Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.
Er ist verlassen

An dem Plan der Fußwanderung, die er mit Morton hatte machen wollen, voll Traurigkeit festhaltend, setzte Mr. Wrenn mit der Fähre nach Birkenhead über; er war sehr unglücklich, weil er nicht mit Morton über das typisch Englische der uniformierten Beamten sprechen konnte. Unterwegs sah er auch noch einmal die Merian. Sein Marsch nach Chester führte ihn durch Birkenhead; er mußte sich ordentlich dazu zwingen, die Reihen der roten Ziegelhäuser, von denen seltsamerweise kein einziges ein Treppchen vor der Eingangstür hatte, genau zu betrachten. Auf der Landstraße dachte er: »Was das Morty für ne Freude machen würde! Ein Farmhof, der ganz gepflastert ist. Ein Heuschober mit nem kleinen Dach drüber. Ein Küchenherd in soner Art Kamin. Ausländisch wie der Deibel.«

Doch Morton war irgendwo weit weg, in einer Finsternis, in der es nichts gab, was einem Vergnügen machen könnte. Mr. Wrenn hatte ihn für immer verloren. Einmal ertappte er sich dabei, daß er selbst den Hutmacher Tim oder den »guten alten McGarver« herbeisehnte. Eine Szene, die er sah, war so britisch, daß er es für erlaubt hielt, sich auch in seiner Einsamkeit daran zu erfreuen: eine richtige Gartengesellschaft bei jemand, der ein richtiger Kurat zu sein schien, Teetassen wurden herumgereicht, es war ganz wie eine Geschichte im Strand; aber bald ließ er das hinter sich und stapfte weiter auf seiner Bahn, die ihn nach Chester führte, zu einem langweiligen Hotel, das ebensogut in Bridgeport oder Hoboken hätte stehen können.

Mit einiger Schüchternheit genoß er am nächsten Vormittag Chester; er folgte gefügig einem Führer auf die Wälle, bewunderte die Mühle auf dem Dee und stellte dem Führer zwei intelligente Fragen über römische Ruinen. Er schlenderte durch die Laubenstraßen, blickte in dunkle Treppenhäuser, deren dickes Mauerwerk von schweren Belagerungen erzählte, und träumte von all den gewaltigen Kämpfen. Eine Zeitlang konnte er sich an seinen Phantasien erfreuen.

Lächelnd schrieb er kitschig bunte Postkarten an Lee Theresa und Goaty, an Vetter John und Mr. Guilfogle; auf jeder stand in anderer Fassung: »Mache eine wunderbare Reise. Das ist eine sehr interessante alte Stadt. Ich wollte, Sie wären hier.«

Ganz aufgeregt wurde er, als er ein Panorama der Stadt entdeckte, auf dem auch das Hotel, in dem er wohnte – oder zumindest zwei seiner Schornsteine – zu sehen war; er machte ein plumpes Kreuz an die betreffende Stelle, schrieb dazu: »Das ist das Hotel, wo ich wohne«, und schickte die Karte an Charley Carpenter ab.

Der Größe, von der er so lange geträumt hatte, fühlte er sich in der Kathedrale Chesters am nächsten. Er lachte laut auf vor innigem Behagen, als er im Hof mit dem Kreuzgang, wo Ritter ihre mutigen Streitrosse angebunden hatten – ganz so, wie er es in einer Geschichte von den alten Zeiten gelesen hatte – an den Überresten eines Refektoriums aus den vergangenen Tagen der Klöster vorüberkam. Er war wirklich da. Er blickte um sich und versicherte sich dieser Tatsache. Er war nicht im Büro, sondern stand in einem englischen Klosterhof!

Bald danach aber saß er sehr still in einem englischen Hospiz und weinte fast vor Sehnsucht nach Morton. Er spazierte auf den Straßen umher und kam sich unter den heiteren Menschen wie ein Eindringling vor; in einem Schankzimmer trank er ein Glas englischen Porters und versuchte sich vorzumachen, daß er mit den Anderen im Raum bekannt sei, aber er fand nur wenig Unterstützung bei diesem Spiel. Ohne Unterlaß lastete schwer die Einsamkeit auf ihm.

Mit dieser Einsamkeit könnte man viele Bücher füllen; wie sie sich mit ihm niedersetzte; wie er sich, besessen von ihr, in seinem Stuhl krümmte, bis er hastig aufsprang und floh, begleitet von der Gefährtin Einsamkeit. Er war einsam. Er seufzte, daß er »einsam wie der Geier« sei. Einsam – das Wort behexte ihn. Zweifellos hatte er ein wenig den Verstand verloren, wie alle Menschen, die allein in fernen Ländern sitzen und sich nach den Stimmen der Freundschaft sehnen.

Am nächsten Vormittag eilte er auf die Bahn, setzte sich in einen Zug und fuhr nach Oxford, um seiner Einsamkeit zu entrinnen, die dann mit boshafter Miene neben ihm im Abteil saß. Er versuchte einem stämmigen Nordengländer auseinandersetzen, wie interessant er es finde, daß die Sitze einander gegenüber angeordnet seien. Der aber sagte nur in verletzendem Ton: »So so?« und befaßte sich wieder mit seiner Zeitung.

In dem Gefühl, der Mensch sei so beleidigend gewesen, daß es eine Ehrlosigkeit wäre, ihm auch nur einen Blick mehr zu schenken, starrte Mr. Wrenn eifrig zur Tür hinaus, bis sie nach Oxford kamen. Er bewunderte die großen alten Höfe und die Gärten des New College. Aber immer wieder kehrte er in sein Verbanntenzimmer zurück, in dem er jetzt die neue Stimme gestaltloser, namenloser Angst zu vernehmen begann – einer Angst vor dieser ganzen fremden Welt, der es völlig gleichgültig zu sein schien, ob er ihr Zuneigung entgegenbrachte oder nicht.

Er saß da und gedachte des Viehdampfers als einer Heimat, die er geliebt hatte, aber niemals wiedersehen würde. Er mußte sich sehr beherrschen, um nicht nach Liverpool zurück zu eilen, solange es noch möglich war, mit der Merian wieder nach Amerika zu fahren.

Nein! Er wollte »irgendwie bei der Stange bleiben und hinter die ganzen gescheiten Sachen kommen.«

Dann sagte er: »Ach, zum Teufel mit dem Ganzen! Mir ist ja so elend. Am liebsten wär ich tot.«

 

»Das, mein lieber Herr, sind die Fenster des Zimmers, welches einst Walter Pater bewohnte«, erklärte der gebildete Amerikaner, auf dessen Spuren er wandelte. Mr. Wrenn betrachtete die Fenster aufmerksam und konstatierte beschämt, daß er nicht wußte, wer Walter Pater war. Aber – natürlich, jetzt wußte er es wieder; Walter, das war doch der Mensch, der seine ganze Familie umgebracht hat. Und so sagte er laut: »Na, Oxford wird sich wohl nicht grade freuen, daß Walt überhaupt hergekommen ist.«

»Mein verehrter Herr, Mr. Pater war der makelloseste Geist des neunzehnten Jahrhunderts«, dozierte Dr. Mittyford, der gebildete Amerikaner, in strengem Ton.

Mr. Wrenn hatte Dr. phil. Mittyford in der Nähe der Boote kennen gelernt; er hatte ihm auf seine höfliche Bitte noch höflicher Feuer gegeben und die Gelegenheit, mit einem Menschen ins Gespräch zu kommen, gierig ergriffen. Mittyford erfreute sich eines kahlen Kopfes und korrekter Augengläser, er hatte ein hübsches Familieneinkommen und eine behagliche Mitgliedschaft im Klub seiner Fakultät und befleißigte sich in dem Hörsaal der Leland Stanford jr.-Universität, in welchem er in wohlgesetzter Rede seine Vorträge hielt, einer eisigen Verachtung gegen seine Hörer. Er schrieb Gedichte, die er unter dem Buchstaben »G« in seinem Schnellhefter ablegte.

Dr. Mittyford führte Mr. Wrenn verdrossen herum und trachtete ihn in der Kunst des pflichtbewußten und freudlosen Sehenswürdigkeiten-Studiums zu unterrichten. Er zeigte ihm die Zimmer Shelleys, als handelte es sich um eine beglaubigte Engelsfeder, aber Mr. Wrenn gestand verlegen, daß er nie etwas von Shelley gehört hatte; er verwechselte den Namen mit dem Max O'Rells, was Dr. Mittyford eine schwere Sünde zu sein dünkte. Dann kam die Sache mit Paters Fenstern. Der Doktor zuckte die Achseln. Nun ja, was ließ sich denn auch vom Proletariat erwarten! Mit erhabenen Bewegungen seinen Stock schwingend, stolzierte er in die Bodley-Bibliothek und verkündete: »Hier sehen Sie den Äschylus, den Shelley in der Tasche hatte, als er ertrank.«

Vor einer Vitrine, in der ein erlesenes Buch mit seltsamen verschnörkelten Schriftzügen lag – ein Täfelchen erklärte, daß Fitzgerald aus diesem Bande den Rubaiyat übersetzt habe – machte Dr. Mittyford eine große Geste und wartete auf eine Dankbarkeitsbezeugung.

»Hübsches Buch«, sagte Mr. Wrenn.

»Haben Sie auch bemerkt, von wem es benutzt wurde?«

»Äh – ja.« Er warf rasch einen Blick auf das Schildchen. »Mr. Fitzgerald. Übrigens, ich glaub, ich hab was von dem Rubaiyat gelesen. Es war irgendwas von einer persischen Katze. Genau weiß ichs nicht mehr.«

Empört schritt Dr. Mittyford an das andere Ende des Zimmers.

 

Gegen acht Uhr abends klopfte Mr. Wrenns Wirtin an seine Tür. »Unten ist ein Herr, der Sie sprechen möchte, Sir.«

»Mich?« fragte Mr. Wrenn verblüfft.

Er galoppierte hinunter und jubelte, daß Morton ihn endlich gefunden hätte. Er sah hinaus und erblickte zu seiner Überraschung ein Automobil, in dem Dr. Mittyford, angetan mit Staubmantel, Brille und großen Lederhandschuhen, wartete.

»Herrjeh! Ganz wie ein Held in einem Roman«, mußte Mr. Wrenn denken.

»Gehen Sie Ihre Sachen holen«, sagte der Pädagoge. »Sie sollen sich heute abend so gut amüsieren wie noch nie in Ihrem Leben.«

Mr. Wrenn entfernte sich gehorsam und setzte seine Mütze auf den Kopf. Er war aufgeregt, aber er hatte auch Angst und ärgerte sich, weil er wieder »in diese obergescheiten Sachen hineingezogen« wurde, die er in den beiden letzten Stunden mit aller Entschiedenheit von sich gewiesen hatte.

Als er verlegen in den Wagen stieg, sagte Dr. Mittyford in verhältnismäßig menschlichem Ton: »Ich langweile mich heute etwas, und da dachte ich, ich könnte Ihnen vielleicht einen besonders angenehmen Abend bereiten. Was meinen Sie dazu, wenn wir zum ›Roten Einhorn‹ führen – das ist einer von den wenigen alten Gasthöfen, denen man ihre ursprüngliche Gestalt gelassen hat.«

»Das war nett«, sagte Mr. Wrenn ohne jeden Enthusiasmus.

Seine Kälte machte Eindruck auf Dr. Mittyford, der denn auch augenblicklich eine der besten von seinen wohlbekannten witzigen, doch gelehrten Anekdoten erzählte.

»Ha! Ha!« bemerkte Mr. Wrenn.

Bei sich sagte er: »Herr Gott! Ich denk nicht dran, bei ihm noch mal den feinen Gesellschaftsherrn zu spielen. Ich werd ganz einfach ich sein, und wenn ihm das nicht paßt, kann er von mir aus zum Teufel gehen.«

Er war also freundlich und nett und sprach, zur erhabenen Belustigung des gelehrten Mannes, im Slang der Sechzehnten Straße.

Das Schankzimmer des »Roten Einhorns« war von Kerzen und einem Kaminfeuer erhellt. Das sagt sich wie etwas ganz Selbstverständliches, aber für Mr. Wrenn war es durchaus nichts Selbstverständliches, es zu sehen. Als er die zitternden Schatten auf dem sandgestreuten Fußboden erblickte, wußte er sich vor Begeisterung nicht zu fassen und murmelte: »Herrjeh! … Herrjeh noch mal!«

 

Die Schatten bewegten sich in Arabesken über den staubgrauen Boden und tanzten ganz so über das Gebälk der Decke, als gehörten sie zu einer Geschichte, wie man sie in den guten alten Zeiten, da es noch Gläubigkeit gab, zu erzählen pflegte. Landleute in Joppen tranken Ale aus Kannen, und in einer Ecke schnarchte, den kohlrabenschwarzen Kopf auf sein Wachstuchbündel gelegt, ein Hausierer mit Ringen in den Ohren.

Als Mr. Wrenn etwas durchfroren von der Fahrt hereinspazierte, lachte er vor Freude laut auf. In der Nähe des Kamins streckte er behaglich seine kleinen Beinchen von einer altmodischen Sitzbank aus, machte ein glückliches Gesicht, zeichnete mit der Schuhspitze Linien in den Sand des Bodens und stellte seinen Zinnkrug mit einem leisen »Plopp« auf sein Knie. Als er ungefähr zweieinviertel Kannen konsumiert hatte, brach er den Bann: »Hören Sie, der Hausierer da drüben, sieht der nicht so aus, als ob er ein Zigeuner wär – wissen Sie, wie so einer, der sich im Gebüsch um die Gutshäuser rumschleicht und die Tochter des Grafen rauben will, nicht?«

»Ja … Sie sind also Romantiker, wie es scheint.«

»Ja, sowas werd ich wohl sein. Son bißchen. Ich les gern Romane.« Er blickte Mittyford flehend an. »Aber sagen Sie – hören Sie, ich weiß nicht recht warum – Irgendwie hat mir Oxford und alles andere nicht so viel Spaß gemacht, wies sein soll. Sehen Sie, ich hab immer gemeint, wenn ich mal wirklich in den Collegehöfen und da überall bin, werd ich ganz einfach aus dem Häuschen geraten, aber leider scheint das alles viel zu gebildet für mich zu sein. Ich gebs nicht gern zu, aber ich muß doch sagen, manchmal weiß ich nicht recht, ob ich mit dem ganzen Reisen recht fertig werden kann.«

Mittyford, der Großartige, hatte sich ein Getränk aus Ale und Whisky zurecht gebraut. Er sprach sanft belehrend:

»Ja, wissen Sie, ich habe mir die Frage vorgelegt, was all das für Sie bedeuten könnte. Ihre Phantasie ist in gewissem Sinne wirklich prachtvoll, das muß ich sagen. Aber es fehlen Ihnen ganz bestimmte konkrete Grundlagen. Ich habe den Eindruck, daß es für Sie das Richtige wäre, mit einer lieben Frau zu reisen, Hand in Hand sozusagen, und die einfacheren öffentlichen Gebäude und Vergnügungen – schön angelegte Straßen und Ähnliches zu genießen. Es muß tatsächlich auch Touristen geben, die wirklich die Fähigkeit haben, ›zu bewundern und zu schauen‹.«

Dr. Mittyford trank seinen zweiten Troddy aus und zeigte Mr. Wrenn mit einer Handbewegung die Welt und alle Vergnügungen, damit er sie in mittyfordischem Stil schaue, wenn natürlich auch nicht bewundere.

»Aber – was sollen Sie jetzt mit Oxford anfangen? Nun, ich fürchte, Sie sind ein wenig zu spät eingefangen worden, um zu derartigem dressiert werden zu können. Mit Oxford anfangen? Ja, mein Bester, kehren Sie zurück und bemeistern Sie die Welt, die Sie kennen. Übrigens, kennen Sie mein Buch über Sächsische Derivativa? Nicht, daß ich zu seinen Gunsten voreingenommen wäre, aber es könnte Ihnen eine kleine Vorstellung davon geben, ein wie schwieriges Ding diese ›Bildung‹ tatsächlich ist.«

Die Landleute sangen leise ein Kirchenlied. Das Ale hatte bei Mr. Wrenn seine Wirkung getan. Er lehnte sich überaus glücklich zurück, und etwas verworren hatte er den Eindruck, daß das Wenige, was er von dem Rat seines gelehrten und wohlmeinenden Freundes gehört hatte, in höchst erfreulicher Weise seine Theorie bestätigte, daß man vor allem Freunde – eine »nette Frau« – Menschen brauche. »Jawohl, weiß Gott, das war schrecklich nett vom Doc.« Er träumte von einem zärtlichen Mädchen in Goldbraun daheim in New York, das ihn des Abends mit einem nur für ihn bestimmten Lächeln erwarten würde. Ein Heim – das war es, was er sich schaffen mußte! Glücklich und versonnen fuhr er mit dem Finger über den Rand seines Bierkrugs.

»Zeit zu gehen, fürchte ich«, sagte Dr. Mittyford.

In dem köstlichen Nebel, der jetzt das Zimmer erfüllte, sah Mr. Wrenn von ihm nur das verschwommene weiße Dreieck des Hemds im Westenausschnitt, über dem zwei Ellipsen, die Augen, funkelten … Sein lieber Freund, der Doc! Als er durch das Zimmer ging, stellten sich ihm Spaßvögel von Stühlen in den Weg, aber er wich ihnen gutmütig aus, und als er glücklich im Automobil saß, schlief er gleich ein. Während der ganzen Rückfahrt schnarchte er leise wie ein Mäuschen.

Als er am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen erwachte und sich in seinem unordentlichen Zimmer orientierte, wurde ihm, nachdem er den Kopf im Kissen vergraben hatte, um seine schmerzenden Augäpfel vor dem Licht zu retten, allmählich klar, daß Dr. Mittyford seine Wanderversuche als töricht bezeichnet hatte. Er protestierte dagegen, aber nicht lange, denn es war ihm ein fürchterlicher Gedanke, hinauszugehen in die schauerlich gelehrten Universitätsgebäude und sich mit dem Entziffern von Büchern voll Buchstaben, die wie Krähenspuren aussahen, abzuplagen.

Er packte langsam sein Köfferchen und konnte sich nicht des Gefühls erwehren, daß es sehr schlecht von ihm sei, die Gelegenheiten, die Oxford ihm bot, nicht auszunützen.

 

Mr. Wrenn fuhr auf dem Verdeck eines Omnibus' zur Tottenham Court Road und beobachtete das typisch englische Bild, das London ihm zeigte. Das Leben war wieder eine herrliche, romantische Angelegenheit, denn er gedachte sich auf einem Mittelmeerdampfer einzuschiffen, der fast ausschließlich abenteuerlustige Gefährten beherbergte. An dem Bus fuhr ein Automobil vorüber, in dem ein Mann mit einem wirklichen Monokol saß. Ein Zeitungsjunge lächelte zu ihm herauf. Im Strand brüllte und tobte der Verkehr.

Doch das graue Mauerwerk und die verhängten Fenster des Büros der Anglo-Southern Steamship Company hatten nichts Einladendes für Mr. Wrenn, sie forderten ihn nicht auf, er möge eintreten; und das tat auch der Portier nicht, ein kräftiger Mensch mit riesigem Kragen und spärlichen, sorgfältig geglätteten Haaren, dessen Augen kaltgewordenen Spiegeleiern glichen, als Mr. Wrenn schüchtern stammelte:

»Bitte – äh – bitte, wollen Sie so freundlich sein und mir sagen, wo ich als Steward für einen Mit –«

»Kein Bedarf.«

»Oder Spanien? Ich möcht zunächst irgendeine Arbeit, ganz gleich was für eine, Kartoffelschälen oder – Es ist mir ganz gleich –«

»Kein Bedarf, hab ich gesagt, mein Lieber.« Der Portier studierte angestrengt die Wanduhr.

Plötzlich trat Bill Wrenn auf den Plan und sprach: »Sie, hören Sie mal, ich will jemanden sprechen, der was zu sagen hat. Ich will hören, als was ich anheuern kann

Der Portier drehte sich um und fuhr zurück. Sein ganzer Glaube an die Menschheit wurde erschüttert, als er sehen mußte, daß der Mensch noch immer dastand. »Nichts, hab ich Ihnen schon mehr als einmal gesagt. Kein Bedarf.«

»Hören Sie, kann ich jemanden sprechen, der was zu sagen hat, oder nicht?«

Der Portier galt bei seiner Schwiegermutter als Witzbold. Er drehte sich um und sagte: »oder nicht.«

Mr. Wrenn stand wieder auf der Straße. Er hatte vorgehabt, in die Tate Gallery zu gehen, aber jetzt brachte er nicht den Mut auf, den Schwierigkeiten des Bildergenießens ins Auge zu sehen. Während er trübselig nach Hause ging, klagte er: »Hat ja alles keinen Sinn. Und wenn ichs auch nur in einem Büro mehr probier, will ich mich hängen lassen. Eiskalt, so lassen die einen abfahren. Ich werd mal in den Hafen rausgehen unds dort probieren. Wahrscheinlich! Herrjeh, mir ist ja so elend.«

In diesem Nebel der Unfreundlichkeit tauchte die Kellnerin in der Boltwood-Kakaostube auf, erstens als menschliches Wesen, mit dem er sprechen konnte, und zweitens als Weib. Sie war gewöhnlich. Sie mißhandelte die englische Sprache grausam. Sie hatte schmutzige Baumwollkleider an, trampelte fest und plump mit ihren großen Füßen über den Boden und lachte bei seinen Witzen immer an der falschen Stelle. Aber sie lachte; sie hörte zu, wenn er hervorstammelte, was er über Fleischpasteten, den St.-Pauls-Dom, über Aeroplane und Shelley und Nebel und braune Schuhe dachte. Ja, sie hielt ihn sogar für einen Gentleman und Gelehrten, und nicht für einen Amerikaner.

Er ging täglich in die Kakaostube.

Sie machte ihm bewußt, daß er ein Mann war, und sie ein Weib, ein junges, freundliches Weib mit glatter Haut und munteren Augen. Sie streifte ihn mit warmem Ellbogen und rundlicher Hüfte, wenn sie sich beim Aufnehmen seiner Bestellung an den Stuhl lehnte. Und darauf wartete er von Mahlzeit zu Mahlzeit, obwohl er sich unaufhörlich Vorwürfe über sein »schändliches« Verhalten machte.

Daß er solcherart über die ganze Angelegenheit dachte, verhinderte ihn nicht daran, in große Aufregung zu geraten, als er bei einer Mahlzeit plötzlich begriff, daß sie darauf wartete, in Versuchung geführt zu werden. Er führte sie denn auch unverzüglich in Versuchung, indem er murmelte: »Wollen wir heute abend miteinander spazieren gehen?«

Sie nahm an. Er hatte Herzklopfen und konnte kaum atmen, während er sich ängstlich bemühte, ihr zuzulächeln; und in diesem Zustand blieb er auch den ganzen Nachmittag hindurch im Tower, obwohl er recht gut wußte, daß alle historischen Tatsachen – »Könige und Guillotinen und so« – eigentlich seine ungeteilte Aufmerksamkeit verlangten.

Sie sollten sich um acht Uhr an einer Straßenecke treffen. Um halb acht stand er schon dort. Um halb neun schritt er empört von dannen, ging aber gleich wieder zurück und wartete noch eine halbe Stunde. Sie kam nicht.

Als er schließlich heimwärts floh, war er froh und glücklich, dem großen Mysterium des Lebens entronnen zu sein, dann voll Bekümmernis zornig auf die Kellnerin, und schließlich ganz trostlos in der verlassenen Stille seines Zimmers.

 

Er saß in seinem kalten, hygienischen, unbehaglichen Raum auf dem Tavistock Place und versuchte seine Aufmerksamkeit auf das »tick, tick, tick, tick« seiner Zweidollar-Uhr zu konzentrieren, aber in Wirklichkeit verkroch er sich vor den ungeheuren, schattenhaften Spukgestalten, die aus allen Winkeln der feindseligen Stadt zu ihm kamen.

Er ahnte nicht im entferntesten, wovor er eigentlich Angst hatte. Die lebendigen Engländer, denen er draußen auf den Straßen begegnete, schienen ihm keineswegs an Leib und Leben zu wollen, und doch, während er – sich so lebendig seiner Angst und seiner Einsamkeit bewußt, daß er nicht wagte, die steif gewordenen Beine zu bewegen – da saß, hatte er den Eindruck, daß seine freundliche Uhr und sein trauliches Köfferchen das Einzige wären, dem er in der ganzen dräuenden Welt Vertrauen schenken konnte.

Einmal mußte diese Spannung ein Ende finden. Eine Weile brachte er es zuwege, sich selbst auszulachen, und malte sich angenehme Dinge aus – Charley Carpenter erzählte ihm bei Drübel eine Geschichte; Morton rauchte behaglich auf dem Oberdeck; Lee Theresa sagte ihm während eines Abendspaziergangs Schmeicheleien. Am meisten träumte er von dem braunäugigen Liebchen, das er irgendwo, irgendwann kennen lernen würde. In heimlicher Beschämung gedachte er seiner müßigen Geschichte mit der Kellnerin, die er aber rasch wieder vergaß, als er die tröstende Hand des braunäugigen Mädchens beinahe zu berühren glaubte.

»Freunde, das brauch ich. Klar!« Das war die Arbeit, die vor ihm lag – Bekanntschaften machen. Ein Mädchen, das ihn verstehen würde, mit dem er herumflanieren, Warenhaus-Schaufenster ansehen und ins Kino gehen könnte.

Damals, als er in dem Lehnstuhl mit der verschossenen Polsterung saß, war es wohl, daß er die beiden Redensarten schuf, die für ihn zu den Formeln des Glücks wurden. Er wünschte sich »jemanden, zu dem man am Abend nach Hause geht«; und noch mehr, »einen Menschen, mit dem und für den man arbeitet«.

Ihm schien, er habe sich sein ganzes Leben vorgezeichnet. Befriedigt setzte er sich zurück, horchte dem Klang der Leere in seinem Zimmer, den das leise Ticken seiner Uhr noch unterstrich.

»Ach – Morton –« rief er aus.

Er sprang auf und zog das Fenster hoch. Es regnete, aber durch das langsame Geriesel kamen die Nachtgeräusche des gehässigen London herauf. Er starrte hinunter und betrachtete den Lichtkreis, den eine Straßenlaterne auf das nasse Pflaster warf. Eine Katze mit schäbigem Fell, grau wie Spülwasser, hager und scheußlich, glitt auf leisen Füßen durch den Kreis, als wäre sie der Geist des Unbehagens, der verkörperte Hohn Londons über einsame Amerikaner in Russel Square-Zimmern.

Mr. Wrenn schluckte. Durch das Licht kamen ein Mann und ein Mädchen, die seiner so wenig gewahr wurden, daß sie lachend stehen blieben und sich um einen Schirm balgten. Dann verschwanden sie wieder; die Straße sah aus wie ein vergessenes Grab. Ein Hansom fuhr, mit scharfen, freudlosen Hufschlägen, vorüber. Der Regen tropfte. Nichts sonst. Mr. Wrenn schlug das Fenster wieder zu.

Er glättete die Seitenwände seines Köfferchens und rechnete sich aus, wieviele Meilen er mit ihm gereist war. Er spielte mit seiner Uhr auf dem Tisch Kreisel und lauschte ihren raschen, spöttischen Tönen: »Freun-de, Freun-de; Freun–de, Freun–de.«

Unglücklich begann er sich auszuziehen, jedes Kleidungsstück ablegend, als müßte er zum Schaffot gehen. Als es finster im Zimmer war, drängten die großen, schattenhaften Gestalten der Angst sich ganz nahe an sein schmales, unbehagliches Bett heran.

Einmal in der Nacht wachte er auf. Irgendein Geräusch bedrohte ihn. Das war London, das jetzt kam, ihn zu holen und ihn zu foltern. Das Licht in seinem Zimmer war unklar, schmutzig, grau und leblos. Er sah, daß die Tür halb offen stand, und blieb eine Weile reglos liegen, erblickte unheimliche körperlose Köpfe, die sich mit grauenhafter Gewandtheit durch die Öffnung schoben – bis er aufsprang und die Tür ganz aufriß.

Aber nicht einen einzigen Blick warf er in den Flur, auf die Gespenster, die sich dort versammelten, hinaus. Eine in ihm verborgene mannhafte Verachtung aller Schwäche ließ ihn laut schimpfen: »Benimm dich nicht wie ein kleines Kind, und wenn du zehn mal einsam bist.«

Seine Stimme klang tiefer als gewöhnlich, und mit derbem, gesundem Spott über seine Nervosität warf er sich aufs Bett, um wieder zu schlafen.

Kurz nach Tagesanbruch erwachte er und rollte sich einen Augenblick glücklich und zufrieden nach dem guten Schlaf zusammen. Dann fiel ihm ein, daß er in dem kalten, freudlosen England war, und lag keuchend da, sehnte sich danach, zu entfliehen, nach Amerika zurückzukehren, wo er in Sicherheit wäre.

Am liebsten wäre er aus dem Bett gesprungen und auf die Bahn geeilt, um nach Liverpool zu fahren und das erste Schiff nach Amerika zu nehmen. Aber es war nicht ausgeschlossen, daß die Beamten, die mit der Beaufsichtigung der Auswanderer und der Zwischendeckpassagiere betraut waren (und selbstverständlich fährt man Zwischendeck, um Geld zu sparen) nach seiner Religion und seiner Haarfarbe fragten – und das flößte ihm ebenso viel Scheu ein wie der Gedanke, sich anheuern zu lassen. Man könnte ihn einige Tage aufhalten. Es gab Quarantänen und Zollschwierigkeiten und allerhand mehr, wovon er gehört hatte. Er mußte vielleicht noch zwei oder gar drei Tage in diesem grauenhaften Kerkerland bleiben.

Das war der Morgen des dritten August neunzehnhundertzehn, zwei Wochen nach seiner Ankunft in London, zweiundzwanzig Tage, nachdem er siegreich England, das Land der Romantik, angesteuert hatte.


 << zurück weiter >>