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Das zweite Gesicht

Es war an einem Winterabend. Wir saßen mit mehreren Geistesgenossen um ein gutes Feuer und tranken Tee bei einem unserer Freunde, dem Baron Xavier de la V. (einem blassen, jungen Manne, der, kaum erwachsen, schon nach Afrika gegangen war und dort infolge starker militärischer Strapazen und Ermüdungen eine ungewöhnliche Reizbarkeit des Temperaments und eine gewisse Rauheit der Sitten davongetragen hatte). Die Unterhaltung drehte sich um ein ziemlich düsteres Thema, man sprach nämlich von dem außergewöhnlichen, verblüffenden und geheimnisvollen Zusammentreffen, das in dem Leben einiger Menschen stattfindet.

– »Mir ist da eine Geschichte begegnet,« sagte er, »zu der ich keine Erklärung geben kann. Sie ist wahr. Vielleicht werden Sie sie interessant finden.«

Wir steckten uns Zigaretten an und lauschten folgender Erzählung.

– Es war im Jahre 1876, in den letzten Herbsttagen, zu jener Zeit, wo die immer wachsende Zahl allzu rasch vollzogener Beerdigungen anfing, die Pariser zu beschäftigen und in Aufregung zu versetzen. Ich hatte an einem gewissen Abend gegen acht Uhr an einer spiritistischen Sitzung teilgenommen und fühlte, als ich von dort heimkehrte, daß ich einmal wieder dem Anfall jenes erdrückenden, vielleicht ererbten Spleens erlag, der, wenn er mich überfällt, meine geistige Fähigkeit lähmt und reduziert.

Ich habe die berühmtesten Ärzte konsultiert, um mich davon zu befreien; auf das gewissenhafteste habe ich alle ihre Vorschriften befolgt und mich ihren Kuren unterworfen. Vergebens! Es hat nichts geholfen. Es scheint, daß ich bestimmt bin, als ein schweigsamer, melancholischer Mensch durchs Leben zu gehen. Und dennoch muß ich trotz meiner nervösen Veranlagung im Grunde eine Natur von Stahl und Eisen haben, da ich trotz allem, was ich durchgemacht habe, noch unter den Sternen wandle.

Als ich an jenem Abend in meinem Zimmer angelangt war und mir an einer der vor dem Spiegel stehenden Kerzen meine Zigarre ansteckte, bemerkte ich, daß ich leichenblaß war. Ich warf mich in einen großen Sessel, ein altes, ehrwürdiges, mit granatfarbenem Samt bezogenes Familienstück, in dem ich in meinen langen Träumereien oft den Flug der Stunden vergaß. Mir erschien der Anfall meines alten Leidens heute besonders drückend; meine Erschöpfung war eine so vollständige, daß ich sie beinahe wie eine Krankheit empfand. Da es mir – besonders inmitten der rauschenden Vergnügen der Hauptstadt – unmöglich erschien, sie abzuschütteln, faßte ich den Entschluß, Paris auf einige Zeit zu verlassen, aufs Land zu gehen, mich so viel wie möglich in der frischen Luft zu bewegen und zu versuchen, mir durch körperliche Anstrengungen, vielleicht durch einige Jagdpartien, Zerstreuung zu verschaffen und Genesung zu finden.

Kaum war mir dieser Gedanke gekommen, als plötzlich der Name eines alten Freundes, an den ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte, der des Abbés Maucombe, mir in den Sinn kam.

»Der Abbé Maucombe!« sagte ich mit leiser Stimme.

Meine letzte Begegnung mit dem gelehrten Priester datierte von jener Zeit, da er seine lange Pilgerfahrt nach Palästina antrat. Ich wußte jedoch, daß er jetzt zurückgekommen sei. Er lebte in der bescheidenen Pfarrwohnung eines kleinen Dorfes in der Bretagne.

Maucombe verfügte dort sicher über ein Zimmer, einen anspruchslosen Zufluchtsort für mich. Zweifellos hatte er von seinen Reisen einige alte Bücher mitgebracht, Raritäten vom Libanon. Und ich möchte darauf wetten, daß die Teiche der benachbarten Herrensitze von wilden Enten wimmelten! Das konnte mir passen! Wenn ich die letzten vierzehn Tage des feenhaft schönen Oktobers in den roten Felsen genießen wollte, und ehe der erste Frost eintrat, die herbstliche Pracht der die Höhe krönenden Wälder schauen und genießen wollte, dann mußte ich mich beeilen. – Die Uhr schlug neunmal.

Ich erhob mich und schüttelte die Asche von meiner Zigarre. Dann, da ich einen gefaßten Entschluß stets rasch ausführe, machte ich mich sofort reisefertig. Ich packte einen Handkoffer, ergriff mein Gewehr, setzte den Hut auf, hing meinen Radmantel um und zog die Handschuhe an; dann blies ich die Kerzen aus und verschloß, nachdem ich mein Zimmer verlassen, sorgsam und dreifach das alte Geheimschloß, das der Stolz meiner Tür ist.

Dreiviertel Stunden später brachte mich der nach der Bretagne fahrende Zug nach dem kleinen Dorfe Saint-Maure, in dem der Abbé Maucombe angestellt war; ich hatte sogar noch Zeit gefunden, auf dem Bahnhofe in aller Eile mit Bleistift einen Brief an meinen Vater zu schreiben, in dem ich ihn von meiner Abreise benachrichtigte.

Am andern Morgen war ich in R., das ungefähr zwei Meilen von Saint-Maure entfernt liegt.

Da ich mich danach sehnte, einmal eine Nacht gut zu schlafen, um am andern Morgen beim Anbruch des Tages gleich mit meinem Gewehr losziehen zu können, und da ich fürchtete, ein Mittagsschläfchen nach dem Frühstück würde meine nächtliche Ruhe beeinträchtigen, benutzte ich trotz meiner Müdigkeit den Tag dazu, mehrere Besuche bei meinen in R. wohnenden Studiengenossen zu machen.

Nachdem ich diese Pflichten erfüllt hatte, ließ ich mir um fünf Uhr in der goldenen Krone, wo ich abgestiegen war, ein Pferd satteln und befand mich, als die Sonne schon untergehen wollte, in der Nähe eines Weilers.

Unterwegs hatten sich meine Gedanken unausgesetzt mit dem alten Priester beschäftigt, bei dem ich mich einige Tage aufzuhalten gedachte. Die lange Zeit, die zwischen unserer letzten Begegnung und dem heutigen Abend lag, die ereignisvolle Pilgerfahrt und seine darauffolgende einsiedlerische Lebensweise mußten seinen Charakter und seine Person verändert haben. Ich würde ihn sicher gealtert finden – aber ich kannte den lebhaften Geist, die fesselnde Unterhaltungsgabe des gelehrten, alten Herrn, und ich versprach mir viel von den Abenden, die ich mit ihm verleben würde.

»Der Abbé Maucombe,« wiederholte ich immer wieder ganz leise, »das war wirklich eine ausgezeichnete Idee.«

Als ich die alten Leute, die an den Gräbern entlang ihr Vieh weideten, nach seiner Wohnung frug, hatte ich Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, daß der Pfarrer, als richtiger Verkündiger eines barmherzigen Gottes, die Liebe seiner Pfarrkinder erworben hatte. Nachdem man mir den Weg zu der Pfarrwohnung gezeigt, die ziemlich weit von den Häuschen und Hütten des Dorfes Saint-Maure entfernt lag, schlug ich den dahin führenden Seitenpfad ein.

Ich kam an.

Der ländliche Anblick dieses Hauses, die Fenster mit ihren grünen Jalousien, die drei zu der grünumrankten Haustüre führenden Sandsteinstufen, der Efeu, die Klematis, die Teerosen, die bis zum Dache hinaufkletterten, über dessen Schornstein eine leichte Rauchwolke schwebte – alles machte den Eindruck der Sammlung, des Behagens und tiefsten Friedens. Das Laub der im benachbarten Baumgarten stehenden Obstbäume war schon herbstlich gefärbt. Die zwei Fenster des einstöckigen Häuschens waren von der Abendsonne erhellt; zwischen ihnen befand sich eine Nische mit dem Bilde des Heilandes. Ich stieg ab, band mein Pferd an einem der Fensterflügel an, und nachdem ich mich noch einen Augenblick in den Anblick des Abendhimmels versenkt hatte, ergriff ich den an der Türe befindlichen Türklopfer.

Der Himmel leuchtete so prachtvoll über den fernen Eichen und Föhrenwäldern, über denen die letzten, wärmeren Gegenden zustrebenden Zugvögel in den Abend hineinzogen – die Glut der untergehenden Sonne spiegelte sich so feierlich in dem Wasser eines nahen, schilfumkränzten Weihers – die ganze Natur dieser einsamen Gegend war in diesem Augenblick vor dem Hereinbrechen der Nacht von einer so wunderbaren Schönheit erfüllt, daß ich ganz überwältigt davon war, und ohne den Klopfer niederfallen zu lassen, stumm in all die Herrlichkeit blickte.

Ich war übrigens so übermüdet, und meine Nerven befanden sich in einem Zustande derartiger Überreizung, daß das leichte Geräusch eines niederfallenden Blattes sie zittern machte. Der zauberhafte Horizont dieser Gegend blendete meine Augen. Ich ließ den Türklopfer sinken, ohne zu pochen, setzte mich auf die Stufen des Häuschens und versank in dumpfes Träumen.

Erst nach einer längeren Weile, nachdem der Abend herabgesunken und es anfing kühl zu werden, kam ich zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurück. Ich erhob mich rasch, und den Blick auf dem freundlichen Hause ruhen lassend, griff ich abermals nach dem Klopfer.

Wie durch eine höhere Macht gezwungen, hielt ich jedoch inne, und erschreckt die mir eben noch so reizend erschienene ländliche Wohnung anstarrend, frug ich mich, ob ich der Spielball einer Halluzination sei?

War das wirklich dasselbe Haus, das ich eben gesehen? Lange, durch bleiche Blätter gleitende Eidechsen verrieten mir sein Alter! Das ganze Gebäude hatte ein seltsames Aussehen. Die von den letzten Strahlen der Sonne erhellten Fenster strahlten in heimlicher Glut. Die gastliche Tür, zu der die drei steinernen Stufen führten, lud zum Eintritt ein, aber während meine Aufmerksamkeit auf die wohl eben erst frisch gescheuerten, grauen Sandsteinplatten dieser Stufen gelenkt ward, erkannte ich deutlich an den Spuren der darin eingegrabenen Buchstaben, daß es Grabsteine waren, die wahrscheinlich von dem nahen Friedhofe stammten, dessen schwarze Kreuze ich jetzt kaum hundert Schritte von mir entfernt deutlich erkannte. Und das ganze Haus hatte ein so seltsam geheimnisvolles Aussehen angenommen, daß mir graute, und das Echo des Klopfers, den ich endlich niederfallen ließ, hallte in dem Innern der Wohnung nach wie eine Totenglocke.

Diese Art des zweiten Gesichts, das viel mehr physisch wie körperlich ist, verwischt sich übrigens mit großer Schnelligkeit. Ja, ich konnte nicht daran zweifeln, daß ich wieder einmal das Opfer dieser seelischen Depression war, der ich zu entweichen gehofft hatte. Ich sehnte mich danach, so rasch wie möglich ein liebes Gesicht zu sehen, das mir helfen sollte, die Erinnerung daran zu verscheuchen; ohne länger zu warten, stieß ich den Riegel der Türe auf. – Ich trat ein.

Die Türe, in der ein Bleigewicht befestigt war, schloß sich hinter mir von selbst.

Ich befand mich in einem langen Korridor, in dessen Hintergrunde Nanon, die getreue, immer vergnügte alte Dienerin, ein Licht in der Hand tragend, die Treppe herunterkam.

Sie erkannte mich sofort und begrüßte mich fröhlich mit den Worten:

»O, Herr Xavier ... sind Sie es wirklich?«

»Guten Abend, meine gute Nanon!« antwortete ich, ihren diensteifrigen Händen meinen Handkoffer und mein Gewehr überlassend.

Meinen Reisemantel hatte ich in meinem Zimmer in der goldenen Sonne vergessen.

Ich stieg die Treppe hinauf. Eine Minute später lag ich in den Armen meines alten Freundes.

Die Aufregung unseres zärtlichen Wiedersehens sowie ein gewisses melancholisches Gefühl übermannte den Abbé sowohl wie mich so sehr, daß wir in den ersten Minuten kaum Worte zu finden vermochten.

Über eine Weile erschien Nanon, um uns eine Lampe zu bringen und zu melden, daß das Abendessen fertig sei.

»Mein lieber Maucombe,« sagte ich, meinen Arm unter den seinen schiebend, um herunterzugehen, »die Freundschaft zweier verwandter Seelen gilt doch für alle Ewigkeit, und ich sehe, daß wir beide diese Ansicht teilen.«

»Es gibt christliche Geister, deren göttliche Verwandtschaft eine sehr nahe ist, ja. – Die Welt hat weniger vernünftige Glauben, für die sich Anhänger finden, die ihr Blut, ihr Glück und ihre Pflicht dafür opfern. Es sind Fanatiker,« schloß er lächelnd. »Erwählen wir den besten und nützlichsten Glauben, da wir frei sind und unsern Glauben zu vertreten haben.«

»Tatsache ist,« antwortete ich lachend, »daß es schon sehr geheimnisvoll ist, daß zweimal zwei vier machen.«

Wir gingen in das Speisezimmer. Während des Mahles machte der Abbé mir zuerst sanfte Vorwürfe, weil ich so lange nichts von mir hatte hören lassen und erzählte mir dann von allem, was in seinem Dorfe vorging.

Er sprach von dem Lande und erzählte mir zwei oder drei Anekdoten über die benachbarten Gutsbesitzer.

Dann belichtete er von seinen persönlichen Jagderlebnissen und von seinen Triumphen beim Fischfang, kurz, er war von einer berückenden Liebenswürdigkeit und offenbar in heiterster, gehobener Stimmung.

Nanon machte die aufmerksame Wirtin, bemühte sich, uns aufs beste zu bedienen, und lief so eifrig hin und her, daß ihre große weiße Haube flatterte, als ob Flügel daran wären.

Als ich mir beim Kaffee eine Zigarette drehte, folgte Maucombe, der früher Dragoneroffizier gewesen war, meinem Beispiele. Nach den ersten Zügen gingen wir beide eine Weile schweigend unsern Gedanken nach; dann aber benutzte ich die Gelegenheit, um meinen Wirt aufmerksam zu betrachten.

Der Priester war ein hochgewachsener Mann von vielleicht fünfundfünfzig Jahren. Lange, bereits ergraute Locken umrahmten sein mageres und ausdrucksvolles Gesicht. Sein lebhaftes Auge verriet eine hohe Intelligenz. Seine Züge waren regelmäßig und streng; die elastische schlanke Gestalt erschien noch durchaus jugendlich, und er verstand es, seine lange Soutane mit großem Anstand zu tragen. Der volle Klang seiner wohllautenden Stimme verriet eine gesunde Lunge, und seine Rede trug den Stempel hohen Wissens und reinster Herzensgüte. Er schien eine ausgezeichnete, widerstandsfähige Gesundheit zu haben.

Nachdem wir Kaffee getrunken, führte er mich in sein kleines Bibliothekzimmer.

Ich war infolge der letzten schlaflosen Nacht zum Frösteln geneigt, außerdem war der Abend wirklich sehr kühl. Als aber ein Arm voll dürrer Weinreben die im Kamin aufgeschichteten großen Holzscheite hell entflammen machte, fühlte ich mich bald sehr behaglich.

In unsere zwei bequemen Sessel von gebräuntem Leder ausgestreckt und die Füße am Feuer wärmend, sprachen wir von Gott.

Da ich aber sehr müde war, beschränkte ich mich darauf, zuzuhören, ohne zu antworten.

»Um zum Schlüsse zu kommen,« sagte Maucombe endlich, sich erhebend, »sind wir hier auf Erden, um durch unsere Werke, unsere Gedanken und Worte und durch unsern Kampf gegen die Natur Zeugnis dafür abzulegen, daß wir die uns auferlegte Last des Lebens würdig zu tragen wissen.«

Und er schloß mit einem Zitat Josefs von Maistre: »zwischen Gott und dem Menschen steht nur der Stolz.«

»Trotz alledem,« sagte ich zu ihm, »haben wir – verzogene Kinder dieser Natur, die Ehre, in einem Zeitalter des Lichts zu leben.«

»Dem wir aber Ihn, der das Licht aller Zeiten ist, vorziehen sollen, erwiderte er lächelnd.

Wir waren auf dem Treppenabsatz angekommen, unsere Kerzen in der Hand.

Ein langer Gang trennte das Zimmer meines Wirtes von dem, das man mir bestimmt hatte. Er bestand darauf, mich dorthin zu führen. Wir traten ein, und er überzeugte sich selbst davon, ob mir nichts fehle; dann gaben wir uns die Hand und sagten gute Nacht – und dabei fiel der helle Schein meiner Kerze auf sein Gesicht. – Und plötzlich überfiel mich ein Gefühl des Grauens, das mich zittern machte!

War es ein Sterbender, der da an meinem Bette stand? Die Gestalt dort vor mir war nicht, konnte nicht die meines lieben Wirtes sein? Oder wenn ich sie auch ungefähr erkannte, so war es mir doch, als habe ich sie erst in diesem Augenblicke so gesehen, wie sie in Wirklichkeit war. Eine Bemerkung wird mich verständlich machen, der Abbé erweckte in mir die Empfindung des zweiten Gesichtes, das mich im Anblick seines Hauses bereits überwältigt hatte.

Das Antlitz meines Wirtes erschien mir verändert, sehr ernst und von einer wahren Totenblässe, die Augenlider waren gesenkt. Hatte er meine Gegenwart vergessen? Betete er? Seine Person erschien mir plötzlich von einer solchen Feierlichkeit umgeben, daß ich unwillkürlich die Augen schloß. Als ich sie nach ein paar Sekunden wieder öffnete, stand der Abbé immer noch da, aber nun war er wieder der Alte geworden, und sein freundliches Lächeln zerstreute sofort alle Unruhe in mir. Der wunderbare Eindruck, den er plötzlich auf mich gemacht, war zu kurz gewesen, um auch nur eine Frage an ihn richten zu können. Es war eine seltsame, rasch vorübergegangene Halluzination.

Maucombe wünschte mir noch einmal gute Nacht und zog sich dann zurück.

Nun war ich allein. »Schlafen, ich muß ordentlich schlafen, dachte ich, das ist's, was mir nottut.«

Mir kamen indessen sofort Todesgedanken – dann aber erhob ich meine Seele zu Gott, und ich ging zu Bett.

Eine der Eigentümlichkeiten eines übermüdeten Zustandes ist die Unmöglichkeit, gleich Schlaf zu finden. Alle Jäger haben diese Erfahrung gemacht. Es ist eine sehr bekannte Tatsache.

Ich hoffte, rasch und tief einzuschlafen. Ich hatte große Hoffnungen auf eine gute Nacht gesetzt. Aber schon nach zehn Minuten bemerkte ich, daß meine nervöse Erregung sich nicht legen wollte. Ich glaubte, ein leises Tick-tack in dem Holzwerk, ein kurzes, gedämpftes Krachen in den Mauern zu vernehmen. Das waren ohne Zweifel die sogenannten Totenuhren. Jedes noch so kleine zufällige Geräusch durchzitterte meine Nerven wie ein elektrischer Schlag.

Der Wind bewegte die dunkeln Äste der Bäume im Garten. Jeden Augenblick schlugen Efeuranken an mein Fenster. Ganz besonders war es der Gehörsinn, der sich peinlich geschärft hatte, eine Erscheinung, die Menschen, die am Verhungern sind, auch öfters beobachtet haben.

»Ich habe zwei Tassen Kaffee getrunken,« sagte ich mir, »das ist es.«

Ich richtete mich in meinen Kissen auf und blickte in das Licht der Kerze, die ich nicht verlöscht hatte, und die auf dem Tische neben meinem Bette stand.

Unter halb geschlossenen Lidern sah ich daraufhin mit jener Starrheit des Blickes, die weit abirrende Gedanken dem Auge verleihen.

Über dem Kopfende meines Bettes befand sich ein kleiner Weihwasserkessel, in dem ein Buchsbaumzweiglein steckte. Die heiße Stirn zu kühlen, benetzte ich meine Augenlider mit dem Weihwasser; dann löschte ich meine Kerze und schloß die Augen. Der Schlaf kam. Das Fieber ließ allmählich nach.

Ich war im Begriffe einzuschlafen, als ein dreimaliges kurzes und gebieterisches Klopfen an meine Türe mich aufschreckte.

»Hallo!« rief ich, jäh in die Höhe fahrend.

Nun erst bemerkte ich, daß ich doch wohl schon tief geschlafen haben mußte. Ich wußte nicht, wo ich war. Ich glaubte in Paris zu sein. Es kommt öfters vor, daß man selbst nach einem kurzen Schlafe sich erst darauf besinnen muß, wo man sich befindet. Ich hatte übrigens auch fast in demselben Augenblicke die Ursache meines jähen Erwachens vergessen und streckte mich behaglich und sorglos aus, in der Hoffnung, bald wieder einzuschlafen.

Dann fiel es mir plötzlich ein, daß es ja doch an meine Tür geklopft habe. »Ach so,« sagte ich mir, »nun, was für ein Besuch mag denn da sein?«

Und jetzt erst wurde es mir bewußt, daß ich nicht in Paris sei, sondern mich in einem Pfarrhaus der Bretagne und bei dem Abbé Maucombe befände.

In einem Augenblick war ich mitten im Zimmer.

Das erste, dessen ich mir bewußt wurde, war, daß meine Füße sehr kalt wurden, und daß es ganz hell um mich war. Über der meinem Fenster gegenüber befindlichen Kirche stand der Vollmond am wolkenlosen Himmel, und sein Helles, bleiches Licht drang durch die leichten weißen Gardinen und erhellte das ganze Gemach.

Es war gegen Mitternacht.

Meine Gedanken waren krankhaft erregt. Was war das nur? Die scharf abgegrenzten Schatten aller Gegenstände erschienen mir so seltsam! Als ich mich der Türe näherte, glitt ein glutroter Schein durch das Schlüsselloch und irrte einen Augenblick über meine Hand und meinen Ärmel.

Es war also doch jemand hinter der Türe, man hatte wirklich geklopft!

Ich wollte schon öffnen, hielt aber plötzlich inne.

Mich befremdete die Beschaffenheit des durch das Schlüsselloch dringenden Lichtscheines; er glich einem blutroten und kalten Fleck, der nicht die Kraft hatte, zu erhellen. Seltsam war es auch, daß aus dem Korridor unter der Türe her nicht der kleinste Lichtschimmer sichtbar ward. Wirklich, dieses rot leuchtende Schlüsselloch machte auf mich den Eindruck des phosphorisch glühenden Blicks einer Nachteule.

In diesem Augenblick schlug die Kirchenuhr zwölfmal.

»Wer ist da?« frug ich mit leiser Stimme.

Der rote Schein verlöschte: – ich näherte mich der Türe, um sie zu öffnen, aber in demselben Augenblick ging sie von selbst langsam und leise weit auf.

Vor mir in dem Korridor stand die hohe und schlanke Gestalt eines Priesters mit dem dreieckigen Barett auf dem Kopfe. Der Mond beleuchtete seine ganze Gestalt mit Ausnahme des Gesichtes, das im tiefsten Schatten blieb. Ich sah nur das Feuer seiner Augen, die mich mit feierlicher Unbeweglichkeit anblickten.

Es war, als ob der Hauch einer andern Welt diesen seltsamen Besucher umwehte, seine unbewegliche, starre Haltung bedrückte meine Seele. Starr vor Schrecken, der sich zu einem wahren Angstparoxismus steigerte, blickte ich auf diese trostlose, schweigend vor mir stehende Gestalt.

Plötzlich erhob der Priester langsam den Arm und zeigte mir einen schweren großen Gegenstand. Es war ein weiter, schwarzer Mantel, ein Reisemantel. Er hielt ihn mir hin, als ob ich ihn nehmen solle.

Ich schloß die Augen, weil ich diesen Anblick nicht ertragen konnte. O, ich wollte nichts mehr sehen. Da flog plötzlich mit einem schrecklichen Schrei eine Eule zwischen uns auf, und der durch das Schlagen ihrer Flügel verursachte Lufthauch berührte meine Augenlider und machte, daß ich sie wieder aufschlug. Ich fühlte, wie der Nachtvogel durch das Zimmer flog.

Vor Angst stöhnend, denn die Kraft zu schreien versagte mir, heftig schlug ich die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Seltsamerweise war es mir, als ob dies alles vollständig geräuschlos geschähe.

Es war mehr, als ich ertragen konnte! Ich erwachte. Ich saß mit weit ausgebreiteten Armen auf meinem Bett. Ich war eiskalt, meine Stirn war in Schweiß gebadet, und das Herz klopfte in heftigen Schlägen gegen meine Brust.

»Ach,« sagte ich, »welch ein entsetzlicher Traum!«

Und immer noch vermochte ich nicht ein quälendes Angstgefühl zu überwinden. Es dauerte länger wie eine Minute, ehe ich mich so weit erholt hatte, die Hand bewegen zu können, um nach Streichhölzern zu suchen. Mir war, als ob in der Dunkelheit eine eiskalte Hand die meine erfaßte und zärtlich drückte.

Ich zitterte vor Erregung, als ich die Zündhölzer an dem eisernen Leuchter anstrich. Ich steckte die Kerze wieder an.

Auf der Stelle fühlte ich mich dann wohler. Die göttliche Macht des Lichtes zerstreut die nächtlichen Nebel und verjagt böse Träume.

Um mich völlig zu erholen, beschloß ich, ein Glas kaltes Wasser zu trinken und stand aus dem Bett auf.

Als ich am Fenster vorbeikam, bemerkte ich, daß der Mond genau so stand, wie ich ihn im Traume gesehen hatte, obwohl ich ihn, als ich zu Bett ging, gar nicht bemerkt hatte, und als ich dann mit der Kerze in der Hand das Schloß der Türe untersuchte, stellte ich fest, daß der Schlüssel von innen umgedreht war, was ich vor dem Zubettegehen nicht getan hatte.

Bei diesen Entdeckungen warf ich einen forschenden Blick um mich. Ich fing an, zu finden, daß diese Sache wirklich einen sehr unheimlichen Charakter habe. Ich legte mich wieder zu Bett und suchte mich davon zu überzeugen, daß dies alles ein Anfall von Somnambulismus sei. Aber es gelang mir nicht, mich zu beruhigen. Indessen übermannte meine Müdigkeit mich plötzlich, lullte meine schwarzen Gedanken ein, und trotz meiner Angst schlief ich plötzlich fest ein.

Als ich erwachte, fiel heller Sonnenschein in mein Zimmer.

Es war ein glücklicher Morgen. Meine über dem Bette hängende Uhr verkündete die zehnte Stunde. Was gibt es tröstlicheres, als den hellen Tag und die strahlende Sonne? Besonders wenn draußen alles von frischem Duft erfüllt ist, wenn eine leichte Brise das Laub der Bäume bewegt, wenn die Schlehdornhecken, die mit Blumen bedeckten Gräben feucht vom Morgentau sind!

Ich kleidete mich schnell an und vergaß bald die unheimlichen Erlebnisse der Nacht.

Vollständig erfrischt durch wiederholte Abwaschungen mit kaltem Wasser ging ich hinunter.

Der Abbé Maucombe war im Eßzimmer; er saß vor dem gedeckten Tisch und las eine Zeitung, während er auf mich wartete.

Wir drückten uns die Hand.

»Nun, haben Sie gut geschlafen, mein lieber Xavier?« fragte er mich.

»Ausgezeichnet,« antwortete ich gewohnheitsmäßig und ohne dem, was ich sagte, die geringste Aufmerksamkeit beizulegen.

Die Wahrheit ist, daß mir plötzlich bewußt ward, einen ganz gewaltigen Appetit zu haben.

Nanon trat ein und brachte uns das Frühstück.

Während der Wahlzeit plauderten wir lebhaft, bald in ernster und bald in heiterer Weise; dieser Mann, der wie ein Heiliger lebte, verstand es, die Heiterkeit zu schätzen und auf andere zu übertragen.

Plötzlich erinnerte ich mich meines Traumes.

»Lieber Abbé,« rief ich, »da fällt mir ein, daß ich in dieser Nacht einen ganz eigentümlichen Traum gehabt habe, – von einer Seltsamkeit – ja, wie soll ich mich nur ausdrücken? Dieser Traum war wunderbar, ergreifend und erschreckend – wie Sie wollen. Urteilen Sie selbst darüber.«

Und während ich mir einen Apfel schälte, schickte ich mich an, ihm die düstere Halluzination, die meinen Schlummer getrübt hatte, ausführlich zu erzählen.

In dem Augenblick, wo ich ihm die seltsame Geste schildern wollte, mit der der Priester mir den Mantel angeboten hatte, öffnete sich die Türe des Eßzimmers. Nanon trat mit der den Haushälterinnen der Pfarrherren eigentümlichen Vertraulichkeit herein und unterbrach unser Gespräch ohne weiteres, indem sie mir ein Papier überreichte.

»Es ist ein Eilbrief,« sagte sie, »den ein Bote in diesem Augenblick für den Herrn gebracht hat.«

»Ein Brief! – Schon?« rief ich, meine Geschichte vergessend. »Was bedeutet das? ... Er ist von meinem Vater! Mein lieber Abbé, Sie gestatten wohl, daß ich ihn lese, nicht wahr?«

»Aber gewiß,« sagte der Abbé Maucombe, gleichfalls meine Geschichte über dem Interesse vergessend, das er an dem Briefe nahm, »ganz gewiß, lesen Sie ihn schnell.«

Ich öffnete also das Schreiben.

Das Eintreten Nanons hatte unsere Aufmerksamkeit vollständig von dem abgelenkt, was ich meinem Wirte zu erzählen beabsichtigte.

»Da haben wir's,« sagte ich sehr ärgerlich zu meinem Wirte, nachdem ich den Brief gelesen hatte, »das ist doch wirklich zu schade! Kaum angekommen, sehe ich mich gezwungen, schon wieder abzureisen ...«

»Aber warum denn,« fragte Abbé Maucombe, seine Tasse niedersetzend, ohne daraus zu trinken. »Man schreibt, daß ich – und zwar sofort – in einer geschäftlichen Angelegenheit zurückkehren müsse. Es handelt sich um einen Prozeß von größter Wichtigkeit. Ich glaubte, daß diese Sache erst im Dezember vorkommen würde, nun aber schreibt man mir, daß dies schon in vierzehn Tagen geschehen wird, und da ich allein genau orientiert bin und weiß, welche Schritte getan werden müssen, damit wir die Sache gewinnen, ist es durchaus notwendig, daß ich sofort abreise ... Ach, wie ärgerlich das ist.«

»Sicher, das ist ärgerlich, sehr, sehr ärgerlich! ...« sagte der Abbé. »Wenigstens müssen Sie mir aber versprechen, zu mir zurückzukehren, sobald diese Angelegenheit geordnet ist ... Die größte wichtigste Angelegenheit, mit der wir uns beschäftigen sollen, ist unser Seelenheil. Ich hoffte, Ihnen zur Erlangung des Ihren ein wenig behilflich sein zu können – und nun entschlüpfen Sie mir! Ich dachte, daß der liebe Gott selbst Sie zu mir geschickt habe.«

»Mein lieber Abbé,« rief ich, »ich lasse Ihnen mein Gewehr hier. Ehe drei Wochen vorüber sind, bin ich wieder bei Ihnen, und ich werde dann gleich ein paar Wochen hier bleiben, wenn Sie mich haben wollen?«

»So ziehen Sie denn in Frieden,« sagte der Abbé Maucombe.

»Sehen Sie,« murmelte ich, »es handelt sich fast um mein ganzes Vermögen ...«

»Unser Vermögen ist Gott,« meinte Maucombe.

»Aber wovon sollte ich morgen leben, wenn ...«

»Morgen lebt man nicht mehr,« sagte er.

Bald darauf erhoben wir uns von Tische; mein formelles Versprechen, bald zurückzukehren, hatte uns ein wenig über den Strich durch alle unsere Pläne getröstet.

Wir gingen im Obstgarten spazieren und besuchten alles, was zur Pfarrei gehörte.

Nicht ohne Wohlgefallen zeigte mir der Abbé seine bescheidenen ländlichen Schätze. Während er dann sein Brevier las, ging ich allein in der Umgegend umher und atmete mit Entzücken die köstlich belebende reine Luft ein. Später erzählte mir Maucombe in fesselnder Weise von seiner Pilgerfahrt ins heilige Land. So verging der Tag nur zu schnell. Der Abend nahte, und die Sonne ging unter.

Nach einem frugalen Abendessen sagte ich zum Abbé Maucombe:

»Mein Freund, der Expreßzug geht pünktlich um neun Uhr ab. Der Weg zum Bahnhofe nimmt beinahe einundeinehalbe Stunde in Anspruch. Eine halbe Stunde brauche ich auch wohl, um meine Rechnung im Wirtshause zu begleichen und das Pferd dort abzugeben, das macht zwei Stunden; es ist jetzt sieben Uhr, ich muß Sie also sofort verlassen.«

»Ich gehe ein Stück Wegs mit Ihnen,« sagte der Priester, »ein kleiner Spaziergang ist mir sehr gesund.«

»Ehe ich es vergesse,« antwortete ich ihm, »hier ist die Adresse meines Vaters, bei dem ich in Paris wohne, es ist für den Fall, daß Sie mir schreiben wollen.«

Nanon nahm die Karte und steckte sie an den Spiegel.

Drei Minuten später verließen der Abbé und ich das Pfarrhaus und wanderten auf der zur Station führenden Chaussee dahin, selbstredend leitete ich mein Pferd am Zaum.

Die Dämmerung war schon angebrochen, und wir zogen des Wegs wie zwei Schatten.

Wir waren kaum fünf Minuten unterwegs, als sich plötzlich ein schrecklicher Wind erhob, der uns einen durchdringenden, eiskalten Staubregen entgegentrieb.

Ich blieb rasch entschlossen stehen.

»Alter Freund,« sagte ich zum Abbé, »nein, gewiß, ich darf es nicht leiden, daß Sie mich noch weiter begleiten. Ihr Leben ist kostbar, und dieser eiskalte Regen ist sehr schädlich. Kehren Sie um! Wirklich, dieses Wetter könnte Ihnen gefährlich werden. Gehen Sie nach Hause, ich bitte Sie darum.«

Der Abbé dachte einen Augenblick nach – dann seiner Pfarrkinder gedenkend, gab er meiner Bitte nach.

»Ich habe Ihr Versprechen, mein lieber Freund?« sagte er.

Und als ich ihm die Hand reichte, fügte er hinzu:

»Einen Augenblick. Ich denke daran, daß Sie noch einen weiten Weg vor sich haben, und daß dieser feine Regen wirklich durchdringend ist.«

Er schauderte. Wir standen dicht beisammen und blickten einander an.

In diesem Augenblicke ging hinter den die Hügel krönenden Föhren der Mond auf und erleuchtete das Gelände ringsum. Sein ernstes, blasses Licht übergoß die ganze Gegend mit einem bleichen Schein.

Die Silhouetten unserer Schatten und die meines Pferdes zeichneten sich riesengroß auf der Landstraße vor uns ab. Seitwärts aber von den am Wege stehenden verfallenen Steinkreuzen, aus den in diesem Teile der Bretagne befindlichen alten Ruinen, in denen das lichtscheue Gesindel der Nachtvögel haust, vernahm ich einen schrecklichen, harten Schrei, die häßliche, alarmierende Stimme einer Eule. Und gleich darauf flog aus einer immergrünen Eiche, auf deren Ästen der Schein ihrer phosphorisch glühenden Augen zitterte, eine Eule auf. Sie nahm ihren Weg über die Straße, flog zwischen uns durch und stieß dabei fortwährend ihren durchdringenden, harten Schrei aus.

»Sehen Sie,« sagte der Abbé Maucombe in überredendem Tone zu mir, »ich werde ja in ein paar Minuten wieder zu Hause sein, Sie aber haben einen weiten Weg vor sich. Also nehmen Sie – nehmen Sie, bitte, meinen Mantel. Es liegt mir sehr viel daran! ... Wirklich sehr viel! –« fügte er in unvergeßlichem Tone hinzu. »Sie können ihn mir ja durch den Burschen des Gasthofes, der alle Tage in unser Dorf kommt, zurückschicken ... Ich bitte Sie herzlich, nehmen Sie meinen Mantel.«

Als der Abbé diese Worte sprach, hielt er mir seinen langen schwarzen Mantel hin. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen wegen des tiefen Schattens, den sein dreieckiges Barett darüber warf, und ich unterschied nur seine Augen, die mich mit feierlicher Eindringlichkeit anschauten.

Er warf den Mantel über meine Schultern, knöpfte ihn zu und hüllte mich mit zärtlich beunruhigter Miene hinein, während ich völlig widerstandslos und mit gesenkten Lidern dastand. Mein Schweigen benutzend, drückte er noch einmal meine Hand und eilte dann rasch seiner Wohnung zu. Bei der Wendung des Weges entschwand er meinen Blicken.

Fast maschinenmäßig bestieg ich mein Pferd, ich war wie versteinert.

Jetzt ritt ich ganz allein des Wegs. Vom Felde her drangen zirpende Geräusche zu mir hin. Als ich die Augen erhob, sah ich, wie über dem durchsichtig klaren Himmel plötzlich ein Heer düsterer Wolken heranstürmte, das den Mond versteckte.

»Ruhig,« sagte ich mir, »vor allen Dingen Ruhe! – Ich habe Fieber, das ist alles!«

Aber es lag wie eine schwere Last auf mir, die ich nicht abzuschütteln vermochte.

Dann geschah es, daß ein Zug von Fischadlern mit starkem Flügelschlag und lautem, durchdringendem Geschrei über mich hinzog. Sie ließen sich auf dem Dache des Pfarrhauses und des Glockenturmes der Kirche nieder, und der Wind trug das traurige Geräusch ihrer kreischenden Stimmen zu mir hin. Wahrhaftig, ich hatte Angst. Und warum? Wer vermag es mir zu deuten? Ich bin im Krieg gewesen, mein Degen hat sich wiederholt mit dem mir ebenbürtiger Gegner gekreuzt, meine Nerven sind vielleicht erprobter wie die so manchen ruhigen Phlegmatikers, und dennoch, ich gestehe es ganz demütig, ich hatte Angst! Und ich kann mich darum nicht geringer achten. Wohl dem, der es vermag, derartigen Dingen kalt gegenüberzustehen.

Schweigend gab ich meinem armen Pferde die Sporen, und die Finger in seine Mähne verkrallend, mit verhängten Zügeln, geschlossenen Augen und wehendem Mantel fühlte ich, wie das gute Tier lief, so rasch es konnte. Es rannte wie rasend dahin, und das dumpfe Stöhnen, das sich so nahe seinem Ohr von Zeit zu Zeit meiner Brust entrang, trug vielleicht dazu bei, es instinktiv ebenfalls mit dem abergläubischen Grauen zu erfüllen, das mich zittern machte.

Wir erreichten in weniger als einer halben Stunde das Ziel. Beim Geräusch der Hufe auf dem Pflaster der kleinen Stadt hob ich den Kopf und atmete tief auf.

Endlich! Ich sah Häuser! Erleuchtete Läden! Gestalten meinesgleichen hinter den Fenstern! Ich sah Leute vorübergehen! ... Ich kehrte in das Land der Wirklichkeit zurück.

In dem Wirtshause angekommen, setzte ich mich vor ein gutes Feuer. Die Unterhaltung der Fuhrleute entzückte mich. Mir war, als sei ich dem Tode entronnen. Ich sah dem Spiel der Flammen zu. Ich trank ein Glas Rum, und ich erlangte allmählich wieder den Vollbesitz meiner geistigen Kräfte.

Ich fühlte mich in das wirkliche Leben zurückgekehrt.

Ehrlich gesagt, schämte ich mich ein wenig meiner Panik.

Nachdem ich also wieder ganz ruhig geworden, dachte ich an den Auftrag des Abbé Maucombe. Mit einem etwas überlegenen weltmännischen Lächeln prüfte ich seinen schwarzen Mantel, als ich ihn dem Gastwirt übergab. Die Halluzination war zerstoben. Ich hätte nun gern, wie Rabelais sagt, den »guten Kameraden« gespielt.

Der in Frage stehende Mantel erschien mir in keiner Weise ungewöhnlich, es sei denn, daß er sehr alt und abgetragen, viel geflickt und mit einer beinahe lächerlichen Peinlichkeit ausgebessert und wieder aufgefrischt war. Zweifellos gab der Abbé Maucombe in seiner großen Herzensgüte zu viel Almosen an die Armen, um sich einen neuen Mantel kaufen zu können. Wenigstens erklärte ich mir die Sache auf diese Art.

»Das trifft sich gut!« – sagte der Wirt, »der Hausbursche wird gleich ins Dorf gehen, er ist im Begriff, aufzubrechen; da kann er schon vor zehn Uhr im Vorübergehen den Mantel im Pfarrhause abgeben.«

Eine Stunde später saß ich, die Füße auf der Wärmflasche und behaglich in meinen Reisemantel gehüllt, in meinem Waggon, steckte mir eine gute Zigarre an, und als ich das schrille Pfeifen der Lokomotive vernahm, sagte ich mir:

»Auf jeden Fall höre ich das viel lieber als das Geschrei der Eule.«

Ich muß gestehen, daß ich es beinahe bedauerte, versprochen zu haben, schon sobald wiederzukommen.

Dann aber fiel ich in festen Schlaf und vergaß darüber vollständig, länger an dies wunderbare Übereintreffen seltsamer Zustände zu denken.

Sechs Tage hatte ich in Chartres zu tun, um die notwendigen Beweisstücke zu bringen, die dann auch den günstigen Schluß unseres Prozesses herbeiführten.

Mein Kopf war ganz eingenommen von Akten und Rechtshändeln, und ziemlich abgespannt kam ich sieben Tage nach meiner Abreise in das Pfarrhaus wieder in Paris an.

Ich ging direkt nach Hause, es war gegen neun Uhr. Ich stieg die Treppe hinauf. Ich fand meinen Vater im Salon. Er saß vor einem Pfeilertische, auf dem eine brennende Lampe stand, und hielt einen Brief in der Hand.

Nach der ersten Begrüßung sagte er:

»Du weißt sicher noch nicht, welche traurige Nachricht mir dieser Brief bringt! Unser guter, alter Abbé Maucombe ist gestorben, nachdem du ihn kaum verlassen hast.«

Mich durchfuhr es bei diesen Worten, als ob ich einen elektrischen Schlag bekommen hätte.

»Was?« stieß ich hervor.

»Ja, er ist tot. Vor zwei Tagen, gegen Mitternacht, drei Tage nach deiner Abreise aus dem Pfarrhause ist er an den Folgen einer Erkältung gestorben, die er sich an einem kühlen Abend zugezogen hat. Dieser Brief ist von der alten Nanon. Die arme Frau scheint den Kopf vollständig verloren zu haben, sie wiederholt in einem Satze ein paarmal dasselbe ... eigentümlich ... es handelt sich um einen Mantel ... Lies doch selbst ...«

Er reichte mir den Brief, in dem uns der Tod des frommen Priesters angezeigt wurde – und ich las folgende einfache Zeilen:

»Seine letzten Worte waren, daß er sich unendlich glücklich preise, von dem Mantel umhüllt zu sterben, den er von seiner Pilgerfahrt nach dem heiligen Lande mitgebracht, und der das Grab des Erlösers berührt habe.«


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