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Die Dohlen trieben ein wild Spiel um den hohen, schlanken Rathausturm. So oft der Wind über die Hohenloher Ebene daherschnob und, nichtachtend die Basteien und festen Mauern der freien Reichsstadt Rothenburg, über die steil und winklig ineinandergedrängten Dächer fuhr, warfen sie sich mit ihrem schrillen »Kjak! Kjak«! seinem Wehen entgegen. In übermütiger Verzückung ließen sie sich eine Weile unter den tief hängenden Wolken schaukeln. Dann schössen sie mit dem gleichen durchdringenden »Kjak! Kjak!« wieder in die Turmritzen – bis zum nächsten Windstoß, an dem sie das Ausschwärmen, Schaukeln und Zurückschnellen von neuem üben konnten …
Wie die Dohlen zu Häupten der Rothenburger, so trieben es die Soldatenhorden in Stadt und Gemarkung an die zwölf Jahre schon: sie flogen herein und hinaus im Tosen und Wirbeln des Kriegssturmes …
Kaum je war der Dohlen Spiel ein belehrsamer Sinnbild als am 8. Oktober des Jahres 1632.
Draußen vor dem Würzburger Tor stand der Schwedenoberst von Uslar und begehrte Einlaß, dieweil er den papistischen Feind unweit der Stadt aus dem Felde geschlagen hatte. Drinnen auf dem Marktplatz, zwischen dem Rathaus und dem »Lamm«, hielt die kaiserliche Besatzung, eine Kompagnie Altringischer Reiter. Da die Stadt selber lutherisch war und der Schwede fast über Nacht heranrückte, hatten sie um einen freien Abzug müssen kapitulieren. Finstere Gesichter mit böszuckenden Blicken hielten bei dem flatternden Fähnlein, und finster ritt auch der Hauptmann, ein böhmischer Edelmann, auf seinem Falben die Front ab. Es war kein guter Haufen, den er beieinander hatte. Fein und faul hatte sich's leben lassen auf Kosten der braven Reichsstadt. Sogar den Sold, der seit Monaten rückständig war, hatte man drüber vergessen können. Jetzt, wo es zu Ende war mit der Herrlichkeit, weckte ein Ärgernis das andere. Und zu allem hin standen in den Gassen rings am Markte die Rothenburger Kopf bei Kopf. Zwar waren sie mäuschenstill, und die Ratsherren auf der breiten Rathaustreppe bewahrten eine demütig-ernste Abschiedshaltung – aber war's nicht doch allerwege Schadenfreude, mit der sie – des dräuenden Wetterhimmels ungeachtet – auf ihre abzugsbereiten »Freß- und Preßreiter« starrten?
Jetzt kam, stoßweis vom Wind getragen, ein Trommelwirbel aus der Ferne.
Die Altringer rückten im Sattel. Ihre Gäule trampelten unruhig. Der Hauptmann schrie ein Befehlswort. Der Trompeter blies einen grellen Laut, und die Säbel legten sich an die Schultern.
Die Rothenburger reckten die Hälse.
Vom weißen Turm her, die Georgengasse herunter, wurde Marschtritt vernehmlich. Das war der Schwede …
In die untere Schmiedgasse schwenkten drei Reiter ein. Sie trugen grünes Eichenlaub an den Hüten und grüne Binden um den Arm, wie bei Breitenfeld, da sie den Tilly geschlagen. Es waren stolze, blonde Gestalten, und der stattlichste von ihnen, mit breiter gestickter Feldbinde über dem Kollett und Samtschlitzen im Ärmel, den Degen im silbernen Gehenk, war der Oberst von Uslar. Hinter den dreien, mit hellem und hellerem Trommelschlag, nahten die Musketiere.
Aus den Fenstern der Ratstrinkstube, im Norden des Platzes, scholl ein erstes schüchternes Vivat. Die Menschenmenge in den anliegenden Gassen nahm es lauter auf. Die Freude über die lutherischen Glaubensfreunde brach das gedrückte Wesen. »Vivat die Schweden! Vivat Gustavus Adolfus! Vivat die Schweden!« brauste es vielhundertstimmig über den Platz und empor zum düstern Himmel.
Der Oberst legte die Hand an den Hut und neigte sich leicht gegen die Ratsherren. Dann ritt er langsam vor und tauschte mit dem Hauptmann der Altringer einen steifen Gruß von Degen zu Degen. Seine Musketiere rückten inzwischen Glied um Glied in den Markt ein.
Front gegen Front standen die Heerhaufen. Das weiße Schwedenbanner mit dem Wappen und dem Ritter Rufus blähte sich gegen das rote, zerfetzte Fähnlein der Kaiserlichen. Wieder lagerte sich ein schwül Schweigen über den Platz. Nur der Sturm fegte über die Dächer und um die Ecken, fuhr an die Hutkrempen und über die Eisenhauben.
Der kaiserliche Hauptmann riß seinen Gaul herum. Es galt der unerquicklichen Zeremonie ein Ende zu machen.
»In Rotten schwenkt!« schnarrte seine Stimme.
Nur die kommandogewohnten Pferde trampelten zur Antwort. Stocksteif blieb die Mehrzahl dar Reiter, und die wenigen, die sich wenden wollten, mußten davon abstehen, weil die vielen nicht wankten und nicht wichen.
»In Rotten schwenkt!« rief es lauter und heiserer.
Diesmal lief ein Murren des Widerspruchs durch die Reihen der Altringer.
Der Hauptmann aus Böhmen griff sich in die spitzenbesetzte Halskrause, an die Stirn, den Hut, als wollte ihm den der Wind fortführen. Die Augen brannten in dem verlebten Gesicht unstet auf, und der Mund öffnete sich zu einem dritten verzweifelten Befehlsschrei. Aber sein Fähnrich kam ihm zuvor. Der stieß plötzlich das verschlissene Fähnlein hoch in die Luft, senkte es ebenso schnell gegen den Feind und schrie mit kecker, vordringlicher Stimme: »Vivat die Schweden! Vivat Gustavus Adolfus!«
Wären alle die etlichen dreißig Türme der ehrsamen Reichsstadt Rothenburg auf einen Schlag niedergebrochen – ihr Fall hätte nicht mehr Staunen und Bestürzung hervorrufen können, als hüben und drüben, bei Freund und Feind und gaffendem Volk in den Mienen sich malten. Und die zweite Überraschung folgte der ersten wie der Donner dem Blitz. Ein breitschultriger, krausbärtiger Reiter mit kupfernem Gesicht, der dem Fähnrich zunächst am Leib war, streckte sich hoch im Bügel und ließ den Säbel mit einem weitschallenden, gotteslästerlichen Fluch auf den meineidigen Vivatrufer niedersausen, daß er wie ein Stück Holz vom Pferd auf den Boden fiel …
Fluch und Hieb brachen den Bann. Im nächsten Augenblick waren die Altringischen Reiter aneinander. Schnaubend und stampfend schoben die Pferde sich in einen Knäuel. Und drüber kreuzten sich und blitzten die Säbel unter dem wütenden Kampfgeschrei: »Hie Kaiser und Papst!« – »Hie Schweden und Gustavus Adolfus!«
Mit bangem Schreien ebbten die Rothenburger in die Gassen zurück. Sie und ihre Ratsherren, die sich wie verscheuchtes Hühnervolk auf der Treppe des Rathauses zusammendrängten, glaubten nicht anders, als ihr Marktplatz solle zum Schlachtfeld werden. Denn standen auch die Schweden noch mit geschulterten Musketen – es flackerte die Kampflust in den Augen, und es klirrte unheilvoll durch die Reihen.
Eine kurze, herrische Gebärde des von Uslar gebot ihnen Ruhe. Stramm hielt er mit seinen Hauptleuten vor der Front seiner Musketiere und ließ die blauen Augen gelassen über das aufrührerische Getümmel schweifen. Er suchte den Hauptmann der Altringer. Hilflos umkreiste der auf seinem Falben den Knäuel der Reiter. Seine Stimme blieb ohne Macht. Sollte er sich selber in den Kampf werfen? Damit konnte er die Wut der Streitenden nur steigern, die kleine Schar seiner Getreuen nicht retten. Sollte er – den Feind um Vermittlung bitten? Sein Blick traf sich mit dem des schwedischen Obersten. Grimm und Scham machten ihn noch unschlüssiger. Jetzt ging im Gewühl der Seinen das erste Handrohr los: dem Wachtmeister, der den Fähnrich aus dem Sattel gehauen hatte, wurde das Pferd unter dem Leib weggeschossen. Der Hauptmann riß sich zusammen, sprengte an den von Uslar heran und stammelte ein paar Worte.
Der Oberst nickte kurz. Er ließ die Trommel rühren. Hell und scharf fuhr der Wirbel über den Platz.
Die kämpfenden Altringer stutzten.
Scharf und hell wie der Trommelwirbel fuhr die Stimme des Schweden ins Atemholen der verkeilten Reiter: »Wer mit den Schweden ist – hierher, schwenkt! Wer des Kaisers ist, zieht – unter Schutz und Ehr' des Königs!« …
War es der schneidige Ruf des von Uslar, der sich aufs Befehlen besser verstand als der Hauptmann aus Böhmen, oder war es der dämpfende Guß aus Himmelshöhen, der fast gleichzeitig aus einer vorübersegelnden schweren Wolke auf die erhitzten Streiter niedertroff – sie ließen, wenn auch knirschend, voneinander. Ohne Besinnen und Wortverlieren wies der Hauptmann mit seinem Degen nach der oberen Schmiedgasse. Dann spornte er den Falben und sprengte voraus. Die wenigen, die es noch mit ihm hielten, verstanden den Wink und jagten hinter ihm drein, die Gasse hinunter. Die Meuterer schlugen sich zu den Schweden, denen der Rat mit dankbaren Bücklingen Willkomm und Ehrentrunk bot …
*
Der letzte Reiter, der hinter dem Hauptmann drein – aber im Schritt und nicht im Trab – den Rothenburger Marktplatz verließ, war der Wachtmeister Hans Seipolt. Der gleiche, der den Fähnrich in die Pfanne gehauen hatte und dem sie dafür das Pferd unter dem Leib niederknallten. Der Braune, auf dem er saß, gehörte dem jungen Gesellen, der neben ihm ging. Unbekümmert um das schaulustige Volk, das von allen Seiten herandrängte, um das Willkommspektakel von Rat und Schweden von nahem zu sehen, unbekümmert um das Aufkreischen der Frauen und die Verwünschungen der Männer, bahnten sich die beiden ihren Weg. Breit und patzig, wie ein rechter Eisenfresser und Bärenstecher, saß der Ältere im Sattel. Von einer zackigen Schramme, hart über der rechten, buschigen Braue, tropfte ihm das Blut in den angegrauten Bart. Die jähzornig glimmenden Augen streiften mit herausfordernder Geringschätzung das Bürgerpack, das sich doch den langen Besuch der Altringer an die 27 000 Taler hatte kosten lassen. Sein jugendlicher Begleiter – ein schlanker Bursche mit Backen wie Milch und Blut – sah mit Schelmenblicken um sich und pfiff leis, aber vernehmlich genug, den »Pappenheimer Marsch«, als könnten die Rothenburger just jetzt ein erziehlicher Lied nicht hören.
Erst als sie um die Ecke waren und der Markt hinter ihnen lag, gab Hans Seipolt dem Jungen einen Wink, sich hinter ihm in den Sattel zu schwingen. Kaum war's geschehen, so ging es im Hui die holprige Schmiedgasse hinunter – den Kameraden nach, die schon, den Federbusch des Hauptmanns an der Spitze, durchs Kobolzeller Tor verschwanden. Ohne ein Wort zu tauschen, sprengten sie zwischen den hochgiebligen Häuserreihen hin, während der Regen, munterer als je, vom Himmel schoß. Dann mit Poltern und dumpfem Hallen unter dem Torbogen durch, am Wachhaus vorbei, hinaus auf die talwärts sich senkende Straße.
So hitzig sie ritten – als sie bei der Doppelbrücke waren, die in zwei mächtigen, übereinandergebauten Rundbogenläufen über den Tauberfluß sich spannt, sahen sie jenseits den Hauptmann mit seinem Häuflein schon wieder bergan reiten, der Hohenloher Ebene zu. Sie hetzten den Braunen über die Brücke, aber dahinter stutzte er. Seipolt trieb ihm die Sporen ein. Es half nichts: er bäumte sich bloß und stand wie ein Stock; er zitterte und keuchte unter der Doppellast und wieherte rechtshin, wo aus dichten Erlenbüschen die Herrenmühle vortrat.
»Er will ins Quartier,« lachte Uz Lebrecht, der Junge, und deutete hin zur Mühle, wo sie im frühen Sommer drei Wochen sich gütlich getan hatten.
»Werd' ihm Quartier geben!« knirschte der Wachtmeister und setzte dem Gaul von neuem mit Zaum und Stechsporn zu. Als es nichts fruchtete, sprang der Junge ab. Er griff das Pferd am Zügel, streichelte es, schwatzte ihm in die Ohren. Doch kaum hatte er es ein paar Schritte mit sich gelockt, so sah er Hansen Seipolt im Sattel wanken und konnte ihn nur noch gerade im Rücken stützen.
»Was gibt's, Wachtmeister?«
»Bloß der rote Saft – der verfluchte –« Mit dem Ärmel versuchte Seipolt sich das Blut aus den Augen zu wischen. Aber der erhobene Arm sank herunter.
»Ihr blutet unter der Achsel!« rief der Junge bestürzt. »Ihr seid gestochen!«
»Daß dich – Gottsdonner – ich will …« Der schwere Leib taumelte seitwärts.
So gut es ging, fing ihn Uz auf und ließ ihn, alle Kraft aufbietend, ins Gras gleiten. Er warf einen Blick in das erblaßte Gesicht des Bewußtlosen am Boden; einen zweiten rückwärts nach der Stadt, von der der Wind immer neuen Vivatlärm heruntertrug und den dritten straßaufwärts, wo die Altringer eben die Höhe erreichten und landein davonstoben. Guter Rat war teuer und ein schneller Entschluß vonnöten. Der Braune, seiner Last nun ganz ledig, trabte vergnüglich der Herrenmühle zu. Flink entschieden, lief Uz in langen Sätzen dem Pferde nach, daß die goldblonden Haare um Gesicht und Eisenhaube flatterten. »Der wird wohl doch recht behalten!« murmelte er, und trotz der üblen Lage konnte der junge, flaumbärtige Mund des Lächelns sich nicht erwehren.
Der Herrenmüller war mit seinen Knechten beim Kornschroten. Er war nicht gerade froh erschrocken, als ihm der Uz mit dem Anliegen ins Haus fiel, ihn und den Wachtmeister, und sei es auch nur für eine Nacht, zu beherbergen. Er kannte die beiden vom Sommer her – wenn auch nicht als die schlechtesten, so auch als die besten nicht. Und die Schweden, das wußte er, würden ihn auch nicht lang ungerupft lassen … Gleichwohl hatte er ein Einsehen, und sie schafften den Hansen, der noch immer ohne Besinnung lag, in die Mühle und unters Dach in eine muffige Kammer. Bei der Herrenmüllerin hatte der Uz ob seinem Frohsinn von früherher noch einen Stein im Brett; sie gab ihm, was er zum Verband nötig hatte. Wie er zum andernmal in die Kammer trat, saß der Wachtmeister aufrecht auf dem Schragen, auf den sie ihn gebettet hatten, und sah sich um, wie einer, der sich nicht zurechtzufinden weiß. Er ließ sich berichten, was mit ihm geschehen war. Aus Zorn über seine Schwäche wollte er des Henkers Großmutter ein Bein abschwören.
»Gleich sitzen wir auf,« herrschte er, »oder ich will mein Lebtag einen Weiberrock tragen!«
»Müßt' Euch fürtrefflich anstehen!« meinte der Uz. »Laßt Euch nur gleich das Wams ausziehen!«
»Milchbart – grindiger!« Der Seipolt schlug nach ihm, aber ließ sich's wenigstens gefallen, daß der Junge die Wunde wusch und ein Tüchlein darüber band. Länger wollte er sich nicht gedulden. Ob man warten solle, bis der Schwede einen aufhebe wie einen faulen Sack? Zeit sei genug verschändet und der Hauptmann halbwegs Aschaffenburg, ehe man ihn einhole … Sie erhandelten um teures Geld vom Herrenmüller einen klapprigen zweiten Gaul, so daß sie beide wieder beritten waren. So schnell es die Pferde vertrugen, machten sie sich davon und gewannen die Steige.
Der Regen hatte aufgehört, aber der Himmel blieb trüb, und es war stockdunkel, noch ehe sie die Höhe ganz erreichten. Seitab starrte ein Tannenholz. Wie zufällig lenkte der Wachtmeister dorthin und brummte was vom »Rasthalten bis Sonnenaufgang« in den Bart. Uz wunderte sich weiter nicht, daß der Alte, wie er ihn bei sich zu nennen pflegte, wetterwendischer war als sonst, und sprach kein Wort dawider. Der Blutverlust mochte ihn doch schwächer gemacht haben, als er wahrhaben wollte … Sie zogen die Pferde, so tief es ging, ins Gehölz. Für sich suchten sie auf der Nadelstreu den trockensten Fleck …
Der Junge brauchte sich gerade nur auszustrecken, und schon war er, übermüde von den Fährnissen des Tages, eingeschlafen.
Anders Hans Seipolt. So dumpf ihm der Schädel war und so unleidlich es in der Wunde unter dem Arm stach und zog, er setzte sich bald wieder auf und stierte in die sinkende Nacht. Den Flußgrund drunten deckte der fallende Nebel zu, und über den jenseitigen Höhen schwamm er erst recht mit dem fahlen Himmel ineinander. Nur ein verirrter Lärmruf wies mitunter die Richtung, wo die Stadt lag, in der jetzt die Schweden bei vollen Bechern und Schüsseln bankettierten. Er neidete ihnen ihr Glück nicht. Daß er am Morgen noch in den Daunen lag und am Abend unter einem Busch – was scherte es ihn? Es war das erstemal nicht. Aber die Unlust, die in ihm gärte, seit sie Rothenburg hinter sich hatten, wuchs im Dunkeln und trieb Gedanken in seinem Hirn wie giftige Blasen. Das klägliche Halten auf dem Markt, der Schurkenstreich des Fähnrichs, der Aufruhr und das jämmerliche Gebaren des Hauptmanns ließen ihn ingrimmig die Faust ballen. Aus der widerwärtigen Gegenwart kroch sein Erinnern rückwärts ins Vergangene. War der Nebel dran schuld, der ihm den Atem versetzte, war es, daß die Wunde ein ungewohnt Feuer in sein Geblüt brachte: sein ganzes Leben leierte an ihm vorbei, als würde es bildweis, erst langsam, dann immer schneller von einer knarrenden Walze abgewickelt. Ein vaterloser Bub, im Thüringischen von einer Magd geboren, lief er im zehnten Jahr mit durchziehenden Soldatenhorden davon. Am Rhein und an der Theiß, in Holland, in der Schweiz, in Italien, in Deutschland und Frankreich kreuz und quer sah er sich im Troß und als Soldat, als räuberischen Heckenreiter im eigenen Sold, als stolzen Korporal und Wachtmeister bei des Kaisers Fahne. Wild und wilder, über Stock und Stein ging die unstete Jagd: durch brennende Dörfer und heulende Menschen, durch Spielgeschrei und Saufgelag, aus eines Mädels Arm ins Händeln und Kriegen, in Blut und Tod. So kühl die Nacht war – die zottigen Haarsträhnen klebten an Hansen Seipolts heißer, niedriger Stirn. Er deckte die Hand vor die Augen, aber die Hetze der Bilder ließ ihn nicht. Gewissensbisse waren es nicht, die ihn bedrängten. Nur der Ekel würgte ihm den Hals und ein dumpfes, unfaßbares Verlangen nach Rast in der Unrast, nach stillem Veratmen, nach freundlichem Verweilen … Er mußte den Uz wecken. Der sollte ihm vorschwatzen. Der sollte ihm einen Schnack erzählen und mit seinem Lachen Ekel und Gespenster bannen … Er drehte sich seitwärts zu dem Schläfer und stemmte sich an ihn heran, um ihn wachzuschütteln. Als er ihm in das junge, schlummernde Antlitz sah, zog er die Hand wieder sacht zurück: die langen Haare, der schweren Eisenhaube ledig, fielen üppig über Wangen und Stirn. Ein Lächeln wie eines Kindes spielte um den halboffenen Mund. Der Friede, den er, Hans Seipolt, vergebens suchte, lag auf den Zügen des Jungen. Ganz so hatte er ihn gefunden – zwölf, fünfzehn Jahre mochten's her sein, in einem ausgebrannten Gehöft an der Donau. Ein schlafender Knabe, lag er bei Trümmern und Toten – wie durch einen Zufall lebendig und heil. Das Wachtfeuer, das sie angezündet hatten, leckte an dem Buben, daß er sich rührte. Ein betrunkener Dragoner hatte ihm mit einem Stich den Rest geben wollen, und er, Hans Seipolt, war – aus einer Laune vielleicht – dazwischen gefahren. Am Tag darauf hatten sie ihn mitgenommen, ihn unter den Troß gesteckt; er wurde des Wachtmeisters Knechtlein und späterer Leibgenoß …
Hans Seipolt war nicht der Mann der Zärtlichkeiten. Aber es tat ihm gut, dem schlafenden Uz eine Weile ins Gesicht zu schauen. Und er brachte es nicht über sich, ihn zu wecken. So zog er sich denn mit Brummen und Ächzen von ihm zurück und legte sich wieder auf den Rücken. Auf einmal war er doch schläfrig geworden. Eine Zeitlang hörte man nur die Tropfen, die da und dort im Tannenholz über die Zweige zum Boden rannen. Hernach gesellte sich ein Schnarchen dazu, als galt' es, die Bäume zu sägen – kurz und klein …
Der Schlaf meinte es wohl mit Hansen Seipolt. Er erlöste ihn von dem wüsten Erinnerungsspuk des Abends. Er tat aber noch ein übriges: gegen Morgen schickte er ihm ein gar ungewohnt Geschenk – einen Traum, wahr und echt, wie die Wirklichkeit … Er war wieder in Rothenburg und wieder auf dem Marktplatz. Aber es war hoher Sommer, und kein kriegerisch, sondern ein lustig Gewühl ringsum. Hell und laut gingen die Schalmeien und die Zinken und die Fiedeln: Schäfertag war, am Dienstag nach Bartholomä, wo die Schäfer aus Stadt und Amt zu St. Wolfgang sich sammelten, nach der Predigt ins Güldene Lamm zogen, auf dem Markt eine Gans köpften und hernach um den Herterichbrunnen tanzten – alles nach altem Brauch. Der Wachtmeister stand schwerfällig unter den Zuschauern. Die Kameraden schwenkten mit den buntbebänderten Schäfern um die Wette blitzblanke Bauerndirnen und gezierte Stadtfräulein; er war sich zu würdig und alt für derlei Possen, und den Uz hatte der Hauptmann mit einer Botschaft über Land geschickt – das machte ihm den Festwein vollends sauer. Ihm zunächst im Gedränge stand ein Bauer – wenigstens dem Wams nach –, dürr wie ein Zaunstecken und mit einem Maulwerk, das nicht stillstand. Jedem, der es hören wollte oder nicht, erzählte er, er sei der Bauer Michel Wern mit seiner Tochter, der Ev', sei er vom Frankenwald auf die Barthelmesse gekommen, und der Dirn zulieb und um den berühmten Schäfertanz zu sehen, sei er noch in der Stadt geblieben. Im übrigen hab' er einen Hof geerbt, von einem Mutterbruder, im tiefsten Odenwald, und in der andern Woche wollt' er mit Sack und Pack hinziehen – er, der Hofbauer Michel Wern. Dem Hansen Seipolt war das Gered' schon lang zu dumm, zumal sich der zudringliche Maulaufreißer an ihn, als eine Respektsperson, besonders zu wenden schien. Da – als er sich eben anschickte, mit den breiten Schultern sich rückwärts und aus dem Gedräng zu drücken, trat eine blutjunge Dirn mit schwarzen Zöpfen aus dem Tanz und zu dem Bauern her. Der zupfte denn auch gleich den Hansen keck am Ärmel.
»Halten zu Gnaden, Herr Leutnant! Meine Tochter, die Ev'! Verlohnt sich, daß Ihr sie anseht – dächt' ich! Halten zu Gnaden, Euer Gnaden!«
Hans Seipolt hatte nicht übel Lust, dem zutätigen Bauern mit der Faust unter die Nase zu fahren. Schon hob er bedrohlich den Arm, aber der Bauer hatte das widerstrebende Mädel zwischen sich und ihn geschoben. Ihre Backen glühten, röter noch als vom Tanz, und die Augen, die noch eben arglos-glücklich schimmerten, blickten scheu und ängstlich an ihm hinauf – gar nicht, als war' ihr die erzwungene Bekanntschaft nach dem Sinn. Die grinsenden Gesichter derer, die herumstanden, brachten sie vollends aus dem Gewicht.
»Könnt's schon auf einen Tanz mit ihr wagen!« ermunterte der neugebackene Hofbauer mit einem listigen Kichern.
»Wenn's Euch nicht lüstet, Herr Gevatter!« flötete eine hohe Stimme dazwischen. »Ich nehm' Euch den Tanz ab!« Ein windiges Stadtbürschlein im Stutzerhabit war dazugetreten und legte den Arm um des Mädels Hüfte.
Das war just die Weise, die dem Hansen ins Blut ging. Den Arm des tanzwilligen Bürschleins beiseiteschlagen und den seinen, wie zum Schutz, der Ev' um die Schulter legen, war eins. Aber ein Zurück gab es nun auch nicht mehr – wenn er sich nicht zum Spott machen wollte. So hart es ihn ankam – er fluchte in sich hinein, schimpfte sich einen alten Esel mit seinen Fünfundvierzig und war froh, daß der Uz über Land war – er zog die Dirn an sich und war, ehe er sich's versah, mitten drin im Tanz. Wie ein zittrig Vöglein lag das erschrockene Mädel an seiner Brust und wagte nicht auf- noch umzublicken. Aber Hansen Seipolt wurde es eigen zumute – je länger er den feinen jungen Leib festhielt und um sich schwang. Sein Ingrimm zerrann mit seiner Würde und seinen Jahren. Es packte ihn – jung und trunken wie Mairausch – daß ihm's die Fiedeln und Zinken und Flöten nicht genug taten! Daß er die Dirn nicht von sich ließ, sondern nur immer fester an sich drückte und tanzte – tanzte – immerfort tanzte – bis er – aufwachte! –
Ein laut, fröhlich Lachen begrüßte sein Aufwachen. Es kam vom Uz.
»Ihr müßt nicht schlecht geträumt haben, Wachtmeister! Sehen hättet Ihr Euch sollen! Seit einer guten Weile sitzt Ihr, wiegt Euch in den Hüften und dudelt dazu, als wär' Kirchweih und Ihr hättet's mit dem Veitstanz!«
Wahrhaftig – Hans Seipolt sah es erst jetzt, daß er sitzend aufgewacht war. Gegen seine Art wußte er sich nicht zu fassen vor Verwundern und rieb sich die Augen einmal übers andere. Ein Traum sollte das gewesen sein? Und war doch vor ihm – jetzt wie zuvor – zum Greifen lebendig! Er warf einen argwöhnischen Blick auf den Jungen, auf die Nadelstreu, auf der er saß, durch die Tannen durch, hinter denen der lichte Tag stand. Eher war, was er mit leiblichen Augen sah, ein Traum, und das andere war und blieb das Wirkliche! Jung fühlte er sich noch immer und frisch und wie im Rausch. Und der Uz traute seinen Augen nicht: der Alte schmunzelte und war verwandelt wie noch nie …
Über den Bergen des Frankenwaldes, fern drüben, rang sich die Sonne durch. Der Nebel war zerstoben und wich zurück, weit und weiter. Jenseits des Taubergrunds, der noch fast sommergrün mit Bäumen und Büschen und lustigen Wiesen unter ihnen lag und mit dem silbernen Flüßlein gleich einem Geschmeide prunkte, stieg hell und heller die Stadt empor – seit alters von kundigen Weltfahrern dem heiligen Jerusalem verglichen. Eine steile, vielzackige Märchenburg ragte sie mit dem stolzen Getürm himmelwärts. Während unser Seipolt mißtrauisch hinüber blinzelte und der Uz über ihn den Kopf schüttelte, hob die Kirche von Sankt Jakob an zu läuten, tief und feierlich. Das Glöcklein von Sankt Wolfgang, draußen vor dem Klingentor, gab schrille, heitere Antwort, und, bedächtig die Mitte haltend, mengte sich das Geläut von Sankt Johannes unter die beiden. Die Rothenburger läuteten die Schwedenherrschaft ein. Dem Wachtmeister drang es wie Klingen und Säuseln des Friedens zu Ohren. Er spann an seinem Traum weiter, dem seltenen, fast einzigen, der drum eine so zauberische Gewalt über ihn hatte. Vom Tanz zog er mit dem Bauern Wern und der schweigsamen Ev' ins Lamm und traktierte die zwei mit Speise und Trank. Der Bauer lud ihn zum Spiel, worauf der Schelm es seit Anbeginn abgesehen, und hernach, als der Beutel leer war, damit er sich Widerglück hole, auf seinen Hof im Odenwald – hinter Miltenberg und Amorbach – auf den Namen konnte der Hans sich nicht besinnen …
»Werd' ihn schon auskundschaften, im Odenwald – und Widerglück holen!« brummte er vor sich hin, als wär' er mutterseelenallein mit sich.
»Was meint Ihr?« fragte neugierig der Uz.
»Daß es Zeit ist zum Reiten – potz schlapperment!« Der Wachtmeister sprang auf wie der Jüngste und wandte sich nach den Pferden, die längst ungeduldig scharrten und schnaubten.
»Laßt mich erst Eure Wunde besehen und neu Zeug auflegen!« mahnte der Junge. »Wir treffen eh' den Hauptmann nicht mehr in Aschaffenburg!«
»Was Wunde und Aschaffenburg?« gab Hans Seipolt patzig zurück. »Im Odenwald – hinter Miltenberg und Amorbach – ist ein fett Quartier. Dort leg' ich mich ein. Willst mit, so komm!«
Schon saß er dem Braunen im Sattel und trieb ihn über einen Stoppelacker der Straße zu. Der Uz hatte Mühe, mit seinem Klepper hinterdrein zu kommen und lachte und schimpfte in einem Atem in sich hinein. Was für ein Teufel, zum Henker, war in den Alten gefahren? Manchen hatte er bei dem Hansen schon ein- und wieder ausfahren sehen. Aber diesmal mußte es ein gar besonderer sein! …
*
Viele heimliche Gründe, von Waldbergen umschlossen und von flinken Bächen durchrauscht, liegen im Odenwald zwischen dem Main und dem Mümling, zwischen Miltenberg und Michelstadt. In einem der verstecktesten lag der »Hof«, der dem Michel Wern aus Franken als Erbstück zugefallen war: ein kleines Wohnhaus und rückwärts zwei Stadel, ein paar Morgen Wiesen und dürftiges Ackerland machten die ganze Herrlichkeit. Dermalen, wo der große Krieg mehr und mehr auch im südlichen Deutschland ganze Städte und Dörfer ins Elend brachte und die schwarze Pest, was die Kriegshaufen verschonten, in Wüsteneien und Einöden verwandelte – war der abgelegene Talwinkel gleichwohl ein schätzbar Eigentum und keine verächtliche Zuflucht. Noch hatte kaum eine Streifschar mit ihrem Sengen und Brennen das tiefere Gebirge heimgesucht, und ein rechter Bauer, der sein Gewerk verstand, konnte auch auf dem bescheidenen Lamperthof – so hieß er nach dem früheren Besitzer – sein Auskommen finden, zumal wenn er, wie der Michel Wern, nur sein Weib und eine einzige Tochter mit durchzubringen hatte. Aber der Lampertshofbauer, wie er sich großspurig nannte, war weder ein rechter Bauer, noch verstand er etwas von jeglichem Arbeiten. Er war ein Projektenmacher, wie sie zu allen Zeiten nicht alle werden, und gehörte zu den Leuten, die, weil sie sich für gescheiter als ihre sämtlichen Mitmenschen halten, gemeinhin noch ein gut Maß dümmer sind. Der kahle Kopf mit dem einen, hochstehenden roten Haarbüschel und den abstehenden Ohren summte nur so von Plänen, und wenn man den Mund mit den schiefen, langen Zähnen plappern hörte – und er plapperte immer – so hatte keiner so viel zu tun und auszurichten wie der Bauer Wem. In Wahrheit fing er den Wind in Säcken und kam überall ein Stündlein zu früh und zwei zu spät. Als Wagenmacher, der er von Haus aus war, dann als Barbierer und Badstubenhalter, als Kuhhirt, Schäfer und Hausierer hatte er's schon versucht und trieb's als Bauer nicht besser. Mit zwei Knechten fing er dort an, wo der verflossene Mutterbruder sein Lebtag allein ausgekommen war. Nach dem Rezept, daß Reputation den Kredit erhöht, ließ er rundum in den Dörfern die Gulden springen und saß nach vier Wochen in den Schulden bis zum Hals. Der eine Knecht lief ohne »B'hüt Gott« davon, der andere ließ zum Abschied ein bös' Fieber zurück, das des Bauern Weib, schon eh' die Gesundeste nicht, in drei Tagen hinraffte. Jetzt hauste er allein mit der jungen Dirn, der Ev', auf dem Lampertshof, ließ die Landwirtschaft vollends liegen und schwatzte tagaus tagein davon, er wolle sich wieder auf die Handelschaft legen oder das Balbieren in Wiesental treiben oder das Wagenbauen in Bullau. Derweil trieb er bloß das Windmachen wie immer, und lebte jämmerlich von der Hand in den Mund …
Es war ein Herbsttag, klar und sonnig, als wäre wieder Spätsommer, an dem Hans Seipolt und Uz Lebrecht durch den Buchenwald ritten – auf der Suche nach dem Lampertshof. Einen um den anderen Tag schon forschten sie umsonst nach ihrem Bauern: immer wieder tat sich ein neu Tal auf, dehnten sich neue Wälder und blauten hinter der steilen Höhe, die sie, den Gaul am Zaum, mühselig heraufgekeucht waren, neue Waldberge. Wenn ein Mensch sie von fernher kommen sah, floh er davon, eh sie ihn erreichten, und fanden sie sich glücklich in eins der spärlichen, menschenarmen Dörflein, so versteckte sich, was laufen konnte. Wurden sie gleichwohl eines Bäuerleins habhaft oder eines alten Weibes, das die Beine nicht trugen, – den Michel Wern wollte nie keiner kennen. Endlich hatte ein Förster sie auf die rechte Spur gewiesen; die Beschreibung des Wachtmeisters paßte, wenn auf einen, so auf den neuen Lampertshofbauer. Unter dem Namen war er allein, auch in der weiteren Nachbarschaft, bekannt und auch von dem Forstmann mit einem vieldeutigen Lächeln genannt. So schloß sich denn richtig gegen Mittag der Holzweg, auf dem sie trabten, freundlich auf: Wiesen schimmerten her, und als sie aus dem Buchendämmer in die Lichtung kamen, lag ein schmaler, lieblicher Talwinkel vor ihnen; ein Bergbach plätscherte ihnen entgegen, und dichte Waldwände liefen ineinander, als wäre die Welt zu Ende. Im hintersten Winkel leuchtete rötliches Gemäuer, und über Strohdächern ragte ein Schornstein. Freilich – es wirbelte kein Rauch in die stille Luft, und öd und ärmlich stand das Gehöft gegen die Tannen- und Laubholzberge. Aber dem Wachtmeister, der sich die lange Fahrt zu keiner Stunde hatte verdrießen lassen, deuchten Tal und Hof eitel gelobtes Land. Er nickte zufrieden mit dem Kopf, sah prüfenden Blickes an sich hinunter, strich sich den struppigen Bart und fragte, ob die Schramme über seinem rechten Auge leidlich verheilt sei.
Der Uz, der seit jenem Morgen hinter Rothenburg, wo der Alte im Traum getanzt hatte, aus dem Verwundern nicht herauskam, bejahte die Frage.
»Man meint, Ihr hättet's nicht anders vor, als auf die Freite zu gehen!« setzte er dazu, sein Lachen verbeißend.
Hans Seipolt hörte drüber weg und hielt stramm auf den Hof zu.
Mausstill blieb es in Haus und Stadel, so nah sie jetzt waren. Verwildert lag linkshin ein ärmlicher Garten, mit ein paar Obstbäumen und Kohlstrünken. Eine Katze saß in einem offenen Fenster bei der Tür und schnurrte. Sonst regte und rührte sich nichts …
Doch – da – hinter der Katze lugte ein vergrämtes Gesichtchen voll Schrecken hervor. Die starren, schwarzen Augen gehörten der Ev'. Sie glaubte nicht anders, als die fremden Reiter brächten nun vollends das letzte Elend, Raub und Morden und Brandschatzung auf den Hof, und bebte an allen Gliedern.
Der Ältere von beiden war schon abgesessen. Er trat zum Fenster, grüßte, so höflich er's vermochte, und streckte die mächtige Hand hinein in die Küche. »Werdet mich, hoff' ich, noch kennen, Jungfer Ev'? Den Wachtmeister Seipolt vom Schäfertag in Rothenburg!«
Die Ev' fiel aus einem Schreck in den andern. Sie erkannte den rauhkehligen Sprecher jetzt wohl, aber traulicher war ihr drum nicht zumute. Zaudernd legte sie zwei Finger in die dargebotene Rechte des Wachtmeisters. Scheu und wie hilfesuchend sah sie dabei an ihm vorbei und traf auf zwei lustige Augen und einen Mund, der sie ermunternd anlachte. Der Uz war hinter seinen Alten getreten und zwinkerte, als wolle er für alles, was geschehen könne, die Bürgschaft übernehmen.
»Und der Vater?« fragte Seipolt weiter. »Was gibt's?« wandte er sieh fast gleichzeitig nach dem Uz um. »Halt keine Maulaffen feil!« herrschte er ungemütlich, »und bring die Gäule unter!«
Michel Werns Ohren hörten und sahen auf Meilenweite, was ihn anging und was nicht. Auch die Reiter hatte er aus einer Dachluke erspäht – schon als sie aus dem Wald auftauchten, und jetzt stand er, wie gerufen, katzbuckelnd und kratzfußmachend unter der Tür.
»Ei, der Herr Leutnant!« kicherte er halb dreist, halb verlegen und rieb den roten Haarbusch über der Glatze. »Was eine Ehr'! Was eine Überraschung! Was ein Vergnügen!« Er näherte sich und tänzelte um den Wachtmeister herum. »Kommen leider und Gott sei's geklagt, zu einer schlechten Zeit, Euer Gnaden! Haben uns die Herren Kurbayern die andere Woch' Kisten und Kasten ausgehoben, Küche und Keller rein ausgefressen!« Seufzend verdrehte er zu seinen Lügen die Augen. »Müßt fürlieb nehmen! Mit dem guten Willen! So komm doch heraus, Ev'! Mach den Herren deinen Knicks! Was eine Ehr'! Was eine Überraschung! Was ein Vergnügen!«
Der Uz, der, wie geheißen, zu den Pferden gegangen war, schnitt eine Grimasse. So also sah das »fette Quartier« aus, das dem Alten Tag und Nacht keine Ruh' gelassen hatte. Ein ausgenommen Nest und ein Windhund von einem Quartierwirt! Und der Hans, der sonst sich vor Fluchen und Losfahren nicht halten konnte, wenn ihm was wider den Strich ging – keine Miene verzog er zu des Bauern scharrfüßigem Geschwänzel und Geschwätz, als hingen die Würste und Schinken an allen Bäumen und der Wein schösse nur so aus den Dachtraufen. Freilich – die Dirn hinter dem Fenster – die war nicht gering zu achten! Und von der ließ denn auch der Alte kein Auge! Er, der sonst die Nase rümpfte, wenn ein Weiberrock auch nur ums Eck flatterte! Es war über den Spaß …
Es sollte noch ganz anders über den Spaß gehen! Hans Seipolt, der sonst den Daumen gut auf seine gespickte Geldkatze hielt, ließ die Taler und Gulden ohne Besinnen heraus und in die Hand des Bauern spazieren. Statt daß sie auf dem Lampertshof sich auf Hauswirtskosten gütlich taten, geschah's auf die eigenen, und der Michel Wern war bis zum Abend auf den Beinen, dorfauf, dorfab in der Nachbarschaft, und schleppte bei, was um Geld feil war. Dann stolzierte er einher, als hätten's die Gäste aus seiner Tasche … Der Wachtmeister war unterdes nicht müßig. Bald stand er sinnierend in der Stube und den Kammern, bald bei den leeren Stadeln und vor dem verwilderten Gärtlein, bald umschritt er, wie ein Kundiger, die Wiesen und Äcker. Dazwischen trat er immer wieder in die Küche oder von außen ans Küchenfenster oder an den Brunnen – überallhin, wo er einen Zipfel von der Ev' sah, die ihm doch ums Leben gern ausgewichen wär'. Ein schwerer, großwichtiger Gedanke, wie er nie keinen gewälzt, schaffte in seinem Hirn und hielt ihn gefangen ganz und gar, so daß ein Blinder es hätte sehen müssen. Blind aber war er unterweilen selber. Er sah nicht, wie ein herzlich Spiel mit Blicken und halben Worten zwischen der verfolgten Dirn und dem Uz sich an- und fortspann. Wie schon beim ersten Willkomm floh sie vor der Zutätigkeit des Alten je länger je mehr in die frischen, treuen Augen des Jungen, und der gab mit Freuden Zuspruch und Zuflucht.
Noch am ersten Abend gab es ein fein Bratenessen auf dem Hof. Die Ev' und auch der Uz saßen still und einsilbig mit am Tisch in der Wohnstube. Hans Seipolt trank sich den Kopf heiß, und der Bauer Wern führte das große Wort. Noch vor dem Essen hatte er dem Wachtmeister, obwohl der kaum mehr von seinem Achselstich eine Beschwerde hatte, ein nürnbergisch Pflaster, das er weiß Gott wo aufgetrieben, auf die Wunde gelegt, und prunkte jetzt allfort mit seiner Baderweisheit. Leichthin kam er von den äußeren auf die Herzwunden, faselierte von allerhand unfehlbaren Liebestränklein und Besprechungen. Immer listiger und lustiger zwinkerte er dem Hansen über den Tisch: »Willst du ein' Tag fröhlich sein? Geh ins Bad! – Willst du ein' Wochen fröhlich sein? Laß zur Ader! – Willst du ein' Monat fröhlich sein? Schlacht' ein Schwein! – Willst du ein Jahr fröhlich sein? Nimm ein jung Weib!«
Kaum war er mit dem anzüglichen Sprüchlein zu End, so war die Ev' aus der Stube gehuscht.
Der Wachtmeister zog eine böse Falte in die Stirn, als er's gewahr wurde.
»Ist ein dumm, schüchtern Ding!« begütigte der Bauer. »Werd' sie wieder herholen!« Er hüpfte schon davon.
»Mag müd sein. Laß sie zufrieden!« wehrte Hans und winkte ihn zurück. Er nahm einen Schluck für zwei und wischte sich danach überlegsam den Bart.
Der Michel Wern brachte einen Würfelbecher und Schelmenbeine zum Vorschein, und das Spiel ging in der Runde. Der Bauer gewann. Weder der Alte noch der Junge waren recht dabei. Dem Seipolt war jetzt noch einer zuviel in der Stube. Es dauerte nicht lang, und er schickte den Uz hinaus: er solle noch nach den Gäulen sehen und hernach sich auf dem Stadelboden schlafen legen. Merkwürdig schnell war der Junge aus der Tür. Der Wachtmeister räusperte sich und fegte Würfel und Becher mit dem Ellbogen vom Tisch. Die Köpfe, der des Bauern und der seine – klein und spitz und voll vermeinter Schlauheit der eine, dick und kraushaarig, zerhauen und weinhitzig der andere – beugten sich im Flackerschein des Talglichtes nah und näher zueinander. Daß es dem Reiter um das Mädel zu tun war, mußte auch ein noch Dümmerer als der Michel Wem lang schon erraten. Er witterte ein Geschäft und stellte sich um so spröder und harthöriger, je deutlicher unser Seipolt wurde. Und der wieder sprach im Weindunst mehr als sonst – von Fried'- und Rastsuchen, von einem geruhigen Unterkommen nach all der Kriegsfurie, vom Seßhaftmachen. Tief und tiefer geriet er hinein – wie damals auf dem Rothenburger Markt in den Tanz. Was dem Bauer sein Hof gelte? Ob er schon auf einen Freier bedacht sei für die Ev'? Und ob, und ob, und ob …
Derweil hatte der Uz wohl nach den Pferden im Stadel gesehen. Er hatte auch wollen unters Dach und ins Stroh schlupfen. Aber dann strich er doch noch einmal ums Haus. Die Luft ging würzig, und der Bach plätscherte so traulich in den Wiesen. Der Himmel zwischen den waldigen Bergen stand voller Sterne. Was lehnte denn dort am Fenster – vor der Wohnstube? Und horchte, behutsam vorgebeugt, hinein zu den beiden drin, die so laut handelten? Die Ev'! Verstohlen, wie sie lauschte, trat der Uz zu ihr. Sie schrak auf. Aber sie ließ sich's gefallen, daß er sie ansprach – leis und fürsichtig. Auf der Schmalseite des Hauses, nicht wo der Garten lag, sondern dem Wald zu, lehnte eine Bank, unter dichtem Weinlaub, das sich bis zum Giebel spann. Dorthin winkte sie der Uz, und sie folgte, wenn auch mit Zögern. Als sie Seite bei Seite saßen und des Jungen Augen durch die Nacht so gutmütig zu ihr sprachen, wurde sie herzhafter. Von der Traurigkeit erzählte sie, die über ihr sei, seit die Mutter weggestorben; von dem Hundeleben, das sie führten, auf dem verlotterten Hof; davon, daß der Vater wieder auf Handelschaft wolle, und daß sie ihm im Weg sei; und endlich unter Tränen von ihrer letzten Angst – daß er sie an den Wachtmeister geben wolle, den alten Bärbeiß, vor dem ihr grauste … Dem Uz wurde es eigen warm ums Herz. Er redete ihr freundlich zu. Und er ließ es nicht beim Zureden, sondern nahm ihre Hand, streichelte sie und verschwor sich, daß ihr nichts Übles geschehen dürfe. Das Schweigen der Nacht, das ferne Rauschen und Raunen in den Bergwäldern, die tausend funkelnden Lichter am Himmel und ein Fremdes, Unverstandenes in der Brust, halb Weh, halb Wonne, bedrängte die zwei. Sie rückten näher zusammen, berührten Schulter mit Schulter. Aber sie trauten sich nicht mehr eins das andere anzusehen und miteinander zu reden …
Drinnen ging eine Tür. Der schwere Tritt, die rauhe Stimme Hansen Seipolts wurde laut und die dünne, wispernde Michel Werns, der dem Gast die Schlafkammer neben der Küche wies.
Der Uz und die Ev' fuhren auseinander. Die Dirn huschte auf einem Umweg ins Haus. Er schlich nach dem Stadel und unters Dach ins Stroh. Es war ihm, als hätte er etwas versäumt, vergessen. Warum waren sie aufs letzte so stumm geworden? Warum war er soviel zimperlicher als sonst, wenn ein frischer Mund über den Zaun rief und lockte? Und er hätte sie doch gern an sich ziehen und küssen mögen! …
Ein lang Fackeln und Zaudern war Hansen Seipolts Sache nicht. Wie er vor dem Feind gewohnt war, nicht erst hin- und herzuflorettieren, sondern geradeaus zuzuhauen und zuzustoßen, so hatte er gleich in der ersten Nacht dem Bauer Wern – in halber Trunkenheit freilich, aber er war auch so schon nicht nüchtern – auf Handschlag zugesagt, er wolle ihm den Lampertshof abkaufen und die Ev' zu seinem Weib machen. Während das junge Volk auf der Bank vor dem Haus saß, war Abrede getroffen worden, daß der Dirn am kommenden Morgen von ihrem Vater feierlich solle kundgetan werden, was für ein Glück ihrer gewärtig sei. Doch noch war der Tag nicht recht angebrochen, so klopfte der Wachtmeister, der in der Nacht, so sehr er dem Wein zugesprochen, doch kaum ein Aug' zugetan hatte, seinen künftigen Schwieger aus dem Bett und teilte ihm mit, er hätte sich's anders überlegt, und er wolle der Ev' selber Bescheid sagen; man dürf' ihr, schüchtern wie sie sei, nicht mit der Tür ins Haus fallen, müss' es vielmehr fein artig anstellen Wie sich der Wachtmeister Seipolt das »fein artig« dachte, verriet er nicht. Die Wahrheit zu sagen, war's auch ihm selber einstweilen noch ein Geheimnis. Den ganzen lieben langen Tag stapfte er bald in weitem, bald in engem Bogen um das Mädel her. Zu mehreren Malen war es auf Spitz und Knopf, daß er seinem Gefühl und Antrag Luft und Form gab. Immer wieder fand er den Rang nicht, und meinte er den gefunden zu haben, so fand er – die Ev' nicht. Inzwischen aber fanden sich die beiden Jungen, der Uz und die Dirn, nur um so schneller. Am Mittag, in einem unbewachten Augenblick, trafen sie sich, sie wußten nicht durch welchen Zufall, hinter einer Brombeerhecke am Bach, hielten sich, Leib an Leib, dicht umschlungen und holten Mund auf Mund nach, was der Uz am Abend vorher vergessen hatte. Fast hätte der Seipolt sie so ertappt. Aber noch rechtzeitig stoben sie hier- und dorthin: die Ev' bog sich über den Bach, um ein Tüchel zu waschen; der Uz stolperte feldein – die Hände im Sack und ein Liedchen summend – als hätt' er nie was anderes getan.
Als der Abend heranrückte und er noch immer und immer sich nicht erklärt hatte, fing der Wachtmeister an, sich zu schämen. Der Bauer Wern, der am Nachmittag wieder in den nächsten Weilern herumgelaufen war und sein Heidenglück austrompetet hatte, wo er stand und ging, machte ein verdutzt Gesicht, als er von dem Eidam hörte, es sei noch nicht richtig mit der Brautschaft. Beim Nachtmahl, das viel stiller verlief als gestern, faßte der Hans endgültig den Entschluß, zum Ziel zu kommen. Eh' ihm die Ev' wieder entwischen konnte – schon war sie mit Essen fertig und an der Stubentür – griff er sie bei der Hand und führte sie ohne Loslassen vors Haus nach der gleichen Bank, wo sie am vorigen Abend mit dem Uz gesessen hatte.
Ihre Hand hielt er, auch im Sitzen, wie in einem Schraubstock, aber mit dem Reden hatte es halt immer noch gute Weile. Finster und voll Nachdenkens stierte er ins Dämmern. Erst wie er neben sich ein leis Schluchzen hörte – die Finger taten ihr weh, und das Herz klopfte vor Bangen – blickte er sie an. Die Liebeserklärung ließ sich nun wohl länger nicht aufschieben.
»Mußt halt nit weinen, Mädel,« stieß er heraus. »Werd' dich schon gut halten, 's ist alles abgeredet: ich kauf den Hof, und du wirst die Bäuerin!« Er atmete tief auf. Es war heraus. Und der Mut wuchs ihm. Er drückte die Ev' gegen sich und sein struppiges Gesicht auf ihr weiches … Die Dirn stieß einen kläglichen Schrei aus, und wie er sie lockerer ließ, eh' er sich's versehen, hatte sie sich losgewunden und war im Dunkel fortgeglitten …
Hans Seipolt kratzte sich hinter dem Ohr. Ganz so hatt' er sich's ja nicht gedacht. Und daß sie immer sich zierte und scheu tat, ärgerte ihn für den Augenblick, denn er meinte es »fein artig« hinausgeführt zu haben. Doch – des Schwersten war und blieb er ledig. Er stand auf und ging zurück ins Haus.
Auf der Schwelle lungerte der Uz, der ihn merkwürdig anschaute – halb verschmitzt, halb trutzig. Der Hans war drauf und dran, dem Jungen zu sagen, wie's stand. Aber all die Tage schon, und zumal seit sie auf dem Lampertshof waren, hatte er eine eigene Scheu vor dem Burschen. Morgen war auch noch ein Tag.
Aus der Wohnstube streckte der Bauer seinen Kopf.
»'s ist im reinen,« brummte der Wachtmeister und ging ohne Aufenthalt durch die Küche in seine Schlafkammer.
Fürs erste war's ihm noch etwas beklommen zumute. Er warf sich aufs Bett, wie er war, und sinnierte über das Geschehene. Je länger er dalag, überkam's ihn um so froher und trug ihn davon wie Traum und Rausch. Er sah sich als Hofbauer, drunten in der Stube, neben sich die Ev' als stattliches Gespons. In der Wiege vor ihnen lag ein winziger Seipolt, wie die Welt so schön noch keinen gesehen. Im Stall blökte und brüllte und quiekte es nur so von Vieh; Gesinde lief ein und aus, und die Stadel faßten das Korn und den Hafer nicht. Und dabei war Friede, Friede – nach all dem Rennen und Raufen landauf und landab – köstlicher Friede …
Dem Hansen wurde die Kammer zu eng vor Glück.
Noch war's mit dem Schlafen nichts. Er erhob sich, stieß das Fenster auf. Noch war's ihm nicht freie Luft genug, was da aus dem nächtigen Waldtal hereinzog. Durch die Küche tappte er sich ins Freie. Vor dem Haus reckte er wohlig die Arme – auch der rechte tat wieder mit, trotz des Stichs – so wohlig, daß ihm die Knochen im ganzen Leib knackten …
Ein leises Flüstern und Wispern machte ihn aufhorchen. Da – noch einmal! In dem dürftigen, unkrautigen Gärtlein regte sich was und huschte es wie ein Schatten.
Behutsam wandte er sich dorthin und lugte um die Hausecke. Was er sah, machte ihm das Blut in den Adern erst gerinnen und dann wild auftoben. Auf dem Apfelbaum, der sich bis fast ans Haus hinlehnte, saß wer – der Uz! – und beugte sich hinauf nach dem Fenster im Giebel, und aus dem Fenster beugte sich wer zu ihm – ein Mädelsgesicht – die Ev'! … Im nächsten Augenblick war der Hans nicht mehr seiner Sinne mächtig. Wie schnell es geschah, wußte er selber nicht: er hatte den Jungen heruntergerissen von seinem Apfelbaum, daß die Äste brachen, schlug ihn mit den Fäusten, wohin er traf, auf Kopf, Brust und Rücken und schleuderte ihn, so lang er war, weitab ins Strauchwerk, daß er leblos liegen blieb … Ohne auf die Ev' zu achten, die händeringend niederblickte, schnaufte er zurück ins Haus und in seine Kammer …
Das Blut hämmerte ihm in den Schläfen und flirrte ihm vor den Augen. Vor unsinniger Wut bebte er am ganzen Leib, daß er sich gegen die Wand stützen mußte. So also trieben sie's mit ihm! So der Bub, den er aus einem Totenhaufen aufgelesen hatte, und so das Mädel, dem er noch eben fein artig die Eh' versprochen! Recht hatte er getan! Gut hatte er's ihnen gegeben! Sobald würde der Junge nicht wieder aufstehen und nach den Früchten langen in seinem, Hansen Seipolts Garten. Vielleicht hatte er das Genick gebrochen. Am besten, er hatte es schon – sonst brach' er's ihm morgen! Oder er würd' ihn davonjagen, wie einen räudigen Hund! Wie ein Krampf schüttelte ihn die Wut wieder und wieder.
Ächzend setzte er sich auf seinen Bettrand. Böse Gedanken brausten hinter seinem Schädel. Ein Esel war er, ein langohriger! Was brauchte er dem Bauernsimpel den Hof abkaufen? Was das Mädel zum Weib nehmen? Er jagte den Spitzbuben, den Wern, mit dem Jungen davon und nahm sich das Mädel zur Liebsten und hauste mit ihr, bis er's satt hatte und davonritt …
Ob er dem Uz wirklich den Genickfang gegeben und den Garaus gemacht hatte? War schad' um ihn. – Warum nicht gar! Wer hieß den Burschen sich an fremdem Eigen vergreifen? Er hatte ihn gemocht, gern gemocht – so in seiner Art. War doch schad' um ihn! Und daß er's grad hatte sein sollen, der Hans, der den Jungen zuschanden schlug … Ob er's wirklich so schlimm gemacht hatte? Ob er ihn ernstlich tot oder zum Krüppel gehauen hatte?
Ohne Wissen und Willen war der Wachtmeister wieder unterwegs – in die Nacht hinaus. Er lief sacht am Haus hin und spähte neugierig und zugleich beklommen in den Garten. Der Mond hing als schmale Sichel über dem Berg und warf ein spärlich Licht auf Busch und Gras. Dem Hansen brannten die Augen von dem, was er sah, und wollten gar übergehen. Dort lag der Uz, noch immer halb über den Boden gestreckt. Seinen Kopf mit den langen Haaren hatte die Dirn im Schoß, und er hörte sie herzbrechend weinen und sah sie den Jungen küssen und streicheln. Und der Junge tröstete sie seinerseits unter Küssen: »'s ist noch nit Matthäi am letzten mit mir! Hör' auf, Ev'! Bloß ein, zwei Rippen hat er mir zerschlagen und den Arm ausgerenkt! Tröst' dich, Ev'!« Und wieder hörte er nichts, als ihre Küsse … Und der Nachtwind raunte im Gezweig, und der Bergbach plätscherte und plauschte, als hätt' er wunder was Neues, Ewig-Altes zu sagen …
Nicht als der, der er gegangen war, kam Hans Seipolt zum zweitenmal zurück in seine Kammer. Er schleppte sich wie einer, der allgemach aus einem Traum widerwillig aufzuwachen anhebt. Und ein schwerer und ein langer Traum war's, der so schnell nicht aus den Augen zu reiben und von den Gliedern zu schütteln war. Von hinter Rothenburg hatte er gedauert bis in den hintersten Odenwald, vom Schäfertanz bis jetzt … Aber er rieb ihn sich aus den Augen, und er schüttelte ihn sich von Seel' und Leib. Wach war er! Und nüchtern! Und dachte und tat wie ein Wacher und Nüchterner …
Im Osten kündete ein früher Streifen Lichts den Morgen. Just wie gestern, bloß früher noch, klopfte der Wachtmeister bei dem Bauern an und trat ungerufen zu ihm hinein. Noch eh' der Michel Wern aus dem Bett war, setzte ihm der Hans auseinander, er habe sich anders besonnen. Sein Wort hab' er gegeben, den Hof zu kaufen, und sein Wort woll' er halten. Den Kaufpreis, einen stattlichen Haufen gut Gold, zählte er auf den Tisch.
»Und die Ev', Euer Gnaden! Was soll aus der Ev' werden?« fragte der Bauer, mit den Augen das Geld verschlingend und doch des Handels nur halber froh.
Der Wachtmeister ließ sich auf kein Erklären ein. Der Michel Wern hatte schreiben gelernt. So wenigstens hatt' er zwischen heut und vorgestern oftmalen geprahlt. Jetzt sollt' er's weisen, aber flugs.
Der Bauer, verstört wie er war, kramte lang, plapperte halblaut vor sich hin, weil er's laut nicht wagte, und rückte endlich mit Kiel und Papier und einem dunklen Schreibsaft heraus. Der Hans stellte sich neben ihn und sagte ihm Wort für Wort, was er geschrieben haben wollte, und nach bald einer Stunde – die Sonne glomm schon da und dort über dem Berg auf – stand's geschrieben und unterfertigt: »Ich, Michel Wern, han verkauft meinen Hof, geheißen der Lampertshof, samt allem, was drin und draußen ist, an Uzen Lebrecht, den Reuter, am Tag St. Gallus, den 16. Oktober Eintausendsechshundertzweiunddreißig.«
Die Verschreibung nahm der Hans an sich und ließ den Bauern sitzen. Er ging hinters Haus. Aus dem Stadel zog er ohne Lärmen den Braunen. Dann stieg er die Leiter hinauf und sah durch die Luke unters Stadeldach. Der Uz lag im Stroh und schlief. Er stieg wieder herunter, holte die Verschreibung vor und band sie mit einem Fetzen, den er sich vom Hemdärmel riß, an einen Stein. Drauf schwang er sich in den Sattel. Mit gutem Wurf warf er Stein und Verschreibung durch die Luke, daß sie neben dem Schläfer niederfielen. Und schon war er aus dem Hof und schon ging's mit verhängten Zügeln talab …
Fahr' wohl, Fried' und Traum! Hans Seipolt, der Wachtmeister, ist wieder, der er war. Nach Aschaffenburg geht die Fahrt und weiter – in neues Raufen und Kriegen ohn' Ende …