Detlev von Liliencron
Roggen und Weizen
Detlev von Liliencron

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H. W. Jantzen Wwe.

Heinrich Wilhelm Jantzen, Großhändler und gewesenes Mitglied des Hohen Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, war gestorben.

Als der schwere Eichensarg aus der Vorhalle der Jantzenschen Villa in Pöseldorf bei Hamburg hinausgetragen wurde, war es ein herrlicher Maimorgen; ein Morgen, wie wir ihn in Norddeutschland alle zwanzig bis dreißig Jahre einmal in diesem Monat erleben dürfen. Überall war jenes erste frische Grün auf Baum und Strauch, das, acht bis vierzehn Tage unverändert bleibend, unserm Herzen – je älter wir werden, je mehr – eine so wohltuende Freude gibt. Selbst die vielhundertjährigen Eichen, die an der Landstraße, die den großen Garten der Villa an der südlichen Seite begrenzte, standen, unter denen schon die Cistercienserinnen des Klosters Harvestehude gesessen und manch weltlichen Wunsch nach einem plötzlich erscheinenden Ritter gehabt haben mochten, hatten sich nicht länger gesträubt, die krausen Blätter zu zeigen.

Ein köstlicher, stiller Frühlingsmorgen in der Tat. Vom Hügel aus, wo der Jantzensche Herrensitz lag, sah man lautlos die Uhlenhorster Fähre herüberdampfen. Deutlich klangen von dort die Töne einer italienischen Orgel, deutlich auch wurde der Italiener selbst sichtbar, wie er mit der Rechten die Mütze vor die Übergesetztwerdenden hielt, und so, die Orgel mit dem linken Knie hebend, spielend und Geld einsammelnd zugleich, langsam von Fahrgast zu Fahrgast ging. Brachen die Töne des Leierkastens ab, so klangen schwach, aber deutlich, die Lieder einer Nachtigall vom andern Ufer herüber. »Flußüberwärts singt eine Nachtigall.« Dazwischen gellten die unaufhörlichen Triller des Kanarienvogels aus dem Kutscherhause hinter der Villa; und endlich pumperte in der Ferne, zwischen Bäumen, die den Ton verschlangen, versteckt Takttrommelschlag, in den sich zwei Querpfeifen mischten. Heller wurde der Ton, als die von einer Felddienstübung zurückkehrende Kompagnie über die kleine Alsterbrücke marschierte. Die Helme und Gewehre blinkerten wie Fensterscheiben in der Abendsonne.

In all diese Musik hinein wurde der Sarg aus der Halle durch den Garten getragen, um auf den auf der Straße stehenden Leichenwagen gestellt zu werden. Als die große schmiedeeiserne Pforte, eine gelungene Nachahmung Augsburger Kunst aus dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts, geschlossen wurde, und sich die Leidtragenden in ihre Wagen gesetzt hatten, und als sich dann der Zug in Bewegung setzte, wurde hinter einem Fenster, es war das Arbeitszimmer des verstorbenen Senators, eine Frau sichtbar.

Sie hielt ein Taschentuch an den Augen und schien in großer Erregung den Kopf hin und her zu wiegen. Doch als der letzte Wagen verschwunden war, machte sie eine rasche Wendung nach dem Zimmer zu und schleuderte, im wahrsten Sinne des Wortes, das Tuch auf einen Sessel, prüfte, ob die Türen verschlossen waren, und ging dann, hochaufgerichtet, mit rastlosen Schritten auf und nieder. Und grade mochte der Sarg auf dem Sanct Katharinenkirchhofe langsam an den Seilen in die Familiengruft gesenkt werden, und der Prediger die letzten Worte sprechen für den »geliebten Dahingeschiedenen«, als die Witwe in ihrem Hin- und Widergehen anhielt, einen Schlüssel aus der Tasche zog und sich an den Schreibtisch ihres verstorbnen Ehemannes setzte, um sich in die nachgelassenen Papiere zu vertiefen. Die Urkunden und Briefe, in denen sie rasch hin und her blätterte, waren gleichsam ein Kissen für der Witwe kluge Augen, die sich wie Stecknadeln hineinbohrten. Wenn sich die Stirn der zweiundsiebzigjährigen Frau tiefer auf den Tisch beugte, berührten die zwei falschen schwarzen Löckchen, die zu beiden Seiten der Schläfen eingesteckt waren, fast die Schrift. Ihre grauweißen Haare waren durch eine tiefschwarze Krepphaube bedeckt.

Endlich schien sie von der Einsicht befriedigt zu sein und ging, die Augen nach unten gerichtet, mit auf dem Rücken verschränkten Armen, nicht so schnell wie vorhin, wieder auf dem mehrere Zoll dicken Teppich hin und her. Für eine alte Frau, wie sie es war, waren die Schritte merkwürdig straff. Um die schmalen, eingekniffnen Lippen spielte fortwährend ein kaltes, herbes Lächeln.

Geiz und Hochmut, vielleicht wäre hier der bessere Ausdruck: Repräsentationswut, so selten in einer Menschenseele vereint, stritten bei ihr unaufhörlich um den Vorrang.

Und während sie die Reise auf dem Teppich fortsetzte, war es still im großen Hause. Keine Nachtigall, keine Trommel, kein Leierkasten ließ sich hören; nur der Kanarienvogel im Kutscherhause sandte auch hierher seine lärmenden Tirilis, doch klang es so gedämpft, als hätte der Ton erst hundert Zimmer durchzogen.

* * *

Der verstorbne Senator war der einzige Sohn des reichen Handelsherrn Johannes Jantzen. Ohne den Kampf um den täglichen Bissen Brot kennen zu lernen, hatte er sich frühzeitig auf den Wunsch seines Vaters, und das lag ja in der Natur der Verhältnisse, dem Kaufmannstande gewidmet, um dereinst das Geschäft selbständig fortzuführen. In seinen Jugendjahren hatte er sich in London, Paris, Lyon aufgehalten, war zwei Jahre in Mexiko gewesen, und darauf in die Firma des Vaters eingetreten. Im Jahre 1820 hatte der zweiundzwanzigjährige die neunzehn Sommer zählende Tochter eines schlesischen Geschäftsfreundes kennen gelernt, das einzige Mal in seinem Leben »Liebe gefühlt« und sie geheiratet trotz des Einspruches seines Vaters, der sie nicht zu den »Gebildeten« (wie man in Hamburg, mit bezeichneter Reibebewegung des zweiten Fingers am Daumen, sagt) zählte, da sie nach den genauest von ihm angestellten Forschungen nur zweihundertzwanzigtausend Taler preußisch Courant höchstens erben würde, soweit überhaupt ein sichres Abwägen ihres Vermögens möglich war. Dennoch fand Herr Johannes, als die junge Frau an der Seite seines Sohnes in Hamburg einzog, Gefallen an der ruhigen, kalten Schönheit.

Bald darauf starb der Vater und hinterließ sein unermeßliches Vermögen, das selbst in Hamburg Achtung erzwungen hatte, dem Sohne.

»Passionen« oder ein Steckenpferd für irgend etwas auf der Welt, außer seinen kaufmännischen Spekulationen, hatte Heinrich Wilhelm nicht. In den vierziger Jahren allerdings bildete er sich einmal ein, Kenner guter Gemälde zu sein, und hatte zu einem ihm bekannten Maler aus Süddeutschland die Äußerung getan, daß er achthunderttausend Mark Banco »daran wenden« wolle, wenn jener »eine kleine Gallerie berühmter Meister anzulegen« ihm helfen würde. Das ließ sich der Maler nicht von neuem sagen, und »legte« sie ihm wirklich »an«, aber sehr zu Gunsten des eignen Geldbeutels. Die Leidenschaft für seine »Bilder« erkaltete aber rasch.

In den fünfziger Jahren glaubte er plötzlich eine ungemeine Vorliebe für das Hühnergeschlecht zu haben. Grade waren die cochinchinesischen Hühner in Mode. Und so wimmelte bald ein großer, mit Luxus ausgestatteter Stall und Hof voll allererdenklichsten Arten jener Vögel. Drei Tage fütterte sie Herr Jantzen selbst, dann war auch diese Freude vorbei. Und nun war er nur das, was er stets gewesen war: Kaufmann.

Sein Leben war regelmäßig. In allen Jahreszeiten stand er gleichmäßig um sechs Uhr auf und machte, mochte das Wetter sein, wie es wollte, bis sieben Uhr einen Spaziergang im großen Park. Zu Herbst- und Winterzeiten waren nachts zahlreiche Arbeiter beschäftigt, die Wege von gefallnen Blättern, von Schmutz und Schnee zu säubern, so daß er, soweit es denn überhaupt in jenen Tagen durch Menschenkraft ermöglicht werden kann, glatte und reine Wege vorfand.

Um neun Uhr fuhr Herr Jantzen, unterwegs die »Hamburger Nachrichten« lesend, in neunzehn Minuten nach seinem Kontor in der alten Gröninger Straße und arbeitete hier in seiner kleinen ungemütlichen Stube bis Mittag. Ein Diener brachte ihm dann ein Spitzglas Portwein und zwei belegte Butterbrote. Es kam die Börsenzeit, wo der allmählich alt werdende Herr, an seinen Pfeiler gelehnt, die erwartete, die mit ihm zu tun hatten. Auf seinem klugen Gesicht, das sonst so kalt und verschleiert wie eine Landschaft im Nebel war, blitzte es, wenn er ein Opfer sah, das im Gedränge auf ihn zusteuerte. Wie viele dumme Fliegen hatte die kluge Spinne schon an jenem Pfeiler gefangen und ausgesogen.

Hatte er nichts zu tun in den Gemeindeangelegenheiten seiner Vaterstadt, so war er Punkt sechs Uhr zu Hause und nahm hier hastig das Diner ein. In Theater, Konzerte und fremde Gesellschaften zu gehen, war er nicht zu bewegen, namentlich seitdem er grau geworden. Nur das noch machte ihm Vergnügen, einige Male im Jahre nach New-York mit den großen Schiffen der »Hamburg-Amerika-Linie« zu fahren. Er blieb dann drei bis vier Tage dort, sah nach dem »Rechten«, sein Geschäft anbelangend, und fuhr wieder zurück.

Endlich war er nach kurzer Krankheit, im vierundsiebzigsten Lebensjahre, gestorben.

Mit seiner Frau hatte er, nachdem sie ihm, wie auf Befehl, zwei Söhne geschenkt, kalt und fremd gelebt. Ein Versuch ihrerseits, die Zügel der Regierung an sich zu reißen, war kläglich ausgefallen. Anders stellte sich sofort die Lage, als sie ihm Unterwürfigkeit und Gehorsam zeigte. Nun regierte sie ihn willenlos – in bezug auf die Privatangelegenheiten des Hauses. Wenn auch kein Hôtel Rambouillet, so nahm doch die Villa Jantzen eine besondre Stelle in Hamburg ein. Die bei der erlauchten Republik beglaubigten Gesandten, fremde und einheimische Künstler und Gelehrte, und überhaupt Alles das, was man Vertreter der guten Gesellschaft nennt, gingen zahlreich ein und aus. Die Diners waren berühmt, wie denn das nordische Venedig zu allen Zeiten seinen Ruf hat und haben wird als Quelle aller jener guten Sachen, die das materielle Leben so angenehm machen.

An den Söhnen hatten die Eltern, nach ihrer Weise, keine Freude. Beide zeigten keine Spur von dem Wesen des Vaters oder der Mutter. Sie waren weichherzig, wachsartig, und vor allem mangelte ihnen jene rasche Auffassungsgabe und Klugheit, durch die sich die Eltern auszeichneten.

Der ältere mußte, gegen seine Natur, Kaufmann werden, und war, da er durchaus kein Geschick zeigte und sich nicht um das Geschäft kümmerte, nach wenig Jahren »fertig«. Der alte Jantzen mußte ein selbst bei seinem Vermögen fühlbares Stück Geld hergeben, um Name und Firma zu retten. Bald darauf starb dieser Sohn.

Mit dem zweiten, der, wie sein Großvater, Johannes hieß, hatte es eine andere Bewandtnis. Während die Mutter den Ältesten in jeder Weise verzogen hatte, behandelte sie den zweiten wie ein Stiefkind. Von seiner Geburt an war sie hart gegen ihn gewesen.

Ebenso weichherzig und gutmütig wie sein älterer Bruder, hatte Johannes eine große Vorliebe für allerlei Getier, für Schmetterlinge und Käfer. Als er herangewachsen war, erlaubte ihm der Vater, in Preußen die höhere Forstkarriere zu ergreifen. Aber dies schlug fehl, weil Johannes die Examina zu machen nicht imstande war. Darauf hatte er Kollegia auf der landwirtschaftlichen Akademie in Poppelsdorf gehört. Am besten gefiel ihm dort das Studentenleben. Aber auch hier haperte es mit dem Examen. Endlich kaufte ihm der Vater ein großes Gut in Schleswig-Holstein. Hier ging zuerst alles gut. Als er sich aber mit einem seiner Meiereimädchen näher eingelassen hatte, und ehrlich genug war, sie später zu ehelichen, war der letzte Faden zwischen Mutter und Sohn zerschnitten. Von diesem Augenblicke an haßte sie ihn. Nie hatte sie »das infame Frauenzimmer« vor sich gelassen.

Die Ehe war nicht glücklich. Als die im Arbeiterstande geborne erst »Madame« war, wußte sie ihren schwachen Mann so zu nehmen, daß er ihr in seiner großen Gutmütigkeit Alles gewährte. Bald kamen Schulden, das Gut mußte verkauft werden. Ein kleineres wurde gekauft. Der Vater half ein paarmal mit großen Summen nach; dann aber, als sich immer von neuem Schulden über Schulden häuften, enterbte der Senator (der ältere Bruder war noch nicht gestorben), hauptsächlich auf den Wunsch der Mutter, seinen unglücklichen Sohn Johannes. Gänzlich nun heruntergekommen, verließ er Weib und Kinder, erhielt vom Vater noch einmal eine große Summe zur Reise nach Nordamerika und war seitdem verschollen. Fünfzehn Jahre ungefähr waren am Todestage des Vaters dahingegangen, seit Johannes Abschied von Europa genommen hatte.

* * *

Zwei Jahre hatte der Sarg des verstorbenen Senators in unveränderter Lage im Erbbegräbnisse auf dem Sanct Katharinenkirchhofe gestanden, als an einem heißen Junitage ein Mann, grau, elend, in abgeschlissenen Kleidern, durch das offenstehende Gartentor der Villa Jantzen einbog. Ein mit Grasmähen beschäftigter Gärtner schrie ihm auf plattdeutsch zu, daß er sich zum Teufel scheren solle. Aber der Fremde beachtete es nicht, sondern ging, so schnell es die magern, kraftlosen Beine erlaubten, auf das Herrenhaus zu und verschwand in der Halle.

. . . und der Sohn stand vor seiner Mutter. Scheu, den Blick nach unten; scheu und trotzig zugleich. Nur einen Augenblick war die Witwe überrascht, dann übersah sie rasch die Sachlage und sagte ihm mit trockner Kehle, kalt:

»Sprich, was du von mir willst.«

»Deine Liebe, Mutter, Deine Verzeihung. Viele Jahre bin ich in der Welt umhergeirrt ohne Glück, ohne Ruh. Alles was ich unternahm, scheiterte.

Vor einigen Monaten hörte ich in der Kapstadt, daß mein Vater gestorben sei. Eine unbezwingbare Sehnsucht nach meiner Heimat überfiel mich, nach meiner Frau, nach meinen Kindern, nach Dir, Mutter, nach Dir.«

Er hatte das Alles schnell, redselig, mit fremdem Accent gesprochen; spanische, holländische, englische Worte waren eingeschoben.

. . . und nun hob er das Auge, aber nur, um es wieder zu Boden zu schlagen. Seine Mutter sah ihn an wie einen Niegesehnen, Ungekannten. Wie eine Säule stand sie minutenlang, dann ging sie rasch und energisch an den Schreibtisch, schrieb ein Billet an ihren Anwalt und überreichte es ihrem Sohne. Es war eine Anweisung auf dreitausend Mark. Als sie ihm das gesagt hatte, war sie im Nebenzimmer verschwunden, und befahl bald darauf, daß die im Garten spazierenden Pfauen sofort abgeschafft werden sollten, weil sie nicht mehr das widerliche, »unausstehliche« Geschrei ertragen könne.

Einige Tage nach diesem Vorfall schickte sie einen Brief an ihren Sohn in die kleine holsteinische Hafenstadt, wohin Johannes zur größten Verwunderung seiner in den dürftigsten Verhältnissen lebenden Frau und seiner Kinder den Weg gefunden hatte. In dem Briefe verbat sie sich für die Folge jegliche »fernere Bettelei«.

Darauf war es Jahre hindurch still; sie hörte und merkte nichts von ihrem Sohne und seiner Familie, bis eines Tages ein Schreiben eines Verwandten ihrer Schwiegertochter, eines uralten ausgedienten Dorflehrers, ankam, das, mit zitternder Hand geschrieben, schloß: ». . . . und sollte sich dennoch nicht das steinerne Herz der Frau Senator erweichen, jetzt wo die Not am größesten, so wird eine ewige Gerechtigkeit« (die beiden letzten Worte waren dreimal, mit Hilfe eines Lineals, unterstrichen) »die Mittel und Wege zeigen, Ihrem unglückseligen Sohne dasjenige des großen Vermögens zukommen zu lassen, das ihm von Rechtenswegen zusteht.«

Die Witwe ließ ungesäumt anspannen und fuhr, unterwegs immer wieder den Paragraphen 253 des Strafgesetzbuches wiederholend, mit dem Briefe zum Staatsanwalt. Nur dem feinen Takte und der gewinnenden Herzlichkeit dieses hohen Beamten gelang es, daß nicht wirklich der alte Emeritus wegen Drohung oder Erpressungsversuch angeklagt wurde.

* * *

Am achtundsiebzigsten Geburtstage der Witwe hatte die Kammerjungfer das Unglück, ihr über die linke Hand eine Tasse heißen Kaffees zu gießen. Sie wurde deshalb auf der Stelle entlassen. Ehe sie aber aus dem Hause ging, trat sie noch einmal zu der alten Dame ins Zimmer, und sich für viele kleine Härten und unliebsame Äußerungen, die sie während ihrer Dienstzeit hatte ertragen müssen, rächend, rief sie der vom Sofa erstarrt Aufspringenden laut und höhnisch zu, daß sie eine grausame und harte Person sei, und geizig, und daß sie ihren Sohn auf Lumpen sterben lasse, wie alle Menschen sprächen, und, und, und . . .

Es war der alten Frau zum erstenmal im Leben begegnet, daß ein Mensch es gewagt hatte, ihr Frechheiten ins Gesicht zu sagen. Ehe sie sich ganz von dieser unerhörten Tatsache erholt hatte, war eine Kammerfrau gekommen, um ihr beim Auskleiden behilflich zu sein. Sie schickte sie mit einem unartigen Worte wieder weg.

Nun war sie allein. Als sie sich zur Ruhe gelegt hatte, konnte sie nicht schlafen. Immer und immer wieder hörte sie die Worte des schreienden Mädchens. Und so furchtbar waren ihr diese, daß es ihr vorkam, als würden sie ihr von allen Seiten zugerufen. Sie wollte sich zwingen zu schlafen. Es gelang nicht. Nachdem sie Licht gemacht hatte, stand sie auf, kleidete sich vollständig an und ging rastlos auf und nieder. Immer rief es ihr von allen Seiten zu: Dein Sohn stirbt im Elend.

Schneller und schneller wurde der Schritt; sie kämpfte augenscheinlich mit einem Entschluß. Nun war er gefaßt. Sie riß am Klingelzug. Als nach einigen Minuten die Kammerfrau ganz verstört hereintrat, rief die Witwe ihr entgegen:

»Der Wagen. Sofort. Ohne Lakai.«

Als das Coupé, zum höchsten Unbehagen des fetten Kutschers, der es grenzenlos unpassend fand, so früh am Tage (es war noch nicht vier Uhr) aufstehn zu müssen, vor der Halle hielt, befahl die Frau Senator, die einen prächtigen braunen Pelz umgeworfen hatte, im Einsteigen:

»Nach dem Kieler Bahnhof. Schnell.«

Schon nach einer kleinen halben Stunde waren sie in Altona am Bahnhofe angekommen. Der Kutscher mußte zurückfahren und Frau Jantzen trat in die kalte, spärlich erhellte Vorhalle. Eine rauhe, ungemütliche Novembernacht wälzte sich schwer von den Dächern und verschwand mürrisch in einen ebenso ungemütlichen Novembertag.

Um sechs Uhr dreiundvierzig Minuten ging der erste Zug nach dem Norden. Welch lange Zeit bis dahin. Kein Mensch war noch zu sehn. Die alte, ach, jetzt so alte hilflose Frau versuchte die Türen zu öffnen. Nirgends gelang es. Plötzlich wurde sie heftig angeredet. Es war ein Zollbeamter, der in ihr eine Schmugglerin vermutete. Sie setzte ihm ruhig auseinander, daß sie sich verfrüht habe, und nannte ihren Namen. Der Beamte bot ihr sofort höflich den Arm und führte sie in den Wartesaal. Wie öde es hier war. Wie trostlos sah die Flamme in die englischen Jagdbilder, die an den Wänden hingen, hinein. Der Kellner erschien langsam gähnend, sich streckend, und wurde erst munter, als ihn Frau Jantzen anredete.

Nach und nach füllten sich die Säle. Die Witwe war froh, unter den Ankommenden keine Bekannte zu treffen. Endlich öffnete der Pförtner die Türen und rief: »Einsteigen nach Norden.«

In ihrem Coupé standen, wohl durch ein Versehn, die Fenster an beiden Seiten offen. Sie merkte es nicht.

Auf einem der nächsten Haltepunkte stieg ein General mit einem jungen Generalstabsoffizier ein. Der General wandte sich sofort, der Meinung, daß es der Dame zu schwer gefallen, die Fenster zu schließen, an Frau Jantzen:

»Gnädige Frau gestatten, daß ich Ihnen behilflich bin.«

Sie merkte es nicht.

In Neumünster mußte sie die Bahn verlassen und nahm Extrapost, um nach langer Fahrt endlich die kleine Stadt zu erreichen, wo ihr Sohn wohnte.

Und nun war sie angekommen.

Zu den vielen Scheußlichkeiten einer kleinen Stadt gehört nicht nur, daß jeder weiß, mit wie viel Schlucken jeder seinen Morgenkaffee zu nehmen pflegt, sondern die uns Menschen angebornen Eigenschaften des Neides und der Bosheit, des Mißgönnens und der Verleumdung wuchern hier in größern, üppigern Blumen als anderswo. Und wo durchaus nichts entdeckt werden kann, wird erfunden. Und was wurde Alles erfunden, als nachmittags gegen drei Uhr Frau Jantzen, halbtot vor Aufregung, beim Gasthause vorfuhr.

Die Fahrt war trostlos gewesen. Kalt, nebelig, zwischen Tau- und Frostwetter. Auf der Brache, auf den Mooren und Heiden lag der Schnee wie Streuzucker auf einem braun gebratnen Pfannkuchen. Die bald ferner, bald näher bei der Landstraße liegenden Wälder sahen öde, müde, leer aus.

Frau Jantzen wollte den Besuch bei ihrem Sohne auf den Morgen verlegen; ihre Unruhe aber steigerte sich von Minute zu Minute. Deshalb ging sie in Begleitung eines Führers, nach kurzer Erholung, der Wohnung ihres Sohnes zu.

Vor einem kleinen, doch nicht verfallnen Hause, in einer schmutzigen, nach dem Hafen führenden Straße machte der Führer Halt und sagte: »Hier, Madame, wohnt Jantzen« (er sagte nicht: Herr Jantzen). Als die Witwe die Haustür öffnen wollte, das nicht getan zu haben der einfache Hausknecht zu wenig Lebensart hatte, trat ihr eine etwa fünfzigjährige, kräftige, gemein aussehende Frau entgegen. Die roten Backen schienen mit Ziegelsteinen abgerieben zu sein. In einer Schüssel trug sie einige die letzte Lebensanstrengung machende Butt, und warf einen wahrscheinlich zu klein befundnen Fisch aufs Straßenpflaster.

»Ist Herr Jantzen zu Hause?« fragte die Witwe, der eine Ahnung kam, daß es die Schwiegertochter sei, mit der sie sprach.

»Watt, min Mann? Jau. Watt wült Se vun em? De licht inn Starwen.« (Der liegt im Sterben.)

Die Witwe machte eine Bewegung, wie wir sie selten im wirklichen Leben, so öfter aber auf der Bühne sehen: sie streckte gegen ihre Schwiegertochter den rechten Arm aus und schüchterte mit ihren Augen diese dermaßen ein, daß sie sich zurückzog. Dann öffnete sie die ihr nächstliegende Tür auf dem Flur und trat in ein ärmlich möbliertes Zimmer. Eine Tasse ohne Untersatz, die bis zur Hälfte mit Kaffee gefüllt war, stand auf einem Tische, den eine mit vielen Fettflecken betupfte Decke überzog.

Durch eine offenstehende Tür in ein Nebengemach tretend, sah sie ihren Sohn. Er lag, wenn auch nicht buchstäblich auf Lumpen, so doch auf zerrissenen oder schlecht geflickten Laken. Das gelbe, längst vor der Zeit gealterte Gesicht mit den grauen Haaren lag stumpf und teilnahmlos der Wand zugekehrt. Die magern Hände, ein wenig nach innen gebogen, ruhten auf der Decke.

Ohne Schrei, ohne ein Wort näherte sich die Witwe dem Bette. Als der Kranke merkte, daß jemand im Zimmer sei, wandte er langsam den Kopf. Nicht sofort erkannte er seine Mutter, aber als die matten Augen endlich über den Menschen klar wurden, der bei ihm stand, als ihm bewußt wurde, wer ihn ansah – kehrte er mit einem traurigen, abwehrenden Blick das Haupt wieder der Wand zu.

Das war zuviel auch für die eisernste Seele. Frau Jantzen stürzte mit dem Schrei: »Johannes, mein Johannes!« zu ihrem Sohne. Heiße Tränen strömten unaufhaltsam auf die abgezehrten Hände, die sie umschlossen hielt.

In diesem Augenblicke fühlte sich der Todkranke merkwürdig leicht. Und wunderbar! Es klang ihm, aber wie aus unermeßlicher Ferne, das alte Studentenlied ins Ohr, das er so oft in der glücklichsten Zeit seines Lebens gehört und gesungen hatte:

O alte Burschenherrlichkeit,
Wohin bist du verschwunden,
Nie kehrst du wieder, goldne Zeit,
So froh, so ungebunden.

Langsam und bleischwer bog er noch einmal das Haupt nach vorn, und auf die tieferschütterte Frau neben sich sehend, breitete er mit letzter Kraftanstrengung die Arme aus und legte sie um den Hals der Witwe. Dann fielen sie schlaff zurück; ein hörbares Rasseln in der Luftröhre, ein letzter tiefer Atemzug, und er war verschieden

Mutter und Sohn waren in Frieden voneinander gegangen.


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