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Warm und doch luftig, ein rechter Spätsommertag mit seiner stillen, kräftigen Sonne und seinem tiefen, lachenden Himmel war es gewesen. Noch glomm und glänzte es wie lauteres Gold auf den Scheiteln der Waldberge und weiter herunter bis fast an die Flanken des Laufachtals. Die schlanken Tannenspitzen, die breiten Buchenkronen, die hellen, luftigen Lärchenwipfel – alle schienen sich zu recken und strecken, um ja recht wohlig und weit hinaufzutauchen in Licht und Wärme des leise sinkenden, ersten Septembertags.
Das Dorf freilich lag schon im Schatten. Sogar der Hahn auf dem Laufacher Kirchturm sträubte vergeblich den rostfleckigen Kamm, um von der Sonne noch etwas zu erhaschen. Als es ihm nicht gelingen wollte, knarrte er ärgerlich und sah strafend hinab auf die kleinen, halbnackten Spessartbuben, die sich nicht entblödeten Anno Domini 1631, zu sotanen Kriegs- und teuren Zeiten, im Bach herumzustelzen und sich zu spritzen, und einer immer lauter zu schreien als der andere. Als hätte nicht das Pfarrhaus in ihrem Rücken gestanden, und gleich um die Ecke das Häuslein des Birknerhans, ihres Schulmeisters!
Der Pfarrer, der breitgebaute, derbgewaltige Herr Valentinus Emmerich, war ein gestrenger Herr, das wußten sie wohl. Aber sie wußten auch, daß er vor kaum einer Viertelstunde aus dem Haus gegangen war. Da hatten ihm die Schlingel fein still und lammfromm ihre schmutzigen Finger in die mächtige Hand gelegt, und voller Andacht nachgeglotzt. Schnell und hitzig, wie ein Jüngling war er, bergwärts schreitend, im Hohlweg bei der Kirche verschwunden. Jetzt konnten sie tollen, soviel sie wollten! Der Schulmeister würde ihnen die Freude zuletzt verderben.
Soweit waren die ausgelassenen Wasserplantscher gut unterrichtet. Der so wohl berufene Birknerhans war schon zweimal ans Fenster getreten und hatte einen flehenden Blick die Gasse hinabschweifen lassen. Ein anderer wäre mit der Haselgerte zur Tür hinausgefahren – schon beim erstenmal. Aber er brachte es nicht übers Herz, die Bubenlust zu stören. Nicht als hätte er das Dreinfahren überhaupt nicht verstanden. Nur dachte er, die Welt draußen würde ihnen auch so früh genug die Freude vergällen. Man lebte ja nicht umsonst in Kriegs- und Seuchenfurcht. Über Nacht konnte es auch über den verborgenen Spessartwald kommen. Warum sollten sie heut nicht noch fröhlich sein?
Just eben glitt einer von den Rackern aus und setzte sich ins Wasser, daß es klatschte. Und die guten Freunde kugelten sich vor Vergnügen und jauchzten wie besessen. Der Birkner schüttelte den Kopf. Ein Lächeln huschte über seine Lippen – müd, wehmütig. Er wandte sich weg und fuhr nachdenklich über die steile, narbige Stirn und die glattgestrichenen Haare, die in einer unbestimmbaren Farbe das nicht junge und doch auch nicht alte Gesicht umrahmten. Aus der Ecke, von der ärmlichen Bettstatt kam ein Seufzer. Es bewegte sich unter der zusammengeknüllten Decke. Ein paar fiebrige Augen brannten auf, um sich gleich wieder matt zu schließen. Er trat herzu. Sie schlief schon wieder. Wenigstens lag sie unbewegt und der Atem pfiff gleichmäßig aus der verfallenen Brust herauf, durch die welken Lippen.
Zur Vorsicht wollte er noch den Laden vorlegen. Ihr Schlaf war gut für sie – und für ihn. Er nahm ein unförmiges, tannenes Brett vom Boden auf und schob es von innen vors Fenster, wo einige kunstlose Ösen und Haken es festhielten. Jetzt war es fast finster in der Stube. Nur durch den dreieckigen Ausschnitt fiel ein dürftiger Schimmer herein. Er setzte sich nahe beim Bett. Durch die Luke sah man ein, zwei Tannenwipfel auf dem Berg sich sonnen; und einen Zipfel vom Abendhimmel. Besser gar nichts! Drum legte er den Kopf zwischen die Hände und dämmerte vor sich hin.
Es wurde ein unruhiges Jagen von Gedanken. Erst war seine sorglose Jugend um ihn. Er war auch wieder ein wilder, zottelhaariger Spessartbub. Droben in Wiesen, zu tiefst im nördlichen Wald. Die Mutter lebte mit ihm im Dorf. Der Vater hauste in seiner Köhlerhütte, hoch unter der Hermannskuppe. Am Samstag, um Mittag, durfte er ihn holen gehen. Durch die dunkle, geheimnisvolle Waldweite trabte er – immer bergan – singend, heidelbeerpflückend, Wild belauschend. Und dann stieg er, vor Abend, mit dem Vater hinauf auf die Kuppe. Rußige Arme hoben ihn empor, daß er übers Unterholz hinaussehen konnte: Berg hinter Berg ragte da; der Dreistelz, die Milseburg, der Kreuzberg und wie sie alle hießen. Und im Weiterschreiten blinkte der Main auf, und fern draußen die Saale. Dazwischen starrende Hochwälder und lockende Tannengründe und grüne Waldwiesen …
Hernach tauchte Würzburg vor ihm auf. Die Schule. Der Vogt von Rieneck, ein hochmögender Herr und seines Vaters Gönner, hatte ihn dort untergebracht. Aber es litt ihn nicht in der Stadt. Er floh nach den Waldbergen und fand nicht heim. Drunter und drüber hetzten sich jetzt die Bilder. Tillysche Reiter griffen ihn. Da half kein Bitten und Weinen. Erst Troßbub. Dann ein blutjunger Trommelschläger. Diener bei Seiner Gnaden des Herrn Obrists Mätresse. Durch eines Prälaten Wohlgefallen ein Student, drunten in der Pfaffengasse, ein Jährlein. Wieder ins Feld. Ein Kriegsleben, schön und wild und wüst. Bis sie ihn bei Kosel im Schlesischen in die Hüfte schossen und für tot liegen ließen. Siech an Seel und Leib, aber sein eigener Herr, bettelte er sich durch. Vom Österreichischen ins Bayerische, und von der Donau an den Main. In die Heimat, in den Spessart. Zu Wiesen kannten sie von seinen Eltern kaum mehr den Namen. Er schlich sich weiter, durch Wald und Wirrnis. Vor einem fremden Haus im fremden Dorf blieb er liegen.
Das fremde Haus wurde sein Schicksal.
Der Birkner fuhr auf. Hatte die Kranke sich bewegt? War es ein Knacken in der Diele gewesen? Es war dumpf in der Stube und heiß. Und Nacht ringsum. Durch die Luke im Laden blitzte ein erster Stern. Er stand auf und hob den Laden vom Fenster. Dämmerung war auf der Gasse. Die Buben am Bach spielten nicht mehr. Spaltweit öffnete er das Fenster und schloß es wieder. Der frische Bergwind, wie er jetzt von den Höhen blies, taugte der Kranken nicht. So begnügte er sich, den erhitzten Kopf gegen die grobe Scheibe zu lehnen. Die Hüfte, die sich seit dem Schuß von Kosel verzogen hatte, schmerzte ihn. Aber das war es nicht. Ihm war überhaupt schwerer zumut als sonst. Seit Wochen fühlte er es leise in sich wachsen – eine Unzufriedenheit mit sich, ein Hadern mit seinem Geschick und mit …
Hatte er es nicht selber so gewollt? War's nicht sein eigener Entschluß gewesen damals? Wie ein zielloser, zügelloser Waldbach war ihm sein Leben erschienen: den mußte er in ein fest und grad Bette zwingen, mocht es dabei noch so eng und bescheiden sein. Und das Übrige tat die Dankbarkeit! Der greise Sebald und seine Tochter hatten ihn aufgenommen und gepflegt. Die Marthe war nicht schön und älter als er und kränkelte. Aber sie hatte ihn gern und hing sich an ihn. Und er hatte nichts wider sie. Eine Stätte bot sich, wo er ruhig sein Haupt niederlegen konnte, nach all der Unstetigkeit. Er blieb. Die Marthe wurde sein Weib. Und als der alte Sebald verstarb, wurde er sein Nachfolger im Schul- und Kirchneramt. Jubeljahre waren's freilich keine neben ihr. Sie hatte ihm auch kein Kind geschenkt, so sehr er's ersehnte. Sonst war sie ein gutes Weib. Wohl herb und ohne Freudigkeit, aber besorgt um ihn und fügsam. Deshalb pflegte er sie auch treulich, als sie im Frühjahr kränker ward. Erst im Sommer, wie es kein Ende nehmen wollte und sie lang und länger ans Bett gefesselt war, da war manchmal ein fremder, harter Ton zwischen sie gekommen. Daran dachte der Birkner jetzt, wie er am Fenster stand. Es war nicht die Krankheit. Nicht, daß er von seinem Weib nichts hatte und seine Stunden an ihrem Bett verlor. Grund um Grund suchte er hervor und verwarf ihn. Schließlich blieb nur noch einer übrig, ein einziger. Den schob er weg. Den wollte er nicht und an den rührte er nicht. Er warf den Kopf gewaltsam und fast zornig zurück und straffte seinen Körper. Leise ging er in die Ecke nach dem Herd.
Ein zaghaftes Pochen kam vom Fenster. Er achtete nicht darauf. Dann pochte es an die Tür. Behutsam öffnete sie sich. Von der Gestalt auf der Schwelle konnte man in der Dunkelheit kaum die Umrisse erkennen. Der Birknerhans wandte sich nicht um; es war ja doch nur die Magdalen vom Nachbarhaus, ein Nähweiblein, das allabendlich hereinkam und nach dem Rechten sah.
»Guten Abend, Magdalen. Sie schläft noch,« sagte er gedämpft und karg, während er an der glimmenden Asche einen Kienspan entzündete.
»Ich bin's. Nicht die Magdalen,« klang es hastig zurück.
Der Birkner zuckte leicht zusammen, als wäre er nicht angenehm betroffen.
»So – du?« kam es fast unhörbar durch die zusammengekniffenen Lippen. Der Kienspan brannte. Er drehte sich um und steckte ihn auf; mattes, unsicheres Licht schoß in die Stube.
Die Besucherin hatte hinter sich leis die Tür zugezogen. Es war eine hochgewachsene, schlanke Bäuerin. Fraulich in der Tracht, mädchenhaft im eckigen, ungleichmäßigen Bau der Glieder und im Ausdruck des ovalen, zarten Gesichts, das mit zwei dunklen, suchenden Augen unter schweren, geschlungenen Haarflechten hervorsah. Sie blieb unschlüssig stehen und heftete den Blick mit befangener Spannung auf den Birknerhans, der an ihr vorbeischaute und keine Anstalt machte, zu reden.
»Ich wollt' fragen, wie's der Marthe geht. – Ich stör' nit lang.« Die letzten Worte sprach sie mit einem Ton, der zwischen Zorn und Vorwurf schwankte.
»Schönen Dank, Hainhofbäuerin. 's geht wie immer.«
»Warum heißt mich Hainhofbäuerin? Willst mich nit auch Ihrzen?« Eine schnelle, unwillige Röte zog über ihre Wangen und auf der Stirn zitterte eine nervöse Falte.
Jetzt kehrte er ihr sein Gesicht zu. In seine festen, hellen Augen, die jugendlich inmitten der spitzen, unregelmäßigen Züge standen, drang ein weicher Glanz. Er mußte dran denken, wie die Annamarie vor zwei, drei Jahren noch vor ihm auf der Schulbank gesessen war. Mit dem gleichen suchenden Blick. Sie sollte mit ihren achtzehn Jahren noch lesen lernen, weil ihr Zukünftiger, der Hainhofbauer, es so wollte. Wenn es dann nicht vorwärts ging und der Birknerhans die Geduld verlor, kam das gleiche unwillige Rot auf ihre Wangen und die gleiche Falte auf ihre Stirn. Bis sie lesen konnte. Nicht dem Hainhofbauer – aber ihm zulieb. Er war zu ihr getreten. Seine Hand schob sich vor, wie um die ihrige freundlich zu ergreifen. Doch er zog sie gleich wieder zurück.
»Willst dich nit setzen, Annamarie? Die Marthe, wenn sie aufwacht, wird sich – freuen.« Er stockte. Es war unwahr, was er sagte. Sie wußten es beide. Wenn's auch in der Ordnung war, daß die Annamarie nach der Kranken sah – sie waren Geschwisterenkelkinder zusammen –: die Marthe würde sich doch nicht freuen, wenn sie den Besuch sah.
Sie verfielen wieder in das drückende Schweigen, in dem ihre Seelen nacheinander tasteten und sich furchtsam vor einander zurückzogen.
Man hörte nur den keuchenden Atem vom Bett herüber. Und bisweilen den Nachtwind, der das Fenster sacht erklirren machte.
Jetzt kam die Gasse herunter ein derber, schallender Tritt. Ein vierschrötiger Schatten ging draußen vorbei. Die Tür wurde aufgedrückt: es blickten zwei scharfsichtige Augen aus einem runden, massiv geschnittenen Kopfe forschend herein.
»Wo bleibt die Abendglock', Schulmeister? Soll ich selber sie läuten?« dringt es grob und mühsam gedämpft in die Stube.
Herr Valentinus Emmerich blickt mißtrauisch von einem zum andern. Auf der Hainhofbäuerin bleibt sein Blick, nicht eben freundlich, haften.
»Geh lieber am Tag unter die Leut', Hainhofbäuerin, 's ist spät, zum Krankenbesuch!«
Sie beißt sich auf die Lippen. Wortlos will sie an ihm vorbei, durch die noch offene Tür gleiten. Aber des Pfarrers starker, kurzer Arm stützt sich gegen den Türrahmen, zwischen sie und den Ausgang.
Trotzig tritt sie zurück. Ein fragender Blick irrt zum Birkner.
Der hat die Hände auf den Rücken gelegt und sieht dem Pfarrer ruhig ins Gesicht. Sie mögen sich leiden, der Pfarrer und er. Aber 's ist eine feindliche Freundschaft. Sie reiben sich gern aneinander.
»Ich denk', Herr Pfarrer, die Hainhofbäuerin darf uns besuchen, wann's ihr genehm ist.«
»So!« knurrt es grollend zurück.
»Und wenn mir's recht ist, habt Ihr mir's Abendläuten gestern selber verboten. Damit's kein Kriegsvolk anzieht.«
»Hm,« brummt Herr Valentinus unwirsch, »'s ist wahr!« setzt er etwas milder hinzu, »'s geht Gerücht von einer Schlacht. Einer aus Karlstadt hat mir's erzählt. Der Schwed' soll mit den Unsrigen aneinander geraten sein. Im Sächsischen droben.« Nachdenklich schlägt er ein Kreuz. Dann wendet er sich mit ziemlichem Geräusch nach dem Bett.
»Was macht dein Weib, Birkner?«
Die Kranke ist von dem schweren Tritt des hochwürdigen Herrn Emmerich aufgewacht. Hans nähert sich ihr. Sie richtet den Kopf auf. Ihre Augen gehen leer an den beiden Männern vorbei, als suchten sie noch jemand in der Stube, an der Tür.
»War nit noch einer da – vorhin?« stößt sie mühselig und heiser hervor.
Der Birkner sieht hinter sich. Annamarie ist verschwunden. Während der Pfarrer sich nach dem Krankenbett kehrte, ist sie unbemerkt hinausgeschlüpft. Auch Herr Valentinus gewahrt es und schüttelt mit unverständlichem Murmeln den Kopf.
Lauter fügte er hinzu:
»Wie geht's, Birknerin?«
»War nit noch einer da – vorhin?« wiederholt sie hartnäckig.
»Die Hainhofbäuerin hat nach dir gefragt,« versetzt der Birkner und streicht ihr die feuchtwirren Haare aus dem ruhelosen Antlitz.
Sie drückt seine Hand beiseite.
»'s geht wie's geht,« gibt sie dem Pfarrer matt und mit flüchtigem, trübem Lächeln zur Antwort. Und dreht sich nach der Wand zurück.
Als sie sich nicht mehr rührt, treten die beiden Männer in die Stube zurück. Eine Weile stehen sie stumm beieinander. Der Pfarrer hat beide Hände fest auf den eisenbeschlagenen Knotenstock gestützt und starrt streng auf den Boden. Der Birknerhans sieht über ihn weg, nach der gegenüberliegenden Wand.
Die Stimme der Kranken läßt sie aufhorchen. Es ist, als spräche sie im Schlaf. Langsam, Wort um Wort. Wehmütig.
»Ich leb' halt z' lang.« Und noch einmal. Schneller, bitterer, fast schluchzend: »Ich leb' halt z' lang – für ihn und die Annamarie!«
Der Birkner zuckte zusammen wie unter einem Blitzschlag. Ein greller, rücksichtsloser Strahl fuhr ihm durchs Herz und zündete tief hinein, daß auch der heimlichste Winkel sich erhellte. Das Fremde und Herbe, was zwischen ihn und sein Weib gekommen war, die Unzufriedenheit mit sich und mit seinem Los, die vorhin wieder so mächtig in ihm geworden – all das hatte den einen Grund, den er sich nicht hatte gestehen wollen – an dem er immer vorbeigegangen war. Und die Wahrheit traf ihn so jäh, daß ihm der Schweiß kalt auf die Stirn brach und seine Glieder erzitterten. Mit geschlossenen Augen lehnte er an der Wand.
Herr Valentinus Emmerich hatte keine zartsaitige Seele. Das sanfte Säuseln war seine Art nicht; eher das Wettern und Donnern. Er hatte schon geraume Zeit allerhand gesehen, was ihm nicht gefiel – an den Birknersleuten und an der Annamarie vom Hainhof. Ein deutsch Wörtlein mit jedem von ihnen, zur rechten Zeit, lag ihm längst auf dem Herzen. Aber er fühlte doch, daß jetzt die rechte Zeit nicht war. Wenn auch der Donner hinter den Blitz gepaßt hätte –. Er trat dicht an den Schulmeister heran.
»Behüt' euch Gott, Birkner!« sagte er halblaut.
Bei der Tür kehrte er doch wieder um. Damit war's doch nicht genug.
»Wenn du's ehrlich meinst, Birkner, mit dir und deinem Weib und deiner heiligen Eh' – dann gehst vor Herbst noch 'nauf nach Mariabuchen, und weihst der Gottesmutter 'n halb Dutzend Lichter! Daß sie dein Weib g'sund macht! Hörst mich?«
Der Birknerhans blieb die Antwort schuldig.
»Und mit der Hainhöferin –«
»Mit der red' ich,« unterbrach ihn der Birkner. Bestimmt, fast heftig fuhr es ihm über die Lippen. Er hatte sich aufgerichtet und sah dem Pfarrer fest ins Auge. Der hielt den Blick aus. Dann nickte er ihm stumm zu und ging aus der Stube.
Als der Birknerhans allein war, reckte er die Arme. Er steifte sie, wie ein Mensch, der aus einem langen Schlaf aufgewacht ist und der Kraft seines Leibes sich versichern will. Er horchte nach dem Bett hinüber. Die Marthe schlief. Leise verließ er die Stube.
Vor der Haustür wehte ihn die würzige Abendluft an. Gesättigt vom Duft ferner Waldwiesen und hoher Tannenhänge strich sie über das Tal. Er sog sie gierig ein und ließ den Blick eine Weile in der ruhigen Weite des Sternhimmels sich verlieren. Dann trat er schnell ans Nachbarhaus und klopfte an eine matt erleuchtete Scheibe. Der Kopf der alten Magdalen wurde sichtbar. Sie verstand ihn.
Mit schnellen Schritten ging er weiter, die Gasse hinab.
Nur hier und dort drang sparsames Licht aus Hütte oder Haus. Bisweilen ging eine Tür: dann trat ein Bäuerlein hervor, sah sich den klaren Himmel an und nickte. Oder es huschte ein Mädel heraus und lief ins Haus gegenüber. Auch wohl nach dem Brunnen, und flüsterte mit dem Burschen, der ihrer wartete. Der Birknerhans achtete auf niemand. Den freundlichen Anruf des Wirts, der im Weißen Roß aus der Tür lugte und nach Kunden schielte, hörte er nicht. So rasch es nur immer die krumme Hüfte zuließ, strebte er vorwärts. Wenn er sich dazu hielt, konnte er die Hainhofbäuerin noch einholen. Er mußte sie einholen! Lang, viel zu lang hatte er im Dunkeln getappt, im Unklaren! Jetzt hatte es ihn gepackt – eine grimmige Lust – und trieb ihn ins Klare und Wahrhaftige!
Als er die Dorfstraße hinter sich hatte, bog er rechts in einen Hohlweg, der zum Büsching hinankletterte – steil und geröllig. So wars ihm gerade recht. Es tat ihm wohl, sich die Höhe zu erkämpfen.
Der erste Anstieg war überwunden. Die steinigen Wände mit ihrem dichten Buschwerk traten zurück. Hochatmend hielt er an. Vor ihm lagen ein paar magere Äcker mit dünner Kleefrucht. Drunten, in zarten Schatten verschwimmend, das Dorf. Leis und fern rauschte der Bach. In der Höhe schwangen sich in weitem Kranz die Waldberge und setzten Ihre sanften Linien tiefdunkel gegen den lichten Horizont, ihm zunächst, fest und schwarz, ragte der Berg, den sie Büsching hießen.
Zwei Wege schieden sich. Er konnte jetzt rechts über den Sandkamm gehen. Oder links über den Heidebühel. Beide Wege führten zum Hainhof. Er lauschte. Eben war es, als hätte links drüben ein Fuß gegen das Geröll geknirscht. Noch einmal. Rüstig setzte er den Fuß weiter – zur Linken. Steile Hänge erhoben sich wieder an den Seiten des Wegs und verdunkelten ihn. Dicke Büschel von Heidekraut, am Tage so rot und warm blühend, schienen weißlich durch die Nacht. Es ging im Zickzack bergauf. Jetzt hörte er ganz deutlich und unweit einen flüchtigen Schritt. Ob es die Annamarie war, konnte er erst sehen, wenn er um die Ecke bog. Gleich darauf vernahm er ein Geräusch, wie wenn ein Körper sich müde und willenlos in Gras und Heidekraut sinken läßt. Er verdoppelte die Schnelligkeit seines Laufs. Dort – unter der verkrüppelten Eberesche, zwischen Gras und Heidekrautbüscheln waren die Umrisse eines Kopfes sichtbar, der sich stützte, gegen den Himmel gekehrt.
Der Birknerhans stand still und veratmete. Es war die Annamarie. Entschlossen ging er auf die Eberesche zu.
Sie rührte sich nicht von der Stelle, wie er herantrat. Als könnte es kein anderer sein als der Birknerhans. Gerade hinaus, über die Bergwälder hinweg, in den Himmel hinein richteten sich ihre Augen. Es schimmerten Tränen drin. Den Mund hatte sie trotzig aufgeworfen: er sollte die weinenden Augen Lügen strafen.
Der Birkner hatte sich's leichter gedacht. Wie sie nun so vor ihm lag, nichts sagte und sich nicht regte, fühlte er sich befangen.
»Was willst du noch in der Nacht draußen?« fing er langsam an.
»Und du?« kam es zurück. »Warum laufst mir nach?«
Ihr herausfordernder Ton machte ihn sicherer. Es reizte ihn, daß sie vom »Nachlaufen« sprach.
»Der Hainhofbauer,« fuhr er fort –
»Der Hainhofbauer!« lachte sie spöttisch auf. »Was schert mich der?«
Ihre Hände griffen ins Gras und rauften die Halme. Laut zirpten ringsum die Grillen. Der Nachtwind nahm einen Anlauf und fuhr in den nahen Forst, daß er errauschte.
»Warum lebst so im Unfrieden mit dem Hainhöfer? Warum –«
Sie warf sich herum und ihre Augen trafen ihn mit seltsamem Feuer.
»Fragst mich da drum im Ernst?« stieß sie hervor.
Er fühlte sich verwirrt und beklommen. So hatte er sie noch nicht gesehen. Aber er zwang sich.
»Ich weiß, daß dich dein Vater, der Wiesenbauer selig, gezwungen hat – wider dein' Willen –«
»So – das weißt? Ist das alles, was du weißt?« Ein Zittern ging über ihren hingestreckten Leib. Mit den unruhigen Händen riß sie die Blüten vom Heidekraut. »Verkauft hat er mich, 'n halb's Kind noch war ich! Und dann,« sie senkte den Kopf und flüsterte, »dann kam einer ins Dorf – der hat mich mehr g'lehrt als ich hätt' lernen sollen!« Sie stockte. Sie saß vorgebeugt, als lausche sie auf ein Wort von ihm.
Der Birknerhans schwieg und sah an ihr vorüber, in die Tannen hinein. Er fühlte, wie sein Wille von ihm wich und seine Gedanken sich nicht mehr fügten.
»Willst wissen, wer?« klang es tief und bebend an sein Ohr.
Er krampfte die Hände ineinander. Nein, hätte er sagen müssen. Aber er scheute den Ton seiner Stimme, weil er ihrer nicht mächtig war.
»Muß ich dir's noch sagen?« drang es wie ein unterdrückter verzweifelter Schrei zu ihm empor. Sie warf die Arme über sich, und plötzlich war er umschlungen und an ihre Seite niedergerissen, »dich – und dich – und dich!«
Und sie küßte sein Haar und seine Stirn und seine Hände heiß und lechzend; wie eine Verschmachtende sich über die Quelle wirft am Wegrand.
Einen Augenblick war er wie betäubt. Das Blut brauste ihm in den Ohren. Er fühlte ihren zuckenden Leib in seinen Armen. Sein Mund wollte den ihren suchen. Ihr glühendes Gesicht war dicht vor ihm. Dann war es ihm jählings, als hörte er die klagenden Traumworte seines Weibes: »Ich leb' halt z' lang – für ihn und die Annamarie.« Er erschrak über sich und über die verzehrende Glut in ihren Augen. Heftig löste er seinen Nacken von ihren verschlungenen Händen und richtete sich auf.
Er strich sich die Haare aus der Stirn und fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die brennenden Augen. Ein dunkler Zorn über sich selber kam ihn an und er redete sicher und rauh, ohne viel Überlegung.
»Hainhofbäuerin! Da ist ein Irrtum zwischen dir und mir. So stehen wir nit zueinander! Wenigstens ich nit zu dir! Also auch du nit zu mir! Ich sag dir's einmal für alle.« Die Erregung nahm ihm den Atem und verschärfte noch seine Stimme. »Und dann sind wir geschiedene Leut'. Ich bin nur mein'm Weib zugehörig und keiner sonst!« Er wiederholte es fast schrill, als müßte er es sich selber bekräftigen »keiner sonst! und damit – b'hüt Gott – für immer!«
Als er fertig war, warf er noch einen scheuen Blick auf die Annamarie. Sie lag in sich zusammengekrümmt, regungslos, den Kopf tief ins Gras gewühlt. Hastig lief er talabwärts, ohne zurückzusehen. Er kam ins Dorf und vor sein Haus – er wußte nicht wie. Leise schlich er durch die Stube. Die Magdalen war neben der schlummernden Kranken eingeschlafen. Er ging vorbei und in die Küche, wo er für sich gebettet hatte. Aber der Schlaf kam lange nicht. Wohl hatte er ein Ende gemacht, aber er wurde des Endes nicht froh. – –
Die Annamarie vom Hainhof lag noch wie zuvor, als sein Schritt lang verhallt war. Die Scham drückte sie nieder und schüttelte sie. Verachtet, verschmäht, verhöhnt. Warum sank die Erde nicht unter ihr, tief, tief – und nahm sie und bedeckte sie!?
Wie sie aufblickte, stieg der Mond über dem Büsching herauf. Sie sprang auf. Von Haar und Kleid flogen ihr die Heideblüten. Drüben lag ihr Hof. Breit trat das Dach aus dem Schatten. Sie lief, so schnell die Füße sie trugen.
Unter dem Tor lehnte einer und pfiff ungut in die Nacht hinaus. Es war der Hainhofbauer. Als er sie kommen sah, streckte er die Hände ins Wams und ballte sie. Breitspurig und drohend erwartete er sein Weib. Atemlos kam sie an. Und ehe er sich's versah, warf sie sich an seinen Hals und küßte ihn, wie sie noch nie getan, seit sie seine Bäuerin war. Er wußte nicht, wie ihm war, und schmunzelte selbstgefällig. Sie gingen miteinander über den Hof ins Haus.
*
Wie die Sonne, die vor der Dämmerung noch einmal mit doppelter Kraft ihr Licht über die Erde wirft, ehe die Schatten der Nacht über sie Herr werden, so hatte es der Sommer 1631 mit den Menschen im südlichen Deutschland gehalten. Am 21. Mai schon hatte die Traube geblüht. Dann war er heraufgezogen mit heißem Segen und das Korn beugte sich in goldener Schwere. An den Mainbergen schwollen die Trauben, und es gab frühen, köstlichen Wein.
Dann aber kam die Not und das Elend mit großen Schritten. Es kam, woher es zumeist kommt, von Menschen über Menschen. Am 17. September hatte Gustav Adolf in der blutigen Schlacht bei Breitenfeld die Kaiserlichen geschlagen. Das mittlere und südliche Deutschland stand dem Sieger offen. Über Halle ging er ins kurmainzische Erfurt; dann über Gotha und Schmalkalden, über Arnstadt und Schleusingen südwärts. Am 15. Oktober zog der Schwedenkönig in Würzburg ein. Eine Zeit unerhörter Drangsale brach über Franken und die Mainlande herein.
Schon hatten die Schweden drüben in der nahen Rhön gehaust. Brandschatzung und Mißhandlung, Mord und Verwüstung zeichneten ihren Weg. Unter dem berüchtigten Obersten Wildenstein saßen sie drunten in Karlstadt und saugten das Mainstädtlein aus bis aufs Blut. Noch zog der jähzornige Herr, nur um Sauen zu jagen, in den Spessart. Aber wie bald konnte seine beutelüsterne Soldateska in die friedlichen Gebirgstäler brechen. Dann war es auch um das stille Laufach geschehen.
November war es geworden. Ein paar kalte Nächte hatten dem Laubholz die Blätter vollends abgepflückt. Nur die lichtbärtigen Lärchen standen noch hier und da schmuck und keck vor den blaudunklen Tannensäumen. Die Buchen und Eichen streckten ihre Äste kahl zum grauwolkigen Himmel. Wäre nicht mitunter ein Vogelbeerbaum mit seinen feurigen Beeren oder ein Strauch mit grellroten Hagebutten dazwischen gewesen – es hätte sich gar trostlos angesehen.
Denn die Menschen im Dorf, die taten nichts, um den fahlen Herbst lebendiger zu machen! Sie krochen gedrückt ihrem Tagewerk nach oder saßen stundenlang untätig, unheilgewärtig und schweigsam in ihren Stuben. Wenn dann Herr Valentinus Emmerich durch die Gasse schritt, aufrecht und laut, wie immer; an die Fenster klopfte und ein ermutigend Wort hineinrief, schraken sie zusammen und bekreuzigten sich.
Auch den Birknerhans sah man selten. Einen um den andern Tag ging er hinauf nach dem Friedhof. Dort lag seit dem Ende des Oktober die Marthe Birknerin und ruhte von ihrem Leiden aus. Ein paar ruhige, fast heitere Wochen hatten sie noch miteinander verlebt, nach jener Septembernacht. Seit sie wußte, daß er der Annamarie ein »B'hüt Gott für immer!« gesagt, war sie dankbar und nahm sich zusammen, um ihm das Dasein nicht sauer zu machen. Dann setzte eines Abends, schmerzlos und schnell, ein Blutsturz ihrem Leben das Ziel. Es war ein freudloses, verlittenes Leben gewesen, und eine Ehe ohne viel Lust und Leichtmütigkeit. Aber der Schluß war ohne Bitternis. Das hatte der Hans vermocht. Was es ihn gekostet hatte, wußte sie nicht und keiner außer ihm.
Jetzt saß der Birkner tagaus, tagein allein in der Stube. Mit dem Schulhalten war's sowieso nicht viel mehr. Er las und sinnierte. Oder er schrieb für den Herrn Valentinus an einem Chronikbuch.
Der Winter meinte es gnädiger mit den Laufachern, als sie dachten. Im Dezember kamen zum erstenmal fünfzig schwedische Musketiere über Heigenbrücken herunter. Der Schrecken war groß. Und die Schweden waren wohl willens, ihrem Ruf Ehre zu machen. Aber Herr Emmerich, tapfer und kräftig wie er war, unterhandelte mit ihnen. Und der Birknerhans, des Soldatenwesens kundig, tat auch das Seine. Es kostete freilich ein gut Stück Akkord. Die Reichstaler mußten aus dem Säckel, das Vieh aus dem Stall und der Wein aus dem Keller. Aber es ging doch ohne Morden und Sengen ab. Die Laufacher atmeten auf. Sie faßten wieder ein Quentlein Mut.
So kamen sie leidlich ins neue Jahr.
Da drang vom Hainhof allerhand Gered ins Dorf. Im Spätjahr hatten die Leute ihren Ohren nicht getraut, als es hieß, der Bauer und seine Frau wären wie ausgewechselt, ein Herz und eine Seele. Die Annamarie zeigte sich fast nie im Dorf; kaum daß sie des Sonntags einmal in der Kirche war. Aber wenn der Bauer einmal herunterkam, ins Weiße Roß oder für ein Geschäft, sah er satt und stolz um sich und ließ die gelben, pfiffigen Äugelchen rundum spazieren. Dabei hatte er einen Schritt am Leib, daß er es fast dem Herrn Valentinus gleichtat.
Der schüttelte denn auch, wenn er den Hainhofbauer gewahr wurde, mißbilligend den Kopf. Aber nicht um des Bauern willen.
»Die Annamarie seh' ich zu selten in der Kirch', Hainhofbauer!«
»'s ist dies und das!« meinte der Bauer und zwinkerte dazu. Einmal war es das Wetter – Schnee und Glatteis, dann der Haushalt, dann ein anderer dürftiger Grund, der sie abhielt.
»Eh'stens komm ich 'nauf und helf ihr zum Beten und Beichten!« grollte der Pfarrer, und machte kein gut Gesicht – bis sie selbander im Weißen Roß beim Neunundzwanziger saßen. Der war kein Tropfen zum Zanken.
Im Februar hieß es plötzlich: die Hainhofbäuerin ist in der Hoffnung! Aufs Frühjahr kriegt der Hainhöfer 'n Erben! So ein Höllischer! Mit seinen Achtundfünfzigen!
Es hatte mit dem Gerücht seine Richtigkeit.
Seit sich die Annamarie an jenem Spätsommerabend dem Hainhofbauern an den Hals geworfen hatte, waren die beiden freundlicher zueinander. Der Zank wurde seltener. Sie reizte ihn nicht mehr so oft wie früher durch ein spitzes Wort. Auch schien sie am Hof Gefallen zu finden, stellte sich besser mit ihren Leuten und sah nach dem und jenem, was sie früher hatte gehen und stehen lassen. Heiter und unbefangen wurde sie freilich nicht. Und lachen sah man sie auch nicht. Wenn der Großknecht am Gesindetisch einen »Saftigen« erzählte und der Bauer am Herrentisch wohlgefällig mitlachte, daß die Falten in seinem fetten Gesichte hüpften und er krebsrot wurde – sie verzog keine Miene. Nicht bös, aber auch nicht gut blickte sie auf ihren Teller.
Bis nach Lichtmeß war leidlich gut Wetter auf dem Hainhof. Dann wurde die Bäuerin wieder mürrisch und reizbar. Diesmal schob es der Bauer auf ihren Zustand und schmunzelte. So oft aber die Annamarie ihn verließ und er sie, statt Wort gegen Wort zu setzen, mit einem behaglichen oder gar mitleidigen Lächeln anblinzte, biß sie sich auf die Lippen und wurde finster und stumm.
Je mehr sie die Bürde ihres Leibes fühlte, um so größer ward ihre Unrast. Friedlos tat sie eine Arbeit nach der andern – jede, um sie nach kurzer Zeit unfertig liegen zu lassen. Unstet lief sie durchs Haus, durch Ställe und Stadel. Vom Keller bis unter das Dach ließ sie das Unterste zu oberst kehren. Bis sie an einem abgelegenen Ort sich erschöpft niederließ und brütend auf ihren Schoß starrte.
Stundenlang konnte sie so sitzen, die Stirn kraus und kummervoll gefaltet. Der Hainhofbauer suchte sie dann. Sie hörte sein Rufen, bald näher, bald ferner. In ihre halboffenen Augen trat ein lauernder, wilder Ausdruck. Und wenn sein polternder Schritt die rechte Fährte fand, sprang sie auf und verkroch sich in einen noch entlegeneren Winkel.
Sie floh vor ihm. Aber wovor sie nicht fliehen konnte; was sie mit sich schleppen mußte, war das Kind unter ihrem Herzen. Sein Kind! Das da wuchs und ein lebendiges Menschenkind werden sollte, mit Zügen von ihm und Gebärden von ihm und einer Seele von ihm. Daß es auch ihr Kind sei, daran dachte sie nicht. Das glaubte sie nicht. Sie sah – und haßte in dem Kinde nur ihn.
Es wurde April. Auf dem Hochwald lag noch der Schnee. Aber im Tal wehte ein erster milder Wind, und die Sonne faßte sich ein Herz, löste die Eiskrusten im Bach und blickte verheißungsvoll in die Häuser im Tal, durch die Fenster im Hainhof.
Heute war die Unruhe am Hainhofbauer. Es kam zwar zu früh und unerwartet. Trotzdem. Es konnte nicht fehlen. Auf und ab, und ab und auf schritt er in der großen Stube, die Hände im Sack, das Käpplein verzweifelt keck überm Ohr. Halblaut pfiff er ein lustig Liedel vor sich hin und trommelte gegen die Scheiben, um sich Mut zu machen. Und der Mut blieb nicht aus. Sein Herz schwoll und seine Brust blähte sich bei dem Gedanken, daß er heute Vater werden sollte. Von einem Buben natürlich; einem jungen Hainhofbauer. Das Blut stieg ihm in den Kopf und es wurde ihm rot vor den Augen – so stolz war er, und so freute er sich.
Drinnen in der Kammer, bei der Bäuerin war das Wehmütterlein. Ein hutzlicht und häßlich Weiblein, voll Aberglauben und Geschwätz. Sie redete der Annamarie zu und erzählte Geschichten von Vier- und Mehrungen, von Glücks- und Sonntags- und Siebenmonatskindern – ohn' Anfang und Ende.
Die Annamarie hörte nichts davon. Sie lag mit geschlossenen Augen. Mitunter stöhnte sie laut und bewegte sich heftig. Schwerer als der Kampf ihres Leibes war der ihrer Seele: die sträubte sich gegen die nahende Stunde und spielte grausam mit alten, wehen Erinnerungen.
Gegen Mittag schien sie zu schlafen. Das Wehmütterlein, um sein Mundwerk nicht ruhen lassen zu müssen, schlich sich hinaus in die große Stube. Und dort mußte der Hainhofbauer herhalten und sich mit Glückwünschen und Verheißungen und Beteuerungen überschütten lassen, daß ihm der Kopf wirbelte.
Die Annamarie öffnete die Augen. Sie sah sich in der Kammer um. Die Tür war angelehnt. Draußen hörte sie das dünne, plätschernde Stimmlein der Alten. Und das schmunzelnde, zustimmende Räuspern und Glucksen des Bauern. Sie strengte sich an, wider Willen, um ihn zu verstehen. Er brüstete sich. Er erzählte, wie sie sich erst gesträubt habe, die Annamarie, gegen seine Liebe. Er war ihr wohl zu alt vorgekommen. Aber dann! Er hatte seinen Mann gestellt, er, der Hainhofbauer! Und jetzt – jetzt wußte sie, wie sie mit ihm dran war! Sie kicherten miteinander.
Die Bäuerin zuckte zusammen; bei jedem Wort. Und wie sie so kicherten, überkam sie das Gefühl der Verachtung gegen sich und gegen ihn, mit doppelter, unerträglicher Wucht. Gleichzeitig zerriß sie der Schmerz ihres Leibes. Sie bäumte sich auf und blickte um sich mit Augen einer Irrsinnigen. Sie glitt von ihrem Bett und warf sich in wirrer, lautloser Hast ihr Zeug um. Die Kammertür in der Ecke führte auf den Hof. Sie rannte leise hinaus. Über den Hof – in den Wald hinein – ziellos – weiter und weiter. Sie deuchte sich auf blühender Heide. Da vorne lief einer, den mußte sie einholen. Es war der Birkner. Aber er lief so schnell, trotz seiner Hüfte. Und hörte nicht auf sie, so sehr sie rief und die Arme streckte und …
An einer Waldblöße brach sie wimmernd zusammen. –
Als das Wehmütterlein sich vorläufig ausgeredet hatte, trippelte sie wieder in die Kammer. Sie stand mit offenem Mund. Sie rief die Bäuerin beim Namen. Dann holte sie den Hainhöfer. Der bebte am ganzen Leib und schrie nach Knechten und Mägden. Man durchsuchte den Hof. Später verteilten sich die Knechte im Wald. Schließlich fand der Großknecht die Bäuerin; bei der Waldblöße, unter einem Vogelbeerstrauch. Dorthin war sie gekrochen. Ohnmächtig lag sie, und das Kind neben ihr. Es war tot.
Wie der Hainhofbauer erfuhr, was geschehen war, wurde er blutrot und dann blaß. Seine Knie wankten und der Mund lallte. Die Augen wurden wie Glas.
Sie setzten ihn in einen Stuhl.
Das Nacheinander von aufgeregter Freude und jähem Leid war zu viel für ihn geworden. Der Schlag hatte ihn gerührt. Hoffnungslos lag er darnieder.
Als eine Stunde später Herr Valentinus Emmerich auf den Hof kam, mit der letzten Wegzehrung, begleitet vom Kirchner, dem Birknerhans, erkannte ihn der Bauer nicht mehr. –
Es war kein leichtes Amtieren für den Birknerhans auf dem Hainhof. Bei der letzten Ölung nicht und weniger noch auf dem Friedhof, als sie den Hainhofbauern hinaustrugen und das Kind neben ihn legten. Von der Annamarie sah er nichts. Sie lag in ihrer Kammer. Zwischen Leben und Tod. Nur bisweilen hatte er vermeint, ein leises, greinendes Stöhnen zu hören. Im Geist war sie vor ihm und ließ ihn nicht los. Der Vorwurf, den er je und je in sich gehört hatte, seit er sie so hart abgewiesen: jetzt war er laut und herrisch; jetzt erhob er sich wider ihn; eine schwere, harte, unentrinnbare Anklage.
Er hatte ja doch damals nur an sich gedacht! Wenn er sich tausendmal wiederholte: es war nur um der Marthe willen, es beruhigte ihn nicht. Gewiß, um der Marthe willen! Aber mußte er deshalb die andere so lieblos und barsch beiseite stoßen? Bloß weil er zu feig war, um mit ihr zu reden, wie er hätte müssen: offen auch gegen sich! Weil er zu schwach war, um auch an sie zu denken! Auch mit ihr zu fühlen und zu tragen. Er hätte ihr gestehen müssen: auch mein Herz neigt zu dem deinigen. Aber sein darf's nicht! Du hast dich gebunden, und ich hab' mich gebunden. Deshalb muß jeder sein Teil Entsagung tragen, nicht du bloß! Da hätte sie sich dran aufgerichtet! Da hätte sie sich nicht schämen brauchen, als hätte sie sich an ihn weggeworfen! Statt dessen war sie in der Verzweiflung, in der Scham und Bitterkeit dem Hainhöfer gefügig geworden. Ohne Liebe und nicht aus ernstem Entschluß. Hätte sie gewußt, daß er, der Birkner, seine Bürde trug, sie hätte die ihre auch getragen. Sie hätte vielleicht mit dem Bauern leben gelernt. Gewiß sogar! Wenn auch noch so langsam und schwer! So wie's gekommen war, wär's nicht gekommen. So nicht! –
Im Dorf gingen krause Reden. Die einen, die es mild meinten, sagten, die Annamarie war' ihrer Sinne nicht mächtig gewesen. Die andern: sie hätte sich selber wollen ein Leids tun. Die Schlimmsten tuschelten: sie hat dem Kind Übles getan und den Bauern hat sie auch auf dem Gewissen.
Als der Herr Valentinus Emmerich von dem bösen Geschwätz hörte, ergrimmte er und schalt wider das gehässige Gerücht. Dem und jenem setzte er hart zu. Wie es nicht fruchten wollte, sprach er von der Kanzel ein scharf schneidig Wort von der Lieblosigkeit und der üblen Nachrede. Das wirkte.
Wo es nicht half, half die Zeit.
Die hatte es zum Längsten gut gemeint mit den Laufachern. Der Krieg schonte des Spessarts nicht mehr. Wilde Horden, bald von Lohr und Karlstadt, bald von Aschaffenburg her, schwedisch bald und bald kaiserlich, quartierten im Dorf. Raub und Gewalttat kam an die Tagesordnung. Ein jeder hatte genug an sich selber zu denken.
Herr Valentinus hatte viel im Dorf zu ermutigen und zu heilen. Der Birkner teilte sich im guten Werk mit ihm, aus menschlichem Herzen und – um sich zu vergessen. Haus um Haus hatte die Not heimgesucht. Der Pfarrer ging von Tür zu Tür und suchte zu lindern – obwohl sie ihm selber nicht den Rock auf dem Leib gelassen hatten. Kaum an einem Tag ließ er sich's nehmen, daß er auch zum Hainhof hinaufstieg. Dorthin ging er allein, ohne den Birkner. Er sprach insgeheim oft und lang mit der Bäuerin, die, wenn auch geschwächt und gebeugt, vom Siechbett wieder aufgestanden war. Die ersten Male war er mit kampfrotem Gesicht aus ihrer Stube getreten und mit zornigen Schritten ins Tal gestampft. Jetzt war er zufriedener.
Eines Abends im späten Mai – die Birken trugen ihr erstes Grün und die Schwalben schossen über das Laufachtal und bauten sich an den verfallenen Dächern neue Nester – leuchtete sein Gesicht und die scharfen, sicheren Augen blickten munterer, als sie lange getan, wie er so vom Hainhof talwärts schritt. Drunten traf er den Birkner und sie gingen eine Strecke Wegs zusammen.
Dem Schulmeister brannte es längst auf der Seele, nach der Bäuerin zu fragen. Er hatte sich noch immer nicht dazu durchgefunden. Jetzt – als der Pfarrer so schnell ausschritt, tat er, als könne er's mit der lahmen Hüfte ihm nicht gleichtun; er hielt an, und Herr Valentinus blieb neben ihm stehen.
»Wie geht's auf 'm Hainhof?« fragte er. Es sollte möglichst von ungefähr klingen, aber es kam leis und scheu.
Der Pfarrer sah ihn fest und ernst an. An seinem Blick konnte der Birkner erraten, daß ihm die Frage so unerwartet nicht war; er schlug die Augen zu Boden. Herr Valentinus räusperte sich und schien die erste Antwort zu verschlucken, was sonst seine Sache nicht war. Dann sagte er:
»Ich bin's zufrieden, Birkner. Eh' die Woch' zu End' ist, will die Annamarie hinauf nach Mariabuchen. Ein paar fromme Schwestern haben dort Unterschlupf gefunden, aus Unterzell, von den Prämonstratenserinnen. Wenn der Schwed' aus 'm Land ist, nehmen die sie mit, ins Würzburgische. Gott sei mit ihr!«
Der Birknerhans erwiderte nichts. Die Neuigkeit nahm ihm den Atem. Sie schritten weiter. Beim Bach trennten sie sich.
»Gott – sei mit – ihr!« murmelte der Birkner zwischen den Zähnen, als er in sein dunkles, ödes Haus tappte. »Gott sei mit ihr!«
Am anderen Morgen tat er den schwersten Gang in seinem Leben.
Er ging hinauf nach dem Hainhof.
Das Wetter hatte sich geändert. Der Himmel lag milchgrau über den Bergen. Ein feiner Regen troff auf die sprießende Erde. Es ging sich schlecht auf dem Hohlweg. Der Birkner mußte oft innehalten. Als er in die Höhe kam, lag das Dorf trüb und nüchtern hinter ihm; vor ihm traurig und streng der Büsching. Dort war die Eberesche, an deren Fuß er damals die Annamarie getroffen. Das Heidekraut stand noch braun und leblos; nur das Gras wuchs frisch dazwischen. Je der Schritt an dieser Stelle vorbei deuchte ihm eine Ewigkeit. Endlich war's überwunden.
Nach einer Weile trat er auf den Hof. Auch hier Spuren der Zerstörung und des Raubs, wohin man sah. Eingehauene Fenster, verkohlte Dächer, leere Ställe und Stadel. Er fragte nach der Bäuerin. Man ließ ihn warten. Er fühlte sich verlassen und trostlos in dem unwirtlichen Hof. Wenn sie ihn abweisen ließ? Oder es gar nicht der Mühe wert hielt, ihm Bescheid sagen zu lassen? Und doch konnte er nicht heim, wenn er ihr nicht gesagt hatte, was zu sagen er da war.
Eine Magd wies ihn in die Stube. Wieder ein hartes, endloses Warten. Dann tat sich die Kammertür auf. Eine schwarze, bleiche Gestalt trat heraus. Es war die Annamarie.
Das Leid hatte sie nicht so zerstört, wie er gefürchtet hatte. Die Züge waren schärfer, ausdrucksvoller geworden. In ihrer Blässe hoben sie sich fast streng ab von den dicken, schwarzen Haarflechten. Die Bewegungen zeugten von einer müden, aber entschlossenen Ergebenheit. Sie sah ihn nicht an. Ihre Hand deutete nach einem Stuhl. Er blieb stehen, während sie sich setzte.
Es war ein langes, banges Schweigen.
Schließlich sah er auf ihrer Stirn die unruhige Falte wieder, die er kannte – nur, daß sie tiefer geworden war. In die Wangen stieg ein erregtes Rot. Sie schien aufstehn und sich entfernen zu wollen. Da fand er die Sprache.
»Hainhofbäuerin, ich hab' gehört, Ihr wollt die Woch' noch nach Mariabuchen, und späterhin nach Unterzell – ins Kloster.«
Sie rührte sich nicht.
»Eh' Ihr aus 'm Dorf seid, und wir uns nit wiedersehen – in dieser Welt, muß ich Euch was sagen« – »Was sagen,« wiederholte er leis und unsicher, »was ich viel, viel eher hätt' sagen sollen – noch eh' all das Schwere hat kommen müssen.«
Sie zuckte mit den Fingern. Die Falte auf der Stirn und die Röte in den Wangen war gewichen. Sonst blieb sie unbeweglich, ohne ein Wort.
»Ich muß dir Abbitte tun,« sagte er stärker, und heftete die Augen flehend auf sie. »'s ist eine Lüg' zwischen uns, mit der ich dir unrecht getan hab'!«
Er rang nach Worten. Er wollte viel mehr sagen. Aber es ging nicht. Seine Stimme erstickte. Verschleiert, qualvoll, ein schmerzwilder Aufschrei kam es hervor:
»Ich hab' dich gern – – gern g'habt, Annamarie!«
Ihr Kopf fiel auf die Brust. Die Hände fielen schlaff an den Seiten herunter. So saß sie; und er stand bei ihr und mußte sich am Tisch halten.
Erst nach geraumer Zeit bewegten sich ihre Lippen.
Fremd und leer fügte sich ein Wort ans andere:
»Ich weiß nit mehr was war. Ich dank' Euch. Betet für mich und mein' Sünd. D' Zeit hab' ich verloren; d' Ewigkeit will ich nit verlieren.«
Sie schwieg eine Weile. Ihre Brust ging hastig auf und nieder. Ihre Augen trafen ihn kurz. Ein erlöschendes Funkeln war drin, das ihn früherer Tage gemahnte. Und die Stimme zitterte, wie von unterdrückter, vergrabener, bitterer Leidenschaftlichkeit.
»Ich bin bloß noch dem Himmel zugehörig. Keinem sonst. – B'hüt Gott, für immer!«
Ein Schauer lief über sie hin. Dann saß sie wieder stumm und teilnahmslos, und haftete mit dem Blick am Boden.
Der Birknerhans seufzte tief auf. Er griff nach seiner Mütze. Und stahl sich still aus der Stube. Aus dem Hof und hinunter in das Dorf.
Einst hatte sie ihm gesagt, wie lieb sie ihn hatte. Und er hatte ihr »B'hüt Gott für immer« gesagt. Jetzt war er vor ihr gestanden und hatte von seiner Liebe gesprochen. Und das »B'hüt Gott für immer« kam von ihr.
Sie waren eins am andern vorbeigegangen.
Nach Menschenwissen: auf immerdar.
*
Wer in den Chroniken liest, die vom Dreißigjährigen Krieg erzählen, dem will das Auge erstarren und das Herz zu schlagen aufhören über all dem Jammer, der ihm da entgegenklagt. Es ist, als wären ganze Seiten mit Blut geschrieben.
Eine handschriftliche Chronik aus dem Oberfränkischen sagt wehmütig: »Zu dieser Zeit ging Jammer und Not an in unserem Lande und hat gewähret bis auf das 1637. Jahr, da man denn bald nichts anderes hörte als Rauben, Stehlen, Morden, Brennen und Sengen.« Was sie dann aufführt an Qualen, die an Mann und Weib, Kind und Greis geübt wurden, läßt sich nicht wiedergeben. Sie selber weiß das Entsetzliche nicht alles auszumalen und bekennt: »In Summa: die große Pein und vorhin unerhörte Marter – davon auch der Teufel in der Höll mit Wissenschaft haben mochte – so sie den Menschen angetan, bis sie gestorben und verschmachtet oder preßhaft geworden, ist nicht zu schreiben.«
Als das Jahr 1632 in sein letztes Viertel trat, war das bayrische Land ein Trümmerfeld von Schutt und Asche. Aber damit war's nicht genug. Das Schlimmste zog hinter den blutdürstigen Heerhaufen drein und vollendete ihr grausiges Werk. Das schwarze, unheimliche Gespenst der Pest. Und wie die Kriegshorden sich nicht genügen ließen, die große Heerstraße unsicher zu machen und die Städte des offenen Landes zu brandschatzen, so auch der düstere Gast nicht, der im Troß sie begleitete. Mit seinen Knochenarmen griff er hinein, tief hinein bis in die hintersten Täler des Spessartwaldes und verwandelte Leben in Sterben, einen Gottesgarten der Natur in einen Totengarten. Die dem heiligen Rochus geweihte Valentinuskapelle bei Lohr zeugt noch heute von der Pestnot jener Tage. Ganze Dörfer und Flecken starben aus bis auf wenige Familien oder auch nur auf zwei, drei Menschen. In Hösbach blieben fünf, in Wenighösbach gar nur drei am Leben. Und so war es in Rottenberg und Langenprozelten und Rothenbuch – und so weit der Wald sich streckte. In Wiesthal konnten sie nicht mehr Särge genug machen: man wickelte die Toten in Stroh und trug sie zur Nachtzeit hinaus.
In Laufach konnte es nicht anders sein als bergauf und talab im ganzen Spessart.
Im August brachen die Kriegsbanden in immer neuen, immer stärkeren Zügen ins Tal. Mit dem Paktieren und Loskaufen war es am Ende. Da war kein Geld und keine sonstige Habe mehr; und das Soldatenvolk wollte auch keinen Pardon mehr geben …
An einem schwülen Nachmittag gellte das Sturmglöcklein durchs Tal. Der Birknerhans zog es im Kirchturm, der allein von der Kirche noch übrig war. Es war ein bös Zeichen, daß der alte Wetterhahn nicht länger mehr standhalten sollte und vom Dach stürzte.
Was dann noch übrig war an Mannsleuten, jeden Alters, das sammelte sich um den streitbaren Herrn Valentinus Emmerich.
Ein ausgestellter Notposten hatte gemeldet, daß von Waldaschaff herüber an Fünfhundert von lutherischem Volk heranzögen. Zum Fliehen war's zu spät. Auf Geheiß des Pfarrherrn waffneten sie sich, so viel ihrer waren. Als der Herr Valentinus sie ermutigte und segnete, blitzten schon die Musketenläufe drüben am Berg auf.
Die Laufacher wußten, daß ihr Beginnen verzweifelt war. Aber sich und die Ihren wehrlos hinzugeben, gedachten sie nicht. Erst schickten sie einen Boten an den fremden Hauptmann und baten um gnädigen Pardon. Der Bote kam nicht wieder. Sie schlugen ihn mit Hohnlachen, bis er den Geist aufgab.
Mit der Wut und Stärke der Verzweiflung trotzten die Laufacher der Übermacht. Nach einer kurzen Weile ungleichen Ringens war ihr Häuflein zusammengeschossen und zusammengestochen.
Die Letzten, voran Herr Valentinus, warfen sich in den Kirchturm und schossen aus der Höhe auf den Feind, der drunten Weiber und Kinder aus ihren Verstecken zerrte und über sie herfiel. Das Wehrufen der Gestochenen und Geschändeten, die ihres Leibes und Lebens Nächste waren, scholl zu denen auf dem Kirchturm hinauf. Sie meinten den Verstand verlieren zu müssen da droben, und reckten die Arme bittend und drohend gen Himmel. Der Pfarrer sprach ein Gebet, die Muskete in der einen, die bis dahin gerettete Monstranz in der andern Hand. Der Birknerhans sah stumm über den Turm hinab – ins Würgen und Morden. Seine Augen wurden feucht; seit lange wieder zum erstenmal.
Eine Rotte stürmte den Turm. Es wurde ein Ringen Mann gegen Mann. Die Schweden schonten keinen. Der Birkner, im Kampf mit einem baumlangen Musketierer, sah, wie als der Letzten einer der brave Herr Valentinus Emmerich gespaltenen Schädels und blutüberströmt zusammensank. Jetzt kam es an ihn. Er und sein Gegner hatten sich gegenseitig die Musketen in Stücke gehauen. Der Riese faßte nach ihm; er wollte ihn über den Turm hinunterstürzen. Sein Widerstand erlahmte. Was galt ihm das Leben? Und doch wehrte sein Leib sich noch immer, trotz der müden Seele und wider sie. Ein zweiter Musketier, ein blutjung Bürschlein, sprang neben seinen Bedränger. Aber statt dem schwedischen Kameraden zu helfen, fiel er ihm plötzlich in den Arm: »Gib Pardon, Kamerad! Ich kenn' den Mann. Der hat mir im Mährischen das Leben geschenkt. Jetzt schenk' ich's ihm!«
Und sie ließen vom Birknerhans. Der Tod wollte ihn nicht. Erschöpft sank er nieder. Die Sinne verließen ihn.
Als er aufwachte, war es Nacht. Helle Brandwolken stiegen vom Dorf herauf und zogen über ihn hin. Die Schweden hatten Feuer gezündet, wo noch zu zünden war. In kleinen, schreienden Gruppen saßen sie drunten und zechten. Vom mitgebrachten Wein, denn die Laufacher Keller hatten sie leer gefunden. Das Wimmern und Ächzen der Verwundeten und Sterbenden drang bisweilen ungut zwischen ihren Lärm.
Der Birkner stieg sacht hinunter. Wie er aus dem Turm trat, saß unweit der Tür ein Haufen Musketiere. Sein Lebensretter und der Große, der ihm den Garaus hatte machen wollen, ließen ihn nicht vorbeischleichen: sie riefen ihn an und er mußte sich zu ihnen setzen. Ihm war's nicht um Zechen und Lachen; aber danach fragten die nicht. Je heißer der Wein in den Kopf stieg, um so mehr wollte einer den anderen überbieten an tollen Schwänken. Den Vogel aber schoß der Große ab. Der erzählte, wie er am vorigen Sonntag, unweit Lohr, bei einem Bauern tief im Strohschober acht Nönnlein aufgetrieben – er und vier andere lustige Brüder. Von Mariabuchen hätten die Jüngferlein ins Würzburgische gewollt. Ei, was hatten sie denen mitgespielt! Bis aufs Blut, und bis in den Tod!
Die Musketiere wanden und bogen sich vor Lachen. Derweil stahl sich der Birkner davon. Er dachte an die Annamarie und hätte sich mögen hinwerfen und die Erde aufwühlen und schreien – so weh war ihm. –
Kaum etliche fünfzig mochten es sein, die tags darauf, nachdem die Schweden abgezogen waren, auf der Trümmerstätte des Dorfes sich wieder fanden. Mit roten Augen und gekrümmten Rücken, scheu und stumm, schlichen sie in den ausgebrannten Gassen aneinander vorbei. Und wenn man ihr verkümmert Gesicht sah – alle waren sie alt, auch die Jüngsten – und ihren wunden Leib, dann wußte man nicht, ob man ihres Lebens sich freuen sollte, oder ob sie nicht besser den Weg der anderen mitgegangen wären.
Deshalb kam die Krankheit, die ihnen der Schwede zurückgelassen hatte, nicht mehr als ein Feind, sondern fast als ein Erlöser. Und sie schwanden einer um den andern im Hauch der Pest vollends dahin.
Nur ein Einziger war da, den der Tod nicht wollte und immer nicht wollte: den Birknerhans. Obwohl ihn der nicht bloß nicht mied, sondern sogar suchte. Er hätte ja der »sterbenden Luft« entfliehen können. Statt dessen war eine unheimliche Lust in ihm, der Seuche ins Auge zu sehen; er kauerte stundenlang bei den Kranken und tröstete die Sterbenden. Mit dem Totengräber, dem einäugigen, mürrischen Heckenchristoph, den sie so nannten, weil man ihn meist betrunken in einer Hecke fand, wenn er einen begraben hatte, schaffte er die Verblichenen hinaus und half sie verscharren. Über der Grube sprach er an Stelle des Herrn Valentinus ein kurz Gebet.
Es dauerte keine zwei Wochen, da waren der Toten viermal soviel als der Lebenden.
Immer kleiner wurde der Kreis. Wenn die paar Überlebenden sich sahen, gingen sie in weitem Bogen voneinander, schauten sich aber gar traurig an, als wollten sie sagen: einer muß ja doch der nächste sein! Und bin ich's nicht, so bist du's. Und dann ich. Oder zwei, drei noch vor mir. Und dann ich! Bis wir all' beieinander sind – droben auf halber Höh', wo die vielen Holzkreuze stehen und sich drängen, auf dem Friedhof vor dem Wald.
Es war schon September. Da gruben der Birkner und der Heckenchristoph den letzten ein, der vor ihnen selber an die Reihe gekommen war. Als sie die Erde übers Grab geworfen hatten, sah der Christoph den Schulmeister aus dem einen Auge seltsamlich an. Dann warf er die Hacke weg, tat einen tiefen Schluck, sah den Hans noch einmal an und murrte etwas in den Bart. Drauf lief er weg, erst langsam, dann schnell. Er wollte der letzte nicht sein. Und ließ Laufach dahinten.
Mit einem trüben Lächeln setzte sich der Birknerhans auf den frischen Grabhügel.
Er hielt eine große Überschau über alle, die da lagen und schliefen. Jeden kannte er. Die Kleinen, die er gelehrt und geklopft hatte. Die Großen, mit denen er vertraut war oder minder – je nachdem sie ihn fremd angesehen oder freundlich. Und Herr Valentinus, dort in der vordersten Reihe. Neben dem Hainhofbauer. Und sein Weib in der Ecke, beim Wacholderbusch. Alle, alle waren sie da. Bis auf eine. Die Annamarie. – Er seufzte tief. Er dachte daran, was der große Schwede erzählt hatte; und seine Faust ballte sich. Aber überstanden hatte sie ja auch. Und hatte ihren Frieden gleich denen, die da schlummerten.
Nur er war übrig. Ein Lebendiger unter lauter Toten.
Es fröstelte ihn, obschon die Sonne hoch und warm über dem stummen Tal stand. Draußen, vor dem Gottesacker, lag eine lachende Wiese: da spielten bunte Schmetterlinge über der Feldblumenwirrnis; und ein mächtiger Apfelbaum, dessen Früchte Freund und Feind vergessen hatten, bog sich unter seiner rotwangigen Last. In seinen Zweigen schlug ein Fink und lockte sein Weibchen, das wohl unfern im Tannicht saß oder in den Schlehensträuchern, bei der Mauer. Ein Stück lachender Welt zwischen der Gräberhalde und dem erstorbenen Dorf.
Und den Lebendigen trieb es plötzlich mit zitternder Gewalt aus dem Bereich des Todes, aus der Kühle der Gräber zum Lebendigen da draußen.
Er sprang auf und trat schnell aus dem Friedhof und legte sich mitten auf die Wiese, unter die volle Sonne. Schmerzlich und doch wohlig zugleich kam es über ihn: das strahlende Sonnenlicht und der tiefe Septemberhimmel, der schmetternde Vogelsang und die Blumenwiese und der blauende Kranz der Waldberge – es war alles nur noch für ihn! Für ihn allein!
Oder doch nicht? Es hatte nebenan im Friedhof geraschelt. Er war zusammengefahren. Aber gleich beruhigte er sich wieder. Das Finkenweibchen war wohl aus den Schlehen aufgeflattert, weil der Fink sie jagte. Richtig, dort schmetterte er auf der äußersten Zweigspitze im Schlehdorn, siegesgewiß, unwiderstehlich.
Da wieder. Dasselbe Geräusch. Noch bestimmter. Wie wenn einer Zweige auseinanderbog. Der Birkner richtete sich halben Leibs auf und starrte durch das Törlein in den Gottesacker. Es war ein Spuk, der ihn neckte. Die große, tote Einsamkeit narrte ihn! Jetzt schien es gar wie ein Schritt zu knirschen – auf steinigter Erde. Und dort – in aufgeregter Spannung reckte er den Kopf – es trat jemand seitwärts durch die Büsche, wo sie die Mauer abgehoben hatten, um den Kirchhof zu dehnen. Es konnte Mann oder Weib sein: ein brauner, weiter Mantel verhüllte die Gestalt und eine Kappe war tief über die Stirn gedrückt. Und nun ging es die Gräberreihe auf und nieder; wie ein Schatten huschte es von Hügel zu Hügel und beugte sich mit suchender Hast über die Kreuze, als ob es einen Namen suchte, wo doch längst namenlos einer neben dem anderen lag.
Der Birkner hatte sich auf seinen Knien aufgerichtet. Sollte er den Fremdling anrufen? Ein unheimlicher Bann schnürte ihm die Kehle zu. Es waren der Toten zu viel um ihn gewesen, als daß er an einen lebenden Menschen glauben konnte. Doch er schalt sich auch schon.
»Heda!« rief er vernehmlich in den Friedhof hinein.
Die Gestalt schrak zusammen. Sie wandte sich. Erst als wollte sie fliehen. Dann kam sie mit zagen Schritten zwischen den Hügeln herunter. Angstvoll um sich blickend. Der Mantel hatte sich vorn geöffnet: ein dunkles Frauenkleid war sichtbar. Und die Kappe glitt seitwärts. Nah und näher, aber immer langsamer schritt sie dem Tor zu.
Der Birkner ließ sie nicht aus den Augen. Aber je näher sie kam, je besser er Gestalt und Züge unterscheiden konnte, um so stierer und entsetzter war der Ausdruck in seinen Blicken.
Jetzt war sie am Tor. Sie sah den Rufer und prallte zurück und taumelte an die Mauer. Auch aus ihren Augen brach das Entsetzen. Sie reckten beide die Hände gegeneinander, als wollten sie einer im andern eine gespenstische Erscheinung von sich abwehren. Sie hatten beide den Mund geöffnet, aber keiner brachte ein Wort von den Lippen.
Schließlich rief er mit zitternder Stimme zu ihr hinüber:
»Im Namen Gottes – Annamarie – bist du's?«
Sie nickte. Aber sprechen konnte sie nicht. Auch trauten sie sich noch nicht, aufeinander zuzugehen. Wie zwei Kranke, die aus schweren Fieberträumen erwachen, die Wirklichkeit nicht wieder erkennen und sie sich erst neu gewinnen müssen, Stück um Stück, so saßen sie sich gegenüber und prüften mit Rede und Antwort einer des andern Leibhaftigkeit. Der Birkner erzählte, wie der Krieg und die Pest das Dorf heimgesucht und alle fortgerafft hatten, bis auf den einen, der da vor ihr war. Und die Annamarie gab Bescheid, wie sie durch eines Knechts List und ein groß Wunder allein den schwedischen Buben entkommen war, so an den Nonnen ihre Teufelslust geübt hatten. Dann habe sie sich mainaufwärts gebettelt, bis ein mitleidiges Bäuerlein, das ihr unweit Gemünden Herberge gab, ihr gesagt, im Spessart seien nur noch Tote zu Haus. Da war sie wie besinnungslos zurückgelaufen. Weiter und weiter und in den Spessart hinein. Bei den Lebendigen hatte sie nicht bleiben dürfen; zu den Toten durfte sie heim. Sie mußte wissen, ob sie alle dahin waren. Und wo der eine ruhte, der ihr im Leben lieb gewesen war.
Das letzte aber sagte sie nicht mit Worten; das verstand der Birkner, als sie sich ins Gras warf und leise vor sich hinweinte. Diesmal ließ er sie nicht liegen, wie damals, in der Septembernacht unter der Eberesche im Heidekraut. Er legte seinen Arm um sie und zog sie zu sich empor.
Und über die beiden Menschen, die da lebendig standen inmitten des Todes, kam die Macht des Daseins wie ein Rausch. Es war, als ginge eine große, stumme Gewalt aus von den Gräbern, ein heiliger, heißer Ruf des Toten nach dem Lebendigen! Davor versank, was Menschenschuld hieß und Menschensünde. Ein ernster, stiller Jubel hob an in ihnen beiden, wie sie sich so umschlungen hielten, hob an und klang durch die stillwebende Septemberluft ringsum im schweigenden Tal und schwoll hinauf, hoch an den Waldhängen, bis wo die Tannen ins Himmelblau ragten – – ein Riesenakkord der Liebe und der Versöhnung von Leben und Tod.
So fanden sich die beiden Letzten von Laufach.