Detlev von Liliencron
Roggen und Weizen
Detlev von Liliencron

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Das Bild

Große Abendgesellschaft beim Kammerherrn der Herzogin. Der Musiksaal ist stark besucht: Die gewöhnliche Zuhörerschaft: die meisten verstehen nichts von dem, was vorgetragen wird. Nach jedem Spiel, nach jedem Lied große, mehr oder minder geheuchelte Begeisterung. Eine zwanzigjährige Prinzessin sitzt am Flügel, und, sich selbst begleitend, singt sie Schumann-Eichendorff: »Es zog eine Hochzeit den Berg hinan.« Sie singt es zum Entzücken. Lebhafte Bewegung nach Beendigung. In all diese Bewegung schaut, von der Wand lächelnd, gutmütig das Brustbild eines jungen Mädchens. Sie trägt ein weißes Kleid, in das, in die weiße Farbe, ein Tropfen Zitrone hinein getan ist. Sie ist gänzlich ohne Schmuck. Nur auf der rechten Schulter ist ein kleiner lila Syringenzweig festgenestelt.

Ich wende mich an eine alte Gräfin.

»Gnädigste Gräfin, wen stellt das Bild vor?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Ich entsinne mich nicht, es je gesehen zu haben.«

»Aber es hängt doch seit zwanzig Jahren hier.«

»Sie machen mich neugierig.«

»Nein, wirklich nicht? Sie hätten nie gehört?«

»Ich versichere Ihnen, Gräfin.«

»Nun, man spricht nicht gern von ihr. Sie ist damals, soll ich sagen, davongelaufen, durchgegangen mit einem . . . ich weiß nicht mit wem . . .«

»Sie ist doch die Tochter des Kammerherrn? Ist später keine Aussöhnung gewesen?«

»Ich bitte Sie,« antwortet vorwurfsvoll die Gräfin, »eine solche Geschichte, eine solche Person«.

»Aber dann ist es mir nicht begreiflich, daß das Bild hier hängt.«

»Es ist vergessen worden.«

»Vergessen worden, das Bild . . .«

Vergessen worden?

Und das gutmütige, lächelnde Gesicht des jungen Mädchens mit der lila Syringenblüte schaut in die Gesellschaft.

Vergessen worden . . . vergessen worden.


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