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IX.

Als Martha mit äußerster Vorsicht die Thür der kleinen Schlafstube öffnete, hörte sie die regelmäßigen Athemzüge ihrer Mutter, die bereits fest eingeschlafen war.

»Mama!« rief sie mit halblauter Stimme.

Keine Antwort. Martha kannte den gesegneten Schlaf ihrer Mutter. Sie war ganz sicher, daß ihre Mutter vor dem nächsten Morgen nicht erwachen würde. Behutsam schloß sie die Thür, trat auf den Fußspitzen in die Berliner Stube zurück und schrieb auf einen Briefbogen in großen Buchstaben: »Beunruhige Dich nicht, liebe Mama! Ich muß unbedingt ausgehen. Spätestens um ein Uhr bin ich wieder zu Hause. Ich habe Dich nicht wecken wollen. Ich erzähle Dir Alles. Du wirst mir nicht mißtrauen. Martha.« Sie legte den Zettel an sichtbarster Stelle unter die Petroleumlampe, so daß ihn für den ganz unwahrscheinlichen Fall, daß Frau Emilie aufwachen und sich nach Martha umsehen sollte, ihr Blick sogleich treffen mußte. Dann zog sie ihren Regenmantel an, setzte ihren Hut auf, nahm Schirm, Schlüssel und Wachskerzchen und verließ möglichst geräuschlos die Wohnung.

Der andauernde starke Regen hatte die Straßen zu dieser Nachtstunde, in der es Unter den Linden gewöhnlich noch belebt ist, nahezu gänzlich entvölkert. Martha ging hastigen Schrittes voran, sich unter dem aufgespannten Schirm überflüssiger Weise noch verbergend. Unweit des Brandenburger Thores wurde sie von einem ihr entgegenkommenden Herrn angesprochen. Sie verstand ihn nicht und ging weiter. In dem finstern, stillen Thiergarten, in dem sie nur das monotone Rauschen des Regens hörte, wurde sie ängstlich. Sie beeilte sich so, daß ihr der Athem beinahe verging. Das Herz klopfte ihr mächtig. Sie fühlte sich beruhigter, als sie in die Victoriastraße einbog.

Schon von weitem sah sie den Schimmer der glänzenden Beleuchtung des Welsheim'schen Hauses auf der andern Seite der im Uebrigen so dunklen Straße. Sie blieb vor dem Hause, vor dem eine lange Reihe von Equipagen und Droschken hielt, eine Weile stehen. Sie sah das matte Licht der blumenumrankten Ampel im Erker, sah die glänzenden Kronen in den beiden anstoßenden Räumen, sah nun zu ihrem Befremden die Fenster offen stehen und wunderte sich, daß die festlich erhellten Räume menschenleer zu sein schienen. Nur einmal sah sie einen Schatten schnell vorüberhuschen. Es schien ein Diener zu sein. Auf die einfache Erklärung, daß die Gesellschaft jetzt in dem dem Garten zu gelegenen Speisesaale vereinigt sein werde, verfiel sie nicht.

Sie überschritt den Fahrdamm, wand sich durch den schmalen Raum zwischen den Hinterrädern eines Wagens und den Köpfen der vor den nächsten Wagen gespannten Pferde und trat entschlossen in die offene Thür. Das Treppenhaus war hell, warm und behaglich.

Als sie einige Schritte gemacht hatte und eben die Treppe hinaufsteigen wollte, hörte sie lautes Lachen und Klatschen, die Gläser fröhlicher Gäste klirrten aneinander, sie hörte Hochrufen und dann den Toastgesang anstimmen »Hoch soll er leben!« Der Chorus wurde unsicher. Und nun setzte eine herrliche Tenorstimme ein und schmetterte das »Dreimal hoch!« mit wunderbarer Kraft in den Saal. Martha blieb unwillkürlich auf der untersten Stufe stehen und horchte. Noch zweimal hörte sie die bezaubernd schöne Stimme. Dann klirrten wiederum die Gläser und es wurde unter allgemeinem Jubel lange und laut geklatscht.

Martha stieg langsam die Treppe hinauf. Der im Vorraum harrende Diener stand an der geschlossenen Thür des Speisezimmers, aus dem ein merkwürdiges Rauschen, Summen und Surren bis auf den Flur drang. Er hatte ebenfalls dem Gesange gelauscht. Jetzt hörte er sie und wandte sich zu ihr.

»Entschuldigen Sie,« sagte Martha leise. »Ist Herr Dr. Hall vielleicht hier?«

»Jawohl.«

»Ich danke.«

Als sie sich abwandte, hörte sie, wie ein Glas mit lautem Klirren in Scherben zerbrach. Sie faßte an ihr Herz, als ob auch da etwas gesprungen sei.

Jean sah ihr etwas erstaunt nach, aber er war ein viel zu gut geschulter Diener, um sich lange zu wundern.

Martha war so ruhig, daß sie selbst darüber erstaunte. Sie fühlte nur eine tödtliche Mattigkeit. Sie schlich trotz des Unwetters langsam ein paar Häuser weiter. Dann trat sie unter eine Gaslaterne, nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche, öffnete es und überzählte die Baarschaft. Sie war beruhigt, als sie sich überzeugt hatte, daß sie etwa einen Thaler bei sich hatte. Nun kehrte sie um, nahm eine Droschke und ließ sich nach der Brüderstraße fahren, nachdem sie dem Kutscher den geforderten Fahrpreis gezahlt hatte. Während sie auf dem harten Kissen der über das schlechte Pflaster holpernden schlechtbefederten Droschke unsanft hin- und hergestoßen wurde, überdachte sie das Geschehene und das, was nun geschehen mußte, mit kühler Nüchternheit. Nur ihre Vernunft arbeitete, ihr Empfinden war völlig abgestumpft.

Unbemerkt, wie sie gegangen war, kam sie wieder in ihrer Wohnung an. Die von ihr geschriebene Benachrichtigung an ihre Mutter lag unangetastet unter der Petroleumlampe. Sie spannte den nassen Schirm auf und stellte ihn auf den Flur, entledigte sich des Regenmantels und des völlig durchnäßten Schuhwerks. Sie gebrauchte dazu ungewöhnlich lange Zeit. Nach jeder Bewegung mußte sie einige Augenblicke ruhen, um die erschöpften Kräfte wieder zu sammeln.

Sie zerriß den Zettel, den sie für ihre Mutter bestimmt hatte, legte einen neuen Bogen vor sich und starrte auf das weiße Blatt. Sie nahm mehreremal die Feder zur Hand, aber sie war so schwach, daß sie nicht schreiben konnte. Ihre Hände sanken schlaff herab, und an den Rücken des Stuhles gelehnt, ließ sie den Kopf mit seiner schweren Haarlast nach hinten fallen. Bei jedem Athemzuge kam aus ihren weit geöffneten Lippen ein rasselnder, röchelnder Laut, der sich in kurzen Zwischenräumen zu einem harten, spitzen, trockenen Husten verschärfte. Bon Zeit zu Zeit drückte sie ihre Handfläche fest an ihre Brust.

Endlich gewann sie es über sich. Bedächtig, mit ruhiger Hand schrieb sie mit ihrer gleichmäßigen, großen Schrift, deren energische Züge nicht auf eine so zarte, schwächliche Urheberin schließen ließen:

 

»In der Nacht vom 30. September zum 1. October 1873.

Lieber Hugo!

Ich gebe Dir Dein Wort und Deine Freiheit zurück. Ich kann die Deine niemals werden. Später, wenn ich ruhiger sein werde, will ich Dir die Gründe zu meinem Entschlusse sagen, wenn Du sie von mir hören willst. Für den Augenblick ist es am besten, wenn wir uns nicht sehen und nicht sprechen.

Martha.«

 

Sie schrieb die Adresse und nahm den Brief, ohne ihn zu schließen, mit in die Schlafstube.

Mit großer Anstrengung entkleidete sie sich. In dem Augenblicke, da sie sich hüstelnd niederlegte, hörte sie Hugo kommen. Sie wunderte sich, daß er so früh aufgebrochen war. Mit weit offenen Augen blickte sie in das Dunkel. Sie hörte die ruhigen Athemzüge ihrer Mutter, das Rauschen des Regens, und hörte die rauhen, schnarrenden und pfeifenden Töne, die ihr eigenes Athmen mißlautend begleiteten.

Als sie sich vergegenwärtigte, daß sie Hugo auf lange, lange Zeit nicht wiedersehen werde, vielleicht nie mehr, wurden ihre Augen feucht, und sie fühlte das heiße Naß über ihre Wangen rollen. Der Gedanke aber, daß das Band zwischen Hugo und ihr auf immer zerrissen sei, schmerzte sie viel weniger, als sie geglaubt hatte. Sie empfand sogar ein gewisses befreiendes Gefühl, daß es mit der unwürdigen Lüge nun vorbei sei. Sie hatte während dieser letzten Monate zu viel gelitten, um jetzt noch besonders schmerzensfähig zu sein. Sie war sehr ernst, wehmüthig, traurig gestimmt, aber sie war ruhig und ergeben.

Endlich verfiel sie in einen unerquicklichen dumpfen Halbschlaf, aus dem sie zu vollem Bewußtsein wieder erwachte, als sich ihre Mutter zur gewohnten Stunde, gegen halb sieben Uhr, erhob.

Martha richtete sich ein wenig auf.

»Guten Morgen, Mama!«

»Was?! Schon wach? Guten Morgen!«

»Ich habe fast gar nicht geschlafen. Ich fühle mich recht schwach und werde wohl nicht aufstehen können. Vielleicht schickst Du das kleine Portiermädchen mit ein paar Worten zu Doctor Lohausen?«

Die Räthin hatte sich über das Bett gebeugt und Marthas Stirn herzlich geküßt. Sie nahm die heiße trockene Hand zwischen die ihrigen.

»Du fieberst ja wieder, mein armes Kind!« sagte sie mit liebevoller Besorgniß. »Soll ich Dir von den Tropfen geben?«

»Ich will lieber warten, bis der Arzt kommt. Beunruhige Dich nicht. Es ist gewiß nichts Schlimmes. Nachher, liebe Mama, wenn Du Dich angezogen und gefrühstückt hast, möchte ich mit Dir etwas besprechen … Nachher!« wiederholte sie mit mattem Lächeln, den fragenden Blick ihrer Mutter beantwortend.

Eine halbe Stunde darauf saß die Räthin neben dem Lager ihrer kranken Tochter und hörte mit ernster, beinahe finsterer Miene auf ihre Worte.

»Bitte, laß mich ruhig ausreden, liebe Mama! Ich bin zu schwach, um nach Unterbrechungen den Faden wieder aufzunehmen. Ich habe die Gewißheit, daß Hugo mich nicht liebt, – mich nicht so liebt, daß ich seine Frau werden kann. Er hat mir nichts vorzuwerfen, und er will mich schonen. Deshalb hat er die Wahrheit verschwiegen. Er hat sich über seine Gefühle getäuscht, als er sich mit mir verlobt hat. Das ist ganz gewiß wahr, Mama. Er liebt eine Andere, ich weiß auch wen. Ich habe mir Alles überlegt. So, wie es bisher war, kann es nicht bleiben. Wir reiben uns auf. Wir müssen die Verlobung aufheben. Lies den Brief« – sie zog das Schreiben unter ihrem Kopfkissen hervor – »und gieb ihn nachher Hugo.«

Die Räthin hatte mit steinerner Miene dagesessen und die, zwar mit schwacher Stimme, aber mit voller Entschiedenheit gesprochenen Worte ihrer Tochter vernommen. Mit derselben Ruhe las sie den Brief und schob ihn in den Umschlag zurück, ohne das, was in ihr vorging, durch die geringste Bewegung zu verrathen.

»Du hast richtig gehandelt,« sagte sie nach einer Weile. »Ich habe es längst vorhergesehen, daß es so kommen würde. Deine Zuversicht allein hat mich in meinem Urtheil wankend gemacht. So benimmt sich kein Bräutigam, der seine Braut liebt … Und nun, mein gutes Kind … ich sage Dir nicht: schlag Dir die Sache aus dem Kopfe … Unsinniges verlange ich nicht! … ich sage nur, sei so vernünftig, so gefaßt, wie es Dir irgend möglich ist. Rege Dich nicht gar zu sehr auf, meine liebe, arme, gute Martha! Werde mir nicht krank! Thu mir das nicht an, mein gutes Kind, hörst Du? … Ach, wenn man sich doch von hier losreißen könnte!!«

»Daran ist ja nicht zu denken! Aber beunruhige Dich nicht, ich werde ganz vernünftig sein.«

»Jedes Opfer würde ich bringen, jedes! … wenn ich Dich aufpacken und mit Dir irgend wohin ziehen könnte – gleichviel wohin! Nur heraus aus diesem schrecklichen Hause, aus dieser schrecklichen Stadt, wo Dich Alles an Trauriges erinnert! … Der Gedanke ist mir ja nicht jetzt erst gekommen. Seit Wochen, seit Monaten denke ich an nichts Anderes! … Wie sollst Du hier wieder zu Kräften kommen. Du armes Kind! In diesem trüben Licht, in dieser schlechten Luft, in diesen beständigen Aufregungen! … Ach, es ist hart, hart, hart!«

Sie blickte mit unendlicher Wehmuth und Zärtlichkeit auf ihr krankes Kind, das mit geschlossenen Augen vor ihr lag.

»Vielleicht hilft der liebe Gott weiter!« seufzte sie. »Wir thun ja nichts Schlechtes.«

Martha nickte trübe lächelnd, ohne die Augen auszuschlagen.



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