Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.
Er stößt auf die Intellektuellen

Er spielte mit dem Gedanken, ein Postamt aufzusuchen, stolz einzutreten und seiner Bank um Geld zu telegraphieren. Er konnte sich sehen, wie er das tat. Vielleicht würde der Postbeamte ihn für einen reichen Amerikaner halten. Was lag ihm daran, alles auszugeben, was er besaß? Jemand, der mit einem Mädel wie Miss Istra geht, muß eben Geld herausrücken, ermahnte er sich. Mindestens sieben Mal eilte er von der Eingangstür, vor der er auf dem Posten stand, um sie zu erwarten, fort und trabte eifrig bis zur Ecke. Jedesmal verließ ihn sein Mut, und er schlich wieder zur Tür zurück. Um Geld telegraphieren – das war doch ziemlich gefährlich.

Außerdem wollte er gar nicht fortgehen. Istra konnte ja herunterkommen, um mit ihm zu spielen.

Drei Stunden lang wartete er, bis er die Haustür haßte; sie war ebenso sehr ein Gefängnis, wie sein Zimmer bei den Zapps es gewesen war. Er haßte das Vorgärtchen und einen großen braunen Fleck auf dem Pflaster, und wie ein Rollwagenkutscher einen Chauffeur haßt, so haßte er die dicke Frau auf der anderen Straßenseite, die aus einem Fenster im zweiten Stockwerk heraussah und ihn mit zynischem Interesse beobachtete. Schließlich konnte er der Kritik der Welt, die in der Frau gegenüber verkörpert war, nicht länger standhalten. Er machte sich auf den Weg, als wollte er unverzüglich irgendeinem Ziel zustreben, an das er schon die ganze Zeit gedacht hatte.

Er nahm einen Omnibus, dann einen anderen, und schließlich ging er ein Stück zu Fuß. Jetzt, da er sich bewegte, dachte er bekümmert über sein Problem nach: was war Istra ihm wirklich? Was konnte er ihr sein? Er war eben nicht mehr als ein kleiner Angestellter. Niemals konnte sie ihn lieben. »Und«, so setzte er sich auseinander, »man darf ein Mädel nicht lieben, wenn man nicht glaubt, daß man sie heiraten wird; man darf dann nicht einmal ihre Hand berühren.« Und doch wollte er ihre Hand so gern berühren. Mit einem Mal warf er trotzig und entschlossen das Kinn hoch. Es sei ihm ganz gleichgültig, ob er verrucht sei, erklärte er. Am liebsten hätte er Istra über die ganze Stadt hinweg zugeschrien: Wir wollen große Liebende sein! Wir wollen toll sein! Wandern wir über alle Gipfel. Allerdings drückte er sich ganz anders aus.

Dann rannte er in eine Gruppe, die auf dem Bürgersteig stand, und kam mit einem Ruck von seinen Gipfeln wieder auf den ebenen Boden zurück.

Die Menschen drängten sich vor der Rothsey Hall um ein Schild, auf dem zu lesen war:

 

GLORIA – GLORIA – GLORIA

AUSSERORDENTLICHE
JUBILÄUMSVERSAMMLUNG DER HEILSARMEE

ERLEBNISSE DES ADJUTANTEN CRABBENTHWAITE
IN AFRIKA.

 

Er starrte das Schild an. Ein Heilsarmeesoldat fragte ihn: »Wollen Sie nicht hineinkommen, Bruder?«

Mr. Wrenn folgte ihm demütig in den Saal. Von Bill Wrenn war weit und breit nichts zu sehen.

Nun kam es so, daß der Adjutant Crabbenthwaite wohl sehr viel von den Houssas und den N'Gombi, von Karawanen und wochenlangen Wanderungen erzählte, Mr. Wrenns Phantasie jedoch nicht für eine Sekunde nach Afrika gelockt wurde; er warf nicht einmal einen einzigen Blick auf die Heilsarmeesoldatinnen, die sich im Saal drängten. Ihn beschäftigten einzig und allein die abfälligen Bemerkungen, die der Adjutant über das Flirten der Engländer und Engländerinnen auf dem Schiffe machte.

Angenommen, er selbst wäre es, er und sein Wahnsinn um Istra – in diesem Augenblick nannte er es tatsächlich Wahnsinn – wovon der Adjutant da sprach!

Ein Heilsarmeesoldat, der in seiner Nähe stand, starrte ihn anklagend an …

Nachdenklich ging er von der Jubiläumsversammlung fort. Er verzehrte sein Essen mit ernsthafter Höflichkeit gegen die Speisen und den Kellner. Auch seine Gabel behandelte er sehr höflich. Denn er war eben gebessert worden. Er hatte vor, allen verrückten Künstlerinnen »aus dem Weg zu gehen« – allen vom anderen Geschlecht, außer netten guten Mädchen, die er heiraten konnte. Noch donnerten ihm die Worte des Adjutanten in den Ohren:

»Flirten nennt ihr es – Flirten! Schauet in eure Herzen. Gott der Herr hat in sie hineingeblickt und im Flirt das Tor zur Hölle erkannt. Und ich sage euch, diese Offiziere und üppig gekleideten Weiber mit ihrem Wein und ihren Zigaretten, mit ihren teuflischen Karten und ihren Juwelen, mit ihren höllischen Gesprächen über die gotteslästerlichen Torheiten des Sozialismus' und der Kunst und der Pferderennen – o meine Brüder, das alles war nur ein Vorwand, damit sie einander lüstern betrachten und nach einander begehren könnten. Verfault ist dieses Reich, und zusammenstürzen wird es, wenn unsere Soldaten dem Flirt nachgehen, statt im Gebet zu knien wie die Eisenmänner Cromwells.«

Istra … Kartenspielen … Gespräche über Sozialismus und Kunst. Mr. Wrenn hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Istra … Rauchen und Wein trinken … Aber seine moralischen Reflektionen brachten ihm das Bild Istras nur um so deutlicher vor Augen – die überzeugende Wärme ihrer vollkommenen Finger; die Linien des rückwärts gebogenen Halses, wenn sie mit ihrer melodischen Stimme von all den schönen Dingen sprach, welche die klugen Hände großer Männer geschaffen haben.

Er stürzte aus dem Restaurant. Was immer daraus wurde, Gutes oder Böses, er mußte sie sehen. Während er zum Verdeck eines Omnibus' hinaufstieg, suchte er nach einem Vorwand für einen Besuch bei ihr … Man konnte natürlich nicht »einfach hingehen und Damen in ihrem Zimmer besuchen, wenn man nicht einen besonderen Grund hat; sie würden einen ja für schrecklich frech halten«.

Mitten auf dem Weg sprang er vom Omnibus ab, weil er eine Buchhandlung sah, und erstand dort ein Blackwood's und ein Nineteenth Century. Morton hatte ihm gesagt, diese beiden wären die wichtigsten englischen »gebildeten Zeitschriften«.

Er brachte sie in sein Zimmer, rieb sich Ruß von der Gaslampe auf den Daumen und verschmierte die Umschläge der Zeitschriften, dann schnitt er sie auf und verkrumpelte die Ränder, um ihnen ein zerlesenes Aussehen zu geben; er tat das nicht, weil er den Eindruck erwecken wollte, sie gelesen zu haben, sondern weil er das Gefühl hatte, Istra würde nicht erlauben, daß er etwas eigens für sie kaufe.

Die Einzelheiten dieser Beschäftigung beruhigten ihn so sehr, daß er nicht mehr recht wußte, ob ihm wirklich etwas daran lag, sie aufzusuchen. Außerdem war es so spät – schon nach halb neun.

»Dreck! Teufel noch mal! Am liebsten wär ich tot. Ich weiß nicht, was ich will«, stöhnte er und warf sich auf sein Bett. Nur eines war ihm sicher – daß er unglücklich war. Er dachte höchst würdevoll an Selbstmord, aber nicht lange genug, um sehr darüber zu erschrecken.

Während er auf dem Bett lag, dachte er über Istra nach. Dann stürzte er zum Tisch und bürstete sein dünnes Haar so nervös, daß er den Scheitel dreimal ziehen mußte. Während er sich Augenbrauen und Schnurrbart bürstete, betrachtete er sich ernsthaft im Spiegel.

»Ich seh aus wie ein idiotisches Kaninchen«, brummte er, und dann machte er sich auf den Weg zu Istras Zimmer. Er ging wieder zurück, um sich eine andere Krawatte umzubinden, eine marineblaue, die ihn jünger machte. Als er schließlich an ihre Tür klopfte und sie »Ja? Herein!« rufen hörte, zürnte er der ganzen Welt, von der er nicht einmal Istra ausnahm.

In ihrem Zimmer lümmelte, ein Bein über die Lehne des Fauteuils gelegt, ein wundersames Wesen; ein junger, ganz junger Mann mit schlechten braunen Zähnen, die stets zu sehen waren, weil er ununterbrochen grinste; aber er hatte eine göttliche griechische Nase, eine hohe Stirn und borstiges strohgelbes Haar. Dieses Wesen trug eine große, runde Schildpattbrille, ein weiches Hemd mit goldener Kragennadel und einen schönen grauen Anzug.

Istra lag in einem grasgrünen Seidenkimono, ein großes goldenes Medaillon an der Brust, zusammengerollt auf dem Bett. Mr. Wrenn gab sich Mühe, am Kimono nicht Anstoß zu nehmen.

Als er hereinkam, hatte sie stirnrunzelnd in einem schmalen, dünnen, grüneingebundenen Gedichtband geblättert, aber sie empfing Mr. Wrenn mit einem strahlenden Lächeln, als wäre er ihr vertrautester Freund, und murmelte: »Liebes Mäuschen, ich bin ja so froh, daß Sie kommen können.«

Mr. Wrenn stand verlegen da. Er war nicht darauf gefaßt gewesen, Besuch vorzufinden. Er glaubte gehört zu haben, daß sie ihm »Mäuschen« sagte. Ja, aber was bedeutete denn dieses Mäuschen? So hieß er ja gar nicht. Das alles war sehr verwirrend. Aber wie sie sich freute, ihn zu sehen!

»Liebes Mäuschen, das hier ist einer unserer besten kleinen unzüchtigen Dichter, Mr. Carson Haggerty. Auch aus Amerika – Kalifornien. Mr. Hag'ty, Mr. Wrenn.«

»Sehr angenehm«, sagten beide Männer im gleichen geärgerten Ton.

Mr. Wrenn stammelte: »Ich – äh – ich dachte, Sie werden sich vielleicht gern die Zeitschriften da ansehen. Ich hab nur mal reingeschaut, um sie Ihnen zu geben.« Er war bereit, sofort zu gehen.

»Danke schön – sehr lieb von Ihnen. Bitte, setzen Sie sich. Ich habe mich mit Carson nur gezankt – er geht sehr bald. Wir haben uns auf der Kunstschule in Berkeley kennengelernt. Jetzt ist er mit allen großen Tieren in London bekannt.«

»Mr. Wrenn«, sagte der beste kleine Dichter, »ich zähle darauf, daß Sie meine These verfechten. Izzy sagt, d – –«

»Carson, ich habe Ihnen doch oft genug gesagt, daß ich mir nicht Izzy sagen lassen will!«

Mr. Haggerty zeigte alle seine häßlichen Zähne und sprach weiter, ohne sich stören zu lassen: »Miss Nash behauptet, die Ansichten der besten europäischen Denker, die sich in den besten Salons versammeln, zeigen, daß die Rodin-Mode bei allen wirklich in Betracht Kommenden abgetan und erledigt ist. Wie denken Sie darüber?«

Mr. Wrenn sah Istra schutzflehend an. Sie erklärte augenblicklich: »Mr. Wrenn ist ganz und gar meiner Meinung. Übrigens, er arbeitet jetzt an einem großen Werk über die Rehabilitierung Kiplings nach seinem Abstieg, und – –«

»Aber, aber, ich bitte Sie! Kipling! Ein blökender Imperialist, ein Anti-Stirnerianer!« rief Carson Haggerty, jedes Wort mit einer Schwingung seines linken Beins unterstreichend.

Ganz erlöst, weil das Sturmzentrum über ihn hinweggegangen war, saß Mr. Wrenn auf der Kante eines Rohrstuhls, die Zeitschriften zwischen die Hände, und die Hände zwischen die Knie gepreßt. Immer wieder, wenn er später an diese Szene dachte, erinnerte er sich daran, wie kühl und glatt sich die Zeitschriften zwischen den Flächen seiner ausgestreckten Hände angefühlt hatten. Denn die Zeitschriften waren in seinen Gedanken stets mit der Vorstellung verknüpft, die er damals hatte, mit der Vorstellung, Istra könnte ihn dem scheußlichen Grinsen Carson Haggertys ausliefern, der ihn dann unter Gelächter aus dem Zimmer und aus Istras Welt vertreiben würde.

Er haßte den Dichterjüngling und hätte ihm mit dem größten Vergnügen die wenigen Zähne, die er noch besaß, ausgeschlagen. Aber aus lauter Angst davor zwang er sich dazu, die Großartigkeit zu bewundern, mit der Carson lange, seltsam klingende Worte in die Luft warf, wie ein Waldaffe, der mit roten Spinnen spielt. Er sprach herabsetzend über Yeats und den Austausch der Geschlechtsenergien, über Isadora Duncan und die Gedichte Carson Haggertys.

Istra gähnte ungeniert auf dem Bett und versetzte einem Kissen Fußtritte, wurde aber hin und wieder zu ihrer eigenen Überraschung in eine eifrige Diskussion gelockt, bis Haggerty sie absichtlich wieder Izzy nannte, und in diesem Augenblick setzte sie sich auf und sagte zu Mr. Wrenn: »Ach, gehen Sie noch nicht. Sie können mit mir über den Artikel sprechen, wenn Carson fort ist. Der liebe Carson hat gesagt, daß er nur bis zehn Uhr bleibt.«

Mr. Wrenn hatte durchaus nicht die Absicht zu gehen, er lächelte also bloß, sah sich im Zimmer um und stotterte: »J–ja«, während er sich darauf zu besinnen suchte, was er ihr von einem Artikel erzählt hatte. Artikel. Vielleicht handelte es sich um einen Nouveauté-Artikel von der Kunstartikel-Gesellschaft. Eine großartige Idee! Vielleicht wollte sie ein Motto für die Firma entwerfen. Er hoffte sehr, daß er ihr das verschaffen könnte – jedenfalls wollte er sein allerbestes tun. Nur zu gern wollte er Mr. Guilfogle darüber schreiben. Die Hauptsache jedoch war, daß es ihr lieb zu sein schien, wenn er blieb.

Als aber der liebe Carson mit vielem Lachen gegangen war, schien Istra ganz vergessen zu haben, daß Mr. Wrenn auf der Welt war, und warf einem Buch auf ihrem Bett wütende Blicke zu, als hätte es sie beschimpft. Er blieb also ganz still sitzen und zerdrückte die Zeitschriften noch mehr, bis das Schweigen ihn am Hals würgte und er zu äußern wagte: »Mr. Carson ist ein schrecklich wohlerzogener Mensch.«

»Er ist ein alberner Bursche«, schrie sie. Dann sprach sie mit leiserer Stimme weiter: »Er war zur gleichen Zeit wie ich auf der Kunstschule in Kalifornien, und deshalb glaubt er sich etwas herausnehmen zu dürfen … Es war sehr lieb von Ihnen, daß Sie geblieben sind und mir geholfen haben, ihn los zu werden … Ich werde – – Es tut mir leid, daß ich heute abend so langweilig bin. Wenn ich nicht amüsanter sein kann, werde ich wohl gleich ins Bett geschickt werden. Es war sehr nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Mäuschen … Es ist Ihnen doch nicht unangenehm, daß ich Mäuschen zu Ihnen sage, nicht wahr? Wenn es Ihnen unangenehm ist, werde ich es nicht tun.«

Er ging schüchtern zu ihr und legte die Zeitschriften auf das Bett. »Aber nein, das macht nichts … Was war das mit der Nouveauté – mit dem Artikel? Wenn ich irgendwas – tun – –«

»Artikel?«

»Ja, natürlich. Sie wollten doch mit mir darüber sprechen.«

»Ach! Ach, das war ja nur, damit wir Carson los werden … Seine unerträgliche Familiarität! Das ist die Strafe dafür, daß ich einmal naiv und verhungert nach Freundschaft war. Und jetzt, gute N – – Ach, Mäuschen, er sagt, meine Augen – selbst wenn ich diesen grünen Kimono anhabe – – Kommen Sie her, mein Lieber, sagen Sie mir, was für Farbe meine Augen haben.«

Sie setzte sich mit einer raschen Bewegung im Bett auf, streckte die Arme aus und legte die Hände auf seine Schultern. Er stand zitternd da und vergaß alle Wrenn-Regeln, denen er sein ganzes Leben hindurch gefolgt war. Schüchtern streckte er seine Hände zu ihren Schultern aus, aber seine Arme waren kürzer als ihre, und so mußte er die Hände auf ihre warmen Oberarme legen. Er sah ihr in die so sehr geliebten blaugrauen Augen, aber er war viel zu unruhig, um zu sehen, ob sie kobaltblau oder tiefschwarz waren.

»Sagen sie«, verlangte sie; »sind sie nicht grün?«

»Ja«, antwortete er bebend.

»Sie sind süß«, sagte sie.

Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuß. Dann sprang sie auf, lief zum Fenster, lachte nervös und rief: »Das hätte ich nicht tun sollen! Ich hätte es nicht tun sollen! Verzeihen Sie mir!« Sie jammerte wie ein kleines Kind: »Istra war so schlimm, so schlimm. Jetzt müssen Sie gehen.« Als sie ihm die Augen wieder zuwandte, war in ihnen nichts anderes als der Blick alter Freundschaft.

Weil Mr. Wrenn sich immer bemüht hatte, freundlich zu den Menschen zu sein, weil er Mitleid mit Goaty Zapp gehabt hatte, war er imstande zu begreifen, daß sie ihm eine freundliche große Schwester sein wollte, und so sagte er: »Gute Nacht, Istra«, lächelte munter und ging hinaus. Er mußte seine ganze Kraft zusammen nehmen, um sich zu diesem Lächeln zu zwingen, und nachher mußte er unter Schmerzen dafür bezahlen, als er an seinem Bett kniete und sich klar machte, daß Istra ihn nie lieben würde, daß er sie also nicht lieben durfte, ein Narr wäre, wenn er sie liebte, sie niemals lieben würde – und dann waren wieder die weißen Arme im Schatten der grünen Kimonoärmel vor seinen Augen.

Zwei Tage lang sah er Istra nicht, roch er nicht den Duft ihres Haares, hörte er nicht den Klang ihrer Stimme. Zweimal bemerkte er einen Lichtstreifen unter ihrer Tür, wenn er über die finstere Treppe heraufkam, und klopfte an ihre Tür, aber es kam keine Antwort, und er marschierte mit der Würde des Zorns in sein Zimmer.

Ungezählte Male gab er sie ganz auf, faßte er den Entschluß, sie nie wieder zu sehen. Aber als er nach einem der wildesten dieser Verzichtschwüre die Tottenham Court Road entlang wanderte, sah er in einem Schaufenster einen Spazierstock, bei dessen Anblick er denken mußte, er würde ihre Billigung finden. Und er kostete nur zweieinhalb Schillinge. Hastig, bevor er es sich anders überlegen konnte, lief er hinein und warf sein Geld auf den Ladentisch. Es war wirklich ein sehr schöner Stock, so anspruchslos, daß er Istra gefallen mußte, ein ganz einfacher glatter Stock mit einer kleinen Metallkappe, die seltsamerweise wie silbern wirkte. Er hatte das Gefühl, daß alle Welt ihn höhnisch musterte und fragte: »Wozu trägst du einen Stock?« Aber er – der Mißverstandene – wollte gern auf den Lohn für dieses Märtyrertum warten, das Istras Lob ihm bringen mußte.

Am dritten Abend, als er hinter seinem Fenster stand und zwei Kindern zusah, die in der Dämmerung spielten, klopfte es an seine Tür. Es war Istra. Sie stand auf der Schwelle in einem eleganten, diskreten schwarzen Kostüm, auf dem Kopf eine kleine Mütze, die ihr rotes Haar verbarg.

»Kommen Sie«, sagte sie kurz. »Ich möchte, daß Sie mit mir zu Olympia – zu Olympia Johns gehen. Ich habe alles gelesen, was Balzac geschrieben hat. Ich möchte sprechen. Können Sie mitkommen?«

»Aber natürlich – –«

»Dann machen Sie rasch.«

Er nahm seinen kleinen, komischen runden Hut; klemmte den neuen Spazierstock unter den Arm, ohne ihn zu stolz vorzuführen, und wartete auf ihr Lob.

Vor ihm ging sie die Treppe hinunter und durch die vielen Straßen und Plätze Bloomsburys zur Great James Street. Den Stock sah sie gar nicht.

Sie sagte kaum mehr als:

»Mir hängt die Olympiaclique zum Hals heraus. Ich will nie mehr in Soho mit einer Hemmung und einem bisexuellen Instinkt essen – jamais de la vie. Aber man muß doch mit irgendjemand spielen.«

Und dann wurde er so vergnügt, daß er mit seinem Stock kühn auf das Pflaster einschlug und sie sacht am Arm anfaßte, als sie über den Damm gingen. Denn sie fügte hinzu:

»Wir wollen bloß hineinschauen und ihnen ein Weilchen zusehen, und dann können Sie mich wieder wegführen und zu einer Flasche Rheinwein und Mineralwasser einladen … Armes Mäuschen, es soll zu seinem Spiel kommen!«

Olympia Johns' Wohnung bestand aus vier kleinen Räumen. Als Istra, nachdem sie angeklopft hatte, die Tür öffnete, waren sieben Menschen im Wohnzimmer, die einander fortwährend unterbrachen und billiges Bier tranken; sieben Menschen, ein Nebel von Zigarettenrauch und ein Durcheinander von Manuskripten, Büchern und Hüten. Im nächsten Raum, den ein mit Frauenrechtlerknöpfen und Medaillen geschmückter Crétonnevorhang vom Wohnzimmer trennte, stand ein Haufen ungewaschenen Geschirrs auf einem großen Tisch. Daran mußte er später immer wieder denken, denn die glitzernden Medaillen gaben seinen Augen einen Ruhepunkt, wenn ihm die Blicke der Menschen, denen er hastig vorgestellt wurde, unerträglich wurden. Er hatte Angst davor, in ein Gespräch gezogen zu werden, und setzte sich still an die Seite, die Mauern betrachtend, an denen Plakate mit mächtigen, hammerschwingenden Fäusten und flammenden Fackeln hingen, Plakate mit schweinsgesichtigen Menschen, die Arbeitern auf der Brust saßen, was ihnen viel mehr Freude zu machen schien als den Arbeitern. Allmählich erst wagte er es, die Gruppe zu betrachten.

Carson Haggerty, der amerikanische Dichter, war da. Der Mittelpunkt aller aber war Olympia Johns selbst, altjüngferlich, vierunddreißig Jahre alt, klein und lebhaft und aufgeregt energisch wie eine Ameise, die sich mit einem Streichholz abmüht. Sie war auch so braun und glatt wie eine Ameise. Immer saß eine etwas zerzauste Locke zwischen ihren Augen, die sie mit einer ungeduldigen Handbewegung zurückstrich, ohne jemals eine Pause zwischen ihre unaufhörlich strömenden Worte zu setzen.

»Ja, ja, ja, ja«, schnatterte sie. » Begreifen Sie denn nicht? Wir müssen etwas tun. Ich sage Ihnen, die Zustände sind unerträglich, einfach unerträglich. Wir müssen etwas tun

Unerträglich schienen die Zustände zu sein, was die einzelnen Zweige der Mädchenerziehung, die Wasserkosten in Bloomsbury, das Messerschmiedgewerbe und das Balladensingen betraf.

Und meistens hatte sie recht. Nur war ihr Rechthaben so anspruchsvoll, so unruhig, daß Mr. Wrenn überhaupt keine Luft bekam.

Olympia schien vor allem Zustimmung von Carson Haggerty zu erwarten, aber ab und zu warf sie einer Anderen Blicke zu, einem jungen, faul aussehenden, lächelnden, hübschen Mädchen von zwanzig Jahren, das, wie Istra Mr. Wrenn erzählte, am Museum griechische Archäologie studierte. Sie schien in allem Frieden außer ihren eigenen küssenswerten Lippen nichts zu kennen und flirtete mit Carson Haggerty, was Olympia dazu veranlaßte, sich achselzuckend den Anderen zuzuwenden.

Ein Mr. und eine Mrs. Stettinius waren da – sie eine Dichterin; er ein vertrockneter Mann mit Ziegenbart und frömmlerischer weißer Krawatte, ein puritanischer, ethischer, verdrossener religiöser Atheist. Dann gab es noch einen jungen Mann, der an einer Privatschule unterrichtete, und einen Missionar der Staatskirche aus Whitechapel, der mit Vorliebe Anstoß nahm.

In Wirklichkeit jedoch nahm Mr. Wrenn Anstoß, nicht an dem Lärm und dem Geruch, nicht daran, daß die Frauen rauchten, nicht an der Aufforderung, den Staat zu zertrümmern; nein, nicht an alledem nahm Unser Herr Wrenn von der Kunstartikel-Gesellschaft Anstoß, sondern an seinem eigenen faszinierten Interesse für die offenen Gespräche über Sexualia. Er hatte immer einen ganz unbestimmten Argwohn gehabt, wenn es sich nicht gerade um einen Witz handle, sei es eine Ruchlosigkeit, von Dingen des Geschlechts zu sprechen.

Dann kamen die Hyper-Radikalen, um die Radikalen zu verwirren, die Mr. Wrenn verwirrten.

Denn immer gibt es eine noch größere Rebellion; man mag sein Gebetbuch verkauft haben, um Bakunin lesen zu können, und sich selbst für einen geradezu wahnwitzigen Revolutionär halten – man findet stets einen, für den man ein Reaktionär ist. Die Verächter kamen zusammen herein – Moe Tchatzsky, der Syndikalist und Aktivist, und Jane Schott, die Verfasserin impressionistischer Prosa – und setzten sich, stillen Hohn ausdünstend, auf einen Diwan.

Istra stand auf, nickte Mr. Wrenn zu und ging, so gastfreundlich Olympia ihnen auch nachrief: »Ach, bleiben Sie doch! Es ist ja erst kurz nach zehn. Bleiben Sie und essen Sie noch eine Kleinigkeit.«

Istra schloß resolut die Tür. Im Flur war es finster und erfreulich still. Sie nahm Mr. Wrenns Hand und führte sie an ihre Brust.

»Ach, liebes Mäuschen, ich bin ja so gelangweilt! Ich will endlich einmal etwas Wirkliches erleben. Da drin reden und reden sie, und in jeder Nacht richten sie die Geschicke aller Völker ein, und immer auf dieselbe Weise. Ich glaube, es gibt keine zweite Gruppe von Menschen, die mehr Dinge ungenau wissen. Ihnen waren sie auch fürchterlich, nicht wahr?«

»Ja, ich weiß nicht, ob Sie so streng über die Leute reden sollten«, flehte er, während sie hinuntergingen. »Ich glaube, die sind ganz anders als Sie. Die wissen nicht so viel wie Sie. Ich mein das wirklich! Aber es war schrecklich interessant, was diese Miss Johns von den Kindern erzählt hat, die in der Schule ›vergewaltigt‹ werden. Herrjeh! das stimmt doch, nicht? Ich hab vorher nie dran gedacht. Und diese Mrs. Stettinius hat so schön über Yeats geredet.«

»Ach mein Lieber, Sie machen mir meine Aufgabe noch schwerer. Ich möchte Sie ganz anders haben. Sehen Sie denn nicht ein, daß Ihre Erlebnisse auf dem Viehdampfer viel wirklicher sind als alles zusammen, was diese halbausgebackenen Denker getan haben? Ich muß es wissen. Ich bin selbst halbausgebacken.«

»Oh, ich hab nie was Richtiges getan.«

»Aber Sie sind wenigstens bereit dazu. Ach, ich weiß nicht. Ich will – – Ich möchte Jock Seton – der Obstruktionist, den ich in San Francisco kennen gelernt habe – den würde ich jetzt gern hier haben. Mäuschen, vielleicht kann ich einen Obstruktionisten aus Ihnen machen. Irgendetwas muß ich schaffen. Ach, diese Leute! Wenn Sie sie nur kennen würden! Diese alberne Mary Stettinius ist verrückt nach dem Tchatzsky, und ihr Mann lädt ihn immer zum Tee ein. Stettinius ist verrückt nach Olympia, die wahrscheinlich Carson beim Kragen nehmen und heiraten wird, und der wird nicht aufhören, dem griechischen Mädel nachzulaufen. Pfui Teufel!«

»Ich weiß nicht – ich weiß nicht – –«

Da er jedoch nicht wußte, was er nicht wußte, streichelte sie seinen Arm und sagte beruhigend: »Ich werde an den ersten Radikalen, die Sie in Ihrem Leben gesehen haben, keine Kritik mehr üben. Die Leute wollen ja wenigstens etwas.« Dann fügte sie in gleichgültigem Ton hinzu: »Sie haben genau dieselbe Größe wie ich. Sie sollten größer sein, Mäuschen.«

Als sie nach langem Schweigen auf den Tavistock Place kamen, rief sie aus: »Mäuschen, mir ist ja alles so über. Ich möchte weggehen, fortgehen, irgendwohin, und etwas tun, irgend etwas, nur damit es anders wird. Sogar aufs Land. Ich möchte – – Warum können wir denn nicht?«

»Wollen wir morgen einen Ausflug mit Picknick machen, Istra?«

»Ein Picknick-Picknick? Mit Pickels und einem rosa Kissen und verschiedenen Arten Kuchen? … Ich fürchte, der Bois Boulogne hat mir die Freude an so etwas verdorben … Das muß ich mir noch überlegen.«

Sie ließ sich auf die Treppe vor dem Haus sinken und trank mit zurückgeworfenem Kopf das Sternenlicht des Himmels in sich hinein.

»Sterne«, sagte sie. »Draußen auf den Mooren würden sie jetzt zu uns herunterkommen … Was ist Ihr großes Erlebnis – Ihre Formel dafür? … Warten Sie; Sie nehmen ganz gewöhnliche Alltagsdinge ernst; Sie werden wahrscheinlich ganz entzückend über einen Gasthof zum Roten Löwen in Aufregung geraten.«

»Gibts denn mehr als einen Roten Lö – –«

»Mein liebes Mäuschen, ganz England ist eine Menagerie von Roten Löwen und Weißen Löwen und wuschligen Grünen Einhornen … Warum nicht, warum nicht, warum nicht! Gehen wir nach Aengusmere. Das ist eine verrückte Künstlerkolonie mit allem, was dazu gehört, oben in Suffolk; aber die Leute haben dort ein paar schöne Häuschen, und sie sind noch viel keltischer als das ganze Dublin … Brechen wir gleich auf; fahren wir mit der Bahn bis, sagen wir bis nach Chelmsford, und laufen wir die ganze Nacht. Wir werden ein paar Tage brauchen, um hinzukommen. Denken Sie doch! Durch die Dämmerung wandern, an englischen Feldern entlang. Bedenken Sie das, Sie Yankee. Und sich gar nicht drum kümmern, was die anderen Leute denken. Wie die Zigeuner. Sollen wir?«

»A–a–a–a–ber – –« Er war überzeugt davon, daß sie den Verstand verloren hatte. Die ganze Nacht laufen! Das durfte er sie nicht tun lassen.

Sie sprang auf. Wütend und empört sah sie zu ihm hinunter, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ihre Stimme klang feindselig, als sie fragte:

»Was? Sie wollen nicht? Mit mir

Er stand neben ihr, zornig, beherrscht; ein Mann.

»Passen Sie auf. Sie wissen ganz genau, daß ich möcht. Sie sind die eleganteste – ich meine, Sie sind – – Ach, Sie müssen es ja wissen! Merken Sie denn nicht, was Sie für mich sind? Du lieber Gott, es gibt doch nichts, was ich lieber tun würde als das. Aber ich will eben nichts tun, was Sie bei den Leuten ins Gerede bringen kann.«

»Wer soll denn etwas davon erfahren? Außerdem, mein lieber Freund, kann ich es nicht ganz so ruchlos finden wie Sie, anständig und manierlich über eine Landstraße zu wandern.«

»Ach, das ist es ja nicht. O bitte, Istra, sehen Sie mich nicht so an – als ob Sie mich hassen würden.«

Sie beruhigte sich sofort, streichelte seinen Arm, setzte sich aufs Geländer und zog ihn neben sich.

»Natürlich, Mäuschen. Es ist albern, sich so zu ärgern. Ja, ich glaube Ihnen, daß Sie auf mich acht geben wollen. Aber machen Sie sich keine Sorgen … Kommen Sie! Sollen wir gehen?«

»Aber wollen Sie nicht vielleicht lieber bis morgen warten?«

»Nein. Das Ganze ist so verrückt, daß ich die Lust daran verlieren werde, wenn ich so lange warte. Und Sie müssen mitkommen, damit ich jemand habe, mit dem ich streiten kann … Ich hasse die Bequemlichkeit Londons, vor allem die Bequemlichkeit der Bequemlichkeitsgegner und Bürgergegner, der Radikalen, und jetzt bin ich in der schönsten verrückten Stimmung! Kommen Sie, wir werden gehen.«

Selbst diese logische Darstellung hatte ihn nicht überzeugt, aber er widersprach nicht, als sie in den Flur kamen und Istra nach der Wirtin klingelte. Ihm wurde ganz elend und alt und zittrig in den Knien, als er die Wirtin unten laut rufen hörte: »Na, was gibts denn jetzt wieder? Es ist elf Uhr. Hört denn dieses ewige Geklingel nie auf?«

Die Wirtin, die abgerackerte, müde, bleiche Nordengländerin, deren Gottheit die Wohlanständigkeit der Pensionen war, hörte sich entsetzt Istras überlegen-freundliche Mitteilung an: »Mr. Wrenn und ich sind zu einem Ausflug eingeladen worden und müssen noch heute nacht fort. Wir werden die Miete bezahlen und unsere Sachen hier lassen.«

»Sie wollen zusammen – –«

»Meine liebe Frau, wir gehen nach Aengusmere. Hier sind zwei Pfund. Lassen Sie niemand in mein Zimmer. Es ist übrigens möglich, daß ich meine Sachen holen lasse. Sie müssen darauf vorbereitet sein, eventuell meine Koffer zu packen und mir nachzuschicken. Verstehen Sie?«

»Ja, Miss, aber – –«

»Meine liebe Frau, wissen Sie, daß Ihre ›aber‹ beleidigend sind?«

»Oh, ich wollte nicht beleidigend – –!«

»Dann wäre ja alles erledigt … Rasch jetzt, Mäuschen!«

Während sie über die Treppe hinaufgingen, flüsterte sie ihm aufgeregt, nicht wie eine müde Frau, sondern wie ein tennis- und tanztolles Mädchen zu: »Jetzt geht es los! Packen Sie bloß eine Zahnbürste ein. Ziehen Sie irgendeinen Touristenanzug an – irgendwelche alten Sachen – und eine alte Mütze.«

Sie sprang in ihr Zimmer.

Nun war alles »alte«, was Mr. Wrenn besaß, sowohl als Nachmittags- wie als Abendkleidung, der unansehnliche Anzug, den er immer trug, er setzte also eine Mütze auf und gab sich der Hoffnung hin, sie würde nichts merken. Sie merkte auch nichts. Nach einer Viertelstunde stand sie in schmuckem Khakikostüm, in dicksohligen Halbschuhen, mit einer lustigen blauen Pudelmütze auf dem Kopf, in der Tür.

»Vorwärts. Mein Fahrplan hat mir verraten, daß in einer halben Stunde ein Zug nach Chelmsford geht. Ich könnte vor Freude singen.«


 << zurück weiter >>