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Wir waren ein kleiner Kreis, unser sieben oder acht. Sehr verschieden in Temperament, Begabung, Lebensführung. Einig aber in der Überzeugung, daß wir »über den Dingen« stünden. Mit den Dingen meinten wir die reale Welt schlechtweg. Wir waren nämlich noch nicht hoch bei Jahren. Fünfundzwanzig im Durchschnitt, abgerundet nach oben; weshalb wir uns kurz, schlicht und eindrucksvoll »die Fünfundzwanziger« nannten. Die niedrige, verrauchte Nebenstube einer Weinschenke in der Altstadt erlebte unsere beredten Verzückungen und unsere schweigenden Schwermüte. Es gab da eine Nietzschebüste und ein Klavier. Und Wein, viel Wein, schlechten Wein. Der die Zungen löste und die Zungen band.
Vergangene Zeit, selige Zeit! Wenn ich denke, wie fertig wir mit allem waren! In meinem ganzen Leben werde ich keine so fertigen Urteile mehr haben wie damals. Richard Wagner war der größte und letzte Musiker. Nietzsche war der größte und letzte Philosoph. In der Kunst gab es nur die Renaissance. In der Literatur war alles nach Goethes Tod Mumpitz. Die Politik hielten wir für eine harmlose Kinderei. Das Leben selbst aber – nach unseren Stimmungen abwechselnd – für ein abgrundtiefes Mysterium oder für eine abgeschmackte Fastnachtsposse. Somit standen wir allen Ernstes »über« den Dingen. Wir, die Fünfundzwanziger. Vergangene Zeit, selige Zeit!
Unter den Fünfundzwanzigern stand mir einer näher als die anderen. Nicht daß ich ihn besonders liebte. Aber er interessierte mich vor allen. Mein durch keine Menschenkenntnis getrübtes Auge vermutete in ihm ein Genie. Nach meiner damaligen Auffassung war er ein Genie. Sofern nämlich das Genie in der Zersplitterung und nicht in der Zusammenfassung der Kräfte sich darstellt. Schon seine äußere Erscheinung war überragend. Er war einen Kopf höher als jeder Fünfundzwanziger. Ein immerwährender Gehrock umflatterte seine dürre Gestalt. Hoch über den schmalen Schultern, über dem vatermörderischen Kragen und dem krawattenartigen Wulst aus schwarzer Seide trug er sein Haupt. Das war ein Haupt und kein Kopf. Wallende Locken, dunkelblond, umschatteten die freie Stirn; ein wallender Bart, heller als die Locken, aber nicht minder kraus, umspielte die dünnen Lippen und das mannhaft geschwungene Kinn. Und die Augen! Schade, daß er eine Brille trug. Die Brille war das einzige, was ihn mit dem Philisterium verband. Doch die Augen blitzten drüber hinaus und drunter hervor. Blitzten in der Begeisterung lenzgewitterhaft, eine Titanenverheißung; und schmachteten im Weltschmerz herbstvertrauert, verträumt, weich wie ein polnisches Lied. Er spielte Klavier. Eigenes und Fremdes. Schwung, Phantasie, Kraft war in seinem Spiel. Er zeichnete; ich habe selten so gute Karikaturen gesehen, wie er sie von sich und anderen in der Laune vorgerückter Stunden auf einen Papierfetzen warf. Er dichtete auch. Noch heute bewahre ich einige seiner Gedichte im Schreibtisch. Es waren meist Improvisationen. Schmeichelndsüße Volksliedweisen, die sich überall hören lassen konnten. Und er sprach. Im täglichen Leben war sein Ausdruck ungelenk. Aber wenn er ins Feuer geriet, brachen Worte und Sätze elementar aus ihm hervor. Er überredete nicht nur, sondern er überzeugte. Seine ganze Person lebte mit seiner Sprache. Nicht zuletzt die Arme. Lange, eckige Arme mit knochigen Händen, die die Luft zerhieben, mitrissen, emportrugen. Aus der hanebüchenen, verdumpften und verdummten Erde hinauf zu den Gefilden einer idealischen Welt.
Man hatte ihn den »Himmelstürmer« getauft. Die anderen hänselten ihn bisweilen. Wenn die Nüchternheit über sie kam. Zwischen vier und fünf Uhr des Morgens. Manchmal zuckte er mitleidig die Achseln und lächelte; manchmal wurde er grob und wütete wie ein Berserker. Zu mir hatte er etwas wie Zuneigung gefaßt. Vielleicht weil ich mich bemühte, ihn immer ernst zu nehmen. Seine Vielseitigkeit, seine trotz aller Überschwenglichkeit unverkennbare Kraft der Seele und des Geistes imponierten mir. Er schien mir zu Großem geboren. Warum sollte er nicht in Wahrheit den Himmel stürmen?
In seinem bürgerlichen Beruf war der Himmelstürmer – Kandidat der Theologie. Doch von dieser Seite kannten wir ihn so gut wie gar nicht. Ob er studierte, was er studierte, wann er studierte, blieb verborgen. Ausgemacht war nur, daß daraus niemals ein Pfarrherr werden konnte. In seiner theologischen Eigenschaft nahm nicht einmal ich ihn ernst. Auch sprach er selber nie über seine Gottesgelahrtheit. Was nur von ferne daran erinnerte, schob er weg. Wenn ein Gespräch sich dorthin wandte, wurde er ungenießbar, verschlossen, finster. Er setzte sich ans Klavier und phantasierte …
Jedermann wußte, daß der Himmelstürmer sein Herz verschenkt hatte. Es gehörte der Tochter seiner Wirtin. Es war sogar unserer geringen Menschenkenntnis nicht entgangen, daß diese angebetete Carlotta – der biedere Name Lottchen konnte ihm nicht genügen – eine lose kleine Person war, die über die Treue nicht so kleinlich dachte wie er. Doch wir pflegten uns grundsätzlich nicht um die Privatverhältnisse der Freunde zu kümmern. Vielleicht hätten wir auch von dieser Carlotta gar nichts erfahren, wenn unser Himmelstürmer nicht an Carlotta in Worten und Tönen gedichtet und bisweilen im Streit um das unerläßliche Thema Weib einen sehr eindeutigen Liebeshymnus auf die einzig Anbetungswürdige von sich gegeben hätte. In ihr verkörperte sich ihm ein Ideal, das zu erreichen auch einer anderen Sterblichen als dieser Erwählten hätte schwerfallen müssen. Aber Carlotta hatte gar nicht den Ehrgeiz zu solcher Höhe. Eines Tages ging sie mit einem Varietéhumoristen auf Reisen. Ohne unseren Freund um Erlaubnis zu fragen; ohne ihm auch nur ihre Adresse zu hinterlassen.
Es war unter den Fünfundzwanzigern nicht Sitte, laut zu lachen. An jenem Abend, der die Botschaft von Carlottas Flucht brachte, wurde erbarmungslos und sehr laut gelacht, Der Himmelstürmer fehlte. Es war auch besser, daß er zum Schaden nicht noch den Spott hatte. Ich konnte mein Mitleid nicht unterdrücken. Vielleicht wußte keiner so genau wie ich, was er in dieses Mädchen an Übernatur und Offenbarung hineingeheimnist hatte. Deshalb ermaß ich die Enttäuschung und fürchtete unbestimmt üble Folgen. Ich beschloß, ihn gleich am nächsten Tage aufzusuchen.
Er wohnte in einem Gärtnerhaus über dem Fluß. Nur ein einziges Mal hatte ich ihn dorthin begleitet. Ich fand die Behausung kaum wieder. Nach wiederholtem Klopfen an seiner Tür trat ich unaufgefordert ein. Obwohl draußen die Sonne schien, war es in seinem Zimmer stockdunkel. Die Läden waren geschlossen. Ich konnte nichts und niemand erkennen. Erst ein zorniges Murren vom Bett her wies mir den Weg. Aus eigener Machtvollkommenheit öffnete ich einen Fensterladen und ließ Licht in die trostlose Stube fallen. Das geliehene Klavier machte den Eindruck, als wäre es von einer furchtbaren musikalischen Entladung heimgesucht worden; die paar staubigen Bücher, die seine Bibliothek bildeten, waren übereinandergeworfen und klafften rostfleckig-verdrossen. Ich setzte mich zu ihm, auf den einzigen Stuhl, der unbepackt war. Ein ungeheuerliches Stück Arbeit begann. Der Himmelstürmer war völlig gebrochen. Er war verzweifelt – nicht nur an der Welt, sondern an sich selber. Er zerfleischte sich, seine Anlagen, alles, was an ihm war, mit einer ingrimmigen Lust. Und der Kehrreim dieser Selbstvernichtung war immer ein und derselbe: er konnte und wollte nicht mehr leben. Ich habe später, in reiferen Jahren, darüber nachgedacht, ob er mir eine Komödie vorspielte; ob er mit dem Tod kokettierte, wie es in diesem Alter und bei seiner Natur nichts Unmögliches gewesen wäre. Aber wenn ich mir jene Stunden – die mir lebendig blieben – wiederholte, kam ich immer zu dem Ergebnis: seine Verzweiflung war nicht gemacht, nicht erkünstelt, nicht in falscher Überspanntheit mir und ihm vorgetäuscht; sie war echt. Sie war auch durchdrungen von einer Nüchternheit, wie ich sie vorher nie an ihm wahrgenommen hatte. Ich weiß heute nicht mehr, woher ich die Beredsamkeit nahm, die ich gegen die seinige kämpfen ließ. Was er immer vorbrachte, überzeugte mich nur um so heiliger, daß hier ein wertvolles Menschenleben sich selber zerstören wolle, und ich nach meinen Kräften nichts unversucht lassen dürfe, um es zu verhindern. Wie? Die Natur hatte dafür einen Menschen geschaffen, der Tausende überragte; der auf jedem Gebiet, als Musiker, Dichter, Zeichner, Redner, Denker Außergewöhnliches zu leisten berufen war – daß er sie in einem Anfall von Schwermut, in der Enttäuschung, die ein nichtiges Geschöpf ihm bereitet hatte, um die Früchte betrog, die seine reichen Blüten verhießen?! Es war eine geniale Krise, wie sie alle Großen durchmachten! Und meine Pflicht war es, ihm gegen sich selbst beizuspringen! Meine Jugendlichkeit – ich war der jüngste Fünfundzwanziger – steigerte sich inbrünstig in diese der Menschheit schuldige Pflicht hinein. Und der Erfolg für soviel Enthusiasmus blieb nicht aus. Mein Glaube an seine Sendung belebte endlich sein Selbstvertrauen wieder. Er wurde still und ließ sich zureden wie ein Kind. Als ich ihn nach einigen Stunden verließ, gelobte er mir in die Hand, nichts Unbedachtes zu tun.
Wie wohl fühlte ich mich in der Rolle des rettenden Arztes!
Tage und Wochen hütete ich den Himmelstürmer wie meinen Augapfel. Dann sollte ein Ortswechsel, zu dem ich aus meinen bescheidenen Barmitteln einen Obolus beisteuerte, die Heilung vollständig machen. Der Abschied erfolgte unter Schwüren dankbarer Freundschaft. Mit stolzer Wehmut empfing ich nach Wochen einen Brief von vier Seiten; dann nach Monaten von drei und zwei. Nach dreiviertel Jahren eine Postkarte. Das war das Letzte. Ergeben fand ich mich darein. Mir selbst ließen die Examensarbeiten wenig Zeit, und ihn entschuldigte ich mit seinem Wesen. Ich wußte, daß er sich Bahn schaffen würde. Die Sonne seiner Bedeutung würde eines Morgens strahlend über seinem Volke aufgehen – früher oder später –, und ich würde bescheiden beiseitestehen. Mit dem Gefühl, und so weiter …
*
Mehr als ein Jahrzehnt war verstrichen.
Die Fünfundzwanziger waren längst in alle Weiten zerstoben. Das Leben hatte mich und wohl auch die anderen aus der sorglosen Höhe »über« den Dingen herabgeholt und tüchtig bei den Ohren genommen. All das »Fertige« war geschwunden; ich hatte mit Schmerz und mit Freude begriffen, daß man, um des Lebens Meister zu werden, sein Schüler sein muß und nicht sein Lehrer. Den Himmelstürmer hatte ich zu den Akten gelegt.
Eines Tages fand ich unter meinen Postsachen einen Brief, dessen Handschrift ich nicht zu kennen glaubte. Ich öffnete ihn lässig. Er kam aus einem Bergdorf meiner Heimat. Unterzeichnet hatte ihn der Pfarrer des Orts, der genau so hieß wie mein Himmelstürmer. Und siehe da: es war der Himmelstürmer! Er schrieb mir – nicht überschwenglich, aber mit einer gewissen Herzlichkeit – er sei so undankbar nicht, wie es den Anschein habe. Er hätte mich nicht vergessen, und wenn ich erfahren wolle, zu welchem Glück ihn mein vernünftiger Zuspruch in wirrer Stunde aufbehalten habe, möge ich kommen und sehen. Mit eigenen Augen.
Mich beschlich ein seltsames Gefühl. Ein Unbehagen, das ich mir nur allmählich eingestand. Ich verglich diesen anspruchslosen, biederen Brief eines Dorfpfarrers mit den Träumen und Erwartungen von damals. Was war aus der Titanenverheißung geworden? War es denn denkbar, daß dieser Mensch, der zu allem geschaffen schien, nur nicht zur Mittelmäßigkeit, in der Einsamkeit eines ländlichen Pfarrhauses gelandet oder gestrandet war? Möglich schon. Aber vielleicht war es auch ganz anders. Er hatte sich nur in der Stille gesammelt, seine Kräfte gespart und zusammengerafft. Irgendwo, in seinem Bergwinkel, hinter der Maske eines bürgerlichen Brotberufs konnte er seine Schätze aufgespeichert haben! Ganz alltäglich konnte die Geschichte dieses Mannes nicht ablaufen. Dagegen sträubte ich mich. Soviel guten Glauben hatte ich noch immer. Wer wollte auch alle Hoffnungen der Jugend gleich mit Stumpf und Stiel ausrotten? Der Himmelstürmer trat jetzt in die Jahre der besten Manneskraft. Die Sonne konnte noch immer aufgehen! Ich konnte noch immer bescheiden, aber mit dem stolzen Recht einer guten Tat dabeistehen …
Bei kühlerer Überlegung machte ich mir allerhand Einwände. Das Unbehagen, das ich warnend empfunden, ließ sich auch nicht so schnell beschwichtigen. Ich beschloß, zu warten. Ich beschloß auch, den Brief zu seinen wenigen Vorgängern von Anno dazumal zu legen und dem Kapitel »Himmelstürmer« durch einen Schluß, der das Spiel der Phantasie freiließ, seinen unbestimmten poetischen Reiz zu lassen. Und dann – wie das so geht – einige Wochen später – ich war zufällig zu Besuch in meiner Heimat – und schließlich wollte ich nicht unhöflich sein: ich übersprang auf der Rückreise einen Zug; kletterte aus dem Tal in die Berge; und war somit auf dem Weg zu ihm.
Es war Anfang Mai. Zögernd gab das einsame Bergland der lockenden Sonne nach. Spröde entfaltete es seine Reize: junges Buchengrün, einen tauwassersprudelnden Bergbach, verlorenes Lerchensingen, ein blühendes Pfirsichbäumlein, das gegen ein moosig-zerfallenes Bauerndach sich schmiegte. Berg und Tal lichtüberfunkelt, und Gottes unendliches Himmelsblau darüber.
Gegen Mittag erreichte ich das Dorf. Die Dorfschlöte rauchten dünn. Die Kinder standen mit dem Finger im Mund unter den Türen, und die Mütter schielten aus der Küche, die ihre spärlichen und doch erwecklichen Düfte in meine Nase ziehen ließ. Neben der Kirche stand das Pfarrhaus. Beide neu, stillos, ohne besondere ästhetische Merkmale. Nichts versprechend, aber auch nicht ganz enttäuschend.
Ich trat ein. Aus einem finsteren Gang wies mich eine schmächtige Bauerndirne in die Stube. Um einen runden Tisch, bei der Suppe, saß eine Familie, bestehend aus Mann, Frau und drei kleinen Kindern mit aufgerissenen Augen und Strohschöpfen. Der Vater saß in einem geflochtenen Sessel mit einer einst polierten Lehne. Ein großer, gutgenährter Herr mit glattgestrichenem, gescheiteltem Haar; ein rundes, blühendes Gesicht; den Bart spitz zugeschnitten, wie man das aus eigener Kunst nicht besser kann. Ich wollte mich zurückziehen. Denn ich mußte mich getäuscht haben. Aber der Pfarrherr erhob sich. Er knöpfte hastig die Weste zu. Er sah mit blauen, gutmütigen Augen unter der Brille durch und über sie weg. Das stimmte. Die Brille stimmte auch. Sie war aber nicht mehr, ach nicht mehr das einzige, was ihn mit dem Philisterium verband!
Händeschütteln. Entschuldigungen. Warme Worte. Einladung. Ich saß an dem runden Tisch; ich wußte nicht, wie mir geschah. Man aß eine Suppe mit vielen Klößen. Man aß Kraut und Fleisch. Man trank einen herben Landwein. Ich sagte der Hausfrau – einer schweigsam-lächelnden, züchtigen, sanften Brünette – einige fade Artigkeiten. Man sprach über das Wetter, die Weltlage und die schöne Gegend. Es war furchtbar nett, daß man sich wiedersah. Bisweilen, aber nur bisweilen wagte ich einen schüchternen, fragenden Blick nach dem Himmelstürmer. Ob ich mich nicht doch täuschte? Ich ermannte mich und tippte mit einigen schüchternen Fragen an die Musik, an seine Gedichte, sein Zeichentalent. Er erhob den Finger und drohte mir halb verlegen, halb belehrend. »Die Sünden der Jugend!« sagte er bedächtig. Er warf einen Blick auf seine Frau, entschuldigend, zärtlich. Mir fuhr Carlotta durch den Sinn. Ich errötete. Er räusperte sich und sagte dann, sein Glas erhebend, mit nicht ganz salbungsfreier Rührung: »In gewissem Sinn verdanke ich das alles dir, mein Lieber!« Ich tat Bescheid und wollte erwidern. Aber er ließ mich nicht dazu kommen. Er fürchtete wohl, ich möchte mehr plaudern, als ihm lieb war. Und sprach von den vierhundert Seelen seiner Gemeinde.
Zwei Stunden später war ich wieder unterwegs. Ich hatte es nicht länger ausgehalten. Ich wollte auf einen früheren Zug. Gewiß, es war furchtbar nett – aber sie erdrückte mich, diese saubere, gediegene, spießige Nettigkeit. Die Wirklichkeit war denn doch noch viel rücksichtsloser über meine letzten Träume gefahren, als ich es hätte ahnen können.
Ich wanderte talwärts.
Er hätte mich gern begleitet. Aber es ging beim besten Willen nicht. Er mußte an ein Krankenbett. Und seine Frau hatte Haushaltungsgeschäfte. Man gab mir, damit ich den nächsten Weg fände, den ältesten Jungen mit, der neben mir hertrollte.
Mir war es nach keiner Unterhaltung. Zu viele Gedanken stürmten in mir. Bittere, boshafte, mitleidige, weit- und menschenverächtliche. Dafür also hatte ich dem Schicksal ins Handwerk gepfuscht? Der Himmelstürmer von einst, der lange, dürre Mensch stand vor mir; mit der Lockenmähne, mit der freien Stirn, mit den genieblitzenden Augen, den erdentstürmenden Gebärden. Ich hörte sein leidenschaftliches Klavierspiel; ich wiederholte mir eines seiner zarten, wehen Gedichte; ich erinnerte mich an eine bestimmte Karikatur, die er von sich entworfen hatte. Diese Karikatur – heute war sie das Original. So wie er sich damals als fettgewordenen Kohlbauern verspottet, so war er geworden. Und das dankte er »in gewissem Sinn« mir! Warum ließ ich ihn damals nicht sein Geschick vollenden? Woher hatte ich das Recht genommen, ihn besser zu verstehen als er selbst, der mit hellsichtiger Nüchternheit sich richtete? Die Sache lag ja so einfach: bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahr hatte er sich emporentwickelt. Damals war alles Blüte und Verheißung. Dann trat, wie bei so vielen, bei den meisten, die Rückbildung ein. Von der Genialität zum Spießbürgertum. Aus der Höhe ins Flachland. Gerade wie ich jetzt bergab marschierte. Das dankte er mir!
Unwillkürlich hatte ich laut aufgelacht. So daß das Bübchen an meiner Seite, das mich so brav geleitete und um das ich mich so gar nicht kümmerte, verwundert zusammenfuhr. Ich sah zu ihm nieder. Mit großen, versonnenen Augen sah es zu mir auf. Das Kindergesicht machte mich milder. Diese Augen waren blau wie die des Vaters, aber ruhiger, sicherer. Es war ein blasses, schmächtiges Männchen, aber es stand fest auf den sechsjährigen Beinen, fester als der Vater. Phantasierte ich schon wieder? Warum auch? Konnte nicht die Natur im Sohn vollenden, was sie im Vater vergeblich versucht hatte? Hatte ich nicht dann doch eine gute Tat getan – so ungeschickt und jugendtöricht immer sie getan war?
Auf einmal – weiß der Kuckuck, wie es mich ankam – faßte ich das Bürschchen bei den Armen. Ich hob den Betroffenen hoch in die Luft gegen den strahlenden Sonnenhimmel. Und ich glaubte an einen neuen Himmelstürmer!