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Eine Stunde und darüber saß er nun schon so, die Ellbogen breit auf den Tisch gestemmt und den Kopf mit dem kurzgeschorenen falben Haar zwischen den Fäusten. Bald waren seine Augen geschlossen, ohne daß er schlief, bald blinzelte er durch das offene Fenster über die Straße nach der Ladentür, über der mit dicken Buchstaben »Gemischtwarenhandlung« zu lesen stand. Er konnte dort hinter dem Ladentisch eine hochgewachsene weibliche Gestalt sich bewegen sehen: wie sie mit unerschütterlichem Gleichmut jedem hereintretenden Kunden das Seine zuwog und hingab. Eigentlich hätt's ihm eine Freude sein müssen, ihr zuzusehen bei ihrem rüstigen, sicheren Hantieren. Vorher schon hatte er bei ihr im Laden gesessen, in einem Winkel, und sich wohl auch gefreut. Ein tüchtiges, handfestes Mädel war sie doch, die Justine, seine Justin', mit der er jetzt schon an die zehn Jahre »ging«; bloß gerad' die knochige, verschaffte Hand hatte sie ihm geboten, als er gekommen war – seit zwei Jahren im Feld zum erstenmal! – und hatte gleich fortgeschafft und nur zwischenhinein ein sparsames Wort mit ihm gewechselt. Jawohl, zuerst hatte er sich gefreut und sich gesagt, so müss' es sein. Aber dann war ihm doch die Zeit lang geworden, und er hatte sich hinausgedrückt. Jetzt wartete er hier, wie er drüben gewartet hatte …
Die Schatten auf der sonnigen Dorfgasse wurden länger. Bisweilen fuhr ein schwerbeladener Erntewagen vorbei, daß es ganz dunkel wurde in der niedrigen Stube, das Häuslein unter dem Gewicht der goldenen Fuhre erzitterte und ein Duft von Staub und Korn hereinwehte. Je länger je mehr schnürte sich ihm die Kehle zu. Es war Ärger; es war ein dumpfes, weichmütiges Unbehagen, für das er keinen Namen hatte. Da hatten sie ihn hertelegraphiert, weit, weit aus dem Russischen, weil seine Mutter, die arme, müdgeschundene Keinathin, im Sterben sei; schon unter der Erde lag sie, bis er heut am Mittag angekommen war. Ein paarmal geschluckt hatte er und »So, so!« gemurmelt, wie sie's ihm sagten, und war dann zur Justine gegangen. Nein! Daß sie viel Aufhebens davon würde machen und von seinem Kommen, hatte er nicht vermeint. Jetzt aber war's ihm doch eng um die Brust, so eng, daß er einen ächzenden Laut hören ließ. Am End' war's doch seine Mutter gewesen, und die kümmerliche Stube, in der er aufgewachsen war, war so leer, und drüben, in der anstoßenden Kammer, zu der die Tür offen stand, auf dem schmalen Bett, hatte die Alte ohne ihn den letzten Seufzer getan. Gar so verlassen kam er sich vor. So wortkarg er selber war – er hätte gern einen gehabt, der bei ihm gesessen wäre. Der mit ihm geredet hätte, gar nicht von der Toten, bloß überhaupt geredet. War die Justine nicht die Nächste? Warum schloß sie ihren Laden nicht zu, machte Feierabend – eine Viertelstunde bloß eher als sonst? Was lag an den paar Pfennigen, die sie heut einstrich statt morgen?
Der Ludwig Keinath rückte auf seinem Stuhl, strich sich über die Stirn. Dann drückte er die Fäuste gegen die Augen, um ja nicht mehr hinüberzublinzeln und zu sehen, wie sie immer und immer wieder so gelassen hinter ihrem Ladentisch wog und waltete. Nicht erst seit heut – seit zehn Jahren wartete er so! Das Warten stand ihm bis an den Hals! So lang' er's schon mit ihr hielt, rechnete die Justine Brahner ihm vor, und immer war's nicht genug für einen Hausstand. Freilich, sein Taglohn war gering gewesen, und er hatte die Mutter mit verhalten – gerad' wie die Justine bis kurz vor dem Krieg ihren siechen Vater mit durchbrachte. Jetzt, wo die beiden Alten tot waren – was sollte sie jetzt abhalten, ein Paar zu werden? Schon dazumal, als ihr Vater verstarb, hatte es Unfrieden gegeben, weil er heiraten wollte, und sie dagegen war. Nun, auf der langen Herreise, hatte er's fest mit sich ausgemacht: sie mußten ins reine kommen! Er ging nicht wieder hinaus, ohne daß er wußte: wann du wiederkommst, wird sie dein Weib! Und dabei blieb er …
Er ließ die Arme auf den Tisch fallen wie einer, der seines Wollens gewiß ist, und stand auf. Als sein Blick durchs Fenster glitt, war drüben über der Straße die Ladentür geschlossen. Und neben dem Haus vor kam die Justine, eine Sense über der Schulter, und schritt gegen ihn her. Fast erschrocken war er, wie er sie sich plötzlich so nah sah – die hohe, starkknochige Gestalt stramm aufgerichtet und mit den scharfen, dunklen Augen unter dem Kopftuch zu ihm hereinforschend.
»Kommst mit?« Es klang mehr wie ein Befehl denn wie eine Bitte, als sie vor dem Fenster anhielt.
»Willst noch hinaus?« stotterte er verlegen. Es ging ihm nicht in den Sinn, daß sie noch immer nicht Feierabend machen wollte.
»Auf dein' Acker, net auf meinen!« gab sie fast barsch zur Antwort. »Das Korn ist so schon am Ausfallen. Gehst net mit, so schneid ich's allein.«
»Ich komm schon«, murmelte er. Es war da nichts einzuwenden. Mechanisch ging er aus der Stube, griff im Schuppen nach einer Sense. Als er vor die Haustür trat, war die Justine schon ein Stück Wegs voraus, und er mußte mit seinen kürzeren Schritten sie einholen. Sie waren ein ungleiches Paar, wie sie so nebeneinander hergingen, der Ludwig Keinath und die Justine Brahner. Obschon gut mittelgroß, wirkte neben ihrem hohen und breiten Leib der seinige schmächtig und klein. Und während ihr Kopf steil im Nacken stand, war seiner gesenkt, und seine Augen hafteten am Boden.
Am Ausgang des Dorfes, eh' die Straße auf die Felder trat, lag hinter einer niedrigen Mauer der Friedhof. Die beiden waren schon am Gittertor vorbei, als er anhielt. »Ich wär' noch gern an meiner Mutter Grab, wenn dir's recht ist«, sagte er ungeschickt, wie ein Mann dergleichen vorbringt. Hatte er gehofft, sie würde selber auf den Gedanken kommen?
»Wie d' meinst«, sagte sie trocken, aber mit einem mißbilligenden Runzeln der klaren, ebenmäßigen Stirn. »Ich denk', 's war' auch nachher noch Zeit, wenn's im Feld dunkelt. Auf 'm Heimweg. Aber wie d' meinst!« Sie machte eine Bewegung zum Umkehren.
Doch nun rückte er den Kopf und ging weiter. Er ließ ihr den Willen. Aber es kam ihn so leicht nicht an. Konnte sie's nicht fühlen, daß ihm die Ehrerweisung für die Tote zunächst am Herzen lag? Sie war halt die Besonnenere. Wie immer. Halb und halb bewunderte er sie drum und war's doch nicht zufrieden.
Als merkte sie jetzt doch, was in ihm vorging, fing sie von sich aus an, von der alten Keinathin zu reden. Vor acht Tagen wär's unvermutet als eine Ohnmacht oder ein »Schlägle« an die Alte gekommen, beim Zeugauswaschen in ihrem Hof, neben dem Schuppen. Des Nachbars Christian, dem Schreiner sein Jüngster, hätt' sie, die Justine, hergeholt – gerad' noch recht, um die Alte aufs Bett zu bringen, wo sie dann von Tag zu Tag weniger geworden sei. Und am Montag, just nachdem der Doktor das Telegramm ins Feld aufgegeben hab', sei sie gegen Abend unverhofft »'nüberduselt«, ohne daß jemand um den Weg war … Sonder Beiwerk und Gefühlszutaten berichtete die Justine, was sie wußte. Er hörte ihr schweigend zu, während sie durch den hellen Abend gingen. Die Sonne neigte sich tief zu den Wäldern, die das fruchtgesegnete Land einsäumten. Goldrot schimmerte es in den Haferbüscheln und auf den dicken Kornkolben. Da und dort, weitab von der Landstraße, arbeiteten Menschen im Feld: vereinzelte Laute, die herdrangen, vertieften nur die Stille. Ein Kuhgespann kam den beiden entgegen. Ein Gruß flog ihnen zu, den nur die Justine knapp erwiderte. Er war ganz ins Zuhören versunken. Zwischen wehmütigem Gedenken an die Mutter und der Befriedigung darüber, daß die Justine nun doch von dem sprach, was ihn bedrückte, und so seinem Empfinden begegnete, war sein Herz geteilt.
»Hast dich schon umg'sehen im Häusle?« brach sie jetzt ihr Erzählen ab, und ein seitwärtiger Blick, den er nicht beachtete, streifte aus den grauschwarzen Augen zu ihm hin.
»Was gibt's da viel zu sehen?« fragte er mit zerstreutem Verwundern. »Meiner Mutter ihre paar Habseligkeiten kenn' ich eh' schon lang. Eher ärmer statt reicher könnten ein' die machen!«
»Sag' des net!« Sie zog die Sense fester an die Schulter. »Was so 'n alt's Weib ist, hat seine Heimlichkeiten. Vielleicht war se so arm net, wie du denkst!«
Ehrlich verdutzt sah er zu ihr auf. »Des sagst net im Ernst, Justin'!«
»In Geldsachen trau' ich keiner net, und kei'm, daß d's weißt!« erwiderte sie eifrig. »Auch deiner Mutter net! Der Schwegler-Jakob von Grasfurt, der G'schwisterkind ist mit ihr –«
»'n Windbeutel ist der sell', 'n Schelm und Leutverhetzer –« »Aber zu deiner Mutter Leich' ist er doch 'rüberkommen! Und 'n Kranz hat er auch spendiert. Und der dümmste ist der lang net und kennt dein' Mutter von Kind auf. Er sagt, gar wohl könnt' se ihr Verspartes haben – so dürftig se sich gehalten hätt' und so viel g'jammert! Und wir sollten uns bloß aufs Suchen verlegen!«
Sie waren, von der Landstraße ab, einen kurzen Grasweg entlanggegangen und hielten jetzt an einem spitzwinkligen Äckerlein, das in eine schattige Bucht des nahen Buchenwaldes sich einschmiegte. Kopfschüttelnd lehnte der Ludwig sich gegen seine Sense. Die hellbraunen Augen standen noch staunend in dem arglosen, runzligen Bauerngesicht, während die Mundwinkel unter dem dünnen Bärtchen sich niedersenkten. »Und des glaubst du, Justin'? Von so ein'm läßt du dich ans Narrenseil nehmen?«
»Ich glaub, was ich mag, hörst?« Die Justine riß barsch die Sense von der Schulter, daß sie gegen den Boden fuhr. Eine verkniffene Schärfe entstellte ihr längliches Gesicht, und ein rechthaberischer, zürnender Glanz schoß aus ihren Augen. »Mich führt so leicht keiner am Narrenseil, aber vielleicht dich! Dein' Mutter in Ehren. Ich sag' nix über die Toten. Bloß –« Ein vielsagendes Lippenrümpfen vollendete ihren Satz. Dann schritt sie hinein in das Dinkelfeld und ließ mit mächtigem, wie grollendem Schwung die Sense gehen, daß die Halme fielen und sanken.
Untätig, wie geschlagen von ihren herben Worten, sah er ihr zu. Und sah doch nichts, denn die Augen brannten ihm – so heiß stieg es ihm von der Brust auf, bis unters kurze fahle Haar. Auch den Halsriegel riß er noch auf am feldgrauen Wams, streifte sich's vollends ab und warf's an den Feldrain. Daß sie das von seiner Mutter glauben konnte, um deren blutsaures Darben und Hungern er wußte, so weit sein Denken reichte! Daß sie – und wie sollte er's anders verstehen? – der Alten übers Grab hinaus ansann, auch ihn, den eigenen Sohn, mit ihrem Geiz hintergangen zu haben! Ihn, für den die Mutter sich bis zuletzt abgerackert hatte, um ihm – keine vier Wochen waren's her – noch ein Päcklein hinauszuschicken, seinem Verbieten zum Trotz! Er fühlte, wie die Empörung und das wehe Unbehagen, das er schon zuvor daheim, im leeren Haus empfunden hatte, ihm die Augen feuchten wollte. Da riß er sich zusammen, packte die Sense und tat's mit Mähen der Justine nach, die schon tief im Acker schwang und fällte.
Rot schwand die Sonne des heißen Sommertages hinter den Buchenwipfeln hinunter. In leuchtender Milde spannte sich der Abendhimmel. Aus dem Wald zog ein frischer, erquickender Hauch her, streichelte die erhitzten Stirnen, trieb ein verliebtes Gewimmel weißer Schmetterlinge vorüber. Während die Justine unbeirrt und ohne Rast fortarbeitete, hielt Ludwig Keinath oft und öfter inne und sah verstohlen zu ihr hin. Sein Mißmut war verraucht. Auch der letzte Rest verging ihm, wie er sie so schaffen und schreiten sah, ragend in Kraft, mit weitausladenden Gebärden. Das Kopftuch war ihr in den Nacken geglitten: dunkel und dicht legte sich das Haar um das strenge, geschlossene Gesicht mit den gebräunten Wangen und den herrschenden, sicheren Augen. Nun war's wieder der Stolz, der sich in ihm regte. Wo fand er eine, die so, ohne Ermüden, vom Morgen bis Abend sich umtat und rührte? War's nicht sein Acker, sein kümmerliches Erbteil, das sie selbstverständlich, als wär's ihr eigen, mitbebaute und miterntete? Und wenn sie, in fälschlichem Übereifer, nach verborgenen Schätzen spürte – dachte sie bloß an sich? War's nicht ihrer beider Wohl, nach dem sie begierig war? Ein sanftes, reuiges Gefühl überschlich ihn. Sehnsüchtig wartete er auf den Augenblick, da sie sich in ihrer geteilten Arbeit treffen mußten.
Sie kamen sich nahe. Er ließ die Sense ruhen, rührte an ihren Arm.
Sie sah flüchtig über ihre Schulter. Ein Lächeln, halb Triumph, halb versöhnliche Verschmitztheit, huschte um ihren Mund. »Als weiter! Was hältst Maulaffen feil? Noch ist net Feierabend!« Sie deutete auf den schmalen Winkel, in dem die Halme noch aufrecht standen. Doch klang es ihm gut in die Ohren. Eine Verheißung. Feierabend! Einmal mußte es doch Feierabend werden, und dann war seine Zeit. Dann wollte er reden, und sie würde zuhören, und sie mußten einig werden, wie er sich's vorgenommen hatte …
Vom Kirchturm her, der allein vom ganzen Dorf aus den Obstbäumen sich reckte, läutete gerade die Betglocke, als die zwei einsamen Mähder die Sensen sinken ließen über dem geschnittenen Korn. Es dämmerte. Eine Fledermaus schoß, ihnen zu Häupten, durch die verblassende Luft. Die Justine hatte nichts dagegen, daß ihr der Ludwig den Arm um die Hüften legte und sie mit sich auf den nahen Waldrain, unter die tiefhangenden Buchenzweige zog. Auch als er dort die Arme dichter um sie legte und mit Küssen ihren Mund suchte, ließ sie's geschehen. In der Ermattung nach der ruhelosen Arbeit des Tages, umflossen von der sinkenden Dämmerung, die hinter ihnen im Wald schon fast zur Nacht gediehen war, fühlte auch sie, wiewohl es tat, einen Augenblick ohne Besinnen sich im Arm eines andern zu bergen, und eine Ahnung des Hingebens zitterte durch ihre spröde Natur. Erst nach einer Weile drängte sie ihn nicht unsanft von sich.
»Jetzt sind Dummheiten genug g'macht«, erklärte sie, sich aufrichtend. »Jetzt laß uns was G'scheites reden, wenn d' was weißt!«
»Grad' was G'scheites weiß ich,« meinte er herzhaft. »Eigentlich hab' ich schon damit ang'fangen, Justin', und ich mein', du könntst mich zur Hälft' schon verstanden haben!«
»Net daß ich wüßt',« gab sie kurz zurück.
Sie gingen, wie in stillem Einverständnis, Seite an Seite auf einem Holzweg tiefer hinein in den nächtigen Wald, und sein Arm lag wieder zutraulich um ihre Hüfte. Ihre ungewöhnliche Nachgiebigkeit und das friedliche Dunkel unter den alten Buchen, in das kaum ein ferner Stern zaghaft hereinblitzte, mehrten seinen Mut. Er sprach von dem festen Vorsatz, mit dem er hergereist sei, und der sich ja mit ihren eigenen Wünschen treffen müsse: des Wartens sei's nun genug. Nun sie beide allein stünden in der Welt, sei's Zeit, Mann und Weib zu werden. Nicht wieder ins Feld wolle er, ohne daß sie eine bestimmte Frist sich gesetzt hätten und über das Aufgebot einig geworden seien. Wenn er, noch vor dem Frühjahr, wieder auf Urlaub käme, sei's zum Hochzeitmachen!
Er verwunderte sich selber, daß er sich so keck und flüssig aussprechen konnte. Praktisch redete er, wie's sein mußte: den Kaufladen, der nicht nach seinem Sinn war, möge sie behalten, bis der Krieg vorbei sei; verkaufe sie ihn dann, und er lege dazu, was er aus dem Haus seiner Mutter – so baufällig es sei – zu erlösen hoffe, könnt's wohl zum bescheidenen Hausstand langen, wenn er nebenher noch fleißig auf Taglohn gehe. Bloß das »Nebeneinanderherlotteln« – jahraus und jahrein, nicht ledig und nicht verheiratet, das vertrüg' er nicht länger! Das müss' ein End' haben!
Der Holzweg, den sie hinschritten, trat auf eine Lichtung. Unweit stand ein weißer Stein, und zwei Straßen, die aus dem Wald herliefen, kreuzten sich dort. Danach hieß die Kreuzung der »Weiße Stein«. Auch der Forst schied sich dort in Laub- und Nadelwald. Unter einer hohen Tanne war eine Bank, auf die sie sich setzten: man sah von da über die eine Straße fort, wie sie, von den dunkelmassigen Bäumen gesäumt, bergan stieg und unter dem blauen, sternüberrieselten Nachthimmel weiß und unendlich in die Unendlichkeit zu verlaufen schien.
Noch immer schwieg die Justine, während er sein Herz ohne Rückhalt aufschloß. Von dem Leben im Feld erzählte er. Er war als Fahrer bei einer Kolonne. Vom Dienst, von den Kameraden, von der großen Einsamkeit im fremden Land. Die Sehnsucht nach einem Heim, an das er denken konnte, zitterte scheu unter seinen ungelenken Worten. Noch nie hatte er, der verschwiegene Bauer, sich vor sich selber, geschweige vor einem andern, so bloßgelegt wie hier in der verschwiegenen Sommernacht
Ein Raubvogelruf, tief aus den Tannen, nachthaft-unheimlich, war das einzige, was mitunter seiner drängenden Stimme Antwort gab. Da unterbrach er sich endlich. Er suchte, fast ängstlich geworden, ihr Gesicht, das ihm der Schatten unter der Tanne verbarg.
»Und du? Was meinst jetzt du?« fragte er beklommen. »Red' du auch einmal, Justin'!«
»Ich lass' dich halt so daherschwätzen … Wie ein Brunnenwasser hört sich's in der stillen Nacht da und schläfert einen ein!« Gleich einem gutmütig-gelassenen Lachen begleitete es ihre Rede.
»Ich red' aber im Ernst, du!« Er preßte ihre Hand hart zwischen seinen Fingern, wie zur Bekräftigung. »Und ich möcht' eine Antwort!«
»Ich will's halt überlegen,« kam's ausweichend zurück.
»So kommst mir nimmer aus, Justin'! Überlegt ist g'nug – zehn Jahr lang. Ich brauch' eine Antwort!«
Eine Pause folgte, während der nur sein hastiger Atem laut war.
»Und wenn ich ja sagen möcht', und wir täten uns zusammen im Frühjahr, und der Krieg wär' net aus, und du kämst um draußen, und ich säß' als Wittib da und gar mit einem Kind – meinst, da wär' eine Überlegung drin?« Ihre Worte fielen, eins ums andere, klar und hart und ohne Aufgeregtheit, lauter schlagende, unwiderlegliche Vernünftigkeit.
Der Ludwig ließ ihre Hand los. Er krümmte sich in sich zusammen wie vor einem körperlichen Schmerz. Das Vernünftige – er begreift es wohl – und doch geht's ihm, ein eiskalter Stich, durch und durch. Als wär's gar nicht die Ungunst eines gedachten Schicksals – als wär' sie's, die Justine, die ihn mitten heraus aus dem verlangenden, liebebedürftigen Leben zum Tod brächte mit ihrem »Und du kämst um da draußen …« Wenn sie das kann, mit dürren Worten, heut' und in so einer Stunde, wie ist's dann beschaffen um ihre Liebe zu ihm? Wenn sie schon recht hat, hundertmal recht mit ihrer Besonnenheit gegen seinen Unverstand – ja, wie steht's um ihre Liebe?
Die Justine merkte nichts von dem, was in ihm vorging. Jetzt war sie ins Reden gekommen, und wie vorhin seine dringende, sehnsüchtige, so herrschte jetzt ihre klare, scharfe Stimme. Unerbittlich rechnete sie ihm vor und widerlegte seinen Leichtmut, Posten um Posten, mit ihren Zahlen. So viel brachte ihr der Laden; so viel trugen ihre drei Felder; so viel hatte sie erspart: das war ihr Zubringen. Und er? Selbst wenn er heil aus dem Krieg zurückkam, fand er gleich einen auskömmlichen Taglohn? Sein mütterliches Häuschen, die wacklige Hütte – noch nicht das Salz an die Suppe würd's ihm eintragen! War das dann ein Leben, um das sich das Heiraten verlohnte?
Und ich denk', du hast mich auch gern. Ein bißle bloß gern, hätte er rufen mögen. Aber der Ruf erstickte in seiner Brust, ehe er die Lippen auftat.
»Ja, wenn auch du dir was hättst versparen können!« fuhr sie in ihrem geschäftlichen Eifer fort. Sie sah gar nicht nach ihm hin. Sie sprach nur immer vor sich hinaus, so war sie besessen von ihrer rechnenden und rechtenden Gier. »Wenn – ich sag's wieder – deine Mutter uns einen Sparpfennig hinterlassen hätt'! … Und ich geb's noch net auf! Gewiß hat sie was versteckt! Oder hat auf einen Zettel geschrieben, wo sie's versteckt hat! Ich hab' mich bloß noch net recht können dahintermachen, 's ist einem auch zuwider, so lang das Tote im Haus liegt. In den Schubladen, weißt! Im Schuppen kann's versteckt sein, auf'm Dachboden – oder vielleicht, manche tun's jetzt, sie hat's vergraben – im Kartoffelgarten hinterm Haus oder im Acker … Bloß suchen heißt's!« Ihre Augen fieberten. Die starken Hände krampften sich auf und zu. Sie hatte alles um sich vergessen.
Von der Seite sah er sie an, mit weit offenen Augen. Wie eine Wildfremde erschien sie ihm jetzt. Er rückte von ihr weg. Leibhaftig sah er sie durch das Haus geistern, in der Kommode wühlen, den Boden abklopfen, die Erde aufgraben – bei den Kartoffeln hinterm Haus und draußen im Acker … »Ja, ja – im Acker – hast recht – dort wird se's vergraben haben – bloß suchen heißt's!« Er sagte es mit einem Male laut von der äußersten Bank her, mit einer fremden, eisigen Stimme, die gar nicht aus ihm zu kommen schien.
Die Justine horchte auf, nickte wie jemand, der sich verstanden glaubt und zugleich in einem überstürzten Gedankenlauf anhält und umkehrt. »Ich sag' bloß, überlegt will's sein mit dem Heiraten, 's pressiert mir halt net so unvernünftig wie dir, Ludwig!« Sie wandte den Kopf nach ihm, streckte die Hand aus … Sie sah und sie griff ins Leere. »Ludwig, wo bist denn?« Sie meinte Zweige knacken zu hören, irgendwo im Gebüsch. »Ludwig! Was gibt's denn? Ludwig!« Sie stand auf. Weiß lagen die sich kreuzenden Straßen, weiß und leer unterm Sternenhimmel. Dort – huschte dort nicht ein Schatten, im Zickzack, auf der Straße, die bergan stieg und in die Unendlichkeit zu verlaufen schien? »Ludwig!« Zornig klang es ein letztes Mal durch die einsame Nacht …
Jetzt war's ihr über den Spaß. Wenn ihm nach Narrheiten der Sinn stand, ohne Anlaß und Zweck – ihr nicht. Mocht' er sie suchen – sie suchte nicht ihn! Wohl zuckte es ihr durch den Kopf, sie könnte was Unrechtes gesagt und ihn bös gemacht haben. Seine eigne Schuld war's, wenn er so dumm war und kein vernünftiges Wort hören konnte!
Furchtsamkeit war ihre Sache nicht. Mit großen, festen Schritten ging sie den Holzweg hin, den sie gekommen waren, und trat aus dem Wald. Eine breite rötliche Scheibe, hob sich der Mond über dem fernen Kirchturm herauf. Der Acker lag, wie sie ihn verlassen hatten, mit seinem gemähten Korn im Winkel der Buchen. Bedächtig nahm sie ihre Sense und, in einer mehr haushälterischen als gutmütigen Anwandlung, auch die seinige. Mit einem eigentümlichen, spürenden Blick streifte sie den Acker, trat den Heimweg an. Bah – der Ludwig! Früh genug würd' er morgen bei ihr in den Laden treten und den Bubenstreich ihr abbitten …
Der Morgen kam, und die Justine Brahner stand in ihrem Kaufladen, wog und rechnete wie jeden Tag. Der Ludwig Keinath kam nicht. Als die Stunde vorschritt, sah sie manchmal neugierig hinüber nach dem kleinen Haus über der Gasse. Er hatte die Läden zugesperrt. Wie lang' wollt' er wohl noch schlafen? Ihr konnt's gleich gelten. Einmal kam er doch und bettelte um gut Wetter.
Es wurde Mittag, und die Fenster öffneten sich nicht. Die Justine wog und waltete weiter, aber je länger, je öfter huschte es doch wie Unruhe über das strenge Gesicht, und die starken Arme schafften nicht ganz so gleichmäßig wie sonst. Doch erst nach Feierabend und wie zufällig ging sie hinüber, pochte an einen der Läden. Nichts regte sich dahinter. Sie ging an die rückwärts gelegene Haustür, klinkte. Verschlossen …
Über die Hecke des Kartoffelgärtleins rief die Nachbarin, die Frau des Schreiners, sie an. Ob sie denn nicht wisse, daß er fort sei, der Keinath-Ludwig?
»Wohin – fort?« fragte die Justine.
»Halt wieder ins Feld! Mit dem frühesten!« lautete die Antwort. Der Haist, der Schlossertoni, wie er, um Hufeisen zu holen, nach Sonnenaufgang über Land gefahren sei, hab' ihn noch gesehen. Da sei der Ludwig schon hinter der Mauer, auf dem Friedhof, bei seiner Mutter Grab gestanden – mit dem Tornister auf dem Buckel. »Hätt's net dacht, daß er's so kurz macht!« schloß die Schreinersfrau mit einer lauernden, schadenfrohen Bedeutsamkeit.
Eher hätte sich die Justine die Zunge abgebissen, als daß sie ihr erschrockenes Staunen sich hätte anmerken lassen. Aber während sie umkehrte, schaffte und kochte es in ihr. Fort! Ohne Abschied! War's denn nur möglich? … Oh, wenn das wahr blieb, das vergaß sie ihm so bald nicht! Konnte sie dafür, daß er den Ernst und die Vernunft nicht vertrug? So ein Narr! So ein Dickkopf! So ein Heimtücker! Bloß erst schreiben sollte der wieder aus dem Feld! Bloß erst um Verzeihung kommen, wenn's ihm leid wurde!
Aber er schrieb nicht. Die Tage vergingen einer um den andern. Das Korn war schon gedroschen. Die Kartoffelernte ging zur Neige. Die Justine stand wie immer tagsüber hinter ihrem Ladentisch. Des Abends ging sie ins Feld – aufrecht, mit großen Schritten. Niemand sah ihr im verschlossenen Gesicht eine Veränderung an, im sicheren handfesten Gehaben. Auch des Keinath Acker am Buchenwald hatte sie längst wieder bestellt, wie sonst, und mit Wintergerste angesät. Das hatte sie nun schon so in der Gewohnheit. Und einmal würd' er ja doch schreiben …
Aber er schrieb nicht. Es ging in den November, und der Briefträger gab noch immer keinen Feldpostbrief im Kaufladen ab. Da kam ein seltsames Gerede auf im Dorf. Die Kinder brachten's zuerst vom Holzholen mit, aus den Buchen. Die Brahner-Justine sei dabei, des Keinaths Acker am Wald umzugraben, wo schon die Wintergerste handhoch aus dem Boden sei. Bis in die späte Nacht grabe und grabe sie … Die Erwachsenen wollten's nicht glauben. Aber als der Justine ihr Laden einen Nachmittag und noch einen vor der Zeit geschlossen war, machte der und jener einen Umweg zu des Keinaths Acker. Und da stand wahrhaftig die Justine. Der Wind, der rauh über die rostigen Buchen herblies, zauste ihr dunkles Haar. Mit gespreizten Beinen, den breiten Rücken gestrafft, schwang sie die Hacke, der jungen Saat zum Trotz, und riß ungestüm die Erde auf. Mitunter, wenn der Schlag auf einen Stein traf, horchte sie auf, beugte sich gierig vor, wühlte mit den Händen, als gelte es einen Topf mit goldener Last zu bergen. Dann hob sie von neuem an, doppelt zäh und leidenschaftlich, und riß den unschuldigen Boden auf … Die, die ihr fernher zusahen, schüttelten den Kopf: es stimmte; es war nicht richtig mehr mit der Brahner-Justine …
Am Freitag in der gleichen Woche ließ der Schultheiß die Justine zu sich kommen.
»Was ist's mit dir, Justin'? Gräbst, so lass' ich mir sagen, dem Keinath sein' Waldacker um, nachdem d' eben erst selber d' Wintergerst' eingesät hast?« Der Schultheiß sah sie mit einem Gemisch von Neugier und Vorwurf an.
»'s ist mein' Sach, was ich sä' und grab'!« gab sie, an ihm vorbeiblickend, finster zurück.
»So lang's kein Ärgernis gibt … Länger net! Sonst freilich kannst machen, was d' magst. Der Acker wird ja der deinig' jetzt!«
Nach den letzten Worten, die er geflissentlich betonte, strichen ihre Augen verständnislos über ihn hin.
Der Schultheiß nahm allerhand Papiere von seinem Tisch auf und tat ihr im Amtston zu wissen, daß vom Kriegslazarett in X eine Bescheinigung eingegangen sei, wonach der Wehrmann Ludwig Keinath an den Folgen einer durch Fliegerbombe verursachten Verwundung gestorben sei. Beigelegt war ein vom Kriegsgericht beglaubigtes Schreiben des Inhalts, daß der pp. Keinath das Seinige rechtsgültig der Justine Brahner im Fall seines Ablebens vermache. Das Schreiben reichte der Schultheiß ihr hin.
Die Justine hielt es in der Hand, ohne drin zu lesen, und blieb stehen wie jemand, der auf Weiteres erst noch harrt.
»Was fehlt noch?« fragte der Schultheiß; nicht allzu freundlich.
»Ist's auch wahr, daß er tot ist?« sagte sie mit einer seltsamen Hast und das »tot« mit scheuem Widerwillen vorstoßend.
»Guck selber!« Er hielt ihr den Totenschein unter die Nase.
Sie las lange. Ungläubig wiegte sie den Kopf zwischen den Schultern und ging. Also tot war er – der Ludwig … Also wieder hat sie recht behalten, ist das erste, was sie denkt, wie sie überhaupt zu denken wieder anfängt. Was hätt's ihm nun geholfen und ihr, wenn sie auf sein Betteln wär' eingegangen, und sie die Eh' ausgemacht hätten? Und was ihn jetzt getroffen hat – wenn's ihn später, nach der Hochzeit, überkommen wär' – wieviel schlimmer wär's noch gewesen! Jawohl, recht hat sie gehabt …
Auch an diesem Tag, aber erst gegen Abend, machte die Justine sich ans Graben. Sie grub sogar noch zäher und heftiger als sonst. Mit einer wahren Wut riß sie auf und um, was noch nicht umgerissen war vom Acker – von ihrem Acker. Aber als es dunkelte und der Wind mit Stöhnen über den Wald fegte und mit welkem Laub sie ins Gesicht schlug, fuhr sie auf wie aus einem Traum und warf die Hacke von sich wie einer, der sagt: Einmal und nicht wieder … Und langsam schritt sie den Buchen zu, ganz langsam hinein in den Wald, den Holzweg hinunter. Es war eine kühle, klare Nacht. Tausendfältig funkelten die Sterne durchs kahle Astwerk. Am »Weißen Stein«, wo die Straßen sich kreuzten, stand die Bank unter der Tanne. Dort setzte sie sich und schaute und schaute, die weiße Straße hinan, die in die Unendlichkeit zu verlaufen schien. Auf der hatte sie in der warmen Mitsommernacht den Schatten des Ludwig Keinath sich entschwinden sehen … Was hinter ihrer steilen, rechthaberischen Stirn vorging, wer vermöchte es zu erraten! Wartete sie auf den, den sie so lange hatte warten lassen? Sie war daran verzweifelt, den Schatz im Acker zu finden. Ahnte sie, daß sie um dessentwillen den größeren Schatz, der seine Liebe war, verschmäht und verloren hatte? Hatte doch nicht sie recht behalten, sondern er?
Wochen vergingen und Monate und Jahre. Die Justine Brahner stand in ihrem Laden wie immer, wog und rechnete und gab ihre Waren hin. Und nach Feierabend bestellte sie ihr Feld. Sie war ganz wieder die alte. Und doch schüttelten die Leute im Dorf, wenn sie's nicht sah, die Köpfe. Und wenn einer fragte: Warum?, sagten sie in ihrer eigentümlich bildhaften Sprache, mit einem geheimnisvollen Raunen: »Des Nachts geht sie in die Wälder, die Justin'!« Das hieß, daß ihrem Geist nicht zu trauen war, obschon es unter Tags keiner erriet. Aber der und jener hatte sie gesehen, wenn er spät noch, im Dunkeln, unterwegs war und am »Weißen Stein« vorbeikam: da schritt ihre große, starkknochige Gestalt aufrecht den Holzweg her, oder sie saß steif und steil auf der Bank bei der Tanne und schaute aus, immer aus, der weißen Straße nach, in die Unendlichkeit …