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Zwanzigstes Kapitel.
Eines Vaters Liebe.

Durch die Straßen des Faubourg St. Germain schritt am Morgen des 1. August ein ältlicher Mann. Das graue Haupt war leicht gebeugt, und tiefe Kummerfalten zogen sich um Mund und Augen. Das Mädchen an seiner Seite war in schlichter grauer Kleidung, der breite runde Strohhut beschattete fast völlig das feine Gesicht, dessen Liebreiz dennoch nicht völlig verborgen blieb, sondern manchen bewundernden Blick auf sich zog.

»Wir müssen bald am Ziele sein,« ermutigte das Mädchen freundlich den ermüdeten Mann. »Dort ist der Kirchhof mit der zerfallenen Mauer, von dem Guiseppe erzählte, daß er ihn von seinem Fenster aus sehen könnte.«

»Laß uns erst unter dem Schatten jener Buche ruhen,« bat der Mann, »mir ist das Herz zum Zerspringen voll, jetzt da ich dem Hause so nahe bin, das meinen Sohn beherbergt.«

Wehmütig ruhten der Tochter Augen auf dem geliebten Vater, als sie sah, wie dieser sich schwer, gleich einem übermüdeten Wanderer auf dem Moossitz unter dem Baume niederließ. Seine Kniee zitterten, und sie wußte, daß es nicht von Anstrengung war, denn sie hatten erst eben den Postwagen verlassen, sondern nur von gewaltiger Erregung, die seine Seele erbeben ließ.

Düster war der Anblick der eingesunkenen Gräber und der verfallenen Kreuze, selbst die lachende Sonne schien den Platz zu fliehen, ihre Strahlen hatten sich an dieser Stelle noch nicht über die hohe Mauer gewagt.

Düster blickte der gebeugte Mann vor sich nieder. »Ich bin zu hart gewesen,« murmelte er vor sich hin, »mein Herz, das ich dem Sohne verschließen wollte, blutet aus tausend Wunden.

Weißt du, Giovanna, was es war, das mich so plötzlich zu dieser Reise trieb?« und als das Mädchen verneinend den Kopf schüttelte, hob er an: »Siehe, mein Herz war schon lange von widerstreitenden Gefühlen zerrissen: Sehnsucht und Sorge zog mich zum Sohne, aber ich hatte durch strengen Befehl ihm Herz und Haus verschlossen, wenn er nicht reumütig käme, um mir seine Schuld zu bekennen. Da sah ich eines Morgens, als ich durch Mailands Straßen ging, die Leute zusammenlaufen. Ich folgte ihnen gedankenlos und bemerkte an der Ecke des Marktes einen jungen Burschen mit gebundenen Händen stehen. Unbarmherzig schlug einer der Marktleute mit einem spanischen Rohr über Schulter und Rücken des Jünglings.

»Gestehe, daß du das Geld gestohlen hast,« brüllte er, »sonst bringe ich dich um!«

Der Bursche hatte die Lippen trotzig aufgeworfen, die Augen blitzten, er zeigte die weißen Zähne. »Schlagt mich tot,« murmelte er, »ich gestehe nichts!«

Heftiger sausten die Hiebe nieder, das Blut rann über das bleiche Gesicht, der junge Mensch zuckte nicht. Da drängte sich eine alte Frau an mir vorbei. »Es ist seine Mutter, sie wird den Sohn aufsuchen,« flüsterten die einen, die anderen aber meinten: »Seine Mutter ist ein ehrbares Weib, sie kann von dem Diebe nichts wissen wollen!«

Jetzt stand die Alte vor dem trotzigen Burschen, sie faßte seine Hand, gleichgültig dagegen, daß die Streiche des erbitterten Mannes auch sie trafen.

»Mein Sohn,« sprach sie, und die Stimme klang weich und doch fest, »gestehe deine Schuld, ich bin dir nachgeeilt, um dich anzuflehen, beichte, was du verbrochen hast, so wird Madonna uns gnädig sein.«

Der Bursche sank schluchzend zu den Füßen der Alten, sein Stolz war verflogen, die Mutterliebe hatte ihn besiegt. Bebend bekannte er den Diebstahl und wo er den Beutel verborgen; er hatte gestohlen, weil bittere Not seine Mutter drückte.

Die Frau wandte sich an den harten Richter, ihr altes, runzeliges Gesicht strahlte, der Triumph der Liebe leuchtete aus ihren Augen. »Er hat bekannt, er giebt Euch das Geraubte wieder, Ihr werdet ihm jetzt die Strafe erlassen,« bat sie.

Der Mann schien nicht Willens, darauf zu hören, trotzdem einige Leute, die schnell nach dem angegebenen, nahe gelegenen Versteck geeilt waren, ihm schon den gestohlenen Beutel einhändigten. Doch der Zorn des Volkes entbrannte über den Unbarmherzigen, er mußte sein Opfer loslassen und sich eilig der Wut der Menge entziehen.

Das Mütterchen aber und ihr befreiter Sohn wurde vom Volke umringt und unter stürmischem Jubel weiter geleitet. Als die beiden an mir vorüber schritten, ließ ich meine volle Börse in die Hand der Frau gleiten. »Gott hat Euer Wort gesegnet,« raunte ich ihr zu, »betet für einen Unbekannten, daß suchende Liebe das abtrünnige Herz eines Sohnes zurückhole.«

Die Frau küßte meine Hand. »Jeden Morgen und jeden Abend soll Madonna und ihr gebenedeiter Sohn meine Bitte hören. Glaubt mir, Signor, Liebe und Gebet überwindet alles,« flüsterte sie mir zu.

Ich drängte mich durch die Menge, ich mußte allein sein, denn vor meiner Seele stand Raziellas Bild. Traurig schauten mich die Augen des geliebten Weibes an, sie schienen zu fragen: »Wo ist Guiseppe, wo ist mein Sohn?« und von den teuren Lippen meinte ich es klagen zu hören: »Du hast über der Strenge der Liebe vergessen, die dem verlorenen Sohne nachgeht, bis daß sie ihn finde.«

Schaudernd dachte ich, mit diesem schwermütigen Blick, mit diesem vernichtenden Worte müßte das Weib meiner Liebe mir auch dort begegnen in den seligen Himmelshöhen.

Es litt mich nicht länger in Mailand, es trieb mich fort hin nach Paris. Du fragtest nicht, du folgtest mir still, als ahntest du die Angst meiner Seele. Und nun komm, Giovanna, du Trost meines Alters, laß uns Guiseppe aufsuchen! Liebe macht stark und überwindet alles, Liebe wird mich auch den Sohn finden lassen.«

Wenige Minuten später standen die beiden vor dem niedrigen Häuschen der Witwe Breton. Auf des Mädchens Klopfen hatte sich die Thür geöffnet, eine sauber gekleidete Matrone erkundigte sich nach ihrem Begehr.

»Seid Ihr die Witwe Breton?« fragte Giovanna, und auf die bejahende Antwort fügte sie leise hinzu: »So finden wir sicherlich bei Euch Guiseppe St. Pierre.«

»Thut mir leid,« versetzte die Angeredete, »seit Ende Juni hat er Paris verlassen, aber er soll wieder zurückgekehrt sein, wie ich gestern hörte. Ich meine, Ihr müßtet seine Schwester sein,« fügte sie freundlich hinzu, »er zeichnete oft Euer Bild und zeigte es mir.«

Über des Mädchens Züge glitt ein freudiger Schimmer, dann richtete es ängstlich fragend den Blick auf den Vater, der mit dem Ausdruck völliger Erschöpfung an der Wand lehnte.

»Ihr habt ganz recht,« wandte sie sich wieder an die Witwe, »ich bin Guiseppes Schwester und bin mit dem Vater hergekommen, um den Bruder aufzusuchen. Wollt Ihr uns Aufnahme in Eurem Hause gestatten und uns behilflich sein, Guiseppe zu finden, dann werde ich Euch innig dankbar sein und Euch gerne helfen, wo und wie ich kann.«

Die Frau schien wenig Lust dazu zu haben, aber die bittenden Augen des Mädchens übten eine eigene Macht auf sie aus. Sie öffnete die Thür. »Wenn ihr mit einer kleinen Stube zufrieden seid und mir bei einer Krankenpflege zur Hand gehen wollt, so tretet ein.«

Giovanna folgte mit dem Vater der voranschreitenden Wirtin. Das Zimmer, das sie ihnen anwies, war klein und niedrig, aber St. Pierre hatte kein Auge dafür, nur als die Frau die Kammerthür öffnete und ihm erzählte: »Dort schlief Euer Sohn und hier wohnte er,« glitt eine tiefe Rührung über seine Züge.

Die Wirtin betrachtete ihn freundlich. »Er hatte Euch sehr lieb. Euer Sohn, und sprach früher viel von Euch. Wir werden ihn auch schon wieder auffinden, und dann wird es eine Freude geben,« meinte sie gutmütig.

Es war Zeit, daß die Matrone mit diesen Worten die Stube verließ, denn St. Pierres Fassung war zu Ende. Das Zimmer seines Sohnes, in welchem dieser vor kurzer Zeit geweilt hatte, die Worte der Frau, – alles dies stürmte auf ihn ein und bewegte ihn mächtig.

Giovanna fühlte, daß er allein sein wollte, sie drückte noch einen innigen Kuß auf des Vaters Stirn und ging dann leise hinaus.

Gleich darauf stand sie neben der Witwe. »Kann ich Euch jetzt helfen?« fragte ihre sanfte Stimme.

Die Augen der Frau streiften mit einem zweifelnden Blick ihre zarten, weißen Hände. »Ich kann arbeiten,« lächelte Giovanna, »wollt Ihr mir die Pflege Eures Kranken anvertrauen? Ich habe oft an einem Krankenbett gesessen.«

»Nun, es ist eben kein Kranker,« gab die Witwe zögernd zu, »ein Verwundeter ist es. Mein Neffe, ein kräftiger Bursche, den Santerre über Gebühren rühmt und ihm eine glänzende Zukunft verheißt, hat bei dem Krawall am letzten Juli einen bösen Hieb über die Stirn bekommen. Er liegt meist besinnungslos und weiß nicht, was er spricht. Wollt Ihr versuchen, ob Ihr bei dem störrischen Burschen etwas ausrichten könnt, so soll mir's lieb sein, denn mir ist er über den Kopf gewachsen.«

Die Blässe, welche des Mädchens Züge überflog, hatte die Frau nicht bemerkt, sie hörte nur die ruhige Antwort: »Ich habe schon manche Wunde verbunden und will es auch mit Eurem Neffen versuchen.«

Die Stube, in welcher Mardal, der unruhige Jakobiner, die rechte Hand des Santerre, lag, war groß und geräumig. Die Fenster waren weit geöffnet und ein fast blendendes Sonnenlicht strömte hinein.

Als die Matrone mit Giovonna eintrat, richtete sich der Kranke auf, das verbundene Haupt schwer auf die Hand stützend, starrte er mit fieberglänzenden Augen das Mädchen an, das im vollen Sonnenlichte stand und dessen lichte Locken jetzt wie ein Glorienschein um ihren Kopf glänzten.

» La vierge de Notre Dame« (»Die Jungfrau von Notre Dame,«) rief er und streckte ihr die heißen Hände entgegen.

»Glaube nur, daß es eine Heilige des Himmels sei, dann wirst du dich williger ihren Anordnungen fügen,« nickte die Frau und sah befriedigt auf des Mädchens stilles Walten, wie es die Vorhänge schloß, dem Kranken kühlende Kompressen auflegte, die Decken ordnete und sich dann an das Lager setzte.

Der junge Mardal ließ alles geschehen; er betrachtete die freundliche Erscheinung mit scheuer Ehrfurcht und schloß auf des Mädchens Bitte gehorsam die Augen. Die Witwe hatte das Zimmer verlassen, und Giovanna blieb allein zurück mit dem Kranken. Seine wilden Fieberreden schreckten sie bald aus ihren Gedanken auf.

Heftige Drohungen, rauhe Flüche schallten durch das Zimmer. »Nieder mit dem Veto! Fluch dem Verräter der Nation! Wir dulden nicht den Emigrantenknecht!« schrie er, »Ludwig Capet soll nicht herrschen über die freie französische Nation!«

Giovanna schauderte, doch sie wankte nicht, denn sie hatte gelernt sich des kranken Feindes anzunehmen und auch dort Liebe zu üben, wo noch finstere Mächte herrschten.

Es waren ernste Stunden, denen das zarte Mädchen entgegen ging. Sie begriff völlig, daß ihre wie des Vaters Gesinnungen und Beziehungen zu den Royalisten geheim bleiben mußten, sollte ihnen nicht jede Möglichkeit abgeschnitten sein, den Bruder aufzufinden, oder im Fall der Not St. Herbert einen rettenden Wink zu geben. Nie hätte ihr Herz es vermocht, etwas gegen ihre Überzeugung zu sagen, ihr blieb nur übrig zu schweigen, oder mit versöhnendem Wort die harten Reden zu mildern, deren Zeuge sie sein mußte. Von den Fremden, welche eben aus Italiens Fluren kamen, forderte man noch nicht ein politisches Glaubenbekenntnis; es genügte, daß Giovanna Louis Mardal pflegte, und daß St. Pierre Guiseppes Vater war.

Für den Augenblick lag der Weg klar vorgezeichnet, den Vater und Tochter inne zu halten hatten, und beide schritten mutig darauf vorwärts, die Zukunft aber stellten sie in Gottes Hand.


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