichte mir noch einmal die Hand, sagte dem jungen Mädchen gute Nacht und schlug dann rasch den nach der Reede führenden Weg ein.

Ein wenig bestürzt über diesen Zwischenfall blickte ich ihm nachdenklich nach. »Nun, jeder hat seine Toten,« sagte ich mir dann und ging in den Speisesaal. Catalina war schon vor mir in das lange niedrige Gemach eingetreten. Sie hatte an einem der Fenster, von dem aus man den Blick auf das Meer hatte, einen kleinen mit einer weißen Serviette bedeckten runden Tisch gewählt, auf den der Wirt zwei Leuchter mit brennenden Kerzen stellte.

Meiner Treu, trotz der leichten Verstimmung, die die letzten Worte meines Freundes in mir erregt hatten, nahm ich doch mit viel Vergnügen den lockenden Augen der kleinen Zauberin folgend, neben Catalina Platz. Die Gelegenheit und die Stunde waren günstig. Wir speisten am offenen Fenster und mit der Aussicht auf das ewige Meer, dessen Wogen dieses gesegnete Gestade zu liebkosen schienen, und über dem sich der Sternenhimmel wölbte. Catalina unterhielt mich mit ihrem fröhlichen Geplauder, das ich sehr gut verstand, obwohl sie ihr Havanna-Spanisch mit allerlei fremden Worten und Ausdrücken vermischte.

Einige Offiziere, Reisende und andere Herren saßen wie wir an gedeckten kleinen Tischen und speisten mit den schönen und gefälligen Töchtern des Landes.

Plötzlich, bei dem fünften Glase Jerez, bemerkte ich, daß die Warnung des Leutnants vor diesem Weine nur allzusehr begründet gewesen sei. Ich fühlte, daß meine Gedanken sich verwirrten und daß der Geist des Weines mir in den Kopf stieg. Auch Catalinas Augen leuchteten in lebhafterem Glanze. Eine der beiden Zigaretten, die sie angesteckt mir lächelnd hinhielt, vollendete die Wirkung des Weines. Wir hatten beide einen kleinen Rausch. Sie legte den Finger auf mein Glas und verbot mir lachend, mehr zu trinken.

»Zu spät!« sagte ich zu ihr.

Dann ließ ich zwei Goldstücke in ihre Hand gleiten und sagte dabei: »Du bist wirklich ein reizendes Kind, aber mein Kopf ist eingenommen, und ich muß schlafen.«

»Ich auch,« antwortete sie einfach.

Ich winkte den Wirt herbei und befahl ihm, mich auf das Zimmer des Leutnants zu führen. Wir verließen den Speisesaal. Der Wirt ergriff einen Handleuchter, auf dessen eiserne Platte er einen kleinen Haufen Schwefelhölzer legte. Dann zündete er die aufgesteckte Kerze an, und uns voranleuchtend, führte er uns die Treppe hinauf. Catalina folgte mir, sie stützte sich auf das Treppengeländer und unterdrückte nur mühsam ihr fröhliches, etwas unverschämtes Lachen.

Auf der ersten Etage angekommen, führte der Wirt uns durch einen langen Gang, an dessen Ende eine Tür war, vor der er haltmachte. Er nahm meinen Schlüssel, öffnete, und da von unten nach ihm gerufen wurde, reichte er mir schnell den Leuchter und sagte:

»Gute Nacht, mein Herr.«

Mit von dem Genuß des starten Weines halb verschleierten Augen und bei dem trügerischen matten Schein der Kerze, blickte ich um mich und bemerkte, daß das Zimmer sich kaum von denen eines gewöhnlichen Wirtshauses unterschied. Es war tief, aber nicht sehr breit. Im Hintergrunde und zwischen den Fenstern stand ein massiver Schrank, der wahrscheinlich mal zufällig bei irgendeiner Gelegenheit hier hereingeschleppt worden war. Der Schein der Kerze fiel auf seine großen Spiegeltüren, die mein Bild und das der hinter mir eintretenden Mulattin reflektierten. Auf dem Kamin fehlte die übliche Standuhr, er war von einem Schirm umgeben. Neben dem Bette, das direkt an der Türe stand, befand sich ein Strohstuhl.

Während ich den Schlüssel hereinnahm und damit die Türe von innen verschloß, taumelte das Kind, dessen Schritte durch diesen albernen und unerwarteten Rausch ebenso unsicher geworden wie meine eigenen, dem Bette zu und warf sich, vollständig angezogen, darauf nieder. Sie hatte ihr baskisches Tamburin, sowie ihr Blumenbrett in dem Speisesaal auf dem Tische stehen lassen. Ich stellte den Leuchter auf den Stuhl und setzte mich neben das lachende Mädchen auf das Bett. Sie hatte den einen Arm um ihren Kopf gelegt und schien schon beinahe eingeschlafen zu sein. Ich neigte mich zu ihr hinab, um sie zu küssen und ließ den Kopf einen Augenblick auf dem Kissen ruhen. Da übermannte mich plötzlich die Müdigkeit. Ich schloß die Augen. Dann warf ich mich ebenfalls völlig angekleidet neben sie auf das Bett und fiel sofort in tiefen wohltuenden Schlaf.

Ungefähr gegen Mitternacht wurde ich durch einen mir unerklärlichen Stoß erweckt; ich glaubte in der Dunkelheit, denn die Kerze war während meines Schlafes ganz heruntergebrannt, ein schwaches Geräusch, wie das Krachen alten Holzes zu vernehmen, dem ich jedoch wenig Aufmerksamkeit schenkte; indessen öffnete ich die Augen weit und starrte in das mich umgebende Dunkel hinein.

Die Bilder des letzten Tages: meine Ankunft, der Strand, Leutnant Gérard, Catalina, der Gedenktag meines Freundes, der Jerez-Wein zogen an meinem Geiste vorüber. Mit einem gewissen sehnsüchtigen Gefühle gedachte ich meiner friedlichen Villa an dem Ufer der Marne, meines Studierzimmers, meiner Bücher, der stillen geistigen Freuden, die ich verlassen hatte. Ein paar Minuten vergingen in dieser Weise.

Plötzlich ertönte aus der Ferne von irgendeiner alten Kirche des Städtchens her der Schlag einer Uhr.

Neben mir vernahm ich die friedlichen regelmäßigen Atemzüge der tief schlafenden Catalina.

Dann ereignete sich etwas höchst Überraschendes.

Mir war nämlich schon bei dem ersten Schlage, als ob sich der Pendel jener so weit entfernten Turmuhr in meinem Zimmer befinde und bald rechts an das Mauerwerk, bald links an die Wand des benachbarten Zimmers anschlüge.

Vergebens suchten meine Augen die tiefe, mich umgebende Nacht zu durchdringen und zu entdecken, woher dieses, einem Pendel ähnliche Geräusch käme, das fortfuhr, sich regelmäßig von rechts nach links und umgekehrt zu bewegen.

Ich weiß nicht weshalb, aber ich fühlte mich von einer seltsamen unerklärlichen Unruhe erfaßt.

Dabei war es mir, als ob der vom Meere herkommende Wind durch die Zwischenräume des Fensters dringe und ein ganz eigentümliches zischendes Geräusch verursache.

Beides aber, das Anschlagen des unsichtbaren Pendels, wie der häßliche zischende Ton verscheuchten meinen Schlaf, es wollte nicht ruhig werden, und mir schien, als ob diese Nacht kein Ende nehmen wolle.

Dann aber ganz plötzlich wurde es in dem Hause lebendig. In der Etage über mir, in den angrenzenden Zimmern hörte ich plötzlich ein Raunen und Flüstern, dann ein Hin und Her, wie von Menschen, die sich in aller Eile in die Kleider werfen, den Schritt schweren Schuhzeuges auf dem Gange, es war, als ob alle Bewohner des Hauses so rasch wie möglich flüchteten.

Ich streckte die Hand aus, um die Mulattin zu erwecken. Aber das Mädchen war schon seit ein paar Minuten wach. Sie umklammerte meinen Arm mit nervöser Hast, die auf mich den Eindruck machte, als stehe sie unter dem Einflüsse eines unüberwindlichen Schreckens. Und dann überrieselte auch mich ein eiskalter, meine Glieder lähmender Schauer. Das Mädchen versuchte offenbar zu sprechen, vermochte jedoch kein Wort hervorzubringen, ich hörte jedoch, wie ihre Zähne vor Angst aufeinanderschlugen. Ihre Hand, ihr ganzer Körper bebte in krampfhaftem Zittern. Sie wußte also was das sei, wußte, was das alles bedeutete! Ich richtete mich schnell empor, und ehe noch der letzte Schlag der in der Ferne die Mitternacht verkündenden Uhr verklungen, rief ich, so laut ich konnte, in die Dunkelheit hinein: »He hallo! Was gibt es hier, was geht hier vor?«

Auf diese Frage antwortete man mir von allen Seiten des kleinen Wirtshauses, dessen Bewohner offenbar unter dem Bann eines panischen Schreckens standen. »He, Sie werden wohl am besten wissen, was es gibt,« rief man mir zu. »Himmel, heiliges Kreuzdonnerwetter noch mal, man muß doch ganz verrückt sein, um mit dem Teufel zusammen im Zimmer schlafen zu wollen,« Man hielt mich offenbar für den Leutnant.

Ich hörte ganz deutlich, wie alles über die Gänge und Treppen weg ins Freie floh.

Ich war nun überzeugt davon, mich in einer furchtbaren Gefahr zu befinden.

Von einer tödlichen Angst erfaßt, stieß ich die Mulattin zurück und tastete nach den Streichhölzern, die auf dem Handleuchter lagen. Aber würden sie sich nicht allzu rasch verzehren?

Ich durchwühlte meine Taschen und fand darin eine noch zusammengefaltete Zeitung, die ich in Bordeaux gekauft hatte. Ich rollte sie im Dunkeln fackelförmig zusammen und strich alle Zündhölzchen auf einmal am Holze des Bettes an.

Es dauerte eine Weile, bis sich meine Fackel entzündete, doch gelang es mir, sie zum Brennen zu bekommen, und sie hoch emporhaltend, blickte ich mich im Zimmer um.

Das Geräusch hatte plötzlich aufgehört. Nichts! Ich sah nichts als mein eigenes Bild und das, des jetzt hinter mir auf dem Bette stehenden Mädchens in den Spiegeltüren des großen alten Schrankes. Catalina hatte sich mit dem Rücken an die Mauer gedrängt, sie drückte ihre Hände mit angstvoll ausgebreiteten Fingern an die getünchte Wand, und mit schreckverzerrtem Gesichte und weit aufgerissenen Augen blickte sie auf das furchtbare Etwas, das das Übermaß meiner Erregung mich noch zu entdecken verhinderte.

Plötzlich wandte ich den Kopf, und das, was ich dann erblickte, erfüllte mich mit einem Grauen, das mich beinahe zu ersticken drohte. Was war es, was ich deutlich in dem mir gegenüberstehenden Spiegel erschaute? Kaum wagte ich meinen Augen zu trauen! War es ein fürchterlicher Traum? Wieder blickte ich hin, und ich fühlte mich abermals schwach werden. Dabei konnte mein Auge sich nicht losreißen von dem entsetzlichen Wesen, das mir erschien.

Das also war der köstliche Schatz meines Freundes, des pietätvollen Leutnants Gérard – des guten Sohnes, der jetzt zweifellos in seiner Kabine betete! Ich fühlte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach und verzweiflungsvolle Tränen mein Auge umdüsterten.

Um die vier Füße des großen Schrankes gerollt, und durch vielfach durcheinandergeschlungene feine Taue, wie solche bei der Marine in Gebrauch sind, gefesselt, lag eine Riesenschlange, eine entsetzliche Python, wie man sie, wenn auch nur noch sehr selten, in den verpesteten Sümpfen Guyanas findet. Durch den Schmerz, der sie zu fest umschlingenden Bande aus ihrem trägen Schlummer geweckt, war es dem entsetzlichen Scheusale gelungen, durch unausgesetztes Ziehen und Zerren ihren Körper in etwa 3 ½ Meter Länge den Fesseln zu entziehen. Der lange Rumpf des gewaltigen Untiers, das also war der lebendige Pendel, der sich unablässig hin und her bewegte und bemühte, sich ganz seiner Bande zu entledigen. Der Teil ihres Körpers, den zu befreien ihr bereits gelungen war, hatte sich beim Aufleuchten meiner Fackel mir gerade gegenüber steif und unbeweglich aufgerichtet. Aus ihrem ungeheuren Rachen, aus dem vier parallel stehende Reihen von Giftzähnen mir entgegenfletschten, bewegte sich eine lange gespaltene Zunge hin und her, während ihre glühenden wilden Augen mich fest und tückisch anstarrten. Es war das wütende Zischen des Scheusals, das ich für das Heulen des Windes gehalten, das mich aus meinem friedlichen Schlafe geweckt hatte, ein Zischen, das nun ganz nahe und kaum ein paar Fuß von meinem Gesichte entfernt, aus ihrem scheußlichen Rachen ertönte.

Bei diesem unerwarteten furchtbaren Anblick erfaßte mich ein Todesschrecken. Mir war, als ob mein ganzes vergangenes Leben in einem Augenblicke an meiner Seele vorübergleite. Meine Sinne drohten zu schwinden, aber der durchdringende verzweiflungsvolle Schrei der Mulattin, die sofort begriffen hatte, was das Zischen und der in kleinen Stößen langsam näherkommende, weit geöffnete Rachen des Untiers bedeute, gaben mir das Leben und meine Besonnenheit zurück.

Ohne meine Fackel loszulassen, die jetzt hell auflodernd das ganze Zimmer erhellte, sprang ich, das bebende Mädchen mit mir ziehend, von dem Bette herab. Catalina sank mir entgegen, ohne den entsetzten Blick von dem Scheusal zu lassen, das, als es uns fliehen sah, sein wütendes Zischen und die verzweifelten Anstrengungen sich der letzten Banden zu entledigen verdoppelte. Mit zitternder Hand riß ich die Türe auf, die ich dann rasch hinter uns zuwarf, und Catalina umschlingend und mit mir ziehend, durcheilte ich mit ihr den langen Gang und stürzte die Treppe hinab. Hinter uns vernahmen wir einen furchtbaren Lärm; laut krachend, war der Schrank umgestürzt und zusammengebrochen, mit schweren Spiralbewegungen wälzte sich das Ungeheuer in namenloser Wut durch das Zimmer, die Möbel umreißend und zertrümmernd und alles um sich her zerstörend.

Wir waren schnell wie der Blitz die Treppe hinabgeeilt. Unten war niemand. Der Speisesaal war leer, die zum Strande führende Türe war weit geöffnet.

Ohne durch müßiges Bedenken Zeit zu verlieren, stürzten wir ins Freie.

Auf dem Strande angelangt, verließ mich die Mulattin, und ohne weiter Notiz von mir zu nehmen, lief sie, so schnell sie nur konnte, der Stadt zu.

Da ich sie außer Gefahr wußte, eilte ich selbst der Reede zu, deren große Laternen in der Ferne leuchteten. Mir war, als ob das scheußliche Tier sich hinter mir her den Strand entlang wälze und mir jeden Augenblick näher käme. –

In wenigen Minuten hatte ich meinen Handkoffer von der »Veloa« geholt und eilte dann, so schnell ich konnte, an den Landungsplatz, wo ich noch gerade zur rechten Zeit ankam, um mit der »Vigilante«, die im Begriffe war, nach Frankreich abzusegeln, den Heimweg anzutreten.

Drei Tage später war ich wieder in meinem stillen, lieben Hause an den Ufern der Marne. In bequemen Sesseln sitzend, die Füße in Pantoffeln und in meinen Schlafrock gehüllt, nahm ich das Studium meiner metaphysischen deutschen Bücher wieder auf. Ich fand, daß mein Geist sich genug ausgespannt habe und verschob alle weitern Pläne von Erholungsreisen, in denen ich mich von den »Zufälligkeiten der phänomenalen Welt« erheitern lassen wollte, in unabsehbare Zukunft.


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