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Es war an der Somme. Dort, wo der Krieg ein weites, lachendes, saatschweres Land in die trostloseste Wüste der Welt verwandelt hat. Ein trüber Tag, an dem die Wolken die sengende Sommersonne eingeschluckt hatten und doch der lechzenden Erde den Regen nicht schenkten, den sie verhießen. Staub trieb in weißen Fahnen auf den Straßen; Staub lag – eine fahle Schicht – über dem kargen Gras, den wuchernden Disteln, den spärlichen Blüten von Steinklee und Johanniskraut, die sich aus dem Schutt hervorzwängten. Durch verlassene Schützengräben, über dichtes, rostiges Stachelgedräht kletterte ich hangauf und hangab. Irgendwo mußte da ein Kirchhof liegen, den ich vor zwei Jahren durchwandert hatte. Ein Kreuz, hochragend, aus silberrindigem Birkenholz gezimmert, machte ihn fernhin kenntlich. Heute war mir's gewesen, als hätte ich das Kreuz auf der Höhe zwischen verworrenem Buschwerk aufleuchten sehen. Nun hatte ich die Höhe erklommen. Aber nirgends konnte ich das Kreuz entdecken. Nur Wildnis ringsum: Granatloch bei Granatloch; grelle Kalksteinhaufen; drüben die nackten Stümpfe eines gestorbenen Waldes; ein paar weidende Pferde. Draußen, hinter dem Wald, murrt und brodelt die Schlacht. Zu Häupten der bleierne, erbarmungslose Himmel …
Der bleierne, erbarmungslose Himmel! Mein Auge irrt über die Wüste zu seinen grauen Rändern; von seinen Rändern empor zu seinem grauen Gewölbe. Entsetzen packt mich. Eisige, grauenvolle Erkenntnis krallt sich in mein Herz, duckt mich, wirft mich auf die nächste, dürftige Grasnarbe. Narr, der ich bin – das Kreuz zu suchen, das hochragende, silberrindige. Nicht nur der Wald ist gestorben mit seinen kahlen Baumkrüppeln; nicht nur die Erde ist tot, die verstäubte, entgrünte, von tausend Eisenschlägen zerrissene: erloschen ist alles Licht der Welt; erloschen, was dieses Sternes Stolz und Zweck war – Geist, Würde, Schönheit; erloschen das Köstlichste: der Gott, der die Liebe ist und mit ihm der Sinn der Welt und alles Seins. Gefallen, verblichen, verschollen wie sein Kreuz, das silberrindige, hochragende …
Jeden Suchens müde, gleichgültig trete ich durch die gähnende Leere den Rückweg an. Kaum acht' ich auf Richtung und Ziel. Und mit einemmal sperrt mir wirres Gebüsch den Weg. Ich hebe die Augen: jenseits reckt groß und leuchtend das Friedhofskreuz seine birkenen Arme. Nun ich nicht mehr suchte, hatte ich gefunden.
Ein paar Schritte, und ich wandere zwischen Gräbern. Zur Rechten lese ich deutsche, zur Linken französische Namen. Ein kecker Falter mit samtbraunen Flügeln schweift zwischen beiden, trinkt dort aus wilden Reseden, hier aus blauen Immortellen. Hüben und trüben streichelt derselbe matte Wind die Gräser … Ein Name macht mich stutzen. Ich lese ihn noch einmal. »Reindörfer, Anton. Gefallen am 25. August 1916.« Reindörfer? Und das Datum? Es stimmt. Zufällig habe ich den Mann gekannt. Zufällig kenne ich seine Geschichte, die mir jetzt durch die Erinnerung zuckt. Ich sehe eine kleine, untersetzte Gestalt auf kurzen Beinen. Einen dicken, blondschopfigen Kopf mit abstehenden Ohren, niedriger Stirn, rosigen Backen. Die Augen blinzeln blöde, um die breiten Lippen liegt ein immerwährendes Lächeln, das spöttisch scheint und doch hilflos dumm ist. Ein Ohrfeigengesicht. Von fast einem Dutzend Kindern eines oberschwäbischen Bauern war der Anton Reindörfer das jüngste, am schwächsten begabte. Mit Ach und Krach, mit Stößen und Hieben war er durch die Schule gekommen. Was er angriff, war verkehrt; wenn er nicht dachte, gab's ein Unglück, wenn er dachte, ein gedoppeltes. Und das schlimmste war: immer hatte es den Anschein, es wäre Bosheit, was bloß Beschränktheit war … Daheim konnten sie ihn nicht brauchen. In der Lehre behielt ihn kein Handwerker, und erst recht kein Kaufmann. Mittlerweile wuchs er sich aus, und es kam der Krieg. Er wurde Soldat. Als er ins Feld mußte, dachten recht viele bei sich: um den wenigstens wär's kein großer Schaden, wenn –. In der Kompanie war und blieb er, was er im Dorf gewesen und geblieben war. Der Dümmste und Überflüssigste von den Dummen und Überflüssigen. Ein so miserabler Muskot, daß sogar die, die es gut mit ihm meinten, sich über ihn ärgerten. Dabei schien er gefeit gegen Kugel und Granate, gegen Bombe und Gas. Wenn alle zu Schaden kamen – er schlüpfte durch, heil und lächelnd. Solche, die zehnmal mehr wert waren, hoffnungsvolle, aufgeweckte, helläugige Burschen, ernste, verläßliche Väter und Söhne – die nahm es, die deckte längst der Rasen. Wo blieb der Sinn in diesem blutigen Spiel, das die Besten fortriß und die Schwächsten, um die keine Träne vergossen worden wäre, behütete wie unersetzliches Gut? … Und dann, an einem Abend, eben am 25. August, saßen sie ihrer zehn im Stollen beisammen. Der Gesprächsstoff war im Versiegen, und man tat, was man als Letztes und aus Langerweile öfter tat: man trieb seinen Ulk mit dem Reindörfer. Wie man im besten Zug war, fuhr eine schwere feindliche Granate mitten auf den Stollen. Ein dumpfer Krach, fliegender Staub, prasselnde Erde, und alles war still. Die zehn im Stollen waren verschüttet … Von rechts und links kamen sie gelaufen. Ein fieberhaftes Arbeiten begann. Der erste, den sie fanden, lag, leicht gekrümmt, vornübergefallen und rührte sich nicht. Die anderen neun lebten und wurden geborgen. Der erste, der Tote, war der Anton Reindörfer: unter der Krümmung seines Leibes war der Luftzug hindurchgestrichen, der seinen neun Kameraden Atem und Leben erhalten hatte. Im Leben hatte er nichts getaugt, im Tod hatte er neun Männern das Leben gerettet; so unnütz er war und so blöd er lächelte. Seltsam: war er dafür vom Schicksal aufgehoben worden? Die neun Überlebenden schienen es so zu verstehen, denn sie vergaßen es nicht. Davon zeugte das liebevoll geschnitzte Kreuz auf seinem Grab und die besonders schön gemalte Inschrift. Davon zeugte auch der, der mir mit merkwürdig gehaltener Stimme den Vorgang erzählte.
Ich stand lange vor seinem Grab. Ich sah hinüber zu dem hochragenden, hellen Birkenkreuz. Weit in die Runde sah ich, über den einsamen Steppenfriedhof weg, über die weite Wüste der Granatlöcher und empor zum bleiernen Himmel. Eine Lerche zwitscherte zaghaft zwischen Schutt und buntblütigem Unkraut. Und mir war es, als läge ein lichter Schimmer über dem fernen gestorbenen Wald und als duftete die gestorbene Erde von junger, kommender Saat. Als huschte schüchtern das Licht durch die Welt. Als wäre sie nicht tot und auch der Gott nicht, der die Liebe ist und der Sinn der Welt. Nur verborgen war alles und verschleiert. Aber eines Tages mußte es offenbar werden, wie es sich geoffenbart hatte an dem sinnlosen Leben und sinnvollen Sterben des Anton Reindörfer. Und dann blaute wieder der sonnige, erbarmende Himmel über dem erlösten Sein …