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X.

Durchnäßt und von dem überschnellen Laufen erhitzt, war Hugo nach Hause gekommen. Er hatte seine Lampe angesteckt und in großer Hast die nassen Sachen abgeworfen. Er konnte nicht daran denken, sich zur Ruhe zu begeben. Das Bett flößte ihm Widerwillen ein. Er warf seinen Schlafrock über und ging langsam in seinem Arbeitszimmer auf und ab.

Jetzt versuchte er sich zu sammeln, aber es wollte ihm schlecht gelingen. Es hatte auch gar zu stark auf ihn eingestürmt in diesen letzten Stunden! Er fühlte sich wie ein Schiffbrüchiger in dem wogenden, wüthenden Meer seiner Empfindungen hin- und hergeschleudert. Wirklich nur ein paar Stunden? Alle diese starken Erregungen in der knappen Frist einiger weniger Stunden! Dieses Fieber vor und während der Aufführung seines Stückes, diese himmlische Freude im Augenblick des entschiedenen Sieges, dieser köstliche Lohn für alle Arbeit, die so überreiche Entschädigung für alle Stunden des Zweifels an sich, der tödtlichen Ungewißheit über seine Zukunft, dieses beseligende Frohgefühl, den rechten Weg eingeschlagen zu haben und nun mit Vertrauen und Zuversicht dem hohen Ziele entgegenstreben zu dürfen – und dann der Rückschlag, die Unbehaglichkeit über seinen unwahren und unredlichen Verkehr mit der armen Martha, der unüberwindliche Drang, die Freuden des Abends mit der verständnißvollen, innig-geliebten Leonie zu theilen. Und da in den glänzenden Festräumen die Befriedigung der kitzelnden und streichelnden Eitelkeit, das Behagen, sich von einer auserlesenen Gesellschaft gefeiert zu sehen, und das Glück, sich von der Geliebten geliebt zu wissen. Und dann – und dann das Unfaßbare, das Unbegreifliche, das Unmögliche! Das jähe Zerreißen des Bandes, das sich in diesem Augenblicke fester denn je gewoben zu haben schien, Leonies Abwendung von ihm, der sie mit keinem Worte unsanft berührt hatte, sie dankbarer verehrte, leidenschaftlicher liebte, als er sie je geliebt hatte!

Alles das umtobte, umrauschte ihn wie ein Sturm auf hoher See. Er vermochte das Einzelne nicht zu erfassen und auch nicht die Gesammtheit. Er war fast ohne Bewußtsein. Er fühlte nur den starken Drang, gegen feindliche Gewalten, die auf ihn eindrangen, anzukämpfen, zu ringen, sich zu wehren, sich zu retten. Aber immer wieder packte ihn etwas Tückisches, Höhnisches, Ueberlegenes und stieß ihn in den Strudel zurück. Und diese rohe, stärkere Gewalt verkörperte sich in der Gestalt eines süßlich lächelnden, schönen Mannes, der ihm lächerlich und fürchterlich zugleich erschien: er sah ihn überall, diesen Vallini. So sehr er sich auch bemühte, sich Leonie zu vergegenwärtigen, das dunkle Räthsel ihrer kühlen Abwendung zu lösen, immer war es das fatale, lächelnde Antlitz Vallinis, das sich unverschämt vordrängte, und als er in der Erinnerung an Leonies Verhalten sich trostlos fragte: »Wie ist es nur denkbar?« hallte in seinem Ohr der wundersame Klang einer menschlichen Stimme nach: »Dreimal hoch!« die die Frage zu beantworten schien.

Was sollte das Alles bedeuten? Er sah keinen Ausgang aus dieser heillosen Wirrniß. Er wußte nur, daß dieser Tag, der einer der glücklichsten seines Daseins gewesen war, ihm zugleich das größte Leid gebracht hatte: Leonie war für ihn verloren, unwiederbringlich dahin!

Tief aufseufzend ließ er sich auf den Stuhl vor seinem Arbeitstische fallen. Wie sollte er ohne Leonie leben, athmen, schaffen? Jetzt erst in der schneidenden Herbheit des Verlustes machte er sich klar, was sie ihm gewesen war, wie sie den alleinigen Inhalt seines Daseins gebildet, all seine Gedanken und Gefühle in Anspruch genommen hatte. In ihrer Begehrlichkeit, die er als den Ausdruck ihrer Liebe himmlisch gefunden, hatte sie ihm keinen Vertrauten, keinen Freund, keine Freundin, kein harmloses Vergnügen gestattet; sie hatte ihm Alles sein wollen, und hatte ihm auch Alles ersetzt. Sie war seine Freundschaft, seine Familie, seine Anregung, sein Trost, seine Liebe mit einem Wort. Sie hatte ihn dem armen Mädchen entfremdet, von dem er nicht ahnte, daß es zur selben Stunde fiebernd im Nebenzimmer lag und über geraubtes Glück stöhnte. Alles, Alles war ihm Leonie gewesen! Sie hatte ihn seelisch entmündigt und am Gängelbande ihrer Liebe geleitet, wohin sie wollte. Sie hatte sich an ihn gehängt, er war glücklich darüber gewesen und hatte in dem stolzen Gefühle, das herrliche Weib gewonnen zu haben, nicht gefühlt, daß sie ihm Licht und Luft genommen hatte.

Unwillkürlich blickte er auf die hängenden Pflanzensträhnen an seiner Bibliothek. Leonie hatte sich bei ihrem einzigen Besuche über den ebenso schönen wie verderblichen Schmuck der Bäume, der auch die stärksten Eichen durch Entziehung von Luft und Licht zu Grunde richtet, von ihm belehren lassen.

» Tillandsia usneoides«, sagte er und lächelte befremdlich.

Es war gegen sechs Uhr Morgens, das kalte grünliche Licht des trüben Herbstmorgens brach schon durch die Scheiben, als Hugo sich endlich entschloß, sein Bett aufzusuchen. Aber er schlief unruhig und schlecht, und zwei Stunden später hatte er sich schon wieder erhoben und sich angekleidet. Er wollte zum Portier gehen, um sich die Morgenblätter holen zu lassen. Als er die Thür zur Treppe öffnete, stand das kleine Portiermädchen gerade vor ihm. Es brachte für die Frau Räthin den Bescheid, daß Herr Dr. Lohausen so früh wie möglich kommen werde. Hall erbot sich zur Vermittlung der Botschaft, gab der Kleinen Geld und sagte ihr, sie solle für ihn alle Morgenzeitungen, die sie auftreiben könne, besorgen. Dann trat er in sein Zimmer zurück und klingelte. In der gewohnten Frist brachte die Räthin den Frühstückskaffee.

Der strenge, steinerne Ausdruck im Gesicht der Räthin fiel Hugo sogleich auf.

»Ist es denn schlimm?« fragte er theilnahmvoll. »Doctor Lohausen läßt Ihnen sagen, er werde bald kommen. Hat die arme Martha einen Rückfall gehabt?«

»Es geht ihr nicht zum Besten. Aber ich hoffe, es ist nichts Bedenkliches … Martha hat sich sehr aufgeregt. Sie hat einen ernsten Entschluß gefaßt. Dieser Brief wird Ihnen Alles sagen.«

Verwundert nahm Hugo Marthas Schreiben aus der Hand der Räthin, die mit fest aufeinandergepreßten Lippen regungslos stehen blieb. Er öffnete den Brief und las ihn. Er überflog die wenigen Zeilen, dann las er sie langsam noch einmal. Er wagte den Blick nicht zur Mutter zu erheben.

Halb gedankenlos sagte er ihr: »Aber, bitte, setzen Sie sich doch!«

»Ich danke.«

»Sie sehen mich in großer Bestürzung,« brachte er nach einer langen Pause mühsam hervor. »Ich habe es gefürchtet … ich weiß, daß ich an Martha schweres Unrecht begangen habe … ich weiß nicht … jetzt nicht, wie ich es büßen soll. Ich bin der allein Schuldige! Ich habe meine Schuld längst gefühlt, ich hätte sie früher bekannt, wenn ich es über mich vermocht hätte, dem armen, schwachen, guten Kinde wehe zu thun … ich habe noch immer geglaubt und gehofft … ich kann es jetzt nicht sagen … ich bin übernächtig schwer, von all den Aufregungen mürbe gemacht, wie zerschlagen … Erweisen Sie mir die letzte Gunst, zu einer andern Stunde mich anzuhören, ich bitte Sie! Sagen Sie mir, was ich thun soll, was ich thun kann, um mein Gewissen, das mich schwer drückt, um die Leiden der armen Martha zu erleichtern. Jedes, selbst das schwerste Opfer würde ich mit wahrer Begierde bringen, denn ich fühle mich entsetzlich niedrig in meinem Schuldbewußtsein … Ich will nichts erklären, nichts beschönigen … Ach Gott, auch das noch! das arme, edle Mädchen! … Sagen Sie mir, ich bitte Sie herzlich darum, was kann geschehen?«

Frau Emilie hatte keinen Versuch gemacht, Hall, der sich immer mehr erregt hatte, zu beschwichtigen oder zu unterbrechen. Sie bewahrte ihre eisige Kälte und Starrheit. Als sie nach einer längeren Pause merkte, daß Hall auf eine Antwort wartete, sagte sie ohne besonderen Ausdruck: »Da wird, Gott sei's geklagt, nicht viel zu machen sein. Einstweilen haben Sie wohl nichts Anderes zu thun, als Marthas Wunsch zu erfüllen, sie nicht mehr zu sehen und ihr nicht zu schreiben. Es liegt gar kein Bedürfniß zu einer weiteren Aufklärung vor. Ich würde mich auch als Mutter jetzt jedem Meinungsaustausche zwischen Ihnen und meiner Tochter widersetzen und, wenn sie nicht schon aus freien Stücken das Richtige getroffen hätte, ihr jeden Verkehr mit Ihnen verboten haben.«

»Ich werde noch heute Anstalten treffen, Ihnen die Peinlichkeit einer Begegnung mit mir in Ihrer eigenen Wohnung zu ersparen.«

»Darum wollte ich Sie allerdings ersuchen.«

Hugo ging in großer Erregung durch das Zimmer.

»Ich wage nicht, Sie um Verzeihung zu bitten … Sie können mir nicht verzeihen … aber ich bin sehr unglücklich!«

Die Räthin erwiderte nichts.

»Das wäre also die letzte Nacht gewesen, die ich in Ihrem Hause verbracht habe!« rief Hugo in wahrer Ergriffenheit. »Eine traurige Nacht! Und so muß ich von Ihnen gehen, weggejagt wie ein Missethäter, wie ein Undankbarer … der ich bin! Und ich darf Ihnen nicht einmal danken … für all Ihre Güte … in schweren Tagen! Und nun, da die von uns früher so sehnlich herbeigewünschte, so vertrauensvoll erwartete Wendung zum Guten eintritt, nun laufe ich davon wie ein Schelm und lasse Sie in Trauer und Haß zurück …«

Er schwieg wieder eine Weile; in der Hoffnung, daß Frau Emilie ihm irgend ein tröstliches oder versöhnliches Wort sagen würde, fühlte er sich aber betrogen. Als hätte sie den Aufschrei seines Gewissens, seiner tiefen Reue gar nicht gehört, sagte sie mit geschäftlicher Nüchternheit nach einer langen Pause:

»Ich darf also von heute an über die beiden Vorderzimmer verfügen.«

»Jawohl. Ich werde noch im Laufe des Vormittags meine Siebensachen fortzuschaffen suchen. Sobald es irgend möglich ist.«

Die Räthin machte mit dem Kopfe eine leichte Bewegung der Zustimmung.

»Dann hätten wir uns wohl nichts weiter zu sagen,« sagte sie in demselben kalten Tone, während sie sich anschickte, das Zimmer zu verlassen.

Hugo trat an sie heran, er richtete auf sie einen innigen, flehenden Blick und wollte ihre Hand ergreifen. Die Räthin wandte sich ab und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, hinaus. Er sah ihr mit bitterem Lachen nach und nickte. Auf seiner Stirn trat die Zornader scharf hervor, er stampfte leicht auf, riß von der Bibliothek das hängende Moos ab, setzte den Fuß darauf und rief zwischen den Zähnen:

»Wo man sie anfaßt, morsch in allen Gliedern!
Man weiß, man sieht's, man kann es greifen.
Und dennoch tanzt man, wenn die Luder pfeifen!«

Und indem er die graugrünen Pflanzenflechten mit der Fußspitze von sich schob, sagte er: »Zum Einpacken ist's noch zu gebrauchen. Das ist das Ende der Herrlichkeit!«

Das Portierkind brachte die Zeitungen.

»Sage Deinem Vater, er solle mir zwei zuverlässige Dienstmänner rufen, und frage ihn, ob er mir beim Einpacken behilflich sein kann. Dann möchte er so bald wie möglich heraufkommen.«

»Schön, Herr Doctor!«

Hugo las die Zeitungen schnell durch. Sie waren ohne Ausnahme sehr günstig und selbst die wenigst freundlichen constatirten den durchschlagenden Erfolg. Wie anders würde das sonst auf ihn gewirkt haben! Aber er war fast stumpf. Er mußte daran denken, seine Sachen zusammenzupacken. Als er Marthas Kranz mit der Schleife ergriff, wurde sein Auge feucht. Er war eben nervös.

Drei Stunden hausten der Portier und die Dienstmänner unter Hugos Weisung in den beiden Zimmern.

Die geliehenen Körbe und Kisten waren gefüllt. Es sah wüst und öde in der Wohnung aus. Gegen Mittag war die lästige Arbeit gethan. Hugo ging aus. Er nahm die erste beste Wohnung, die ihm ungefähr geeignet erschien: etwas größer, etwas theurer und etwas besser gelegen; in der Taubenstraße. Um ein Uhr verließ er das Haus in der Brüderstraße mit schwerem, schwerem Herzen.

In der neuen Wohnung war es zunächst überaus ungemüthlich. Die Kisten und Körbe standen unausgepackt in der großen Wohnstube. Hugo dachte mit einem wahren Grauen an die Aufstellung seiner Bücher. In seinem Reisekoffer hatte er das Nothwendigste zusammengethan, und schon das Einordnen dieser unentbehrlichsten Gegenstände belästigte ihn auf's Aeußerste.

Er fühlte sich zwar wie zerschlagen, aber in diesem fremden, unordentlichen Zimmer, in dem ihn Alles so ungewohnt und lieblos anstarrte, hielt er's nicht aus. Das Wetter war schön geworden, die Sonne schien, es war zwar ziemlich kühl, aber heiter und hell. Er schlug die Richtung nach dem Thiergarten ein.

Er ging sehr langsam, und wer ihn so sah, bleich, verstört, mit dunklen Ringen um die Augen, mochte ihn für einen Reconvalescenten halten, der mit Anstrengung die Krankenstube verlassen hat, um sich des sonnigen Lichts zu erfreuen und in der frischen Luft Stärkung zu suchen. Zum Glück begegnete er keinem Bekannten.

Das Bild der kranken verlassenen Martha, das ihn während der letzten Stunden unbarmherzig gepeinigt hatte, zerrann, als er unter den Bäumen des Thiergartens daher schlich. Es war der Weg, den er täglich eingeschlagen hatte, wenn er zu ihr ging: zu Leonie, der unbegreiflichen Geliebten! Und wiederum umfluthete ihn brausend das Meer stürmischer Empfindungen, gegen das er in der verflossenen Schreckensnacht bis zur Erschöpfung angekämpft hatte. Konnte sie ihn denn wirklich verlassen? Sollte er das wundervolle Weib nie wieder zitternd an seine Brust drücken, den frischen Mund nie wieder küssen? Sollte nie wieder ein sehnsüchtig zärtlicher Blick aus den hellgraublauen irrenden Augen auf ihn fallen, sollte er kein innig herzliches Wort mehr von ihr hören?

Aber freilich, sie hatte ihren Mann mit ihm betrogen – weshalb sollte sie nicht auch ihn mit einem Andern betrügen können? Das Mißtrauen, der verhängnißvolle Fluch der Untreue, die ihn beglückt hatte, hatte völlig Besitz von ihm ergriffen, er war eifersüchtig bis zur Raserei auf Vallini, in den sich Leonie so gut wie viele andere Weiber vergafft haben konnte … vergafft hatte.

Womit hatte er es ihr nur angethan? Sie war klug, kritisch; er war ein eitler thörichter Narr. Sie mußte ihn durchschaut haben. Aber mußte es denn, um wahr, auch verständlich sein? War nicht das Unwahrscheinliche in Liebessachen beinahe die Regel? Wer durfte sich berühmen, die Geheimnisse eines Frauenherzens zu ergründen? Wer konnte die wahnwitzigen Gelüste, die tollen Launen der Weiber verstehen? Liebe, sinnliche und seelische Regungen – vielleicht war es wirklich nichts Anderes als etwas Mechanisches? Vielleicht hatte Lucrez Recht, vielleicht waren all die edlen und erhabenen Gefühle, deren Sitz wir in das Herz verlegen, körperliche Ausströmungen, die auf ihrem Wege mit andern sich begegnen, deren Bestandtheile den ihrigen sich anschmiegen oder nicht, die sich anziehen oder abstoßen, die Wohlgefühl oder Widerwillen hervorrufen, Sympathie oder Antipathie, Liebe oder Haß erzeugen? Vielleicht war jenem albernen Menschen das unerkennbare geheimnißvolle Fluidum zu eigen, das gerade auf Leonies Sinne und Seele lähmend, überwältigend einwirkt das sie willenlos machte? Hatte er selbst doch ihre überlegene Macht gespürt! Sie hatte ihn in Fesseln geschlagen, ohne daß er sich auch nur zu wehren gewagt hätte. Sie hatte die Stimme der Pflicht in ihm verstummen gemacht, hatte sein Herz gegen das bedauernswerthe Opfer seiner Unüberlegtheit verhärtet. Vielleicht hatte nun auch sie ihren Meister gefunden und in grausamer Ironie des Schicksals gerade in diesem unbedeutenden Menschen, der nichts weiter war als ein sogenannter schöner Mann mit einer herrlichen Stimme.

Er dachte an den für ihn so verhängnißvollen Tag, an dem er mit dem festen Entschlusse, mit ihr das freundschaftliche Verhältniß zu lösen, um an seiner Braut keine geistige Untreue mehr zu begehen, zu ihr gekommen und als ihr Geliebter von ihr geschieden war. Und mit einer wundersamen Kraft der Veranschaulichung traten alle Vorgänge jener Stunde wieder vor seine erregten Sinne. Aber jetzt war nicht er der Mitbeteiligte; er war nur der unsichtbare Zuschauer, der gewaltsam genöthigt wurde, ein ihm widerwärtiges Schauspiel anzusehen.

Wie damals lag Leonie in einem kokett phantastischen Morgenkostüm auf dem Divan. Vallini saß vor ihr und sog begierig den rauschenden Duft ein, der ihren aufgelösten Haaren entströmte. Er hörte ihre Athemzüge und fühlte deren warmen Hauch. Er sah sie an, fragend. Er dachte an nichts mehr als an das wundervolle Weib, das er dicht vor sich sah, das er fühlte, seine offenen Lippen schlürften den Athem aus ihrem Munde. Sie regte sich nicht. Er schlang die Arme um sie, seine glühenden Lippen berührten die ihrigen, sie erbebte, erblaßte und hauchte ihm küssend die Worte zu: »Geh geh!« Und er verstand richtig: »Bleib, bleib!« Und er umschlang sie fester und sie lächelte unter seinen Liebkosungen …

»Nun weißt Du, daß ich Dich liebe!« flüsterte sie ihm zu.

Und sie waren glücklich unbefangen, ohne Reue; und dem Liebesrausche folgte die nüchternste Verabredung, wie sie es am besten anfangen könnten, den Mann zu hintergehen und den lästigen Hausfreund, der gar keine Rechte habe und sich alle Rechte anmaße, und der sie jetzt noch obenein mit seiner dummen Eifersucht zu langweilen anfange, abzuthun … Hugo krampfte das Herz zusammen, als er die verächtliche Miene beobachtete, mit der Leonie von ihm sprach, und das alberne Lachen des triumphirenden Laffen hörte.

Beim Abschiede küßten sie sich noch einmal leidenschaftlich. Vallini hüpfte lächelnd die Stufen hinab und ging leichten Schritts mit dem Ausdruck strahlender Selbstgefälligkeit, den Kopf, auf dem der glänzende neue Cylinderhut etwas schief saß, hochaufgerichtet, der Thiergartenstraße zu. –

Hugo war, ohne es zu wissen, gerade an der Ecke der Thiergarten- und Bellevuestraße angelangt, als er von einem auffällig eleganten, nur ein wenig zu extravagant modisch gekleideten Herrn, der den Hut etwas schief trug, in einer ihm widrigen Weise gegrüßt wurde. Lächelnd, mit dem Ausdrucke strahlender Selbstgefälligkeit ging Vallini leichten Schritts an ihm vorüber.

Hugo fuhr wie aus dem Traume auf. Er blieb einen Augenblick stehen und blickte dem Sänger nach, der frohgemuth unter den Bäumchen der Siegesallee seine Schönheit, Eleganz und Berühmtheit vor der erstaunten Menge spazieren führte.

Was war denn nun Wahrheit, was Traum? War es ein visionäres Erschauen der Wirklichkeit gewesen? Und wo hatte diese in das mit dem geistigen Auge Erblickte eingesetzt? Der Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Zögernd ging er die Victoriastraße hinauf, zögernd trat er in das Haus ein.

Er hörte, wie der Schieber vor dem Guckloch bewegt wurde, aber es verging noch einige Zeit, bevor man ihm öffnete.

»Die gnädige Frau bedauert sehr … die gestrige Gesellschaft hat die gnädige Frau so angegriffen. Herr Doctor möchten gütig entschuldigen.«

Jean brachte die ihm anbefohlene Lüge mit einiger Unsicherheit hervor; als Hugo ihn prüfend ansah, schlug der Diener, der sich durchschaut wußte, die Augen nieder.

Hugo ging in demselben langsamen Tempo mit schweren, schleppenden Schritten wieder dem Thiergarten zu. Als er sich auf der Straße plötzlich umwandte, sah er, wie Leonie, die hinter dem Blumenaufsatze des Erkers Deckung zu finden geglaubt hatte, ihm nachblickte, aber wie eine tauchende Ente den Kopf sogleich duckte, als sie seine Bewegung wahrnahm. Zu spät! Hugo hatte sie sehr deutlich gesehen, sah sie jetzt noch hinter den Blumen: sie trug eine neue, ihm unbekannte, anscheinend sehr kokette, hellblaue Morgentoilette, das aufgelöste, prachtvolle schwarze Haar umwallte ihr weißes Gesicht.

An der Ecke nahm er eine Droschke. Er fühlte sich so matt, daß er sich nicht mehr zutraute, den kleinen Weg zu Fuß zurückzulegen.

Er gab der gemüthlichen Frau Vennemann, seiner neuen Wirthin, die ihn gutmüthig fragte, ob sie dem Herrn Doctor irgendwie behilflich sein könne, kaum eine Antwort. Er blickte sich in dem ungemüthlichen Zimmer gar nicht weiter um, streckte sich völlig bekleidet, mit Ueberzieher und Handschuhen, auf die bequeme Chaiselongue und verfiel nach wenigen Augenblicken, in einen bleiern schweren Schlaf.



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