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Neunzehntes Kapitel.
Zu einer glückhaften Küste

An einem Novemberabend des Jahres neunzehnhundertelf geschah es, daß von Mrs. Artys Herde nur Nelly und Mr. Wrenn zu Hause waren. Sie hatten eben zwei hitzige Partien Dame beendigt und saßen jetzt, die Füße auf ein freundliches Petroleumöfchen gestützt, zufrieden da. Mr. Wrenn legte höchst beseligt ihre Hand an seine Wange. Er schilderte die Situation im Büro.

Das Geschäft hatte so an Umfang zugenommen, daß der Direktor Mr. Mortimer R. Guilfogle dem Chefreisenden Rabin mitgeteilt hatte, er plane, einen Vizedirektor zu ernennen. Sollte er, fragte Mr. Wrenn, sich um die Stelle bemühen? Die anderen Kandidaten, Rabin, Henson und Glover, waren alle gut mit ihm befreundet, und überdies war er imstande, »als Vorgesetzter anderen Leuten Anweisungen zu geben«?

»Aber natürlich können Sie das, Billy. Ich weiß noch, wie Sie hergekommen sind, waren Sie ein bißchen scheu, aber jetzt sind Sie doch die große Nummer in der Pension! Und werden die anderen vielleicht nicht probieren, Ihnen die Stelle wegzuschnappen? Aber selbstverständlich!«

»Ja, das stimmt!«

»Ja, Billy, einmal können Sie vielleicht sogar selber Direktor werden.«

»Hören Sie, das war aber großartig, nicht! Aber ehrlich, Nell, meinen Sie wirklich, daß ich Aussichten hab, die Vizestelle zu kriegen?«

»Ganz bestimmt.«

»Ach, Nelly – herrjeh! bei Ihnen – ach, bei Ihnen lern ich noch Vertrauen zu mir selber – –«

Er küßte sie zum zweitenmal in seinem Leben.

»Mr. Guilfogle«, erklärte Mr. Wrenn am nächsten Tag, »ich möcht über die Vizedirektorstelle mit Ihnen reden.«

Der Direktor, der im Schmuck einer neuen geblümten Weste prangte und in einem neuen Büro saß, hatte interessiert aufgesehen, als Unser zuverlässiger und verläßlicher Herr Wrenn eintrat. Jetzt aber versuchte er, eine würdige und ungeduldige Miene zu zeigen.

»Das – –«

»Ich bin länger hier als alle anderen, und ich weiß jetzt in allen Zweigen vom Geschäft Bescheid, auch in der Herstellung. Sie wissen doch noch, ich hab Henson vertreten, wie seine Frau krank war.«

»Ja, aber – –«

»Und ich mein, Jake wird jetzt wohl finden, daß ich ganz ordentlich kommandieren kann, und Miss Leavenbetz auch.«

»Wollen Sie jetzt die Freundlichkeit haben und mich endlich zu Worte kommen lassen, Wrenn? Ich hab auch eine ganz kleine Ahnung davon, was im Büro los ist! Ich leugne nicht, daß Sie eine tüchtige Kraft sind. Vielleicht werden Sie sogar auch noch mal Vizedirektor. Aber zunächst will ichs mit Glover probieren. Er hat viel mehr Erfahrung in direkten – persönlichen Verhandlungen. Aber Sie sind eine tüchtige Kraft – –«

»Ja, das hab ich schon gehört, aber ich sag Ihnen, der Teufel soll mich holen, wenn ich mein ganzes Leben lang am selben Pult sitzen bleib, nur weil ich Ihnen den ganzen Ärger in der Abteilung erspar, Guilfogle, und jetzt – –«

»Na, na, na, na! Beruhigen Sie sich; nur immer langsam mit den jungen Pferden, mein Lieber. Wir mimen hier kein Theaterstück.«

»Ja, ich weiß; ich wollt auch nicht wütend werden, aber Sie wissen – –«

»Also, ich will Ihnen jetzt sagen, was ich machen werd. Ich werde Henson in die Einkaufsabteilung rübernehmen und für ihn keinen Neuen holen, sondern Sie zum Chef von der Herstellungsabteilung machen. Auf Ihre alte Stelle kommt Jake, und wenns notwendig ist, werden Sie ihm auch mal helfen. Und außerdem wirds gut sein, wenn Sie die wichtigeren von den Schmusbriefen auch weiter selber bearbeiten.«

»Also, das ist mir sehr recht. Ich bin ganz einverstanden damit. Aber natürlich erwart ich jetzt mehr Gehalt – Arbeit für zwei – –«

»Lassen Sie mal sehen; was haben Sie jetzt?«

»Dreiundzwanzig.«

»Na, das ist ne ganze Menge, wissen Sie. Die allgemeinen Unkosten sind viel rascher gestiegen als der Reingewinn, und wir müssen – –«

»Huh!«

»– erst abwarten, bis neue Geschäfte die Großzügigkeit rechtfertigen, mit der wir euch behandelt haben, bevor wir uns große Gehaltserhöhungen leisten können, obwohl wir uns selbstverständlich ebenso freuen wie Ihr, wenn so was möglich ist, aber – –«

»Huh!«

»– wenn wir zu üppig werden, machen wir noch bankrott, und dann haben wir alle keine Stellung … Trotzdem, ich bin bereit, Sie auf fünfundzwanzig zu erhöhen, obwohl – –«

»Fünfunddreißig!«

Mr. Wrenn stand unerschütterlich da. Der Direktor versuchte ihn mit Blicken einzuschüchtern. Mr. Wrenn entsetzte sich sehr und mußte angestrengt an Nelly denken, um fest zu bleiben. Schließlich senkte Mr. Guilfogle den Blick und schrie:

»Also, verflucht, Wrenn, ich werd Ihnen neunundzwanzig fünfzig geben, aber dann gibts mindestens ein Jahr keinen Cent mehr. Das ist endgültig, verstanden

»Gut«, zirpte Mr. Wrenn.

»Herrjeh!« jubelte er sich zu, »ich hätt nie gedacht, daß ich so viel rausschinden kann. Neunundzwanzig fünfzig! Jetzt hab ich mehr als genug zum Heiraten! Ich werd neunundzwanzig fünfzig kriegen!«

 

»Fünf Monate verheiratet heut abend, Schatzi«, sagte Mr. Wrenn in seiner Wohnung in Bronx zu seiner Gattin Nelly und machte damit den siebzehnten Oktober neunzehnhundertunddreizehn zu einem großen Datum in der Geschichte.

»Oh, ich habs gewußt, Billy. Ich war nur neugierig, ob du dran denken wirst. Du solltest nur das Dessert sehen, das ich mach – aber das ist eine Überraschung.«

»Dran denken! Na und ob! Sieh mal, was hab ich da für jemand mitgebracht?«

Er machte ein Päckchen auf und zeigte ihr ein Paar rotwollener Pantöffelchen, die Schöpfung eines der größten Rotwollekünstler im ganzen Land. Ja, und leisten konnte er sich so etwas auch. Verdiente er nicht zweiunddreißig Dollar wöchentlich – er, der einmal arm gewesen war. Und seine Aussichten auf die Vizedirektorstelle »sahen gut aus«.

»Ach, die werden ja so schön sein, wenns kalt wird. Du bist ein Engel! Ach, Billy, die Portiersfrau sagt, die jüdische Dame von gegenüber im Hof, Nummer siebzig, ist so faul, daß sie mit dem Korsett schlafen geht.«

»Hat die Portiersfrau die Kohle gebracht, Neil?«

»Ja, aber ihr Mann ist wieder ohne Arbeit. Ich hab heute nachmittag ziemlich lang mit ihr gesprochen. Ach weißt du, ich sehn mich immer so nach dir, Liebling, weil ich nichts Rechtes zu tun hab. Aber ich hab heute nachmittag ein Stückchen ›Kim‹ gelesen. Das hat mir sehr gut gefallen.«

»Das ist schön!«

»Aber ein bißchen schwer ist das. Vielleicht werd ich – – Ach, ich weiß nicht. Ich werd wohl recht viel lesen müssen.«

Er tätschelte ihr zärtlich die Wange und sagte hoffnungsvoll: »Vielleicht können wir uns mal ein kleines Häuschen draußen vor der Stadt leisten, und dann kannst du im Garten arbeiten … Schade, daß der alte Siddons wieder arbeitslos ist. Funktioniert der Gasherd wieder ordentlich?«

»Mhm, Schatzi. Ich hab ihn in Ordnung gebracht.«

»Hör mal, den Kaffee werd ich machen, Neil. Du wirst genug mit Tischdecken und Auf-die-Würstchen-aufpassen zu tun haben.«

»Schön, Schatz. Aber, ach, Billy, ich schäm mich so. Ich wollt etwas Kartoffelsalat holen, und jetzt fällt mir grad ein, daß ich dran vergessen hab.« Sie ließ den Kopf hängen, steckte die Fingerspitze in den Mund und tat höchst lieblich so, als schämte sie sich fürchterlich. »Machts dir sehr, sehr viel aus, wenn du zu Bachmeyer um welchen runterspringst? Ach, es ist ganz scheußlich, wie schlecht du behandelt wirst, wenn du so müde nach Haus kommst, nicht wahr?«

»Ach woher. Aber erst mußt du mir nen Kuß geben, sonst geh ich nicht.«

Nelly kam zu ihm und beugte, als er sie in den Armen hatte, den Kopf weit zurück. Zitternd und schlaff hing sie an ihm und blickte schweratmend zu ihm auf. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter – eine weiche Liebeslast, die er nur zu gern trug – und so standen sie da, sahen durch das kleine Küchenfenster ihrer Wohnung im sechsten Stockwerk hinaus und konstatierten zum hundertsten Mal, daß die Bäume auf dem unbebauten Grundstück gegenüber nicht weniger rot und gelb seien als die Millionärsbäume im Central Park an der Fünften Avenue.

»Einmal«, träumte Mr. Wrenn, »werden wir in Jersey wohnen, wos lauter Bäume und Bäume gibt – und dann werden vielleicht auch Kinderchen da sein, die unter ihnen spielen, und dann wirst du auch nicht einsam sein, Schatzi; die werden dir schon ordentlich zu tun geben!«

»Jetzt schau aber, daß du weiter kommst, und red keinen Unsinn, sonst geb ich dir nichts zu essen.« Dann wurde sie lieblich rot, und unendliche Hoffnung strahlte aus ihren Augen.

Er ging rasch aus der Küche und musterte, wie immer, das Wohnzimmer mit einem glückseligen Blick – die Wände mit den roten Tapeten und der schimmernden Kunsteichentäfelung; die Tellerreihen auf der Anrichte; den Speisetisch mit den fein säuberlich abgestaubten Papierrosen, die in der Vase standen; den Lehnstuhl, und daneben Nellys Näharbeit auf einem kleinwinzigen Rohrtischchen; den großen goldgerahmten Öldruck »Bergesgipfel im Mondlicht«.

Er lief schnell die Treppe hinunter und sprang munter durch die Haustür hinaus. Dann blieb er wie gebannt stehen.

Jenseits der großen unbebauten Grundstücke im Westen flammte ein ungeheurer Sonnenuntergang am Himmel. Von der Wohnung, die über den East River auf das zahme Grasufer einer Spekulationsvorstadt blickte, war nichts davon zu sehen gewesen. »Herrjeh!« klagte er, »das ist seit einem Monat das erste Mal, daß ich einen Sonnenuntergang seh. Sonst hab ich beim Sonnenuntergang immer von Ritter-Bannern und Mandalay und lauter so Sachen geträumt!«

Wehmütig betrachtete der Verbannte sein verlorenes Reich, bis die Oktoberkühle ihn zusammenschauern ließ.

Aber er lernte vom Inhaber des Delikatessenladens eine neue Art, Eier zu kochen; und seine Pläne für den Abend – er wollte mit Nelly Dame spielen und ihr das Abendblatt vorlesen – ließen ihn wieder vergnügt vor sich hinlachen, als er mit seiner Siebencent-Portion Kartoffelsalat durch den frischen Herbstwind nach Hause eilte.

 


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