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Eine alte Sache ist's: je weniger sich einer mit seinen Mitmenschen beschäftigt, um so mehr beschäftigen sich seine Mitmenschen mit ihm.
So war es auch mit dem Staudenhofbauer, dem Andreas Gittinger, sein Leben lang. Er war ein »B'sonderer«. Und die Besonderen mag man nicht, in der Stadt nicht und im Dorf erst recht nicht.
Das hatte bei dem Andres früh angefangen.
Der alte Staudenhofbauer, der Jakob Gittinger, sein Vater, und die ganze Verwandtschaft wünschten sich, als die Mutter den Andres unter dem Herzen trug, daß er ein »Mädle« werden sollte. Denn Buben waren schon drei da. Aber der Andres kümmerte sich nicht um die Wünsche der Familie und wurde ein Bub. Die einzige, die's auch so zufrieden war, war seine Mutter. Denn die war eine stille, verängstigte Frau, die sich nie etwas wünschte. Als sie kaum drei Tage von dem vierten Büblein genesen war, bekam sie eine Lungenentzündung und ging dorthin, wo man gut aufgehoben ist, wenn man sich nichts zu wünschen weiß: – sie starb. Daß die Mutter in seinem Kindbett verstarb, rechnete man dem jungen Andres auch zu. Die drei älteren hatten ihrer Mutter das Leben gelassen; warum er nicht? – Blieb dem Vater Gittinger zu hoffen, daß der überzwerche Bub wenigstens hell im Kopf wäre. Dann konnte man einen Studierten aus ihm machen. Einen Pfarrer konnten die Gittinger in der Familie brauchen. Das war eine Ehr' vor den Menschen und eine Art Vorschuß beim lieben Gott. Da drüber ließ sich reden. Doch der Andres mit seinem vierschrötigen Kopf zwischen den spitzigen Schultern, mit der niedrigen, steilrechten Stirn unter dem struppigen Schwarzhaar und den kleinen, dunkel glimmenden Augen war auch zum Kirchenlicht verdorben. Seine drei Brüder hatten nicht gut gelernt in der Schule; dafür lernte der Andres schlecht. Nicht daß er dümmer war als andere; aber er war langsam, schüchtern, querschädelig – und wenn der Lehrer im Abc beim O war, war er noch beim A oder schon beim Z. Daß da draus ein Pfarrer werden könnte, daran war gar nicht zu denken. Nun war der Alte auf dem Staudenhof zwar kein böser Mensch, aber ein Hartriegel: starr, selbstgerecht, eigensinnig wie nur einer. Was man nicht ausrechnen konnte bis zum Tüpfel auf dem i, das war nichts für ihn. Die drei älteren Gittingerbuben waren rechteckig wie mit der Axt ausgehauen, dickköpfig wie die Kohlstrünke und hatten's hinter den Ohren. Der Kleine, der Andres, der war nebendraus. Nichts hinter sich, nichts vor sich. Die älteren hatte der Alte gestoßen, geknufft und zurechtgeklopft. Den Andres stieß, knuffte und klopfte er gar nicht, und das war schlimmer, als wenn er sich an den zu allermeist gehalten hätte. So wurde man sich stillschweigend im ganzen Haus darüber einig, daß mit dem Jüngsten kein Staat zu machen sei. Man ließ ihn so grade »mitankommen«.
Wenn der Bub nicht schon die Anlage gehabt hätte, schwersinnig zu sein: er hätte es bald werden müssen. Er war am liebsten allein. Nach der Schule schlich er sich, abseits von den Kameraden, so schnell wie möglich davon. Am Feierabend, wenn ihn keiner auf dem Hof zum »Pudeln« brauchte, und am Sonntagnachmittag verschwand er unbemerkt für viele Stunden. Er setzte sich an einen abgelegenen Feldrain, unter einen einsamen Baum mitten im Korn oder zu den Tannen am Waldrand. Was er dort tat, hätte er selber nicht so recht sagen können. Von allem, was geschah, sah er die hintere Seite, die im Schatten lag. Die Biene, die über den Raps flog, wurde von der Schwalbe gehascht. Die Heckenrosen, die zu früh aufbrachen, würgte ein Frost ab. Und wo die Ähren am schönsten standen, mußte der Brand dreinfallen. Er schaute über sich in den Dämmerhimmel, hinter einem Flug Stare drein, bis die weit draußen verschwanden hinter dem Abendstern; er hörte dem Knistern des Korns zu, wenn es im Wind leis aufrauschte und wieder vertönte; und er wartete, bis die letzte, äußerste Wolke über dem Hügel, mit der die sinkende Sonne spielte, ihren rosigen Schein im Dunkel der Nacht verhauenen mußte. Nicht daß die Natur in ihrer Schönheit und Größe bewußt zu ihm gesprochen hätte. Es war nur das Weh ihrer Einsamkeit, die in das Weh der seinen hinüberschwang. In sich zusammengeduckt, den derbkantigen Kopf zwischen den Händen, mit weit aufgerissenen Augen verlor er sich in einer unsagbaren Traurigkeit. Und in seiner Traurigkeit war eine Sehnsucht, unendlich und ziellos wie im verschwindenden Vogelflug, im vertönenden Raunen des Korns, im verblassenden Wolkenschimmer, eine Sehnsucht, die die Seele mit sich zog – hinaus in die unbegrenzte Weite und hinauf in den unermeßlichen Himmel.
Als den Gittinger Andres einst einer traf, so verlassen und in sich geduckt und traurig am strahlenden Sommersonntag, rief er ihn an.
»Warum so traurig, Andres?«
»Weil ich Heimweh hab'!« lautete die Antwort.
»Heimweh?« Der Frager schüttelte verdutzt den Kopf. Daß ein Bub, der im Dorf sein Heim hatte, so ins Blaue hinein Heimweh hatte, das ging über seinen Verstand. Es hatte doch seine Richtigkeit: dem Gittinger sein Jüngster war ein querer Bub. Und der gescheiteste sicher nicht! …
Mit den Jahren kam auf dem Staudenhof alles anders, als der alte Bauer es mit sich und dem Herrgott ausgerechnet hatte. Seine beiden ältesten Söhne wurden in einer und derselben Woche von einer Typhusepidemie fortgerafft. Der eine hatte sich gerade verheiraten und den Hof übernehmen sollen; für den zweiten hatte sich der Alte nach einer Bauernstelle umgetan. Der dritte Gittinger, auf den der enttäuschte und verbitterte Vater nun als Hoferben rechnete, geriet eines Tages mit ihm in Streit, packte über Nacht sein Bündel und verschwand. Er schrieb später noch einmal aus Amerika, aber nichts vom Wiederkommen.
Nun waren die waschechten Gittinger, auf die der Alte mit seinem Hoffen und seinem Stolz gebaut hatte, mit einem Mal dahingeschwunden. Er sah sich mit Andres allein. Mit dem Jüngsten, den er nie für voll genommen! Der kein bodensässiger, breitbeiniger, saftblütiger Bauer war, sondern ein scheuer, schwerlebiger Sinnierer ohne Glück und Verstand. Das ging dem alten Staudenhofbauer über die Kraft. Er hatte mit dem Herrgott stets eine reinliche und glatte Rechnung gemacht, und nun blieb ihm der das beste Teil schuldig. In heftigen, sich immer öfter wiederholenden Jähzornanfällen entlud der Jakob Gittinger seinen Grimm. Das Ende war, daß sich über dem Hadern sein Kopf verwirrte. Der gewichtige, eigenwillige, starke Mann versiechte als ein unnützer und irrer Schatten.
So wurde Andreas Gittinger Staudenhofbauer.
Der querköpfige Bub von einst, der jetzt ins Dreiundzwanzigste ging, war, wenn man ihn nur mit etwas freundlichen Augen ansehen wollte, schon ein ganz leidlicher Mann geworden. So groß und kräftig wie seine Brüder war er nicht, aber die Knochen waren doch auseinandergegangen; die engen, spitzen Schultern hatten sich gereckt. Was ein tüchtiger Knecht leistete, leistete er auch. Und als es in so jungen Jahren an ihn kam, mehr zu leisten, leistete er auch mehr. Langsam, aber stetig.
Ein anderer hätte, wäre er von heute auf morgen Staudenhofbauer geworden, es erst mit dem Schreck gekriegt und hernach mit verdoppelter Freudigkeit und nicht geringem Stolz. Der Andres nahm den Hof, wie er alles nahm, Gutes und Böses – als eine Bürde mehr, die ihm das Leben auflud. Er nahm seine ganze Stärke zusammen und schaffte für drei. Wenn er die Knechte längst in den Feierabend geschickt hatte und auf der Dorfflur auch der ärmste Kleinbauer nicht mehr wirtschaftete, brach er noch den Boden um oder mähte oder häufelte, je nach der Zeit im Jahr. Den schmalen, übereinandergepreßten Lippen entfuhr kein Laut des Gefallens oder Mißfallens. Die steile Stirn mit ihrer einzigen, tiefen Falte über der Nasenwurzel verzog sich nicht. Die Augen klebten unbeweglich an der Arbeit. Wenn sie sich zufällig einmal hoben, lag in ihnen der alte, schüchterne, dunkelglimmende Glanz der Knabenjahre, die stille, sehnsüchtige Schwermut ohne Rast und ohne Ziel. – Einen Dummkopf und Querschädel konnten die Leute im Dorf den Staudenhofbauer nicht mehr heißen. Das ging gegen die herkömmliche Reputation. Dazu war er zu wohlhabend und ließ sich auch zu fleißig an. Man mußte ihm einen mit Achselzucken gemischten Respekt geben. Und man nannte ihn von da an einen »B'sonderen«.
Je weniger der junge Staudenhofbauer fortab tat oder ließ, um so mehr fanden seine Dorfgenossen ihr Urteil bestätigt. Die Familie der Gittinger, weitverbreitet im Land, schloß sich im Unkenruf dem Verdikt der Besonderheit an. Jedermann hätte es natürlich gefunden, wenn der Andres, nachdem ihm nun einmal der Hof zugefallen war, sich so bald als möglich die rechte Bäuerin dazu genommen hätte. Man konnte ihm da in der Nachbarschaft und Verwandtschaft an die zwei Dutzend »rechte« nennen. Und diese zwei Dutzend hätten auch ihn für den »rechten« gehalten, trotzdem er so »b'sonder« war; einfach deshalb, weil es was Rechtes war, Staudenhofbäuerin zu sein über ein Gesinde von sechs Leuten, über zwanzig Stück Altvieh und zehn Stück Jungvieh, über sechs Muttersauen und dreimal soviel Ferkel, über vier Gespann Pferde und etliche hundert Morgen Acker, Wiesen und Weideland – Haus und Scheunen und Ställe und Bares ungerechnet. Solang der alte, schwachsinnige Gittinger noch lebte, meinten einige, man könne es allenfalls verstehen, daß der Bauer einer jungen Frau den nicht zubringen möchte. Aber als der Alte das Zeitliche gesegnet hatte und der Junge immer und immer sich nicht anschickte, auf eine Partie einzugehen, auch wenn man ihm mit dem Zaunpfahl winkte, war der Tadel und Verruf allgemein.
Andreas Gittinger ging ins dreißigste Jahr und blieb der gleiche, der er war. Er lebte, weil er mußte. Aber heimisch war er nicht in der Welt. Hätte er müssen sagen, an was sein Herz hinge – am ehrwürdigen Hofhaus mit dem moosbesponnenen Walmdach, an seinen Kornschlägen, seinen Obstbäumen oder an was sonst, er wäre die Antwort schuldig geblieben. Denn sein Herz hing an nichts. Am wenigsten an seinem eigenen Ich, das doch sonst jeder ein bischen liebhat. So war auch, bei allem Wohlstand, das Lachen auf dem Staudenhof nicht daheim. Die immer ernste, schwermütige Art des Hofbauern drückte auf die, die um ihn waren. Das Gesinde, wenn es auch noch so gut gehalten wurde, hielt es selten lange aus. Weil da keine rechte Kurzweil aufkommen konnte und keine Fröhlichkeit. Wenn den jungen Bauern hätte einer zu fragen gewagt wie früher: »Warum so traurig, Andres?« – er hätte den gleichen Bescheid bekommen wie einst: »Weil ich Heimweh hab'!« Und vielleicht, weil der Frager von damals sich jenes Bescheids noch entsann, vielleicht auch, weil einer seinen Kummer von sich aus so deutete, hießen sie ihn allmählich mit halbem Spott: den Heimwehbauern.
Auf den Ziehtag im Oktober, den Martinitag, war wieder Magd- und Knechtwechsel auf dem Staudenhof. Der Lohn war recht gewesen und das Essen, die Arbeit und die Behandlung; aber die drei, die abzogen, eine Magd und zwei Knechte, wollten 's Lachen nicht ganz abtun.
Der neuen Magd, die der Gittinger dingte, sagten's die Gehenden und die Bleibenden am ersten Tag auf den Kopf, sie würde schon zu Lichtmeß ihr Bündel schnüren und täte besser, es gar nicht erst auszupacken. Es war ein blitzblankes Mädel. In einer doppelten Krone schlangen sich die dicken, blonden Zöpfe um das blühende Gesicht, das nicht eben schön, aber voll frohen Glanzes war. Unter der kräftigen Stirn leuchteten ein Paar tiefblaue, freie und kluge Augen, und die roten, etwas vollen Lippen ließen gern zwei Reihen weißer, gesunder Zähne sehen. In Gestalt und Bewegung verband sich ein entschiedener Wille mit natürlicher Anmut und Leichtigkeit. Von der gebräunten Haut ihrer Wangen, ihres Halses, ihrer runden Arme ging die Frische der Jugend aus. Man begriff nicht, daß der Staudenhofbauer überhaupt so eine hatte anwerben können wie diese Lisbeth, die von ziemlich weit her kam, also nach der Überzeugung der Einsässigen »nicht weit her« sein konnte.
»Dein Lachen, des wirst da bald verlernen!« sagte ihr eine der andern Mägde zum Einstand mit bittersüßer Freundlichkeit.
»Oder ich werd' euch mein Lachen lernen!«
»Da wirst beim Bauer net weit mit kommen!«
»Werden's ja sehen!«
Im Anfang schien es allerdings, als sollten die Propheten recht behalten, die der Lisbeth kein langes Verbleiben auf dem Hof wahrsagten. Der Gittinger hatte mit seinen Leuten keinen unguten, aber einen kurzen Ton. Mit der neuen Magd war er aber geradezu unfreundlich. Wo es nur immer ging, fand er an ihr etwas zu tadeln, und wenn sie ihre Arbeit noch so gut tat, hatte er für sie kein Lob. Ihre unverwüstliche Heiterkeit reizte seinen unverwüstlichen Schwersinn. Aber sie selber ließ sich nicht reizen. Unbekümmert um Regen und Traufe tat sie ihr Tagwerk, und der frohe Glanz wich nicht aus dem blühenden Gesicht. Einmal – sie sang, als er gerade vorbeiging – fuhr sie der Bauer, all seiner Gewohnheit entgegen, so hart an, daß er selber drüber erstaunte. Seine kleinen, dunklen Augen drangen, der Schüchternheit vergessend, streng in die ihren: es begegnete ihm dort nichts als ein tiefes, sonniges Leuchten der Verwunderung und des Mitgefühls. Fast beschämt wandte er den Blick von ihr. Seither war er anders zu ihr. Er schalt sie nicht mehr. Er sprach überhaupt nicht mehr mit ihr. Ihre Gegenwart schien ihm peinlich. Nur bisweilen, wenn er sich unbemerkt glaubte, suchte er mit seltsamer Scheu dieses blaue, tiefe Leuchten ihrer Augen, als wäre darin etwas Neues, Absonderliches, was ihn anzog – etwas von dem verschwindenden Vogelzug in ferner Dämmerung, vom verklingenden Knistern des windbewegten Korns, vom letzten Wolkenschein vor Nacht– etwas von dem, worüber er als Kind schon gegrübelt hatte. Nur daß es ihn dünkte, es wäre da bei der Frage eine Antwort. Es sprach nicht zu ihm wie Traurigkeit zu Traurigkeit, sondern versöhnte und beruhigte, als gäbe es doch ein Ziel der Sehnsucht und eine Rast.
Ein Jahr später, als es wieder auf Martini ging, kündigte der Staudenhofbauer der Lisbeth den Dienst.
»Und warum kündigt Ihr mir, Staudenhofbauer?« fragte sie ihn ruhig.
»Weil du sonst mir kündigst!« lautete die knappe, gequälte Antwort.
»Und warum ich Euch?« Sie sah ihn mit ihren frohgemuten, blauen Augen an. Aber er wich ihr aus.
Jetzt verstand sie ihn.
»Und warum ich Euch?« wiederholte sie mit einem leisen Beben in der tiefen, klingenden Stimme.
»Weil d' sonst – –. Weil d' sonst für immer mußt bleiben!« stieß der Bauer verzweifelt heraus.
Eine Weile war ein Schweigen in der herbstsonnigen Herrenstube. Ein Sonnenreiter wirbelte durch den gestrengen Raum, vom Fenster auf den weißgescheuerten Boden und hinauf zu den blanken, alten Zinntellern auf dem Wandsims.
Dann sagte die Lisbeth mit einem ganz eigenen Ton, jubelnd halb und halb verschämt: »So bleib' ich halt für immer!«
Dem Andreas Gittinger war's, als drehte sich die ehrbare, gestrenge Stube um ihn, rundum. Er schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, umhüllte ihn ein Blick, so warm und voll Güte, so heiter und voll Zutrauen, daß er zum erstenmal begriff, es könne das Leben doch auch etwas anderes bringen als ein Verhängnis, und es gebe eine Rast für sein Heimweh, hüben in der Welt, nicht drüben, außer der Welt …
Sechs Wochen später machte er die Lisbeth zu seinem Weib.
Das Geschrei im Dorf und, wenn man Weltkundigen glauben durfte, im halben Land war groß. Alle Vettern und Basen sagten dem Gittinger die Verwandtschaft auf. Daß er so lang' keine Anstalt gemacht hatte zu freien, war schon übel genug gewesen; daß er jetzt, von heut' auf morgen, ohne zu fragen, mit einer Hergelaufenen und gar einer Magd sich aufbieten ließ, war ein Verbrechen gegen alle himmlischen und irdischen Gebote. Jetzt wußte man, daß er nicht bloß ein »B'sonderer« war, sondern ein »ganz B'sonderer«. Aber kein Heiliger.
Der Andres und seine Lisbeth ließen sich von all dem Geschwätz und Schmähen nicht ihr Glück verdunkeln. Das war auch kein Glück, an das Menschenmundwerk heranreichte. Das erfüllte mit seinem Leuchten und Klingen das Haus bis unter das Dach, erfüllte die Scheunen und Ställe, die Wiesen und Äcker. Der unverwüstliche Frohmut des jungen Weibes rang mit dem unverwüstlichen Schwersinn des geliebten Mannes, bis der hinschmolz wie ein eisiger Rauhreif vor der blinkenden Frühjahrssonne. Er lernte, was er bisher nicht gekonnt, das Leben nicht bloß dulden, sondern liebhaben. Er liebte, was sein war, und liebte die Welt und die Menschen – durch die Kraft ihres Wesens, ihrer Liebe zu ihm und seiner Liebe zu ihr. Es kam Stetigkeit in seinen Gang. Der müde, gebeugte Rücken richtete sich auf; die kleinen Augen schienen sich zu weiten; sie strahlten im Widerschein der ihren von Würde und Stolz und von einem Ernst, in dem die Freude war. Die Nörgler und Belferer wunderten sich allgemach über die Wandlung, die mit dem Staudenhofbauer vorging. Einige bekannten sogar heimlich, er hätte vielleicht doch gewußt, was er gewollt und was er getan, als er die Magd genommen …
»So bleib' ich halt für immer!« hatte die frohgemute Lisbeth gemeint.
Soviel an ihr lag, wollte sie's so halten. Aus tiefster Seele. Aber das »immer«, das liegt in keines Menschen Macht zu versprechen. Und es ist, als wäre, je glücklicher zwei sind, um so zerbrechlicher das »immer« von Menschenmund.
Viermal wechselte das Jahr in eitel Frieden und Sonne und Seligkeit auf dem Staudenhof. Das fünfte Jahr sollte bringen, was der Bauer und die Bäuerin als letztes sich wünschten, sofern sie überhaupt noch etwas zu wünschen hatten: ein Kind. Aber es war kein gutes Jahr. Maifröste zerstörten die junge Saat. Im Juni übernahm sich die Lisbeth bei der Arbeit. Das Kind kam zu früh und konnte nicht leben. Fünf Tage lang fieberte die Mutter; am sechsten, in aller Frühe, weckte sie den Bauern mit ihrem harten, ringenden Atem. Er nahm sie in seinen Arm; er liebkoste sie und redete ihr zu. Aber sie konnte ihm nicht antworten. Nur aus ihren Augen leuchtete der alte, sonnige Mut. Bis sie brachen. Ehe der Doktor auf den Hof kam, war es vorüber mit ihr. Die Stirn war weiß, und die Lippen, so rot und lebendig, hatten sich verfärbt. Die Hände, die guten, tätigen, waren wie Eis und schwer, schwer wie der Tod …
Dem Gittinger war es, als wandelte er im Schlaf. Der Pfarrer kam. Es kamen Bekannte und Fremde. Er mußte zum Schultheiß, aufs Standesamt; er mußte auf den Friedhof, ein Grab suchen. Dies und das kam und ging, Schatten zu Schatten. Die Schulkinder sangen im Hof. Man hämmerte den Sarg zu über dem starren Leib, in dem sein Weib gewohnt hatte. Und dann schritt man vom Hof nach der Kirche, zum Gottesacker. Er mit dem Pfarrer voran; ein langer Zug hinterdrein. Es wurde gebetet und gesungen, und der Sarg schwankte hinunter in die schwarze Grube. Eine Hand Erde warf er drüber; noch eine und eine dritte. Dann drückten unzählige Hände die seine. Man geleitete ihn heim. Er wußte von nichts, was geschehen war. Es war ja doch alles Schlaf und Traum. – Sie hatten sich über seine Ruhe und Stärke gewundert. Wie hatte er den Kopf hoch getragen! Wie war er frei und leicht geschritten! Manche bewunderten seine Fassung; manche meinten, vielleicht sei's ihm so schwer doch nicht geworden. Weil er kein Kind von ihr gehabt, und weil er – ein »B'sonderer« wäre. Immer ein »B'sonderer«.
Als der Gittinger vom Friedhof daheim und allein war, tat er bis zum Abend sein Tagwerk wie immer.
Nach Feierabend ging er aufs Feld.
Er setzte sich unter einen Baum im Roggen. Von dort übersah er den Hof und fast sein ganzes Eigen. Er war noch immer in Schlaf und Traum. Aber mit der Dämmerung – als die Raben über sein Haus weg zum Walde zogen; als der Wind im jungen Roggen flüsterte und erstarb; als das fernste, sonnenrote Wölkchen verglomm und von der Nacht verschlungen wurde – da erwachte er. Und es erwachte in ihm die Sehnsucht und wurde aus dem Wimmern seiner Seele ein Rufen, aus dem Rufen ein Schrei, den keiner hörte außer ihm – und doch war er so laut, daß er über die Breite der Erde gellte vom Morgen zum Abend und aus der Tiefe seines Herzens hinauf bis an den Scheitel des Himmels. Jetzt wußte er, daß sie gestorben war. Sein Glück, Stunde um Stunde zitterte und glänzte vor ihm, und hinter jeder Stunde schrie seine Seele den gleichen Schrei: »Nie mehr! Nie mehr! Und nie und nimmermehr!«
Als er spät gegen Mitternacht nach dem Hof zurückging, war sein Gang müde und alt, sein Rücken in sich gesunken. Seine Augen waren matt und hoffnungslos. Es war nichts mehr in ihm, nichts um ihn als das Heimweh, das große, unstillbare, das seine Rast verloren hatte auf Erden und die neue Rast suchte, nicht hüben in der Welt, sondern drüben, außer der Welt …
Von Juni bis Oktober gibt's für den Bauern kein Müßigsein. Und ein rechter Bauer läßt seinen Acker nicht vor der Ernte stehen und nachher den Boden nicht brachliegen, ohne neue Saat zu säen.
So hielt's der Andres Gittinger auch.
Er bestellte sein Feld. Er erntete Heu und Korn und Hafer und Hackfrucht.
Derweil hatten die findigen Mäuler im Dorf und in der Verwandtschaft schon neue Pläne mit ihm. Sie wußten wieder zwei Dutzend neue Bäuerinnen für den verwitweten Hof. Der Gittinger aber hatte nur Raum für einen Gedanken, den sie nicht ahnten, und mit dem er doch aufstand und sich niederlegte. Die Lisbeth mußte den Schrei seiner Seele gehört haben und immer wieder hören. Und eines Tages mußte sie auf sein »Wo bist du?« antworten, und wenn sie rief »Hier bin ich!« – dann kam er.
Der Bauer war kein aufgeklärter Mann. Er hatte eine einfältige Frömmigkeit in seinem Herzen und einen hergebrachten, engen Glauben in seinem Kopf. So fest er wußte, daß die Lisbeth rufen würde und er dann kommen müßte, so plagten ihn doch manchmal skruplige Gedanken. Mitten in der Ernte ging er aufs Pfarrhaus. Er wollte sich aussprechen.
Der Pfarrer war ein junger Mensch, stark in seiner Bibel, nicht aber in der Kenntnis des Lebens und im Wissen um ein wundes Herz.
»Ich muß fort,« sagte der Staudenhofbauer, als ihm der Pfarrer einen Platz angeboten und er sich schwer auf den Stuhl niedergelassen hatte.
»Erst bleibt und sagt, was Ihr wollt!« meinte der Pfarrer mit einem weisen Lächeln.
»Ich muß fort, sowie die Lisbeth mich ruft!« sagte der Gittinger noch bestimmter.
Es dauerte eine Weile, ehe der Gottesmann ihn verstand. Dann aber hielt er dem Bauern eine gewichtige und gestrenge Strafpredigt, wie sündlich sein Denken sei; in wieviel Worten die Bibel dem Christen verbiete, seinem Leben eigenmächtig ein Ziel zu setzen; wie der Staudenhofbauer seine Ehre vor den Menschen und sein Heil in der Ewigkeit mit solchem Frevel – auch schon in Gedanken – aufs Spiel setze.
Der Gittinger dankte und ging.
Unterwegs flüsterte er einmal ums andere in sich hinein: »Ich muß halt doch fort. Wenn sie ruft, muß ich fort.«
*
Der Herbst kam. Wenn die Felder kahl sind und das Laub raschelt und die Winde so pfeifend und kalt von Norden und Westen streichen, dann ist so die Zeit, wo man Dinge hört und Stimmen erlauscht, die sonst nicht zum Menschen dringen.
Es kam der Martinitag.
Vom Gesinde zog niemand weg. Sie waren in den Jahren des Glücks gern im Haus geblieben, denn da fehlte es nicht mehr an Kurzweil und Munterkeit. Nun er allein war, versuchten sie auch so bei ihm auszuhalten.
Der Bauer saß in der Herrenstube vor seinem Schreibsekretär.
Er hatte aufs Ziel allerhand zu rechnen. Es war sonnenheller Nachmittag. Ganz wie damals, als er der Lisbeth gekündigt und sie dann ihr beglückendes »So bleib' ich halt für immer!« zur Antwort gesagt hatte. Wie damals wirbelte ein Sonnenreiter durch die gestrenge Stube, vom Fenster auf den weißgescheuerten Boden und hinauf zu den blanken, alten Zinntellern auf dem Wandsims. – Der Gittinger sah nichts davon. Mit schwerer Hand setzte er Ziffern in ein schweres Buch.
Plötzlich setzte er die Feder ab und horchte.
Er meinte, er hätte hinter sich seinen Namen gehört, und sah sich um.
Es war niemand da. Und er fuhr fort zu schreiben.
Da kam es wieder. Diesmal lauter und bestimmter. Ein eigener Klang war in der Stimme, die ihn rief. Ein Klang wie tiefes, inniges Lachen.
Die Feder fiel ihm aus der Hand, und er schnellte in die Höhe.
Der Oktoberwind schnaubte gegen die Scheiben und warf goldenes Laub dawider. Der Sonnenreiter huschte über das Buch, in dem er geschrieben. Und hinaus aus der Stube in den Hof.
Zum drittenmal hörte er Lisbeths Stimme, dicht bei seinem Ohr, voll schmeichelnder Liebe, einer dringenden Bitte gleich.
Seine Schultern streckten sich. Er hob den Kopf empor, und in seinen Augen leuchtete es entschlossen.
»Ich komm'. Ich komm' ja schon. Ich komm'!«
Barhäuptig wie er war, schritt er aus der Tür. Quer über den Hof, hinaus auf den Landweg.
Die Sonne lag tief, voll dunkelgoldenen Glanzes über dem Tannenwald im Westen.
Er beschattete sein Gesicht mit der Hand und horchte zugleich. Dann ging er schlüssig waldwärts.
Das Dorf ließ er zur Linken. Festen Trittes ging er erst ein Stück bergunter. Dann bergan durch einen Hohlweg zwischen struppigem Gesträuch, in dem die roten Hagebutten zitterten. Der Ruf blieb bei ihm und führte ihn. Jetzt nicht mehr aus der Nähe, sondern von fernher. Ganz deutlich. Von jenseits des Waldes.
Über ihm, auf der Höhe des Hohlwegs, tauchte ein Reisigbündel auf. Dann eine schmächtige Gestalt, halb Kind, halb Jungfrau, die das Bund auf dem Kopf trug. Mit einem leisen Seufzer warf das Mädchen seine Holzlast ab, um sich zu verschnaufen, und blickte mit neugierigen Augen wegabwärts, dem Heraufsteigenden entgegen.
Der Gittinger erkannte sie. Es war dem Hufnagel, dem Schuster, seine Älteste. Die Mutter war, kurz vor seiner Frau, von acht Kindern weggestorben, von denen das kleinste noch nicht gehen konnte. Und die Staudenhofbäuerin hatte viel für den armen Schuster und die volle Kinderstube getan.
Der Bauer mußte wohl oder übel an der jungen Dirn vorbei.
Sie hatte sich auf das Reisigbündel gesetzt und strich die rotblonden Haare aus den Schläfen, die das hagere, spitze Gesichtchen noch blasser machten, als es war.
»Grüß Gott!« klang es mit freundlicher Stimme.
Der Gittinger nickte zerstreut. Auch er mußte von seinem Lauf veratmen und stand einen Augenblick still. Der Schweiß perlte auf seiner Stirn. Über seinen Zügen lag eine düstere Entschiedenheit. Der Mund war hart ineinandergekniffen, und die Augen brannten ins Weite, dorthin, wo jetzt die Sonne blutend hinter den Tannenspitzen hinunterschwamm, einen lohenden Schein in die Dämmerung der vorgelagerten Felder werfend. Er hatte das Mädchen neben sich schon wieder vergessen und lauschte vorwärts.
Sie sah verwundert in das angespannte, entschlossene Gesicht des Mannes. Er flößte ihr Angst und Teilnahme zugleich ein.
»Wohin noch so spät?« fragte sie leis und zögernd, weil sein stieres Schweigen sie bedrückte.
Er schrak leicht zusammen.
»Hast net rufen hören?« murmelte er hastig. »Von drüben? Hinterm Wald?«
Die Kleine lauschte und schüttelte den Kopf. »Ich kann nix hören!«
»Doch! Doch!« Der Gittinger wandte sich jetzt zu ihr. »Die Lisbeth ruft mich!« flüsterte er geheimnisvoll, als fürchte er unberufene Ohren.
Das Mädchen riß seine Augen, die groß und versonnen in dem kindlichen Gesicht lagen, weit auf, in erschrockener Verständnislosigkeit. Sie trafen sich mit den seinen. In seinem Blick zitterte das ganze, unaussprechliche Weh seiner Seele. Und wie erleuchtet las drin die halbwüchsige Kleine, was keiner außer ihm wußte.
»Sag's niemand! Ich muß fort. Weil ich Heimweh hab'!« Sein Blick ließ nicht von den verstehenden Augen, als klammerte sich die Furcht der Kreatur, vor dem Letzten Hilfe suchend, an die halbwache Seele dieses Kindes. Ihm war es, als dämmerte hinter den großen, versonnenen Augen, weit, weit in der Tiefe etwas von dem lachenden, befreienden Schein, in dem seine Sehnsucht sich erlöst und sein Heimweh gerastet.
»Verstehst mich?« fragte er, seine knochige Hand auf ihren Strubbelkopf legend.
Sie nickte. Sein Weh begriff sie. Und daß er fort mußte, auch. Das andere aber, was sein verzweifeltes Schauen dahinter umklammerte, war über ihre Jahre. Der Schein, den er einen Augenblick geahnt, erlosch in strömenden Tränen.
Der Bauer raffte sich auf.
»Ich dank' dir, Kind. Gott mit dir!« stieß er gebrochen hervor. Als sie das verweinte Gesichtchen aus den Händen wieder erhob, war er vorüber …
Aus dem Feld in den finsteren Tannenwald stapfte sein entschlossener Tritt. Dahinter, ins Laubgehölz. Die Buchen und Eichen reckten ihre nackten Äste in den dunkelnden Himmel. Sie ächzten und knackten im stößigen Oktoberwind, In den gefallenen Blättern rauschten seine Schritte. Es knisterte wie nahes Schilf. Er trat unter freien Himmel. Zwischen den dichten, flüsternden Halmen lag es öd und grau. Der Dunst wob darüber und ein irres Flimmern wie von sprühenden Käfern dazwischen. Das Moor. Und weiter zurück, wie riesige Gespenster im Nebel, neue Bäume, neuer Wald.
Der Staudenhofbauer zauderte. Er streckte den Kopf vor. Wo blieb der Ruf? Hatte er die Fährte verloren? War er nicht recht zu Weg?
Da kam der Nachtwind wieder, zu hinterst von den gespenstischen Bäumen. Er strich über das schlafende Moor, durch Dunst und Flimmern. Und er brachte ihn, den Ruf, den weichen, tiefen, sonnigen, lockenden – über das Schilf, nah an sein Ohr.
Er war richtig. Und er ging vorwärts. Von hüben nach drüben.
»Ich komm'. Ich komm' ja schon. Ich komm'!«
Es war ein Gurgeln im Moor. Leis und friedlich. Und dann war es still. Ganz still. Sogar der Wind schwieg in Andacht. Und am Himmel gingen die Sterne auf …
Der Heimwehbauer hatte kein Heimweh mehr.