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Siebzehntes Kapitel.
Er wird vom Wirbelwind gepackt

»Er wurde vom Wirbelwind gepackt und folgte einer wandernden Flamme über gefährliche Meere zu einer glückhaften Küste«, sprach François.

An einem Montagabend im April, als ein kleiner Mond schüchtern über die Stadt hinwanderte und die Straßen von Leierkastenklängen und den Frühlingsrufen tanzender Kinder erfüllt waren, ging Mr. Wrenn zeitig ins Speisezimmer hinunter, denn dort unterhielt sich Nelly Croubel mit Mrs. Arty, und er wollte fröhliche Pläne für ein Picknick schmieden, das am nächsten Sonntag stattfinden sollte. Schüchtern und ohne es sich recht einzugestehen, hegte er die Hoffnung, daß er nach einem solchen Picknick Nelly vielleicht küssen könnte; er dachte sogar, daß er eines Tages vielleicht – ja, andere Leute haben ja schließlich auch geheiratet – warum nicht?

Miss Mary Proudfoot stopfte mit eleganten, raschen Bewegungen ihrer silberhäutigen Hände ein Loch im Tischtuch und teilte ihm mit: »Mr. Duncan kommt in fünf Tagen von seiner Reise im Süden zurück, und dann werden wir ein großes abschließendes Auswahl-Fünfhundert-Turnier haben.« Mr. Wrenn war viel zu sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, ob Miss Proudfoot für das Picknick ihre berühmten – und mit Recht berühmten – Brötchen mit gehacktem Schinken machen würde, um sich sehr für ihre Mitteilung zu interessieren. Ebensowenig interessierte es ihn, als sie sagte: »Mrs. Ferrard hat einen Brief oder so was Ähnliches für Sie.«

Als man sich dann zum Essen setzte, rauschte Mrs. Ferrard wirkungsvoll herein und rief: »Ein Telegramm für Sie ist da, Mr. Wrenn.«

War jemand gestorben? Wer? Alle am Tisch hielten den Atem an, und Mr. Wrenn mit ihnen … Etwas anderes konnte ein Telegramm für sie nicht bedeuten.

Ihre Augen glichen einem Kreis gefällter Bajonette, als er die Nachricht öffnete und las – es war ein Funktelegramm von einem Schiff:

 

»ankomme hesperida bitte abholen istra«

 

»Es ist – bloß ein – etwas Geschäftliches«, gelang es ihm zu sagen, während er seine Suppe vergoß. Das war nicht der richtige Ort dafür, die Gefühle aus seinem pochenden Herzen hervorzuholen und zu untersuchen.

Das Essen ging weiter. Die Institution der Picknicks wurde von allen Seiten her beleuchtet – vom historischen, vom hygienischen und vom sozialen Standpunkt aus. Mr. Wrenn redete sehr viel und ein wenig verworren. Nach dem Essen lief er hinaus, um sich eine Zeitung zu holen. D. S. Hesperida war am nächsten Vormittag um zehn Uhr fällig.

Es war ein Abend der Ängste und Verwirrungen. Beklommen taumelte er über die Lexington-Avenue. Er wußte nur, daß er Nelly sehr gern hatte und doch außer sich vor Wonne darüber war, daß er Istra wiedersehen sollte. Er verfluchte sich – »verfluchen« ist ganz wörtlich zu nehmen – abwechselnd als Schurken und heimtückischen Verräter; er wandelte alle Ehrennamen ab, mit denen Männer sich schmücken, wenn sie die Entdeckung machen, daß zwei Frauen verschieden, aber gleich liebenswert sind. Und alle zwei Minuten jubelte er vor Freude darüber, daß er Istra wiedersehen würde – wirklich, tatsächlich, schon am nächsten Tag wiedersehen würde! Als er zurückkam, saß Nelly auf den Stufen vor dem Haus.

»Halloh.«

»Halloh.«

Mehr wußten beide eine Zeitlang nicht zu sagen; Mr. Wrenn untersuchte sorgfältig die Unterseite der Eisentreppe.

»Billy – war es etwas Ernstes, in dem Telegramm?«

»Nein, es war – – Miss Nash, die Künstlerin, von der ich Ihnen einmal erzählt hab, hat mich gebeten, ich soll sie am Schiff abholen. Ich soll ihr wahrscheinlich beim Gepäck und beim Zoll helfen. Sie kommt aus Paris.«

»Ach so, aha.«

Nelly zeigte so wenig Eifersucht, daß Mr. Wrenn enttäuscht war, obwohl er nicht recht wußte, warum. Es tut immer weh, wenn aus einer ganz großen Tragödie nichts weiter wird als ein sachliches Gespräch.

»Ich weiß nicht, ob sie Ihnen richtig gefallen wird. Sie ist schrecklich wohlerzogen, aber ich weiß nicht – vielleicht wird sie Ihnen bißchen eingebildet vorkommen. Aber sie zieht sich an – – Ich glaub, ich hab noch niemand gesehen, der so elegant ist wie sie. Im Anziehen mein ich. Natürlich« – ganz rasch kam das – »hat sie Geld, und deshalb kann sie sichs leisten. Aber sie ist – ach, irgendwie ist sie schon reizend. Hoffentlich wird sie Ihnen gefallen – – Hoffentlich wird sie nicht – –«

»Ach, ich werd mir nichts draus machen, wenn sie eingebildet ist. Man gewöhnt sich ja an so was, wenn man in einem Warenhaus arbeitet«, sagte sie in eiskaltem Ton; aber das tat ihr bald leid, und sie bat: »Ach, ich wollte wirklich nicht schnippisch sein, Billy. Entschuldigen Sie! Ich bin ganz sicher, daß Miss Nash sehr nett ist. Wohnt sie hier in New York?«

»Nein – in Kalifornien … Ich weiß nicht, wie lang sie hier bleiben wird.«

»Na – na – hm–m–m. Ich bin so schläfrig. Ich werd wohl schlafen gehen. Gute Nacht.«

 

Mit einem unangenehmen Gefühl, weil er nicht im Büro war, unzufrieden, weil er seine geliebten Briefe für den Handel im Süden lassen mußte, geärgert, weil es ihm Schwierigkeiten bereitete, einen Passierschein für den Kai zu bekommen, und wütend, weil er schlecht geschlafen hatte, erwartete Mr. Wrenn die Ankunft der Hesperida. Jetzt wußte er gar nicht mehr, ob er Istra überhaupt sehen wollte. Er hatte keine Ahnung mehr, wie sie aussah. Ob sie ihm gefallen würde?

Der große Dampfer drehte bei und wurde an den Kai bugsiert. Zwischen den Schultern der eng aneinander gedrängten Menschen hindurch musterte Mr. Wrenn kühl die Passagiere, die auf den Decks standen. Istra war nicht zu sehen. Und da wußte er, daß er sich sehr um sie sorgte. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre!

Der kleine Mann, der ganz bescheiden in der Menge gestanden war, schob sich plötzlich boxend und drängelnd in die vorderste Linie vor. Endlich sah er sie – schlank, anmutig, nonchalant, gleichgültig, in elegantem kariertem Kostüm, mit einem hübschen schwarzen Strohhut und einer neuen Handtasche.

Er starrte sie an. »Herrjeh!« keuchte er. »Ich bin ja ganz verrückt wegen ihr. Wirklich wahr.«

Sie sah ihn, und fröhlich lächelten sie einander zu. Als sie über den Laufsteg herübergekommen war, gab sie ihm einen hastigen Kuß.

»Also wirklich da!« lachte sie.

»Ja, ja, ja, ja! Ich freu mich ja so, daß Sie da sind!«

»Ich freu mich auch sehr, Sie zu sehen, liebes Mäuschen.«

»Haben Sie eine gute R – –«

»Fragen Sie gar nicht erst. Ein Ehemann sans Frau war da, der mich während der ganzen Überfahrt verfolgt hat. Ich bin nur froh, daß Sie sich nicht in mich verlieben werden.«

»Aber – äh – –«

»Sehen wir zu, daß wir so rasch wie möglich durch den Zoll durchkommen. Wo ist N? Oh, wie klug, gleich neben M. Einer von meinen Koffern ist schon da. Wie geht es Ihnen denn, liebes Mäuschen?«

Aber das schien sie gar nicht so sehr zu interessieren, und die alte Verlegenheit, die sie in ihm auslöste, war wieder über ihm.

»Es ist doch schön, wieder zurück zu sein, und – liebes Mäuschen, ich weiß, daß Sie nicht böse sind, wenn ich Sie bitte, mir für die nächsten paar Tage ein Zimmer zu suchen?« Das schien ihr etwas ganz Selbstverständliches zu sein. »Wir werden noch heute vormittag etwas suchen, n'est-ce pas? Nicht zu teuer. Ich habe gerade genug, um nach Kalifornien fahren zu können.«

Nach Männerart sah er klar und deutlich die ganze Arbeit auf seinem Schreibtisch vor sich, und nach Männerart antwortete er: »Selbstverständlich, mit Vergnügen.«

»Wie wäre es mit der Pension, in der Sie wohnen? Sie haben doch geschrieben, daß es dort so nett und sauber ist.«

Der Gedanke, daß Nelly und Istra in einem Haus wohnen könnten, erschreckte ihn.

»Ja, ich weiß nicht recht, obs Ihnen auch so gut gefallen würde.«

»Ach, für ein paar Tage wird es auf jeden Fall gut sein. Ist ein Zimmer frei?«

Die Sache verdroß ihn. Er sah viele Unannehmlichkeiten voraus.

»Ach, ja, ich glaub schon.«

»Liebes Mäuschen!« Istra hockte sich inmitten des Durcheinanders von Gepäck, Zollbeamten und ungeduldigen Passagieren auf einen Koffer und sah ehrlich bekümmert zu ihm auf.

»Aber Mäuschen! Ich dachte, es wird Ihnen eine Freude sein, mich zu sehen. Ich habe mich doch nie mit Ihnen gezankt, nicht wahr? Ich habe mir immer Mühe gegeben, nicht launenhaft zu sein. Deshalb habe ich Ihnen telegraphiert, obwohl ich genug Leute hier habe, die ich seit Jahren kenne.«

»Ach, ich wollt ja nicht brummig sein; wirklich nicht! Ich hab mir nur überlegt, obs Ihnen dort gefallen wird.«

Am liebsten hätte er sich reuevoll und zerknirscht vor seiner Gottheit auf die Knie geworfen, wenn sie jetzt auch nichts anderes war als ein einsames Mädchen im Trubel New Yorks. Er redete weiter:

»Und dann haben wir uns doch recht lang nicht gesehen, und ich wußte nicht – – Aber ich glaub, ich werd Sie immer – ach – immer richtig verehren.«

»Es ist gut, Mäuschen. Es ist – – Da sind schon die Zollbeamten.«

Nun wußte Istra Nash recht gut, daß die Zollbeamten noch gar nicht daran dachten, ihr Gepäck zu revidieren. Aber der Auseinandersetzung war ein Ende gemacht, und sie schienen einander zu verstehen.

»Herrjeh, diesmal kommt aber ne Menge reiche jüdische Damen zurück!« rief er.

»Ja. Dreimal am Tag haben sie neuen Schmuck angelegt«, erzählte sie.

»Herrjeh, die Halle ist aber groß!«

»Ja.«

So bezeugten sie einander die Festigkeit ihrer Freundschaft, bis sie nach Hause kamen und Istra in dem »Zimmer von Teddem« als neuer Gast aufgenommen wurde.

 

Das Abendessen wurde mit allen bei Mrs. Arty üblichen Zeremonien eingeleitet. Keiner der geheiligten alten Späße fehlte. Tom Poppins vergaß nicht, zu rufen: »Bringen Sie das Abwaschwasser«, und Miss Mary Proudfoot dachte daran, mit einem Akzent, der auf jeder amerikanischen Bühne als bezaubernd englisch anerkannt worden wäre, züchtig zu murmeln: »Aber hören Sie!« Dann brach das Gespräch ab. Istra Nash stand im Eingang – blaß, unduldsam, das rote Haar hochgekämmt, groß und schlank, miederlos, in einem enganliegenden grauen Kleid. Alle Köpfe drehten sich wie auf Zapfen zuerst zu Istra, dann zu Mr. Wrenn. Er wurde rot und verbeugte sich, als wäre er aufgefordert worden, eine Rede zu halten, stand ungeschickt auf und sagte: »Äh – äh – äh – Mrs. Ferrard kennen Sie ja, Istra, nicht wahr? Sie wird Sie den anderen Herrschaften vorstellen.«

Er setzte sich nieder, zerbrach sich den Kopf darüber, warum zum Kuckuck er überhaupt aufgestanden wäre, und konstatierte unglückselig, daß Nelly Istra und ihn in kalter Feindseligkeit musterte. Verlegen blickte er zu Istra hinüber, als sie sich ihm gegenüber neben Mrs. Arty niederließ und ohne jede Neugier ihre Serviette auseinanderfaltete. Er glaubte auf ihrem vergnügten Gesicht eine Miene teuflischer Belustigung zu sehen.

Er wurde rot und strich mit wütendem Eifer Butter auf ein Stück Brot, während Mrs. Arty erklärte:

»Meine Damen und Herren, ich möchte Sie alle mit Miss Istra Nash bekannt machen. Miss Nash – Mr. Wrenn kennen Sie schon; Miss Nelly Croubel, unsere Jüngste; Tom Poppins, der große Fünfhundertspieler; Mrs. Ebbitt, Mr. Ebbitt, Miss Proudfoot.«

Istra Nash sah in gespielter Schüchternheit auf, zauderte ein Weilchen, sagte dann mit klarer Stimme und deutlicher Aussprache: »Danke sehr« und wandte sich wieder ihrer Suppe zu, als wäre sie in einem gemütlichen Gespräch, das sie mit ihr führte, unangenehm gestört worden.

Die Anderen begannen zu sprechen und aßen rasch und ziemlich laut weiter. Miss Mary Proudfoots dünne Stimme übertönte alle Geräusche:

»Ich habe gehört, daß Sie eben in New York angekommen sind, Miss Nash.«

»Ja.«

»Sind Sie zum erstenmal in – –«

»Nein.«

Miss Proudfoot trank beleidigt einen sehr großen Schluck Wasser.

Nelly versuchte tapfer:

»Gefällt Ihnen New York, Miss Nash?«

»Ja.«

Nelly, Miss Proudfoot und Tom Poppins begannen, alle auf einmal und sehr schnell, über verschiedene Schuhläden zu sprechen, während Mr. Wrenn angestrengt darüber nachdachte, was er sagen könnte … Du guter Gott, wenn Istra ihn hier im Hause »in die Tinte« brachte! … Dann ärgerte er sich über sich selbst und über alle anderen, weil Istra nicht gebührend gewürdigt wurde. Wie wunderbar sie mit ihrem müden weißen Gesicht aussah!

Als die Suppenteller, die man nach einem höchst komplizierten und verwirrenden System um den Tisch herum reichte und dann zusammenstellte, von Annie abgenommen wurden, betrachtete Istra Nash das Mädchen mit boshafter Miene. Mrs. Arty runzelte die Stirn, dann wurde sie betont freundlich und sagte:

»Miss Nash kommt eben aus Paris zurück. Sie ist eine richtige Europareisende, so wie Mr. Wrenn.«

Mrs. Samuel Ebbitt piepste: »Mr. Ebbitt war auch in Europa. Achtzehnhundertzweiundachtzig.«

»Nein, stimmt nicht, Fannie; es war achtzehnhunderteinundachtzig«, klagte Mr. Ebbitt.

Miss Nash wartete das Ende dieser Störung ab, als handelte es sich um ein Geräusch, mit dem man sich eben abfinden mußte wie mit der Hochbahn.

Zweimal holte sie Atem, um etwas zu sagen, und alles am Tisch legte Gabel und Messer aus der Hand, um zu horchen. Sie sagte aber nicht mehr als:

»Ach, entschuldigen Sie, daß ich jetzt davon spreche, Mrs. Ferrard; würden Sie so freundlich sein, mir morgen mein Frühstück ins Zimmer heraufzuschicken? So gegen neun? Etwas ganz Einfaches – vielleicht eine Kantalupe, Rührei und Schokolade?«

»Aber gewiß; ja, natürlich, selbstverständlich«, murmelte Mrs. Arty, während ihre Pensionäre insgesamt den Atem anhielten und flüsterten:

»Schokolade!«

»Eine Kantalupe!«

»Rührei!«

» In ihrem Zimmer – um neun Uhr

All dies war für Mr. Wrenn ganz fürchterlich. Er befand sich in der Lage eines Mannes, für den eine Rede in der Brauergenossenschaft und eine Ansprache im Zentralverband der Frauen-Antialkoholvereinigungen für die gleiche Stunde angesetzt sind. Er raffte seinen Mut zusammen und rief:

»Miss Nash müßte eigentlich bei unserem Picknick mitmachen. Sie ist blendend bei Ausflügen.«

»Ach ja, Mr. Wrenn und ich sind in England einmal die ganze Nacht hindurch gewandert«, sagte Istra in aller Unschuld.

Alle Augen fragten Mr. Wrenn, wie das zu verstehen sei. Er versuchte Nelly anzublicken, aber in seinem Innern tat etwas weh.

»Ja«, murmelte er. »Das war ein ziemlich weiter Weg.«

Miss Mary Proudfoot machte noch einen Versuch:

»Ist es angenehm, in Paris zu studieren? Mrs. Arty hat erzählt, daß Sie Künstlerin sind.«

»Nein.«

Dann schwiegen alle, und im weiteren Verlauf des Essens sprach Mr. Wrenn abwechselnd mit Istra über Olympia Johns und mit Nelly über Picknicks. Seine Stimme hatte einen flehenden Unterton, der Nelly dazu brachte, ihn nachdenklich anzusehen und sogar freundlich zu werden. Mit ruhiger Beharrlichkeit zog sie Istra in ein Gespräch über die Rue de la Paix-Moden, das nahezu alle wieder vereinigte und ihr Mr. Wrenns bebende Dankbarkeit eintrug.

Nach dem Dessert holte Istra langsam ein glattes goldenes Zigarettenetui aus ihrer silbergrauen Brokattasche und zündete sich sehr sorgfältig eine dünne russische Zigarette an. In einer ihrer schönsten Attitüden, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, saß sie da und betrachtete das große Bild »Auf der Hirschjagd« an der Wand hinter Mr. Wrenn.

In bissigem Ton rief Mrs. Arty dem Dienstmädchen zu: »Annie, bringen Sie mir meine Zigaretten.« Aber Mrs. Arty, die es immer sehr rasch bedauerte, wenn sie boshaft gewesen war, lud Istra Nash – obgleich diese gar nichts davon gemerkt zu haben schien, daß die Frau des Hauses boshaft gewesen war – so herzlich ein, nach dem Essen in das Wohnzimmer zu kommen, daß Istra nichts anderes übrig blieb, als zu erklären: »Ja, vielleicht«; sie ging sogar soweit, daß sie sagte: »Ich glaube, man muß Sie alle beneiden, Sie sind eine so glückliche Familie.«

»Ja, das stimmt«, meinte Mrs. Arty.

»Ja«, fügte Mr. Wrenn hinzu.

Und Nelly: »Das stimmt.«

Alle am Tisch nickten ernsthaft: »Ja, das stimmt.«

»Ich bin ganz sicher« – Istra lächelte Mrs. Arty zu – »das kommt daher, daß eine Frau das Ganze leitet. Denken Sie nur, was für ein Hundeleben Sie führen würden, wenn Mr. Wrenn oder Mr. – Popple, ja? – die Leitung hätten.«

Man applaudierte. Man merkte, daß sie einen Witz gemacht hatte. Sie wurde noch einmal, diesmal von allen Seiten, aufgefordert, in das Wohnzimmer zu kommen, und sie erschien auch, obwohl sie ziemlich kurz angebunden sagte, daß sie nicht Fünfhundert, sondern nur Kinder-Bridge spielen könne – eine Whistart, die Mr. Wrenn augenblicklich zu lernen beschloß. Sie ruhte (»ruhte« bezeichnet es ganz genau) zwischen den Kissen auf dem roten Lederdivan, rauchte zwei Zigaretten und beteiligte sich ab und zu mit einem »Nein?« an der Konversation.

Als sie Nelly einmal etwas hochmütig behandelte, sagte Mr. Wrenn sich nahezu wütend: »Sie ist wohl zu gut für uns?« Aber er mußte in ihrer Nähe bleiben. Das Bewußtsein, daß Istra im Zimmer war, ließ ihn fast regelmäßig vergessen, daß er hin und wieder die Vorhand beim Spiel hatte; und als Miss Proudfoot ihn fragte, ob er meine, daß man das bevorstehende Picknick besser auf Staten Island oder auf den Palissaden abhalten solle, antwortete er höchst unklar: »Ja, das wird wohl besser sein.«

Denn er wollte neben Istra Nash sitzen, ihr ganz nahe sein. Er begab sich also mutig zu ihr, und augenblicklich erschienen ihm alle Anderen als Fremde, die seine kluge Kameradin und er studierten.

»Sagen Sie mir doch, liebes Mäuschen, was gefällt Ihnen an den Leuten hier? So außerordentlich scheinen sie ja nicht zu sein. Klären Sie die arme Istra auf.«

»Also, sie sind eben schrecklich freundlich. Ich hab so lang in einem Haus gewohnt, wo man keinen Menschen gekannt hat, außer der Mrs. Zapp – das war die Wirtin – und für die hab ich nicht sehr viel übrig gehabt. Aber hier, Tom Poppins und Mrs. Arty und – die anderen – die haben Menschen wirklich gern, und deshalb kommt man sich hier wie zu Hause vor … Miss Croubel ist ein sehr nettes Mädel. Sie arbeitet für Wanamacy – sie hat eine recht große Stellung dort. Sie ist Hilfseinkäuferin in der – –«

Er unterbrach sich erschrocken. Fast hätte er gesagt: »in der Wäscheabteilung«. Er verbesserte sich: »in der Kleiderabteilung«, und sprach unsicher weiter: »Mr. Duncan ist Reisender. Jetzt ist er unterwegs.«

»Mit wem spielen Sie? Nelly hat also – sie eignet sich am besten dazu, nicht?«

»Wieso kommen Sie – –«

»Ach, ich habe bemerkt, wie sie Sie ansieht. Ich glaube wirklich, sie ist ein furchtbar nettes Rosengesicht. Und jetzt, in diesem Augenblick, stellen Sie Vergleiche zwischen ihr und mir an.«

»Herrjeh!« sagte er.

Sie war überaus zufrieden mit sich. »Sagen Sie, was denken diese Leute; oder wenigstens, worüber reden sie?«

»Na, hören Sie!«

»Ssst! Nicht so laut, Mäuschen.«

»Hören Sie, ich weiß, was Sie meinen. Sie kommen sich ein bißchen so vor, wie ich in England. Sie können sich nicht recht vorstellen, was die Leute denken, und das macht Sie son bißchen einsam.«

»Also, ich – –«

In diesem Augenblick kam der freundliche Tom Poppins zum Divan. Er hatte schnaufend sein schweres Gewicht in die Dritte Avenue geschleppt, weil Miss Proudfoot erklärt hatte: »Heut abend bin ich ein richtiges Schleckermäulchen.« Er pflanzte sich vor Istra und Mr. Wrenn auf, hielt ihnen mit großartiger Gebärde eine Tüte Schokoladenplätzchen und eine Tafel Nußschokolade entgegen und sagte theatralisch:

»Was soll es sein, Eure Hoheit? Dicke Menschen werden von niemand geliebt, und deshalb müssen sie Süßigkeiten kaufen, damit man sie nicht wegschickt. Mal sehen; Sie nehmen n Plätzchen, Bill. Und was wollen Sie, Miss Nash?«

Ernst und höflich blickte sie zu ihm auf – allzu ernst und höflich. Sie schien ihn nicht sehr nett zu finden.

»Gar nichts, danke«, sagte sie scharf. Gekränkt, entsetzt ging er fort.

Istra sprach weiter: »Ich bin noch nicht lange genug hier, um mich einsam zu fühlen, aber jedenfalls – –« wurde aber von Mr. Wrenn unterbrochen:

»Sie haben Tom sehr weh damit getan, daß Sie nichts genommen haben; und er ist ein so freundlicher Mensch.«

»Weh getan habe ich ihm?« fragte sie spöttisch.

»Ja, weh getan. Und so viele freundliche Menschen gibts in dieser Welt gar nicht.«

»Ach ja, Sie haben natürlich Recht. Es tut mir sehr leid, wirklich.«

Sie ging Tom nach und sagte ihm in ihrem nettesten Ton:

»Ach, ich möchte doch etwas nehmen. Ich habe es mir anders überlegt. Oder darf ich nicht?«

»Ja, aber natürlich dürfen Sie!« sagte Tom über das ganze Gesicht strahlend.

Istra blieb bei den Kartenspielern stehen, lächelte Mrs. Arty freundlich zu und sagte ganz menschlich:

»Es tut mir ja so leid, daß ich kein vernünftiges Kartenspiel kann. Ich fürchte, ich bin zu dumm, um es zu lernen. Ich glaube, Sie sind sehr beneidenswert.«

Mr. Wrenn auf seinem Divan war in großer Aufregung … Wollte Istra nicht zurückkommen?

Sie kam. Sie entrann allen Einladungen, Fünfhundert zu lernen, ging zu ihm zurück und murmelte: »War die schlimme Istra gut? Ist ihr verziehen? Liebes Mäuschen, ich wollte nicht häßlich zu Ihren Freunden sein.«

Durch das Wasser in einem Kochtopf beginnen allmählich Bläschen emporzusteigen, die Oberfläche gerät in Bewegung, und dann, nach langem Warten, siedet das Wasser plötzlich – einen ganz ähnlichen Prozeß machten die Gefühle Mr. Wrenns durch, nun da Istra, die Herrliche, wirklich etwas getan hatte, das von ihm angeregt worden war.

»Istra – –« Mehr konnte er nicht sagen, aber aus seinen Augen war alle Reserve verschwunden.

Sie erwiderte seinen Blick mit einem nicht weniger offenen – nur lag mehr Mütterliches darin; es war wie ein freundliches Über-den-Kopf-streichen; und ganz Mutter war sie, als sie fragte:

»Ich habe Ihnen also wirklich gefehlt?«

»Gefehlt – –«

»Haben Sie noch an mich gedacht, wie Sie hier im Haus waren? Ach, ich weiß – ich war vergessen; die arme Istra war von dem hübschen Rosengesicht verdrängt.«

»Ach bitte, Istra, nicht! Ich – können wir nicht n bißchen spazieren gehen, damit – damit wir reden können?«

»Aber, wir können doch auch hier reden.«

»Ach herrjeh! – hier sind so viel Leute … Herr Gott, wie ich nach Amerika zurückgekommen bin – herrjeh! – da hab ich in der Nacht kaum schlafen können – –«

Von der anderen Seite des Zimmers war die lärmende Stimme Toms zu hören, der zu Nelly sagte:

»Ach ja, Sie meinen natürlich, Sie sind das einzige Mädel, das schon mal im Theater gewesen ist. Wir sind noch nie im Theater gewesen. O nein!«

Nelly und Miß Proudfoot konnten gar nicht genug über diesen Witz lachen.

Von ganz fern warf Mr. Wrenn einen Blick auf sie; das waren nicht seine Menschen. Voll Stolz betrachtete er Istras schönes, edles Gesicht, als er ganz heiß weiter stammelte:

»– da konnt ich in der Nacht überhaupt nicht schlafen … Dann hab ich mich in die Arbeit gestürzt …«

»Sagen Sie, Sie sind also noch bei derselben Firma?«

»Ja. Kunstartikel- und Nouveautés-Gesellschaft. Und ich hab schrecklich gearbeitet, und da hab ich Sie für eine ganz kurze Zeit vergessen können – –«

»Sie haben mich also wirklich gern – obwohl ich mich in England so scheußlich zu Ihnen benommen habe.«

»Ach, das war nichts … Aber ich hab immer an Sie gedacht, auch bei der Arbeit sogar –«

»Es tut einem sehr wohl, einen Menschen zu haben, der einen wirklich immer ernst nimmt … Tatsächlich, Mäuschen, ich weiß das zu schätzen, aber Sie dürfen nicht – Sie dürfen nicht – –«

»Ach herrjeh, ich kanns noch gar nicht recht begreifen – Sie sind hier neben mir – ist das nicht merkwürdig! …« Dann wollte er durchaus die Geschichte seiner Sehnsucht erzählen, aber sie beeilte sich, ihn zu unterbrechen: »Die Leute hier sind schrecklich gut und freundlich, und man kann sich auf sie verlassen. Aber – ach – –«

 

Am anderen Ende des Zimmers rief Tom:

»Ja, Sie legen sicher beim Tanzen ne erstklassige Zehe aufs Parkett. Sie können wohl auch Boston und die ganzen vornehmen Tänze. Hohoho!«

 

»Aber, Istra, ach herrjeh! Sie sind so was Poetisches – wie alles, was man selber nicht kann, aber, wenn man Shakespeare und die ganzen Dichter liest, probiert mans.«

»Ach, mein lieber Junge, Sie dürfen wirklich nicht! Wir wollen gute Freunde sein. Ich weiß recht gut, was es für mich wert ist, einen Menschen zu haben, dem es nicht gleichgültig ist, ob ich lebe oder nicht. Aber ich dachte, es wäre ausgemacht, daß wir nicht ernsthaft miteinander spielen; daß es nur ein Spiel sein soll – und nichts weiter.«

»Aber auf jeden Fall werd ich hier in New York mit Ihnen so viel spielen dürfen, wie ich kann? Ach, kommen Sie, gehen wir doch spazieren – wir – wir können doch irgendwohin gehen.«

»Es tut mir schrecklich leid, aber ich habe versprochen – ich werde abgeholt, und dann müssen wir in ein albernes Atelier in der Nähe vom Bryant Park gehen. Ärgerlich, nicht wahr, gleich am ersten Tag? Und die arme Istra ist fürchterlich landkrank.«

»Ach, dann« – ganz hoffnungsvoll – »gehen Sie eben nicht. Wir – –«

»Es tut mir leid, liebes Mäuschen, aber ich werde die Verabredung einhalten müssen … Ich muß sogar gleich hinaufgehen und mich zurecht machen – –«

»Tut's Ihnen denn gar nicht leid?« fragte er schmollend.

»Oh ja, natürlich. Aber Sie wollen doch nicht, daß Istra einen netten Jungen enttäuscht, der sich eigens eine elegante neue Weste gekauft hat, nicht wahr? … Gute Nacht, Mäuschen.« Sie lächelte – das mütterliche Lächeln – und war mit einem allgemeinen freundlichen »Gute Nacht« verschwunden.

Nelly sagte, sie sei müde, und ging früh zu Bett. Er hatte keine Gelegenheit mehr, mit ihr zu sprechen. Lange saß er allein auf einer Stufe vor der Haustür. Bisweilen sehnte er sich nach Istras Elfenbeingesicht. Bisweilen malte er sich mit glühendem Mitleid aus, wie Nelly den ganzen Tag in ihrem lärmenden Warenhaus arbeitete – und bald mußte auch der übelriechende Stadtsommer kommen.

 

Am nächsten Abend gingen Istra und Mr. Wrenn spazieren, aber Istra sprach unaufhörlich lachend und scherzend über die Nachtwanderung in England. Irgendwie – er wußte gar nicht recht, wieso – wollte es ihm nicht gelingen, ihr, wie er sich vorgenommen hatte, immer wieder zu erzählen, wie sehr sie ihm gefehlt habe.

Mittwoch – Donnerstag – Freitag; er sah sie nur einmal beim Essen am Abend, und einmal auf der Treppe, als sie von fein aussehenden Herren im Frack, die Taxis vor dem Haus stehen hatten, abgeholt wurde und munter plaudernd fortfuhr.

 

Nelly war sehr liebenswürdig; nicht mehr und nicht weniger – liebenswürdig. Liebenswürdig spielte sie mit ihm Fünfhundert, und liebenswürdig lehnte sie es ab, mit ihm ins Kino zu gehen. Es strengte sie von Tag zu Tag mehr an, bis sieben Uhr im Geschäft zu bleiben und »Schlager« für die Weiße Woche vorzubereiten. Am Freitagabend beobachtete er, daß sie ihre weichen, frischen Lippen traurig hängen ließ, als sie vor dem Essen müde die Treppe heraufkam. Um acht Uhr zog sie sich in ihr Zimmer zurück, und um dieselbe Zeit wurde Istra von einem hageren, ironisch dreinblickenden Mann, der eine Norfolkjacke anhatte, in irgend ein Privathaus zum Essen entführt. Mr. Wrenn ärgerte sich über die Norfolkjacke. Natürlich, daß vornehm aussehende Herren im Frack Istra von ihm fortlockten, darauf mußte er gefaßt sein, aber eine Norfolkjacke – – Doch so nannte er dieses Kleidungsstück gar nicht. Obgleich er in dem schönen Dörfchen Aengusmere selbst ein solches getragen hatte, war es für ihn noch immer ein »Rock mit einem Gürtel«.

Den ganzen Abend dachte er an Nelly. Er hörte, wie sie – auf einem und demselben Stockwerk wie er – mit Miss Proudfoot sprach, die ganze drei Stunden, nachdem Nelly angeblich schlafen gegangen war, an deren Tür stand.

»Nein«, sagte Nelly mit unverkennbar gespielter Munterkeit, »nein, ich hatte bloß ein bißchen Kopfweh … Es ist schon viel besser. Ich glaube, jetzt kann ich schlafen. Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.«

Nelly hatte Mr. Wrenn gegenüber nicht davon gesprochen, daß sie heftige Kopfschmerzen hatte – sie, die einst, noch vor wenigen Wochen, mit einem Schnitt in ihrem weichen Fingerchen zu ihm gelaufen war und ihn gebeten hatte, die Wunde zu verbinden … Langsam ging er zu Bett.

Eine halbe Stunde lag er da, und dann überwältigte sein Leid ihn so sehr, daß er aus dem Bett springen mußte. Er kauerte sich wie ein kleines Kind vor dem Bett auf die Füße und betete, während das harte Holzbrett der Bettwand ihm in die Brust schnitt:

»O Gott, o Gott, verzeih mir, verzeih mir, ach verzeih mir! Ich hab ja Nelly vergessen (und dabei lieb ich sie so) und sie mit Istra verglichen und gar nicht gewußt, was ich an ihr hab, und Nelly war immer so lieb zu mir und hat mir so vertraut – – O Gott, laß mich nicht schlecht werden!«

Viele Minuten betete er so, und die Brust, die er gegen die Bettwand preßte, tat ihm immer mehr weh. Und ununterbrochen loderte das Lagerfeuer, an dem er mit Istra gesessen war, hinter seinen Augenlidern, immer sah er Istra in all ihrer Herrlichkeit in einer Londoner Wohnung in Gesellschaft vieler kluger Menschen, immer sah er die schönen Linien ihrer Brust, ihre bleichen Wangen, darüber das feuerfarbene Haar – etwas über die Maßen Schönes, etwas, wofür er keinen Ausdruck finden konnte.

»Ach,« stöhnte er, »sie ist so wie das ganze Poetische im Shakespeare, was so schwer zu kapieren ist … Am Sonntag beim Picknick werd ich besonders nett zu Nelly sein … Sie vertraut mir so, und dann fang ich – – O Gott, laß mich nicht schlecht werden!«

 

Als er Sonnabend früh fortging, fand er in der Diele ein Briefchen von Istra vor:

 

»Wollen Sie morgen Samstag, nachmittag und vielleicht auch abends mit der armen Istra spielen, Mäuschen? Sie haben doch den Samstagnachmittag frei, nicht wahr? Wenn Sie mich um halbzwei abholen können, lassen Sie einen Zettel für mich zurück.

I. N.«

 

Er hatte den Samstagnachmittag zwar nicht frei, behauptete es aber in seinem Zettel, und um halbzwei erschien er mit einem neuen (am Dienstag erstandenen) Frühjahrsanzug, einem neuen (Sonnabend mittag erstandenen) Frühjahrshut und dem Spazierstock, den er in der Tottenham Court Road gekauft hatte, an ihrer Tür.

Istra führte ihn in ein Stück, das sie »futuristisch« nannte. Sie erklärte ihm das Ganze etliche Male, sie traktierte ihn mit Tee und Muffins und erinnerte ihn an Mrs. Cattermoles Teestube, wobei sie Mrs. Cattermoles ernste Knollennase keineswegs vergaß. Sie saßen bei Brevoort und waren um halbzehn wieder zu Hause, denn Istra war »ein ganz klein wenig müde, Mäuschen«.

Sie standen vor ihrer Tür, und Istra sagte: »Sie können hereinkommen, nur auf eine Minute.«

Er war in New York noch nie in ihrem Zimmer gewesen. Die alte Schüchternheit überkam ihn, und er warf einen Blick hinter sich.

Nelly kam gerade herauf und riß den Mund vor Verblüffung auf, als sie ihn in Istras Tür stehen sah.

Bei Mrs. Arty empfingen Damen in ihrem Zimmer nicht Besuch.

Er wollte auf sie zu laufen, erklären, ihr sagen, sie solle – solle – Er stotterte in seinen Gedanken, und nun war Nelly auch schon mit abgewandtem Gesicht vorübergeeilt.

Voll Unbehagen balancierte er auf der Vorderkante eines Schaukelstuhls und betrachtete verwundert den Bücherstapel vor einem von Istras Koffern. Istra saß auf dem Bett, rieb sich das Knie und fing zu klagen an:

»Ach, liebes Mäuschen, mich langweilen alle Menschen so – alle, ohne jede Ausnahme … Natürlich meine ich nicht Sie; Sie sind ein guter Junge … Ach – Paris ist zu kompliziert – ganz besonders, wenn man die Nasale nicht richtig sprechen lernt – und New York ist zu jung und ernst; und Dos Puentes in Kalifornien wird einfach die Hölle sein … Und alle meine kleinen Gesellschaften – ich gehe immer so glücklich und naiv hin wie ein kleines Kind, das zu einem Geburtstag eingeladen ist, und wenn ich dort bin, merke ich, daß ich nicht einmal Quadrille tanzen kann, ganz wie das kleine Kind, und gehe wieder nach Hause – – Ach, verflucht, verflucht, verflucht! Entsetze ich Sie sehr? Es ist mir ganz egal, und wenn ich alle Leute entsetze!«

Sie warf sich der Länge nach auf das Bett und weinte. Ihre schönen Hände umklammerten krampfhaft die Zipfel eines Kissens.

Er ging zum Bett, streichelte ihr langsam und regelmäßig die Schulter, viel zu erschrocken über ihren Ausbruch, um sie auch nur küssen zu wollen.

Sie blickte auf und lachte unter Tränen. »Jetzt müssen Sie sagen: ›Na, na, na; nicht weinen.‹ Das muß man immer sagen, wenn man ein weinendes Mädchen streichelt, wissen Sie … Ach Mäuschen, Sie werden einmal sehr gut zu einer Frau sein.«

Sie streckte ihre langen Arme aus und zog ihn zu sich herunter. Aber sein Kopf lag auf ihrer Schulter. Ihnen beiden schien es, als müßte er getröstet werden, nicht sie. Er drückte seine Wange an ihre weiche Schulter und ruhte dort, ganz aufgegangen in verlorener Glückseligkeit, in der Glückseligkeit, so weit von der engen Welt der Wrennhaftigkeit entfernt zu sein, daß er, ohne sich den ängstlichen, bekümmerten Gedanken Wrenns hinzugeben, Trost spenden und Trost empfangen konnte.

Istra murmelte: »Vielleicht brauche ich gerade das – einen Menschen, der mich braucht. Nur – –« Sie fuhr ihm über das Haar. »Jetzt müssen Sie gehen, mein Lieber.«

»Sie – – Ist es jetzt besser? Ich fürchte, ich hab Ihnen nicht viel geholfen. Eigentlich wars grade umgekehrt.«

»Ach ja, wirklich, jetzt ist alles gut! Es waren nur die Nerven. Sonst nichts. Also, Gute Nacht.«

»Bitte, wollen Sie nicht morgen zum Picknick mitkommen? Es ist – –«

»Nein. Es tut mir leid, aber ich kann wirklich nicht.«

»Bitte, überlegen Sie sichs noch.«

»Nein, nein, nein, nein, mein Guter! Sie müssen gehen und mich vergessen und sich amüsieren und gut zu Ihrem Rosengesicht sein – Nelly, nicht wahr? Sie scheint schrecklich nett zu sein, und ich weiß ganz genau, daß ihr euch sehr schön unterhalten werdet. Sie müssen mich vergessen. Ich bin nichts weiter als eine Lehrerin, die im Spielen Unterricht gibt und selbst bei keinem Spiel Erfolg hat. Aber das ist ganz egal. Es macht mir nichts, wirklich nicht. Also, gute Nacht.«


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