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Achtes Kapitel.
Er delektiert sich an einem »Tiffin«

Am nächsten Abend grübelte und sinnierte Mr. Wrenn in seinem Zimmer, bis er sich schließlich im Lauf einer Stunde zwei Dinge klar gemacht hatte; nämlich:

(a) Er wollte nur eines: sofort nach Amerika zurückfahren, weil in England jedermann – ob Brite oder Amerikaner – so unfreundlich und so unermeßlich klug war, daß ihm die Menschen ewig unverständlich bleiben mußten.

(b) Er wollte nur eines: hier bleiben, weil die Bekanntschaft mit Miss Nash das wunderbarste Ereignis seines Lebens war. Wechselnd wie Flut und Ebbe nahmen diese beiden Gedanken seinen Kopf ein. Er konnte ihnen gerade lang genug entrinnen, um sich darüber zu freuen, daß er auf irgendeine Weise – wie, wußte er nicht – ihr bester Freund werden würde, denn sie beide waren ja Amerikaner in einem fremden Land, und sie beide konnten »spielen«.

Hierauf bewies er sich, daß Istra ein idealer Kamerad sei, dann wiederum, daß sie es nicht sein würde – und in diesem Augenblick klopfte es.

Elektrisiert sprang er aus seiner hockenden Stellung auf und eilte zur Tür.

Auf der Schwelle stand Istra Nash, ungeduldig mit der Fußspitze wippend, und sagte hastig:

»Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe. Ich wollte nur fragen, ob Sie mir ein Streichholz geben können. Ich habe keine mehr.«

»Aber natürlich. Da ist eine ganze Schachtel. Bitte, nehmen Sie sie. Ich habe noch eine ganze Menge.« (Was ganz und gar erlogen war.)

»Danke schön. Sehr lieb von Ihnen«, antwortete sie rasch. »Gu'Nacht.«

Sie drehte sich um, aber er ging ihr auf den Flur nach und fragte eifrig: »Waren Sie wieder im Theater? Hoffentlich sehen Sie das nächste Mal was Netteres als das Stück mit dem Menschen, der einen Neffen gehabt hat.«

»Danke schön.«

Sie stand im schwach erhellten Flur vor ihrer Tür – etwa fünf Meter von ihm entfernt. Er kratzte verlegen mit dem Finger an der Tapete herum und hoffte, daß es zu einem kleinen Gespräch kommen würde.

»Wollen Sie nicht zu mir herein kommen?« fragte sie endlich.

»Oh, vielen Dank, aber ich glaube, das wird nicht gut gehen.«

Mit einem Mal lächelte sie sehr menschlich, in ihren blaugrauen Augen strahlte lustige Freundlichkeit. »Kommen Sie herein, Sie Kindskopf, kommen Sie herein.« Als er zögernd eintrat, rief sie: »Wir brauchen doch wirklich nicht beide immer allein zu sein, nicht wahr? Selbst wenn Sie die arme Istra gar nicht leiden können. Sie haben nichts für mich übrig – nicht wahr?« Eine Antwort auf ihre Frage schien sie nicht zu erwarten, denn sie zündete sich, ohne ihm Gelegenheit dazu zu geben, eine Zigarette an. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er eine Frau rauchen.

Als sie den Kopf zurückwarf und tief inhalierte, wandte er in verlegener Höflichkeit die Augen von ihr ab und sah sich errötend im Zimmer um.

In einer Ecke hinten standen zwei offene Koffer. Aus dem einen war der Einsatz herausgenommen, und unten lag ein Durcheinander von spitzenbesetzten Dingen, von denen er mit einem unbehaglichen Gefühl fortblickte. Er erkannte den schwarzgoldenen Burnus wieder, der jetzt in traulichem Verein mit einem spitzenbesetzten Batistnachthemd, einem grünen Buch, auf dessen Papierumschlag der Titel »Drei Stücke für Puritaner« stand, mit einem roten Pantoffel und einer offenen Pralineschachtel auf dem Bett lag.

Auf dem Tisch, über den eine resedagrüne Decke gebreitet war, trieb sich ein Wirrwarr von Papier und zerrissenen Couverts herum, eine riesengroße Füllfeder, eine Flasche Crême Yvette und das Bild eines hageren, lächelnden Mannes mit Einglas in einem Silberrahmen.

Mr. Wrenn sah in Wirklichkeit gar nicht alle diese Einzelheiten, er hatte nur einen allgemeinen Eindruck von Luxus und überaus künstlerischer Einrichtung. Das Yvette-Flacon schien ihm die größte Parfumflasche zu sein, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte; und es fiel ihm auf, daß »n Bild von irgendwem« auf dem Tisch stand. Er hatte nur einen Augenblick Zeit, Umschau zu halten, denn sie fragte zu seinem Erstaunen:

»Sie haben sich also einsam gefühlt, als ich hinüberkam?«

»Ja, wieso – –«

»Ach, das konnte ich sehen. Wir fühlen uns alle einmal einsam, nicht wahr? Mir geht es oft so. Ich muß mich immer mehr über die Interessanten Menschen ärgern. Ich glaube, ich werde nach Paris zurückfahren. Dort sind sogar die Interessanten Menschen – na ja, also interessant.«

»Ich – äh – äh – äh – ich versteh nicht ganz, was Sie meinen. Was heißt das, das mit den ›Interessanten Menschen‹?«

»Mein liebes Kind, natürlich verstehen Sie mich nicht.«

Sie ging zum Spiegel und strich sich über das Haar, dann rollte sie sich auf dem Bett zusammen, sagte ganz nebenbei: »Wollen Sie sich nicht setzen?« rauchte behaglich weiter und nahm das Gespräch wieder auf. »Natürlich verstehen Sie das nicht. Sie sind ein netter, vernünftiger Büroangestellter, der so viel wirkliche Arbeit hat, daß es ihm erspart bleibt, Angst davor zu haben, daß andere Leute ihn vielleicht für gewöhnlich halten könnten. Sie müssen sich nicht dazu zwingen, sich unter gewaltigen Anstrengungen Ihr Brot damit zu verdienen, daß Sie kluge Reden über Temperament und Stimmungen führen.

Ja, diese Interessanten Menschen – – Die gibt es überall, in London, in New York und in San Francisco, und überall sind sie gleich. Sie sind überzeugt davon, die klügsten Menschen auf der ganzen Erde zu sein. Immer sind ein paar Künstler, ein oder zwei langweilige Romanschriftsteller und einige Fürsorgearbeiter dabei. Die Clique, die ich gerade jetzt zu meinem Vergnügen hasse – und ohne so etwas kann ich anscheinend nicht leben – diese Leute also versammeln sich bei Olympia Johns, die in ihrer Wohnung in der Great James Street, gleich bei der Theobald's Road, eine Art Salon macht … Das Ganze könnte ebenso gut in New York sein. Nur halten es die Leute hier länger aus, sich auf intellektuellen Höhen zu bewegen, als die New Yorker.

Ich werde Sie einmal dorthin bringen müssen. Es ist eine wunderbare Sensation, wissen Sie, einen Menschen zu finden, der ein wenig Phantasie hat, aber noch nicht von den Interessanten Menschen verdorben ist, und ihm diese Blase vorzuführen. Die Leute sitzen herum und schimpfen und trinken und frohlocken darüber, daß sie freie Geister sind. Da sie frei sind, dürfen sie natürlich nicht mit netten Menschen spielen, denn wenn ein Mensch frei ist, müssen Sie wissen, hat er nie die Freiheit, etwas anderes zu tun als frei zu sein. Das klingt vielleicht verwirrend, aber die Leute bei Olympia verstehen es.

Natürlich gibt es verschiedene Unterarten von Intellektuellen, und jeder einzelne Kult verachtet alle anderen. Für gewöhnlich besteht ein Kult aus einem einzelnen Menschen, aber manchmal sind auch zwei da – einer, der redet, und einer, der zuhört – oder sogar drei. Sie können zum Beispiel aktivistische Frauenrechtlerin und Vegetarierin sein, aber wenn Sie Frauenrechtlerin sind und eine gute Figur haben, ja, dann – wehe Ihnen! … Das meine ich also mit den Interessanten Menschen. Ich verabscheue sie! Und deshalb gehe ich, ich gehöre ja selber dazu, von einer Clique zur anderen und bilde mir – das ist wirklich wahr – immer wieder ein, daß die neue Clique wirklich interessant ist!«

Dann rauchte sie verdrossen schweigend, bis Mr. Wrenn nach etlicher geistiger Anstrengung bemerkte: »Die Leute werden wohl ebenso sein wie die Viehwärter – je viehischer sie sind, desto romantischer sehen sie aus, und wenn man sie mal richtig kennen gelernt hat, ist das schlimmste an ihnen, daß sie Viehwärter sind.«

»Ja, das ist es. Sie sind – also sie sind – ach, lassen wir das. Schluß mit allen intellektuellen Diskussionen! … Ich glaube, Sie sind wirklich ein netter Mensch, und wissen Sie, was wir jetzt tun werden? Wir werden uns ein kleines Feuerchen machen lassen. Ja? Im Kamin.«

»Ja!«

Sie zog an der altmodischen Klingelschnur, und die altmodische Pensionswirtin kam herein – groß, mager, blaß, antiquiert aussehend, als hätte man sie im Jahre 1880 in viktorianische Kleider gesteckt und dann in einem ungelüfteten Wohnzimmer stehen lassen. Sie setzte eine mißbilligende Miene auf, als sie Mr. Wrenn in Istras Zimmer erblickte, schickte aber ein Dienstmädchen herauf und ließ Feuer machen – »Sixpence extra«. Mr. Wrenn hatte ein schlechtes Gewissen, bis das Mädchen heraufkam – ein Mädchen wie aus einem Weihnachtsmärchenbuch, klein, lustig, schmutzig – das vergnügt rief: »Kalt heut abend, nicht wahr?« und ein Feuerchen anzündete, das bald genau so wie das Mädchen »Kalt heut abend« rief.

Istra setzte sich mit gekreuzten Beinen vor dem Feuer auf den Fußboden und trommelte mit ihren schmalen Fingern nervös auf den Knien.

»Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir. Sie müßten mit Ihrem Sinn für Romantik etwas dafür übrig haben, vor dem Feuer zu sitzen. Das wird immer so gemacht, wissen Sie.«

Er ließ sich schüchtern neben ihr nieder, schlang die Hände um die Knie und gab sich Mühe, so auszusehen wie ein würdiger amerikanischer Geschäftsmann in seinem Landhaus.

Sie lächelte ihm freundlich zu und zirpte:

»Jetzt müssen Sie mir erzählen, wie es war, als Sie das letzte Mal mit einem Mädchen vor dem Kamin saßen. Verraten Sie der armen Istra das furchtbare Geheimnis. War sie die Schönste unter allen Rosengesichtern?«

»Ich bin – noch nie – mit – irgendwem – vor – einem – Kamin gesessen! Nur einmal, wie ich neun Jahre alt war – am Abend vor Allerheiligen – bei einem Vergnügen in Parthenon – das ist eine kleine Stadt oben in York.«

»Wirklich? Armes Kerlchen!«

Sie streckte die Hand aus und nahm ihn bei der seinen. Mit einem angenehmen Schrecken fühlte er die warme Glätte ihrer Finger auf seinem Handrücken, während sie fragte:

»Aber verliebt waren Sie schon? Fürchterlich verliebt?«

»Noch nie.«

»Armes Kind, dann haben Sie aber viel vom Tee und Kuchen des Lebens versäumt. Und Sie sind doch neugierig auf das Leben, nicht? Wissen Sie, wenn ich an diese kostbaren Interessanten Menschen denke, die ich kenne – Warum lasse ich eigentlich zu, daß Sie von irgendeinem Ladenmädchen, das einen Hut mit Blumen trägt, verdorben werden? Sie wird Sie ins Kino schleifen … Oh, Sie haben mir doch nicht gesagt, daß Sie ins Kino gehen, nicht wahr?«

»Nein!« log er mit Feuer, um gleich schuldbewußt hinzuzufügen: »Früher hab ich das getan, aber jetzt nicht mehr.«

»Ich werde aber mit Ihnen ins Kino gehen, wenn Sie wollen. Sie müssen mich überhaupt hinführen. Dort werden wir eine Weile allen Unsinn wie Syndikalismus und Farbgebung vergessen, ja? Und die Rotkehlchen werden uns mit Blättern zudecken.«

»Wie die verirrten Kinder im Wald? Aber wissen Sie, ich fürchte, Sie sind allerhand mehr als n verirrtes Kind im Wald! Sie sind der – äh – der erste – also der erste kluge Mensch, den ich kennen gelernt hab, außer Dr. Mittyford vielleicht; und der Doc würde nie spielen. Wirklich, der erste.«

»Danke schön!« Der warme Druck um seine Hand wurde fester. Sein Herz machte die verrücktesten, fröhlichsten Sprünge, und schüchtern, mit dem Gefühl, etwas ganz Unerhörtes zu wagen, begann er mit der Spitze seines Daumens die feinen Linien an ihrer Handseite zu erforschen … Das war wirklich er und kein anderer, der hier neben einer Prinzessin saß, und er fühlte wirklich ihre weiche Hand, versicherte er sich atemlos.

Plötzlich gab sie seiner Hand einen verabschiedenden Druck und sprang auf.

»Kommen Sie. Jetzt wollen wir uns an einem kleinen Tiffin delektieren, und dann schicke ich Sie weg, und morgen werden wir in die Täte Gallery gehen.«

Während Istra dem Mädchen den Auftrag gab, Kuchen und einen halben Liter leichten Weins zu bringen, saß Mr. Wrenn in einem Stuhl – er saß bloß darin; er wollte zeigen, daß er sich würdevoll benehmen konnte und Miss Nashs Freundlichkeit nicht ausnützte, indem er herumlümmelte. Da er seinen Kipling gut kannte, wußte er ungefähr, daß ein Tiffin eine Art Gabelfrühstück am Nachmittag sei, aber wenn Miss Nash ein spätes Abendessen so nannte, dann irrte er sich natürlich.

Istra setzte das Tischchen mit der resedagrünen Decke vor den Kamin, warf alles, was auf ihm lag und stand, auf das Bett und stellte Rosen darauf; dann rückte sie die kleine blaue Vase fünf Zentimeter weiter nach rechts, und fünf Zentimeter weiter nach vorn. Den Wein goß sie in eine Karaffe.

Wein war entschieden ein Problem für ihn. Daß er mit einem Mal zu einer Gesellschaftsschicht Zutritt hatte, die im Wein etwas ganz Selbstverständliches sah, regte ihn auf. Für Mrs. Zapp wäre das kein selbstverständliches Getränk. Er frohlockte darüber, daß er nicht so beschränkt war wie Mrs. Zapp – und es kostete ihn eine solche Anstrengung, nicht so beschränkt zu sein, daß er ordentlich zusammenschrak, als eine spöttische Stimme ihn aus seinen Träumereien zurückrief:

»Aber Sie könnten auch einmal das Gebäck ansehen. Nur ein einziges Mal. Es ist wirklich sehr netter Kuchen.«

»Äh –«

»Ja, ich weiß, der Wein ist Wein. Abscheulich von ihm.«

»Hören Sie, Miss Nash, diesmal habe ich Sie aber verstanden.«

»Ach, sagen Sie mir nicht, daß es mit meiner göttlichen Präsidentschaft schon vorbei ist.«

»Äh – aber sicher! Jetzt werd ich ein grausamer Boss sein.«

»Wunderbar! Werden Sie ein Höhlenmensch sein?«

»Tut mir leid. Jetzt hab ich Sie wieder nicht verstanden.«

»Das ist aber schlimm. Ich möchte so gern einmal einen Höhlenmenschen sehen.«

»Ach ja, jetzt weiß ich, was mit dem Höhlenmenschen ist – das ist so was wie die Burschen bei Jack London. Sowas bin ich leider nicht. Aber – auf dem Viehdampfer – Wissen Sie, das hätten Sie sehen sollen, wie die Stiere hochgebunden worden sind. Im Zwischendeck alles ganz dunkel, und die Stiere, die ganz eng zusammengepfercht sind, brüllen, und die Wärter werden alle seekrank – so seekrank, daß wir bloß so rumgetaumelt sind; und dann haben wir irgendeine Leine gefaßt und geschimpft und wieder losgelassen, und die Meister haben geschrien: ›Zieh, oder ich schlag dir den Schädel ein.‹ Und dann die Back – die Menschen zusammengepackt wie die Heringe.«

Sie beugte sich über den Tisch, spielte mit den Korinthen aus einem Kuchenstück und hörte gespannt zu. Er hatte das Gefühl, zu lange zu sprechen, und hörte höflich auf. Aber sie sagte: »Erzählen Sie weiter, bitte«, und er schilderte, wobei ihm selbst alles immer deutlicher wurde, Satan und den Grenadier, die Feen, die ihm von den irischen Küstenhügeln zugewunken hatten, und die Kameradschaft mit Morton.

Sie unterbrach ihn nur einmal, um zu murmeln: »Mein Lieber, es ist sehr schön, daß Sie alles beim Namen nennen, aber –« was nicht den geringsten Zusammenhang mit Heuballen zu haben schien.

Schließlich schickte sie ihn mit den Worten weg: »Es ist sehr nett gewesen, nicht wahr, Höhlenmensch? (Wenn Sie wirklich ein Höhlenmensch sind.) Holen Sie mich morgen um drei Uhr ab. Wir werden in die Tate Gallery gehen.«

Mit einem ganz flüchtigen Druck berührte sie seine Hand.

»Ja. Gute Nacht, Miss Nash«, stammelte er.

 

Den ganzen Vormittag hindurch überlegte er, wie er sich in der Tate Gallery mit Istra Nash benehmen könnte, um der getreue Schatten und die schöne Kopie Dr. phil. Mittyfords zu sein. Das Resultat war, daß er sich, als er vor den großen Gemälden in der Galerie stand, so plump und korrekt wißbegierig benahm, so durchaus bereit, sich über nichts zu freuen, daß Istra plötzlich erklärte:

»Mein liebes Kind, ich habe eine schwere Aufgabe auf mich genommen. Sie müssen spielen lernen. Sie wissen nicht, wie man spielt. Kommen Sie, ich werde es Ihnen beibringen. Ich weiß zwar nicht warum, aber – kommen Sie.«

Als sie die Galerie verließen, setzte sie ihm auseinander:

»Erstens die Kunst, Bus zu fahren. Oh, das ist eine Kunst, wissen Sie. Sie müssen die Blumenmädchen und die großartigen jungen Bobbies bewundern. Sie müssen es lernen, die Blüten auf den Restaurantterrassen zu sehen und sich im Park auf dem Gras zu wälzen. Sie sind natürlich viel zu wohlerzogen, um sich auf dem Gras zu wälzen, nicht wahr? Ich werde mich sehr bemühen, Ihnen beizubringen, wie man das nicht ist. Und dann werden wir Tee trinken gehen. Wie viele Arten Tee gibt es?«

»Ach, Ceylon- und englischen Frühstücks- und – ach – Chinesischen Tee.«

»Ab – –«

»Und das harte T«, fügte er aufgeregt hinzu, als sie sich auf dem Verdeck des Omnibus auf die vorderste Bank setzten.

»Sie fangen wenigstens an, Witze zu machen«, sagte sie nachdenklich.

»Aber wie viele Arten Tee gibt es wirklich, Istra? … Ach, ich hätte nicht – –«

»Natürlich; sagen Sie Istra zu mir, oder was Sie wollen. Nur eines, Sie dürfen nicht zu genau fragen. Was ich weiß vom Tee? Wir alle, die wir immer mehr oder weniger angeben, sind immer so höflich, so zu tun, als wüßten wir nicht, daß die Anderen auch angeben … Also, es gibt alle möglichen Arten Tee. Im New Yorker Chinesenviertel habe ich einmal – Kennen Sie das Chinesenviertel? Da Sie New Yorker sind, werden Sie es wahrscheinlich nicht kennen.«

»O doch. Und das italienische Viertel auch. Ich bin da sehr viel spazieren gegangen.«

»Also, dort bekommt man in einem Chinesischen Lokal für fünf Dollar eine Tasse Tee, von dem behauptet wird, daß er auf wolkenverhüllten Berggipfeln gewachsen ist. Wenn die Gipfel nicht wolkenverhüllt sind, glaube ich, kostet die Tasse nur drei Dollar. Aber, ganz im Ernst, in Wirklichkeit gibt es nur zwei Arten von Tee – den Tee, zu dem man geht, um den Mann zu treffen, den man liebt und den man hassen sollte, und den Tee, den man gibt, um die Frauen zu ärgern, die man haßt, aber – auch wirklich hassen soll! Ist das nicht reizend und kompliziert? Das ist Spielen. Mit Worten. Mein betagter Erzeuger nennt das ›zu viel reden und nicht das Geringste sagen‹. Das letzte ist sehr wichtig. Nicht das Geringste sagen! Das ist eine von den Spielregeln, die nie verletzt werden dürfen.«

Das verstand er viel besser als die meisten anderen Dinge, die sie sagte. »Ja«, rief er aus, »man muß sozusagen daneben herreden.«

»Eben, natürlich. Das ist es gerade. Daneben herreden. Verstehen Sie jetzt nicht?«

Als galanter Herr ließ er sie bei dem Glauben, sie hätte die Phrase selbst erfunden.

Sie sagte noch vieles andere; sehr vieles, zu dessen Verständnis so große Gelehrsamkeit gehörte, daß er den heldenhaften Entschluß faßte, »auf Deibelkommraus zu lesen«.

Die größte Lektion aber war die Kunst des Teetrinkens. Zu seiner Überraschung merkte er, daß sie sich nicht wirklich im Park auf dem Gras wälzen und ihre Kleider in Gefahr bringen mußten. Sie führte ihn vielmehr in eine Teestube hinter einem Konfektionsgeschäft in der Tottenham Court Road, ein niedriges Zimmer mit weißen Korbmöbeln, bunten Kacheln an den Wänden und grünen irdenen Vasen mit weißen Rosen. Eine Kellnerin mit roten Backen brachte ihr Orange Pekoe mit Zitrone, und ihm Ceylon und Russischen Karawanentee mit einem Kännchen Sahne, und dazu einen Teller Zimtküchelchen.

»Aber – –« sagte Istra. »Ist das nicht wie im Märchenland! Vor allem müssen Sie lernen, wie man englische Muffins mit Butter füllt. Wenn Sie das sehr gut können, werden die feinen Lakaien Ihnen erlauben, im Carlton den Tee zu nehmen. Es sind hyperkritische Lakaien, und der, der Ihnen das goldene Buttermesser bringt, um Ihre Geschicklichkeit auf die Probe zu stellen, ja, der hat sogar immer silbergraue Kniehosen an. Sie sehen also, Billy, wie vorsichtig Sie sein müssen. Und essen Sie sie, ohne sich Butter auf die Nase zu schmieren. Wenn Sie sich nämlich Butter auf die Nase schmieren, wird man Sie für einen Griechischprofessor halten. Und das wäre Ihnen doch gar nicht recht, nicht wahr?«

Er lernte die Kunst, das knusprigbraune Innere der Muffins, die von außen so kalt und mehlig aussahen, mit Butter zu füllen. Aber Istra schien alles Interesse daran verloren zu haben, und er konnte sie nicht im mindesten begreifen, als sie sagte:

»Sicherlich war es wirklich die allerbeste Butter. Aber wo, wo, liebes Haselmäuschen, sind der Hutmacher und der Hase? Wo ist vor allem das süße komische Kaninchen, das mit den Ohren wackelte und Gralice, die Prinzessin von jenseits der Meere, liebte?

»Wo, wo sind der Hutmacher und der Hase,
Und wohin kam die allerbeste Butter?«

Bald rief sie: »Gehen wir. Wir wollen unten in Soho abendessen. Oder – nein! Jetzt sollen Sie mich führen. Zeigen Sie mir, wo Sie abendessen würden. Und dann werden Sie mich in ein Varieté führen und mir zeigen, wie man sich dort amüsiert. Jetzt sind Sie an der Reihe, mich spielen zu lehren.«

»Herrjeh! Ich fürchte, ich weiß gar nichts, was ich Sie lehren könnte.«

»Ja, aber – – Passen Sie auf! Wir sind zwei einsame Barbaren aus dem wilden Westen in einem fremden Land. Wir werden ein kleines Weilchen miteinander spielen. Wir kennen unsere verschiedenen Arten zu spielen nicht, aber gerade das wird die Monotonie unseres Lebens angenehm unterbrechen. Ich weiß nicht, wie lange wir spielen werden, oder – – Sollen wir?«

»O ja!«

»Und jetzt zeigen Sie mir, wie Sie spielen.«

»Wirklich, ich glaub, ich hab nie viel gespielt.«

»Also Sie sollen mich in eines von Ihren Restaurants führen.«

»Ich glaub nicht, daß Sie sich sehr um Einpenny-Pasteten reißen werden.«

»Kleine Pasteten?«

»Mhm.«

»Kleine zarte? Mit dünnem Teig?«

»Mhm.«

»Aber natürlich! Und Tee um einen halben Penny? Führt mich dahin, o tapferer Ritter. Und in ein Varieté.«

Er merkte, daß diese eifrige Theaterbesucherin niemals die schönen Italiener gesehen hatte, die mit kleinen Kolben auf widerstrebende Xylophone einschlagen, niemals den zum Brüllen komischen Jongleurassistenten, der unbeschreibliche Mengen von Tellern zerbricht. Und von dem Zylinderhut, der sich in eine Ziehharmonika verwandelt und so viele Melodien spielt, war sie ganz begeistert.

Bei dem Imbiß nach der Vorstellung sprach er von Theresa und South Beach, von Charley Carpenter und Morton – Morton – Morton.

Um Mitternacht saßen sie auf den Stufen des Hauses am Tavistock Place.

»Jetzt kenne ich Sie«, sagte sie nachdenklich. »Es ist eigentlich seltsam, wie zwei verirrte Kinder in einem ganz fremden Wald mit einander bekanntwerden. Sie sind doch ein einsames Kind?« Ihre Stimme hatte alle Muttersanftheit. »Wir werden ein ganz klein wenig spielen – –«

»Ich würde Ihnen auch so gern was zeigen. Aber Sie wissen ja so viel.«

»Und ich bin eine vollendete Schönheit, nicht wahr?« fragte sie ganz ernsthaft.

»Ja, das sind Sie auch!«

»Ich dachte mir ja, daß ich mich auf Sie verlassen kann … Und ich kann ein wenig Bewunderung sehr gut brauchen … In Paris und London lacht man die arme Istra meistens aus.«

Er nahm ihre Hand. »Sagen Sie das nicht! Man muß Sie doch schätzen. Ich würde am liebsten jeden umbringen, ders nicht tut.«

»Danke.« Sie drückte seine Hand wieder und zog dann ihre rasch zurück. »Sie werden zu dem gewissen Rosengesicht sehr gut sein … Und ich werde weiter unzufrieden bleiben. Ach, das Leben ist doch wirklich eine ganz abscheuliche Einrichtung! … Wir scheinen verschieden zu sein, Sie und ich, aber das liegt vielleicht zum größten Teil nur an der Oberfläche – tief drinnen sind wir beide gleich verzweifelt unglücklich, weil wir nie recht wissen, worüber wir eigentlich unglücklich sind. Na – –«

Am liebsten hätte er ihren Kopf auf seine Knie herunter gezogen und dort ruhen lassen. Aber er blieb still sitzen, und bald fanden ihre kalten Hände einander.

Nach einem Schweigen, in dem jeder von sich selbst sprach, brach er los: »Aber ich kann nicht begreifen, wieso man Sie in Paris nicht schätzt. Ich geh jede Wette ein, daß Sie eine der besten Künstlerinnen sind, die die Leute überhaupt kennen … Wie Sie das Bild von dem Jongleur im Kopf entworfen haben!«

»Nein, nein. Da ist nichts zu machen. Ich kann eben einfach nicht malen.«

»Ach Blech! Ich geh jede Wette ein, daß Ihre Bilder blendend sind.«

»Mm.«

»Bitte zeigen Sie mir doch mal ein paar. Wenn das nicht – –«

»Gehen wir hinauf. Ich bin jetzt inspiriert. Sie sollen einige prächtige, wenn auch niederträchtige kritische Bemerkungen über die Werke der unglückseligen Miss Nash hören.«

Als sie oben waren, ließ sie ihm nicht so viel Zeit, daß er ob der Unschicklichkeit, das Zimmer einer Dame um Mitternacht zu betreten, rot werden und unschlüssig zaudern konnte, sondern ging mit einem kurzen »Kommen Sie« voraus.

Sie öffnete eine große, mit grüngeädertem schwarzem Papier eingeschlagene Mappe und zerrte ein Dutzend ungerahmter Pastell- und Tuschzeichnungen heraus, warf sie verächtlich auf das Bett und sagte, auf ein Durcheinander von Marseiller Dächern weisend:

»Sehen Sie diese Skizze? Das einzige Gute daran ist wahrscheinlich das, was dem letzten Redakteur, der sie gesehen hat, dem rothaarigen Jüngling, nicht gefallen hat. Finden Sie rotes Haar nicht scheußlich? Sehen Sie diese lächerlichen grellroten Schatten unter dem Kirchturm?«

Sie blickte interessiert auf das Bild hinunter, vergaß ihn ganz, rieb sich nachdenklich das Kinn und murmelte: »Sie sind recht ordentlich. Eigentlich ganz gut. Ganz gut.«

Dann machte sie eine rasche Bewegung mit den Schultern und legte los:

»Aber sehen Sie sich das da an. Der Bogen da. Ist der nicht elendiglich verzeichnet? Und können Sie sehen, wie ich die Gestalt verfälscht habe? Das ist ja überhaupt kein richtiger Mensch. Merken Sie nicht, was für Unfug ich mit der Treppe getrieben habe? Ja, mein lieber Freund, der kleinste Strich hier wäre eine Schmach für eine siebentrangige Zeichenklasse in Dos Puentes. Und hier, die Pappeln auf dem Bild da. Die sehen doch aus wie umgekehrte Regenschirme in einem blödsinnigen Waschbecken. Uff! Schrecklich. Affreux! Tun Sie nicht so, als ob es Ihnen gefiele. Das ist gar nicht notwendig, wissen Sie. Sehen Sie denn nicht, daß alles schauderhaft verzeichnet ist?«

Mr. Wrenns Phantasie wanderte auf einem grünen Pfad im alten Frankreich zu einem weißen Dörfchen, vor dessen Mauern leuchtende Orangenbäume standen. Auf ihren Bildern hatte er das Land all seiner Träume gefunden.

»Ich – ich – ich – –« Das war alles, was er sagen konnte, aber es bebte Bewunderung darin.

»Ich danke Ihnen … Ja, wir werden spielen. Gute Nacht. Auf Morgen!«


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