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Zweites Kapitel.
Er geht mit Miss Theresa aus

Als Mr. Wrenn nach der schier endlosen Bestandaufnahme das Gebäude der Kunstartikel-Gesellschaft verließ und auf die Vierzehnte Straße zuschlenderte, kam er sich ganz verloren und ziellos vor. Das Schlimmste war, daß er nicht ins Nickelorion gehen konnte; nach der Unhöflichkeit des Billeteurs war das ganz unmöglich. Dann leuchteten die strahlenden Lichter des Nickelorion auf und versuchten ihn; die Ankündigung eines »Riesen-Eisenbahnüberfall-Films« ließ sein Herz klopfen, als wäre er sechs Stockwerke hoch gestiegen – und mit furchtlos gezücktem Zehncent-Stück eilte er zur Kasse. Dort hatte er ein komisches Gefühl; warum sah in die Kassiererin so genau an? Als er zu dem Mann mit den Messingknöpfen kam, versuchte er ihn zu ignorieren. Eine Neunzehntelsekunde gelang es ihm auch; dann blickte er dem Billeteur wie unter einem Zwang ins Gesicht, machte eine halbe Verbeugung – ein herzliches, zerstreutes Kopfnicken und das liebgewordene »Schöner Abend« wurden ihm zuteil. Seine Seele jubelte. Als er über die langen Beine eines Deutschen, an dem er vorüber mußte, stolperte, entschuldigte er sich mit einer Liebenswürdigkeit, als wäre er seit jeher ein großer Weltmann.

Der Film mit dem Eisenbahnüberfall war – nun, er regte ihn so auf, daß er kaum zu atmen vermochte. Wie die Männer mit den schwarzen Masken immer hinter dem Gebüsch einherschlichen! Mr. Wrenn fuhr erschrocken zusammen, als einer dieser Schleicher ihn von der Leinwand anstarrte. Wie wacker der Zug, zur aufregenden Begleitung der Trommel, auf die Banditen loseilte! Dann kam der Überfall aus dem Hinterhalt und der Kampf mit den im Postwagen verborgenen Detektiven. Tapfer stand Mr. Wrenn, ununterbrochen schießend, neben dem hageren Detektiv mit der Habichtnase; mit ihm schwang er sich auf einen Gaul und verfolgte die Räuber im Walde. Er sah sich auch die nächste Vorstellung an, um den Überfall noch einmal zu genießen.

Als er hinausging, war der Billeteur gerade dabei, seine lange hellblaue Galauniform mit einem ganz gewöhnlichen Rock ohne Messingknöpfe zu vertauschen. Bei dem überraschenden Bild, das sich ihm da bot – eine erhabene Persönlichkeit verwandelte sich in einen Alltagsmenschen – blieb Mr. Wrenn stehen. Nach einer kleinen Pause wagte er zu sagen:

»Äh – das war doch – das war doch eine ganz tolle Sache – nicht wahr?«

»Ja, ich denke schon – – Na, verflucht und zugenäht, wo ist denn wieder mein Hut hingekommen? Jeden Abend muß ich ihn suchen. Der Film, Herr? Ja, von dem hab ich noch nicht viel – – Na, soll einen da nicht der Teufel holen? Einer von den Lausejungen hat mir den Hut wieder in die Kassenbude gesteckt. Der Film? Kommt selten vor, daß ich einen seh. Komisch was? – ich ruf ihn aus, als ob ich die Großmutter von dem Kerl wär, der ihn gemacht hat, und weiß nicht einmal, ob der Eisenbahnüberfall – – Wo sind denn jetzt wieder die Außer-Dienst-Schuhe? … Ich weiß nicht mal, ob der Überfall gelingt oder nicht!«

Er klopfte Mr. Wrenn auf die Schulter, und dessen Herz schwoll von den Gefühlen edler Freundschaft. Zu seiner Überraschung hörte er sich sagen:

»Hören Sie mal – äh – ich hab Sie gestern abend gegrüßt – und Sie – Sie haben sich benommen, als ob Sie mich noch nie gesehen hätten.«

»Ja, ja, sehen Sie, so was passiert mir, weil ich der Vater von fünf Jungs und einem Mädel und einem Kater bin. Ich hab Sie wahrscheinlich gar nicht richtig gesehen. Ich hab wohl Familiensorgen gehabt – wahrscheinlich hab ich drüber nachgedacht, wer mir mein Stück Kuchen weggefressen hat – obs Pete oder Johnny war, oder ob ich sie beide verhauen soll, oder mir ganz einfach meine Alte langen.«

Mr. Wrenn wußte ganz genau, daß der Billeteur nicht im entferntesten daran dachte, »sich seine Alte zu langen«. Er wußte Bescheid. Das Ganze war ja nur ein Witz.

»Na ja, mir ist schon klar, daß Sie mich nicht schneiden wollten. Hören Sie mal, ich hab Durst. Kommen Sie mit mir rüber zu Moje, ich schmeiß eine Lage.«

Er war ganz entsetzt bei dem Gedanken an die Verschwendung, in die er sich stürzte, und der Mann mit den Messingknöpfen wußte nicht recht, was der Mensch eigentlich von ihm wollte. Aber sie gingen miteinander über die Straße in die Kneipe, eine New Yorker Eckkneipe, in der es selbstverständlich einen großen Spiegel, ungezählte Gläser und eine lange schimmernde Fußstange an der Bar gab.

»Na?« fragte der Barmann.

»Korn, Jimmy«, bestellte der Mann mit den Messingknöpfen.

»Äh–h–h–h«, sagte Mr. Wrenn erschrocken, denn jetzt lief er – in seiner neuen Eigenschaft als wohlhabender Bürger – Gefahr, für einen grünen Jungen gehalten zu werden, der sich sein Getränk nicht richtig wählen kann. »Mein Magen ist nicht ganz in Ordnung. Ich werd wohl besser ganz einfach ne Limonade trinken.«

»Ihr Großvater scheint gar nicht so dumm gewesen zu sein«, bemerkte der Mann mit den Messingknöpfen. »Ich für meine Person, ich bring nie den Verstand auf, abzustoppen, wenns was zum Trinken gibt. Meine Alte sagt mir immer: ›Mory‹, sagt sie, ›wenn du im Himmel wärst, und wenn dort auf einer Seite n Topp Bier wär und auf der andern ne goldne Harfe‹, sagt sie, ›und du müßtest wählen, was würdest du nehmen?‹ Und was meinen Sie, antwort ich?«

»Bier«, sagte der Barmann.

»Ja von wegen«, erklärte der Billeteur; »ich, sag ich ihr, ich? Ich klemm mir die Harfe und versilber sie für zehn Glas deutsches Bier und nen ordentlichen Männerschluck Rum!«

»Hi, hi, hi«, kicherte Mr. Wrenn.

»Ha, ha, ha«, gröhlte der Barmann.

»Na«, gähnte der Billeteur, »wenn die Alte nicht bald mich zum Ausklopfen hat, wird sie wohl meine Sonntagsausgehhosen ausklopfen. Ich werd mich jetzt besser dünne machen. Recht vielen Dank, Mr. Äh. Wiedersehen, Jimmy.«

Mr. Wrenn begab sich in gehobener Stimmung nach Hause und stieg vergnügt die Stufen zur Eingangstür herauf. Er war dem Himmel viel näher, als die Sechzehnte Straße vermuten ließe. Er war ja ein Erforscher der Arktis, ein geschätzter Mann in seinem Beruf, ein Zechgefährte witziger Nachtvögel. Er war ein Leutnant im Heer, der mit seinem Freund, dem Detektiv mit der Habichtnase, Banditen-Überfälle auf Eisenbahnzüge zurückschlug. Munter öffnete und schloß er die Tür. Er war – –

Er war ein höchst demütiger kleiner Mr. Wrenn. Seine Wirtin, ein Nachthäubchen auf dem Kopf, stand auf der untersten Stufe der Dielentreppe und ächzte:

»Mr. Wrenn, wenn Sie so spät nach Haus kommen, brauchen Sie nicht grade so viel Lärm zu machen, wie Sie nur können. Ich seh nicht ein, warum ich die ganze Nacht im Schlaf gestört werden soll. Ach ja! s wird wohl der Wille des Herrn sein, daß ich immer, wenn ich nen Sprung zu Mrs. Muzzy mach und ein Tröpfchen Kaffee trink, daß ich dann kein Auge zumachen kann. Aber ich seh nicht ein, warum jemand, der n besserer Herr sein will, mit den Türen knallen und mir die Nerven ganz kaputt machen soll.«

Klein und häßlich schlich er, gefolgt von Mrs. Zapps finsteren Blicken, die Treppe hinauf.

 

»Ich muß Ihnen etwas sagen, Mrs. Zapp – etwas, was ganz neu ist. Deshalb bin ich auch gestern abend so spät nach Haus gekommen. Ich hab feiern müssen.« Mr. Wrenn saß schüchtern im Wohnzimmer.

»Ja«, bemerkte Mrs. Zapp trocken, »daß Sie spät nach Haus gekommen sind, hab ich gemerkt.«

»Wissen Sie, Mrs. Zapp, ich – äh – mein Vater hat mir eine kleine Farm hinterlassen, und die ist für ungefähr tausend Dollar verkauft worden.«

»Das freut mich aber kolossal, Mr. Wrenn«, sagte sie in Leichenbitterton. »Vielleicht möchten Sie jetzt noch das Zimmer neben Ihrem dazunehmen? Die beiden würden zusammen ne hübsche Wohnung abgeben.«

»Ja, an so was hab ich eigentlich noch gar nicht gedacht.« Er hatte ein schlechtes Gewissen dabei und begrüßte deshalb Lee Theresa Zapp, die Fabrikvorarbeiterin, die eben ins Zimmer kam, mit ganz besonderer Freundlichkeit.

Miss Theresa war eine stattliche junge Dame mit Busen, üppigem schwarzem Haar und einem hübschen, stets unzufriedenen Gesicht, das allgemeine Verachtung zur Schau trug. Sie wartete, bis er mit seiner Begrüßung fertig war, dann zog sie schnell einmal herauf, was sie in der Nase hatte, und erzählte ihrer Mutter indigniert:

»Ma, heute hat man uns wieder mal lange dabehalten. Ich hab es wirklich bald satt, mich von einem Haufen Juden und Yankees rumkommandieren zu lassen, die mich behandeln, als ob ich ein Nigger-Weib wär. Uff! Ekelhafte Menschen.«

»T'resa, Mr. Wrenn hat grade zweitausend Dollar geerbt und wird das zweite Zimmer oben nehmen.« Mrs. Zapp strahlte ihren schüchternen Mieter mit mütterlicher Zärtlichkeit an.

Aber der tapfere Freund der Detektive setzte sich, zum ersten Mal in seinem Leben, gegen sie zur Wehr. »Das Reisegeld verschwenden«, tobte er im Geiste, während er laut sagte:

»Aber ich dachte, Sie haben jemand in dem Zimmer. Ich hab doch jem – –«

»Ach, der Mensch! Das ist ja kein Dauermieter. Und außerdem hat er mir versprochen – Sie können also –«

»Es tut mir schrecklich leid, Mrs. Zapp, aber leider kann ich das Zimmer nicht nehmen. Ich werde nämlich für längere Zeit auf Reisen gehen.«

»Aber Sie werden doch natürlich Ihr Zimmer behalten, bis Sie wieder zurück kommen?«

»Ja, ich fürchte, ich werd es aufgeben müssen, aber – – Übrigens, ich werd ja zunächst nicht lange fortbleiben, und selbstverständlich werd ich gern – ich möchte hierher zurückkommen, wenn ich wieder in New York bin. Ich werd nicht länger als, ach, wahrscheinlich nicht länger als ein Jahr wegbleiben, und – –«

»So, und mir haben Sie gesagt, daß Sie ein Dauermieter sind!« begann Mrs. Zapp ganz ruhig, um sich allmählich in einen hysterischen Anfall hineinzusteigern. »Und ich hab mich hingestellt und Ihr Zimmer extra für Sie neu machen und frisch tapezieren lassen, und Sie haben immer so viel davon geredet, wie Sie die Möbel gestellt haben wollen, und ich hab mich hingestellt und –«

Seit vier Jahren war Mr. Wrenn schüchtern zahlender Gast im Hause Zapp. Die schon viel besprochene neue Tapete hatte er vor zwei Jahren bekommen, und so stammelte er: »Ach, es tut mir schrecklich leid. Ich möchte – äh – wirklich –!«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Mr. Wrenn, wenn Sie die Freundlichkeit haben und mir rechtzeitig Bescheid sagen würden, bevor Sie davongehen und mich mit meinen leeren Zimmern sitzen lassen, wo der Hauswirt so hinter der Miete her ist, und ich immer Leute wegschicke, die mir mehr für das Zimmer zahlen wollen, bloß weil ich es Ihnen lassen möchte. Und die Leute, die immer zu Ihnen zu Besuch kommen, und denen ich immer die Tür aufmachen muß und – –«

Jetzt war es so weit, daß sogar der bescheidene Wurm von Mieter leise, wurmhafte Geräusche von sich gab, die auf ein Sichkrümmen zu deuten schienen. Lee Theresa fuhr gerade zur rechten Zeit dazwischen: »Ach hör auf, Ma, hörst du!« Sie hatte den Wurm eingehend betrachtet, denn er war mit einem Male interessant, bewundernswert und, ganz nebenbei, ein reicher Erbe geworden. »Mr. Wrenn nimmt doch so viel Rücksicht auf uns, wie wir nur verlangen können. Außerdem sagt er, daß er vielleicht nicht lange wegbleibt.«

»Oh!« stöhnte Mrs. Zapp. »Also mein eigenes Fleisch und Blut ist gegen mich!«

Sie stand auf. Die Majestät ihrer Erscheinung litt ein wenig unter dem Knarren ihres Mieders, aber ohne sich davon anfechten zu lassen, ging sie wortlos, zahllose Seufzer ausstoßend, aus dem Zimmer.

Mr. Wrenn sah aus, als wäre er plötzlich schwer krank geworden. Theresa aber lachte und sagte: »Sie wollen doch nicht, daß Ma sich wieder aufs hohe Roß setzt, Mr. Wrenn. Sie gibt ja immer bloß an.«

Sie ließ die untere, weniger steife Hälfte ihrer Kleider gewaltig rauschen und segelte zu dem trüben Spiegel über dem Buchregal mit den Zeitschriften, wo sie mit weit ausholenden Bewegungen ihrer von Glasdiamanten funkelnden derben Hände an ihren falschen Locken herumzupfte. Mr. Wrenn hatte wohl schon etwas von »Einlagen« gehört, aber er ließ sich nichts davon träumen, daß das Haar auf ihrem Kopf zur Hälfte nicht ihr eigenes war, und starrte es fasziniert an. Wenn er auch bei der Wirtin in Ungnade stand – die Ehre, zum Bekanntenkreis einer so üppigen und kleiderrauschenden Dame wie Miss Lee Theresa zu zählen, wußte er sehr wohl zu schätzen.

»Wissen Sie, Miss Zapp, ich hätte ja wirklich lieber schon früher etwas davon gesagt, daß ich nicht bleibe. Ich hab es aber selber nicht gewußt. Trotzdem, es kommt mir nicht ganz anständig vor. Ich werd wohl etwas extra zahlen müssen.«

»Aber Kind, gar nichts werden Sie tun. Ma hat überhaupt nichts zu verlangen. Sie sind immer schrecklich nett gewesen, soviel ich weiß.« Sie lächelte vielsagend. »Ich hab heute abend einen kleinen Spaziergang gemacht … Wenn die Männer einen nicht immer so anstarren möchten! Ich weiß wirklich nicht, warum sie mich anstarren.«

Mr. Wrenn nickte, da dies aber nicht ganz das Richtige zu sein schien, schüttelte er den Kopf und sah schauerlich verlegen aus.

»Ich bin an dem armenischen Restaurant vorbeigekommen, von dem Sie mir erzählt haben. Ich glaube doch, daß ich einmal dort essen werde.« Wieder wartete sie.

»Ja, das ist ein nettes Lokal.«

Nachdem Theresa festgestellt hatte, daß er schließlich wirklich ein dummer kleiner Kerl sei, setzte sie die Belagerung fort: »Essen Sie oft dort?«

»Ach ja, es ist ein nettes Lokal.«

»Können Damen auch dorthin gehen?«

»Oh ja, ich – –«

»Ja!«

»Ich denke schon«, brachte er seinen Satz zu Ende.

»Ach! … Mir wird das Zeugs immer mehr über, was Ma und Goaty mir vorsetzen. Die glauben, eine große Portion von irgendwas Zusammengekochtem, was nach Spülwasser schmeckt, ist ein Essen, und wenn sie schon mal was finden, was mir schmeckt, dann gibts das jeden Tag, bis ichs in den Ausguß schmeiße. Aber wenn ich wenigstens manchmal zur Abwechslung in ein Restaurant gehen könnte, aber das ist natürlich – – Ich weiß nicht, ob sichs für ne Dame schicken möchte, auch in ein solches Lokal zu gehen. Was meinen Sie? Hach ja!«

Er hatte eine Eingebung. Vielleicht ließ Miss Theresa sich dazu überreden, einmal mit ihm zum Abendessen auszugehen. Und so bat er:

»Herrjeh! Sie müßten sich einmal am Abend von mir dorthin führen lassen, Miss Zapp.«

»Aber, hab ich Ihnen denn nicht gesagt, Sie sollen Miss Theresa zu mir sagen? Ja, Sie wollen wohl gar nicht gut Freund mit mir sein. Niemand will das.« Wieder verfinsterte sich ihre Miene.

»Wirklich, ich wollte Sie nicht kränken. Ich hab immer gemeint, Sie werden es frech finden, wenn ich Miss Theresa zu Ihnen sag, und deshalb – –«

»Ja, ich glaube, mit Ihnen könnt ich vielleicht ins armenische Restaurant gehen. Wann hätten Sie denn Lust? Wissen Sie, ich hab immer so schauderhaft viel Verabredungen, aber – hm – ich denke, morgen abend werd ich Zeit haben.«

»Wunderbar! Soll ich Sie abholen, Miss – äh – Theresa?«

»Ja, das können Sie, wenn Sie ein netter Junge sein wollen. Gute Nacht!« Sie zwinkerte ihm freundlich zu und ging.

Mr. Wrenn eilte zum Nickelorion, wo er dem Mann mit den Messingknöpfen anvertraute, daß er heute abend »in blendender Laune« sei.

Er hatte nie zu vermuten gewagt, daß ein so hübsches Geschöpf wie Miss Theresa sich jemals mit ihm, »einem so faden Kerl«, abgeben könnte. Fast eine Minute lang überlegte er erschrocken, ob sie vielleicht seines neuen Reichtums wegen nett zu ihm sei, aber er verscheuchte bald den Teufel, der ihm diesen Gedanken einblies: hatte er sie nicht mit großer Verachtung von einer entfernten Cousine sprechen hören, die einen Yankee wegen seines Geldes heiratete? Damit war diese Sache erledigt, wie er sich erklärte; er warf einem Botenjungen, der gerade vorüberkam, einen finsteren Blick zu, schnitt aber schleunigst eine freundliche Grimasse, als der Bursche laut sein Mißfallen zu äußern drohte.

 

Das armenische Restaurant ist etwas ganz Besonderes, denn es liefert exotisches Essen zu niedrigen Preisen und ist, obwohl es unterhalb der Dreißigsten Straße liegt, noch kein Bohémelokal geworden. Infolgedessen findet man dort keine schlechte Musik und keine Fremden aus Missouri, deren Gattinnen das Seelenheil für einen Abend des Zigarettenrauchens aufs Spiel setzen. Hier trinken wohlhabende orientalische Kaufleute mit Banditengesichtern und weichen Seelen dicken türkischen Kaffee und diskutieren über Teppiche und Revolutionen. Ja, das Lokal erschien Theresa so unkünstlerisch, als sie glücklich an einem kleinen Tischchen Mr. Wrenn gegenüber saß, daß sie sich sehr langweilte. Und auf der Speisekarte standen fremde Worte, die keineswegs auf vornehme Speisen schließen ließen. Ihr schienen sie so etwas wie Rattenschwänze und Vogelnester zu bedeuten. Mit Pâte de foie gras oder Avogado-Birnen hätte sie gern einen Versuch gemacht, aber was für Ehren konnte sie einlegen, wenn sie in der Fabrik die Bemerkung machte, daß sie sich an » Pahklava wirklich nie überessen« könnte? Mr. Wrenn sah nichts davon, daß sie unzufriedene Blicke um sich warf, denn er lauschte voll Entzücken einem langen und hageren Mann, der am Nebentisch seinem Vis-à-vis, einer bleichen Dame, die die schlanken Linien eines Torpedobootes hatte, zuredete: »Probieren Sies doch mit den gefüllten Weinblättern, Tochter der Engel, und mit etwas Weizen- Pilaf und etwas Bourma. Der Weizen- Pilaf ist ein angenehmes Essen und tut dem Magen des Menschen wohl. Einfach wunn-derbar. Und Bourma, das ist etwas Herrliches; eine braune Rose von Bäckerei, zwischen deren Blütenblättern listig Honig versteckt ist – – Halloh! Ober! Gefüllter Wein, Weizen- P'laf, Bour' – zweimal das Ganze, und zwar mit der Geschwindigkeit eines geölten Mokka-Maikäfers.«

»Wenn Sie mit dem Zuhören fertig sind – der Mensch redet wie ein Stück Seife – dann sagen Sie mir, was man von dem Zeugs auf der Speisekarte essen kann, ohne daß einem was passiert«, sprach Theresa höchst ungehalten.

»Ich hab ihn wirklich komisch gefunden«, verteidigte Mr. Wrenn den Gegenstand seiner Bewunderung … »Das hier wird Ihnen sicher schmecken, Shish Kebab und –«

» Shish Kibob! Hat man so was schon gehört! Gibts denn nicht – ach, ich dachte, es würde so was geben wie ›Türkische Wonne‹ und solche Sachen.«

»›Türkische Wonne‹, das sind Zigaretten, glaub ich.«

»Also ich weiß, daß es keine Zigaretten sind, weil es nämlich in einer Geschichte vorkommt, die ich in einem Magazin gelesen hab. Und dort ist es gegessen worden. In einem Wintergarten … Was ist denn das, Shish Kibob?«

» Kebab … Das ist gerolltes Lammfleisch, das geschmort ist. Ich bin ganz sicher, daß es Ihnen schmecken wird.«

»Na, ich eß kein Fleisch, das mir irgendein Heide gekocht hat. Ich werd ein paar Eier nehmen, und dann noch dieses Zeugs da – wovon hat der Idiot so lange geredet – Borma?«

» Bourma … Das ist etwas Wunderbares. Mit Honig. Und dann müssen Sie noch die gefüllten Pfefferschoten mit Reis probieren.«

»Von mir aus«, sagte Theresa verdrossen.

Aus irgendeinem rätselhaften Grunde schienen selbst die zweitausend Dollar, von denen ihre Mutter erzählt hatte, Mr. Wrenn nicht sehr verwandelt zu haben. Er war noch immer »komisch und son bißchen scheu«, ganz anders als die großartigen Herren der Südstaaten, deren sie sich zu entsinnen glaubte. Außerdem war sie hungrig. In unverminderter schlechter Laune nahm sie Mr. Wrenns Bemerkung zur Kenntnis, das sei doch »ein schrecklich großer Hut, der, den die Dame mit dem komischen Menschen auf hat.«

Dann wagte er kein Wort mehr zu sagen, bis Papa Gouroff, der Besitzer des Restaurants, ins Lokal herunterkam. Papa Gouroff war ein russischer Jude, der als Polizeispion in Polen gearbeitet hatte und später in Mogador Hotelbesitzer geworden war, wo er sich für einen Türken ausgab und eine armenische Renegatin heiratete. Seine Nase glich einer Sichel, und die Speckfalten auf seinem Nacken waren nicht zu zählen. Er hegte die Hoffnung, sein Restaurant werde eines Tages zu einem Bohéme-Lokal werden, in dem vorurteilslose Geistliche auszuschweifen, und Friseure in die höhere Gesellschaft zu kommen glauben; darum trug er auch stets einen Fez und sprach ein schlechtes Arabisch. Alles an ihm war Lokalkolorit, Atmosphäre, »echteste Bohéme«. Mr. Wrenn murmelte Theresa zu:

»Sehen Sie den Mann da? Das ist der Besitzer, Signor Gouroff. Ich hab schon oft mit ihm gesprochen. Großartig ist der Mensch! Sehen Sie sich nur mal den Schnabel von Nase an. Bei ihm muß man doch gleich an Eunuchen und Harems und so Sachen denken. Was meinen Sie – –«

»Einen dreckigen Kragen hat er an … Der Kellner ist schrecklich langsam … Seien Sie so gut und schenken Sie mir noch ein Glas Wasser ein.«

Als sie jedoch das honigsüße Bourma verzehrte, kam sie in gnädigere Stimmung. Sie trank noch zwei Tassen Kakao, dann hatte sie das Gefühl, angenehm satt zu sein, und empfand zärtliche Regungen. Sie hatte schon davon gesprochen, daß jetzt ein paar gute Stücke gegeben würden.

Nun fing sie wieder davon an:

»Sind Sie schon im ›Goldenen Ziegel‹ gewesen?«

»Nein, ich – äh – ich geh nicht viel ins Theater.«

»Gwendolyn Muzzy hat mir erzählt, daß das das komischste Stück ist, das sie in ihrem ganzen Leben gesehen hat. Da drin legen nämlich zwei Bauernfänger eines von den fürchterlichen dummen Provinznestern rein. Wissen Sie, in dem Stück kommen alle die komischen Leute vor, dies in den Nestern gibt … Ich würde ja gern hingehen, aber natürlich, wo ich doch auch für zu Hause sorgen muß, da – – Na … Hach ja.«

»Hören Sie! Ich möchte Sie gern hinführen, wenn ich darf. Gehen wir doch – gleich.« Er zitterte geradezu vor Aufregung über die Möglichkeit eines derartigen Abenteuers.

»Ja, wissen Sie, ich weiß nicht recht; ich hab Ma nichts davon gesagt, daß ich nicht nach Hause komme. Aber – ach, es wird weiter nichts dabei sein, wenn ich mit Ihnen hingeh.«

»Gehen wir doch gleich Karten kaufen.«

»Gut.« Ihre Zustimmung kam zu rasch, aber diesen Fehler machte sie augenblicklich wieder gut, indem sie gähnte: »Ich sollte wohl eigentlich nicht mitkommen, aber wenn Ihnen viel daran liegt – –«

Sehr munter und vergnügt machten sie sich auf den Weg. Er floß von Mitgefühl über, als sie ihm von der Schlechtigkeit der Arbeiterinnen, die ihr unterstellt waren, und von der Gemeinheit des Werkmeisters, den sie über sich hatte, mit sehr vielen Einzelheiten erzählte. Er nahm sich ihren Kummer so zu Herzen, daß er, als sie glücklich vor der Theaterkasse standen, Dollarplätze verlangte, als hätte er nicht auf dem ganzen Weg gerechnet und gerechnet, um sich zu beweisen, daß Plätze zu fünfundsiebzig Cent der größte Luxus wären, den er sich leisten könnte.

Das Stück war eine Glorifizierung smarten Yankeetums. Daß die Helden, die smarten Gauner, alle anderen ausräuberten, gefiel Mr. Wrenn gar nicht, aber die strahlende Romantik des Geldmachens ließ ihn ehrfürchtig erschauern. Die Gauner waren richtige Übermenschen – blonde Bestien, die zu Waffen Kartotheken und Optionen an Stelle von Keulen hatten. Mr. Wrenn stellte selbstverständlich keine Betrachtungen über den Begriff »Übermensch« an, als jedoch einer der Gauner, dank seinem Geschäftsgenie, einen jungen Hotelsekretär ausplünderte, flüsterte er Theresa zu: »Herrjeh! Der verstehts aber, die Brüder reinzulegen, nicht?«

»Sch–h–h–t!« sagte Theresa.

Im letzten Akt verdienten alle, auch die Opfer, Millionen, damit der Beweis dafür erbracht würde, welch hohen sozialen Wert es habe, ein tüchtiger amerikanischer Geschäftsmann zu sein. Während sie sich langsam mit dem Publikum aus dem Theater schoben, gurgelte Mr. Wrenn hervor:

»Jetzt ist mir genau so, als hätt ich selber eine Million Dollar gemacht.« Großartig schlug er vor: »Gehen wir doch noch irgendwo hin, was essen.«

»Schön.«

»Gehen wir – – Nach dem Stück hab ich fast das Gefühl, daß ich mir Rector leisten könnte; aber zu Allaire wollen wir wirklich gehen.«

Später schämte er sich zwar darüber, aber er benahm sich dem Kellner gegenüber wirklich recht hochmütig und bestellte Welsh Rabbits mit einer Selbstverständlichkeit, als äße er jeden Tag nichts anderes zum Frühstück. Vielleicht spreizte er sich ein wenig, als er mit einem eingebildeten Spazierstock eine Droschke heranwinkte. Sein Abschied von Miss Theresa war höchst intim. Er drückte ihr warm die Hand.

Beim Ausziehen hoffte er, mit dem Kellner, »dem armen Kerl«, nicht zu kurz angebunden gewesen zu sein. Aber er lag noch lange wach und dachte an Theresas Haar und Händedruck; an Mahagonischreibtische und überlegene Herren, die Bankpräsidenten ganz einfach zu sich bestellten und – in seinem Bemühen, das richtige Wort zu finden, warf er das ganze Bettzeug durcheinander – » allerhand los« hatten.

Er wird wirklich noch einmal seine Große Fahrt im Reich des Allgewaltigen Geschäfts machen!

Die fünftausend Fürsten New Yorks haben, um sich gegen die vier Millionen Sklaven zu schützen, die heiligen Symbole der Frackanzüge, der Automobile und großen Häuser ersonnen, die äußeren und sichtbaren Zeichen der Tugend des Geldmachens, mit deren Hilfe Rebellen zur Wohlanständigkeit verlockt, und gelehrt werden können, von welch großem Wert es für die Gesellschaft sei, jenem unmenschlichen, furchtbaren Teufel, dem Anderen, einen Dollar abzujagen. Daß nun Unser Herr Wrenn vielleicht lediglich um des Träumens willen träumte, war nicht unbedenklich; er mochte manches etwa nur deshalb tun, weil er Lust dazu hatte, nicht weil es für fashionable galt. Und so etwas muß natürlich zur Folge haben, daß Polizei und Geistlichkeit zersetzt werden, daß Wall Street und Fünfte Avenue mit Donnergetöse zusammenstürzen. Für ihn waren daher jene abendlichen Buchhaltungskurse im Verein Christlicher Junger Männer da, die von feierlichen und ernsten dreißigjährigen Männern für feierliche und gläubige neunundzwanzigjährige Jünglinge geleitet wurden; für ihn gab es die Predigten über Zufriedenheit, die Artikel über den »Wiederaufbau des flau gewordenen Geschäfts durch richtige Propaganda«, die Inserate der Korrespondenzschulen, die ihm zuschrien: »Steige höher auf der Leiter zu vollkommenem Wissen – auf dem Pfade, der zu Macht und zu Gehaltserhöhung führt.«

Diese Institutionen hatten Mr. Wrenn gleichgültig gelassen, denn sie entbehrten aller Phantasie. Doch als er das Allgewaltige Geschäft in einem launigen Stück verherrlicht sah, da freilich erschien ihm der Erwerb als großartiges Schurkenabenteuer, und seine Einbildungskraft brachte ihn in Gefahr.

 

Die Morgensonne, die um acht Uhr sonst einen sich in wilder Hast rasierenden Mr. Wrenn sah, ertappte ihn heute dabei, daß er davon träumte, der Direktor der Kunstartikel-Gesellschaft zu sein. Das war jedoch ein gewaltiger Irrtum. Der Direktor der Kunstartikel-Gesellschaft war Mr. Mortimer R. Guilfogle, der Mr. Wrenn denn auch zu sich berief, um ihn auf diese Tatsache aufmerksam zu machen. Der neue Magnat hatte nämlich seine Laufbahn im Allgewaltigen Geschäft damit begonnen, daß er eine Stunde zu spät ins Büro kam.

Was die ganze Angelegenheit in Mr. Guilfogles Augen noch böser erscheinen ließ, war die Tatsache, daß Mr. Wrenn im allgemeinen die anderen Angestellten an Pünktlichkeit weit übertraf – was wiederum bewies, daß er recht wohl wußte, wie sehr es darauf ankam. Das Böseste aber war, daß die Rühreier beim Frühstück im Hause Guilfogle nicht richtig geraten waren; sie hatten blaß ausgesehen. Mr. Guilfogle drückte also auf den Knopf des Summers und wandte sein Gesicht mit der vorbereiteten finsteren Miene der Tür zu.

Mr. Wrenn sah müde aus und durchaus nicht so eingeschüchtert wie gewöhnlich.

»Hören Sie mal, Wrenn; Sie kommen heute vormittag bloß ungefähr um zwei Stunden zu spät. Was denken Sie eigentlich, daß unser Büro hier ist? Ein Klub, oder ein Leseraum für Landstreicher? Sind Sie schon mal auf den Gedanken gekommen, daß es uns eine große Freude machen würde, wenn Sie uns ab und zu mit einem Besuch beehren, damit wir hören können, wie es Ihnen beim Golf, oder was Sie sonst in den letzten Tagen gemacht haben, gegangen ist?«

Auf dem Schreibtisch des Geschäftsführers lag ein Muster, ein Nadelkissen in Gestalt eines Babyschuhs. Diesen betrachtete Mr. Wrenn wortlos. Der Direktor:

»Haben Sie gehört, was ich sage? Meinen Sie, ich rede, um Stimmübungen zu machen?«

Mr. Wrenn war trotzig: »Es ist nicht anders gegangen.«

»Ist nicht anders ge – –! Und das nennen Sie eine Erklärung! Ich weiß ganz genau, Wrenn, was Sie sich denken. Sie glauben, weil wir Ihnen in der letzten Zeit öfters Gelegenheit gegeben haben, sich richtig ins Geschäft einzuarbeiten, sind wir auf Sie angewiesen und haben nicht bloß Ausgaben –«

»Aber nein, Mr. Guilfogle; ich denke wirklich nicht –«

»Aber ja, zum Geier, Mensch, was sollten Sie sonst denken? Was glauben Sie denn, wozu wir Ihnen Ihr Gehalt zahlen? Und deshalb will ich Ihnen gleich jetzt sagen, Wrenn, wenn Sie uns nicht die Gnade erweisen können, uns ab und zu etwas von Ihrer kostbaren Zeit zu schenken, dann können wir sehr gut und ausgezeichnet auch ohne Sie auskommen.«

Eine alte Geschichte, oft erzählt und niemals geglaubt; aber gerade im Augenblick war sie für Mr. Wrenn recht interessant.

»Es freut mich wirklich, daß Sie ohne mich auskommen können. Ich hab ein schönes Stück Geld geerbt! Ich möchte kündigen! Gleich jetzt!«

Wer von den beiden mehr erschrak, als Mr. Wrenn diese Worte sprach, dürfte schwer festzustellen sein. Der Gedanke daran, einen Neuen einarbeiten zu müssen, bekümmerte den Direktor derart, daß ihm das Augenglas von der armen schwitzenden Nase herabglitt. Er bat, mit einem Mal in den Tönen des alten Freundes sprechend:

»Aber Sie können ja gar nicht ernsthaft daran denken, uns zu verlassen. Aber, wir wollen doch einen großen Mann aus Ihnen machen, Wrenn. Ich hab doch nur Spaß gemacht. Das müßten Sie doch wissen, nach dem Gespräch, das wir unlängst bei Mouquin hatten. Sie können unmöglich im Ernst daran denken, uns zu verlassen. Es ist ja gar nicht abzusehen, was für Möglichkeiten Sie hier haben.«

»Tut mir leid«, erklärte der harte Traumsoldat.

»Aber – –« klagte Mr. Guilfogle, das gekränkte Opfer krasser Undankbarkeit.

»Ich werde Mitte Juni gehen. Bis dahin ist noch sehr lang Zeit«, flötete Mr. Wrenn.

Um fünf Uhr nachmittags eilte Mr. Wrenn auf den Mann mit den Messingknöpfen zu, der auf seinem Posten vor dem Nickelorion stand, und rief:

»Sagen Sie! Sie sind aus Irland?«

»Na, was glauben Sie denn sonst? Ich – keine Spur; ich bin n Chinese aus Oshkosh!«

»Nein, Spaß bei Seite, sagen Sie mirs im Ernst. Ich kann vielleicht eine Reise machen. Was meinen Sie? Ist das nicht großartig! Und ich werd auch gleich richtig losgehen. Was ich Sie fragen wollte, was ist die schönste Gegend in Irland, die man sehen muß?«

»Donegal natürlich. Dort bin ich geboren.«

Einen Bleistift und ein zerknittertes Couvert aus der Tasche holend, fügte Mr. Wrenn freudig diesen neuen interessanten Namen einer Liste hinzu, die von der Delagoa Bay bis nach Denver reichte.

Zu den Sternen aufblickend lief er weiter. Als er die Schornsteine eines großen Cunard-Dampfers am Ende der Vierzehnten Straße in den Himmel ragen sah, jubelte er laut auf. Vor dem Fensterchen in der Bude eines griechischen Schuhputzers blieb er stehen, um sich am Anblick einer Lithographie des Parthenon zu weiden. Sterne – Dampfer – Tempel, all dies gehörte ihm. All dies besaß er jetzt. Er war frei.

Lee Theresa saß im Wohnzimmer und wartete bis halb elf auf ihn, während er auf dem Grand Central mit Fahrplänen kokettierte. Dann ging sie zu Bett, und Mr. Wrenn hatte – allerdings ahnte er nichts davon, dieser Fürst aller reichen Freier – ganz und gar die Hand und das Herz der edlen Miss Zapp aus einer der Ersten Familien Virginiens verloren.

 

Am 14. Juni 1910 stand er vor dem göttlichen Schreibtisch des Geschäftsführers. Traurig sagte er:

»Leben Sie wohl, Mr. Guilfogle. Heute geh ich. Ich möcht – – Herrjeh! Ich möcht Ihnen sagen, wissen Sie – wie sehr ich zu schätzen weiß – –«

Der Direktor stellte ein Drahtkörbchen mit Briefdurchschlägen von der linken Seite des Schreibtisches auf die rechte und betrachtete es nachdenklich; er arrangierte die Bleistifte nach einer neuen Methode vor seinem Tintenfaß; er musterte die tadellose Spitze eines Bleistifts mit besorgter Miene und trommelte mit den Knöcheln auf der Schreibtischplatte. Dann erhob er die Augen. Er betrachtete Mr. Wrenn, lächelte und setzte die Miene auf, die er zur Schau zu tragen pflegte, wenn er ihn »auf einen Schluck« einlud. Mr. Guilfogle war im Grunde ein anständiger Bursche, den nur das Geschäft hart gemacht hatte; ein wohlzufriedenes Opfer, dessen Phantasie ganz und gar verflüchtigt war, so daß er in Propagandabriefen und Laufburschenfixigkeit die einzigen ernst zu nehmenden Dinge in der Welt sah. Er war stark und energisch, durchaus kein schlechter Kerl, nur, er war »tüchtig«.

»Na, Wrenn, es würde wohl keinen Sinn haben, noch lange davon zu reden. Sie wissen ja, was ich von der ganzen Sache halte. Mir kommts schrecklich dumm von Ihnen vor, daß Sie aus einer guten Stellung gehen. Aber schließlich ist das Ihre Sache, und nicht unsere. Wir schätzen Sie, und wenn Sie genug davon haben, bloß so rumzubummeln, also, dann kommen Sie zurück. Wir werden uns immer Mühe geben, etwas für Sie offen zu halten. Unterdessen wünsche ich Ihnen recht viel Vergnügen, alter Junge. Wohin wollen Sie? Wann gehts los?«

»Ja, zuerst will ich bloß überhaupt so rumwandern. Es gibt ne ganze Menge, was ich tun möchte. Ich glaube, ich werd jetzt wirklich bald losgehen … Recht vielen Dank, Mr. Guilfogle, daß Sie mir was offen halten wollen. Natürlich werd ichs wahrscheinlich nicht brauchen, aber ich weiß recht gut, daß ich Ihnen dafür verpflichtet sein muß.«

»Hören Sie, jetzt, wo nun alles schon passiert ist, glaub ich, sind Sie gar nicht mehr so scharf drauf, uns zu verlassen. Sagen Sie ganz ehrlich, ja oder nein?«

»Na ja, son bißchen komisch ist es mir ja – ich war so lange hier. Abers wird schon sehr schön sein, aufs Meer hinaus zu kommen.«

»Ja, ja, ich weiß, Wrenn. Ich würde selber auch gern auf Reisen gehen. Ihr meint wohl immer, ich würde mir gar nichts draus machen, so rumzubummeln wie ihr, und mir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, was mit den Geschäften und mit der Firma wird. Aber – – Na, leben Sie wohl, alter Junge, und vergessen Sie uns nicht. Schicken Sie mir mal eine Zeile und lassen Sie mich wissen, wies Ihnen geht. Richtig, wenn Sie zufällig mal nen Artikel sehen, der nach was aussieht, dann schreiben Sie uns drüber. Aber auf jeden Fall möcht ich ein Lebenszeichen von Ihnen bekommen. Es wird uns immer freuen, von Ihnen zu hören. Also, leben Sie wohl, und viel Glück. Vergessen Sie nicht und schreiben Sie ab und zu ne Zeile.«

In dem Winkel, der acht Jahre lang sein Heim gewesen war, konnte Mr. Wrenn kein neues und besseres Arrangement der Drahtkörbchen, Briefhalter und Notizblöcke ersinnen; er säuberte also seine Feder, blies etwas Radiergummistaub, der unter dem eisernen Tintenfaß lag, fort und meinte, auf seinem Schreibtisch sei schönste Ordnung; dabei dachte er an alles mögliche.

Er war lange da gewesen. Jetzt konnte er nicht mehr hierher zurückkommen, und wenn er es sich noch so brennend wünschen sollte. Wie nett sich der Direktor zu ihm benommen hatte. Er hatte gar nicht gewußt, wie gut Guilfogle zu ihm war.

Er begab sich auf die Abschiedsrunde zu den einzelnen Kollegen. Zu dumm, daß er sie nicht besser kennen gelernt hatte. Das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Aber sie waren ja alle so großartige Burschen, und einen so langweiligen Kerl wie ihn würden sie wohl nicht vermissen.

Und gerade in diesem Augenblick begegneten sie ihm im Korridor; es waren alle außer Guilfogle, angeführt von dem Reisevertreter Rabin und von Charley Carpenter, der eine Schachtel Taschentücher mit einem großen grünroten Etikett trug.

»Vater Wrenn«, begann Charley seine schwungvolle Rede, »bei diesem traurigen Anlaß wollen wir uns das Vergnügen machen und dir mit diesem kleinen Angebinde unsere Wertschätzung und Hochachtung für deine Bemühungen für die von Mortimer R. Gigelgagel geführte Firma unseres großen Konzerns beweisen und – –

Hör mal, alter Junge, Spaß bei Seite, es tut uns kolossal leid, daß du gehst, und – äh – also, wir wollten dir gern was schenken, damit du siehst, daß es uns – äh – mächtig leid tut, daß du gehst. Wir haben zuerst an ein Kistchen Zigarren gedacht, aber du rauchst ja nicht viel; und da sollen dir diese Taschentücher zeigen – – Drei Hurras für Wrenn, Jungens!«

Als Mr. Wrenn allein an seinem Schreibtisch saß und die Schachtel mit den Taschentüchern vor sich hatte, begann er zu weinen.

 

An einem Morgen gegen Ende Juni – zwei Wochen, nachdem er die Kunstartikel-Gesellschaft verlassen hatte – lag Mr. Wrenn um halb neun im Bett und suchte sein Kissen sorgfältig nach kühlen Stellen ab; in den Beinen war ihm ganz heiß und ungemütlich, und in der Seele fühlte er sich sehr bedrückt. Wenn es etwas gegeben hätte, wofür es sich verlohnte, wäre er gern aufgestanden. Es gab nichts derartiges, und doch hatte er ein unangenehm schlechtes Gewissen. Zwei Wochen lang fürchtete er nun, die Stellung, die er doch schon selbst aufgegeben hatte, wegen Nachlässigkeit zu verlieren. Es gibt ja auch Menschen, die von der Angst vor dem Tod in den Selbstmord getrieben werden.

Fast jeden Morgen war er hastig aus dem Bett gesprungen, war er mit seinem Rasieren fertig geworden, noch bevor er sich richtig darüber freute, daß er nicht rechtzeitig im Büro sein mußte. Wenn er untertags umherflanierte, sagte er sich ziemlich oft: »Ich hab eine solche Angst wie ein Musterschüler, der zum ersten Mal Schule schwänzt; ganz so wie damals in Parthenon.«

Alle anständigen Leute arbeiteten an den Wochennachmittagen. Was trieb er sich also in den Straßen herum, während die gute Sitte eigentlich verlangte, daß er an einem Schreibpult der Kunstartikel-Gesellschaft säße und besser acht gäbe, um der göttlichen Huld Mortimer R. Guilfogles teilhaftig zu werden?

Er war ganz sicher: wäre er nur erst einmal auf der Großen Fahrt, dann würde es ihm gelingen, »sich in Schuß zu bringen und was ordentliches zu tun«. Aber er wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. In den letzten Jahren hatte er so viele Reisen geplant, daß er jetzt nicht imstande war, länger als eine Stunde bei einem Entschluß zu bleiben. Er konnte eben nicht seinen alten goldenen Traum, Venedig zu sehen, verwirklichen und zugleich der strengen Bürgerpflicht genügen, grauenhaft gefährliche Bestien im Dickicht von Guatemala zu jagen.

Die Kosten machten ihm gleichfalls Sorgen. Er hatte so lange hartnäckig für die Große Reise gespart, daß er jetzt mit dem Geld für diese Reise knauserte. Ja, er nahm sich vor, für sein erstes Unternehmen, in dessen Verlauf er die Künste des Wanderns zu lernen hoffte, von den zwölfhundertfünfunddreißig Dollar, die er besaß, nicht mehr als dreihundert auszugeben.

Stets stand er unter dem Eindruck eines Satzes, den er einmal gelesen hatte; darin war die Rede von einem jener »Globetrotter, die man in Kalkutta mit dem Handwerkszeug eines Monteurs trifft, um sie dann im Athenaeum fein gekleidet, ein Monokel im Auge, wiederzusehen«. Auch er wollte etwas von den großen Kipling-Geheimnissen lernen, um sowohl rätselhafte technische Werkzeuge benützen, wie tollkühn Schmugglerverstecke, Copra-Inseln und Walfischfängerstationen mit absonderlichen Namen aufsuchen zu können.

Er malte sich aus, wie er auf den Manihiki-Inseln als dritter Ingenieur an Bord ging, oder wie er die Aufgabe übernahm, vom Flugzeug aus einen Algier-Film aufzunehmen. Er mußte sich aus dem Zapp-Bann befreien. Er mußte auf die weinfarbenen Meere hinaus, auf denen Schlachtschiffe und große Passagierdampfer einherfahren. Aber er konnte nicht anfangen.

Wenn er nur einmal über Sandy Hook hinaus war, dann würden Maschinen und Kampfmethoden keine Geheimnisse mehr für ihn haben. Er war fest davon überzeugt, daß es das Beste für ihn wäre, betäubt und auf ein Schiff verschleppt zu werden. Aber so spät in der Nacht er sich auch, Sehnsucht und Angst im Herzen, unter ungewaschenen englischen Heizern in der West Street herumtrieb – was ihm keineswegs leicht fiel – es gelang ihm nie, belästigt zu werden, es sei denn von armen Teufeln, die ihn um zehn Cent »für ne Schlafstelle« anbettelten.

An diesem Morgen blieb er, nachdem er lange genug mit dem Frühstück getrödelt hatte, untätig sitzen. Einst war er davon überzeugt gewesen, daß es die schönste Beschäftigung sein müßte, stillvergnügt da zu sitzen und Reisebücher zu lesen. Aber wenn er an jedem gewöhnlichen Montag den Sonntagsmüßiggänger spielen konnte, hatte das Ganze keinen Reiz mehr. Außerdem wurde sein Bett immer erst mittags von Goaty in Ordnung gebracht, und die graubraune Flickendecke schien überall in dem unordentlichen Zimmer herumzuliegen.

Mitten in einem Absatz stand er auf, warf die Hundert Arten, Kalifornien zu sehen auf das zerzauste Bett und lief vor Unserem Herrn Wrenn davon. Unser Herr Wrenn aber verfolgte ihn noch auf den Kais, vor denen die Sonne das ölige Wasser erglänzen ließ. In den letzten vierzehn Tagen hatte er die Kais zwölf Mal gesehen. Ja, er rief sogar höchst lästerlich, daß er »die gottsverdammten Kais schon gottsverdammt oft genug gesehen« hätte.

Früh am Nachmittag ging er in ein Kino, doch schon die ersten auf der grauen Bildfläche erscheinenden Riesenfiguren waren unerträglich unwirklich; und als das unvermeidliche großäugige, schwarzzöpfige Indianermägdlein den bereits kanonisch gewordenen Cowboy kennen lernte, wetzte er unruhig auf seinem Sitz hin und her, das monotone Geräusch des Projektionsapparats in dem heißen, ungelüfteten Raum brachte ihn zur Raserei, und so flüchtete er gerade in dem aufregenden Augenblick, als der Indianerhäuptling ins Lager galoppierte und seine Tapferen auf den Kriegspfad berief.

Vielleicht konnte er zu Hause seinen Gedanken entrinnen.

Als er in sein Zimmer kam, blieb er verblüfft stehen und sah sich um wie eine bessere Katze, die plötzlich einen verschmutzten Straßenköter in ihrem rosigen Körbchen schlafen sieht. Auf Mr. Wrenns Bett lag Mrs. Zapp. Hinter ihren großen platten Füßen, deren Sohlen ihm zugewandt waren, wölbten sich die sanft gerundeten Linien ihres Leibes empor. Sie schlief geräuschvoll; die Fischbeine ihres Mieders knarrten bei ihren Atemzügen mit einer Regelmäßigkeit, die nur gestört wurde, wenn sie eine kleine Bewegung machte und ächzte.

Mit einem unangenehmen Gefühl im Magen ging er auf den Zehenspitzen wieder hinunter und wanderte unzufrieden durch staubige eintönige Nebenstraßen, während er sich den Kopf darüber zerbrach, was für ein Plätzchen in ganz New York er denn aufsuchen könnte. Er las aufmerksam ein Plakat mit der Ankündigung eines Ausflugs zu den Catskills, der noch an diesem Abend seinen Anfang nehmen sollte. Einen Augenblick lang war er voll Freuden entschlossen, daran teilzunehmen, aber – »ach, da sind sicher sone Menge reiche Leute aus der feinen Gesellschaft dabei«. Er kaufte sich das Morgenblatt des American, suchte eine Bank auf dem Union Square auf und studierte mit ernster Miene die Karikaturen darin.

Zufällig fiel sein Blick auf die Inserate in der Rubrik »Offene Stellen«.

Das brachte ihn auf die nicht gerade aufregende Idee, daß er vielleicht Abenteuer und Sparsamkeit miteinander verbinden könnte, wenn er sich als Kellner oder Farmarbeiter verdingte.

Und so kam er zum Tor des Paradieses:

 

NOCH FREI. Kostenlose Überfahrt auf Viehtransportdampfern nach Liverpool gegen Viehwartung. Niedrige Vermittlungsgebühr. Leichte Arbeit. Schnelle Schiffe. Anfragen an Internationales und Atlantic Büro, Greenwich Street.

 

»Herrjeh!« jubelte er, »jetzt schickt mir wohl der liebe Gott selber was.«


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