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Zweites Kapitel.

Der Doctor verweilte noch nicht lange in Paris, als er seine weltumfassende Thätigkeit auch auf diesem neuen Felde zu bewähren vermochte.

Die Amnestie des Jahres achtzehnhundert vierzig war in Preußen keine vollständige gewesen. Es weilten noch manche von den alten Verbannten in Paris und neue politische Flüchtlinge und Märtyrer waren dazu gekommen, welche die Hoffnungen, die sie für ihr Vaterland gehegt und zu verwirklichen an der Zeit geglaubt hatten, mit dem Exil bezahlen mußten. Verbannte aus allen Ländern, in denen der Freiheits-Erhebung des Jahres dreißig eine um so beengendere Beschränkung derselben gefolgt war, fanden sich in Paris zusammen, und die gewaltsame Zerstreuung der Freiheits-Kämpfer hatte nur dazu beigetragen, sie auf einem Punkte, wie in einem Focus zu versammeln, von dem aus das Licht ihrer Ideen und ihres Glaubens um so heller in die ferne Heimath der Einzelnen zurückstrahlen mußte.

Die meisten Flüchtlinge waren von dem Gedanken beseelt, daß es einer Propaganda gelingen könne, die Zustände im Vaterlande nicht nur umzustürzen, sondern auch aus der Ferne vorbereitend für die Organisation nach dem Umsturze zu wirken; der Doctor aber theilte diese Hoffnung nicht. Hatte er in der Heimath die Geister anzuregen, die Zustände vorwärts zu treiben versucht, hatte man ihn dort für einen Agitator gehalten, so mußte man ihn hier den Zauderer nennen, weil seine ganze Wirksamkeit darauf gerichtet war, die Heimathlosen aller Nationen vor falschen Hoffnungen, vor Unbesonnenheiten zu warnen, zur Mäßigung und zur Geduld zu mahnen.

»Nicht von außen her,« sagte er oftmals, »kommen dem Baume seine neuen Blätter, kommen ihm seine Früchte. Er muß sie aus dem eigenen Innern, aus der eigenen Kraft erzeugen, aber die Nahrung, welche ihn dazu erstarkt, die kann ihm zugeführt werden von außen her. Nicht damit dienen wir der Freiheit, daß wir Verschwörungen organisiren und Aufstände veranlassen. Es sind das zerstörende Meteore, die wirkungslos verschwinden, wenn ihr ephemerer Glanz und ihre eben so flüchtige Kraft vorüber sind. Dauernd für die Freiheit wirkt allein die Ueberzeugung, welche sich auf Einsicht gründet, dauernd für sie bürgt allein die Tüchtigkeit des Volkes, und das Volk zur Freiheit zu erziehen, dem Volke aus der Fremde die ihm nothwendige Nahrung zuzuführen, das ist es, was uns obliegt.«

Nach diesen Grundsätzen regelte sich seine Thätigkeit. Während er in Zeitschriften und eigenen Werken die Idee der freien Entwicklung auf allen Gebieten des Lebens vertrat, beschäftigte er sich eifrig damit, diejenigen Institutionen durch Anschauung kennen zu lernen, die aus dem Geiste des Socialismus und der Association hervorgegangen waren. Er machte sich zum Lehrer und Berather der jungen deutschen Handwerker, welche auf ihrer Wanderschaft oder für längere Arbeitszeit sich in Paris aufhielten. In jedem Arbeiter, der dann in die Heimath zurückkehrte, sah er einen mehr oder minder bewußten Apostel von der alten Lehre der Gegenseitigkeit und Brüderlichkeit, die, älter als das Christenthum, in der freien brüderlichen Association nur einen neuen Ausdruck für ihre alte, unumstößliche Wahrheit gefunden hat.

Die Gleichheit ihrer jetzigen Bestrebungen erhöhte den Genuß des Beisammenseins für den Doctor und Cornelie. Er hatte sich in demselben Hause eingerichtet, das Cornelie und Regina bewohnten, und in der tiefen Befriedigung ihrer Seele glitten die Tage an den Liebenden dahin, ohne daß sie sich fragten, wie die Zukunft sich für sie gestalten werde, welche Pläne sie für dieselbe hegten. Sie waren bei einander, sie hatten Arbeit, die ihnen angemessen war, gleichgesinnte, anerkennende Freunde, sie hatten Frieden mit ihrer Umgebung, und den Frieden der Liebe in sich selbst. Das aber ist jener Zustand der Seligkeit, die keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt, und der nur ein Wunsch übrig gelassen ist, der Wunsch nach unendlicher Dauer.

So war der Herbst ihnen hingegangen, der Winter angebrochen und der Tag erschienen, an dem Regina zum ersten Male in der Rolle der Donna Anna die Bühne betreten sollte. Vom frühen Morgen an hatte Cornelie in den Zügen der Freundin einen Ausdruck stiller Feierlichkeit bemerkt, der ihr sonst nicht eigen war. Der Doctor und Larssen waren gekommen, sich nach ihrem Befinden, nach ihrer Stimmung zu erkundigen, und als die vier befreundeten Personen sich zum Mittagsmahle niedergelassen hatten, sagte Regina: »Könnte ich Euch nur die ahnungsvolle, bange Freude beschreiben, die in mir zittert! Den ganzen Tag suche ich nach einem Bilde dafür und weiß für dieses große Gefühl doch kein anderes zu finden, als die beglückende Sehnsucht, mit der ich als Kind dem Weihnachtsabende entgegenharrte. Seit dem frühen Morgen ist's mir zu Muthe, als hörte ich wieder die alten Kirchthurmglocken das Fest einläuten, als zögen die Musikanten wieder durch die nächtlich stillen Straßen unserer Vaterstadt, als tönten in unser armes kleines Stübchen aus der Dunkelheit wieder die Klänge des frommen Liedes herein, das die Geburt des göttlichen Menschenkindes feiert. Soll doch auch mir heute ein Stern aufgehen, nach dem ich lange und gläubig schaute, soll mir doch in der Ausübung meiner Kunst der befreiende Erlöser erscheinen.«

Sie war sehr gerührt, die Freunde verstanden und theilten ihr Empfinden. Larssen indessen, der eine solche Bewegung nicht gern in sich aufkommen ließ, und welcher nebenher auch fürchten mochte, daß die Rührung nachtheilig auf Reginens Stimmung wirken und die Energie lähmen könne, deren sie bedurfte, meinte: »Nicht Ihnen soll ein Stern aufgehen, Regina! sondern Sie sollen als Stern aufgehen an dem Kunsthimmel, und Sie werden es als ein Gestirn vom ersten Range. Hätten Sie gestern in der Probe das Entzücken des Orchesters, des Chors, die Ausrufe des Directors gehört, wie ich, Sie würden Nichts von wehmüthiger Empfindung fühlen, sondern da sitzen in der Glorie des Triumphes, die schon ihre vergoldenden Strahlen auf Ihr Haupt hernieder senkt. Sie werden die Menschen rasend machen, Regina! rasend vor Enthusiasmus, das sag' ich Ihnen!«

»Sein Sie unbesorgt, mein Freund! ich bin nicht muthlos!« beruhigte sie ihn, da sie seine Absicht wohl erkannte.

»Muthlos? wer sagt denn, daß Sie muthlos sind? Nur gerührt sollen Sie nicht sein, nur jetzt nicht, nur heute nicht! Es ist mir auch bänglich genug zu Sinne, denn Ihr Succeß wird mich meine Ruhe kosten.«

»Ihre Ruhe?« fragte Cornelie.

»Meinen Sie, daß es Nichts ist, der Freund einer Regina Tosta zu sein? – Man wird sich an mich drängen, die Journale werden Reginen's Biographie, die Kunsthändler ihr Portrait, die schöne Welt ihre Bekanntschaft, alle angehenden Talente ihre Protection verlangen! Sie werden sie verlangen und von mir, von mir allein werden sie sie fordern. Ich höre schon das Klingeln an meiner Thüre, ich werde keine Ruhe haben bei der Arbeit. Ich sehe all' die Füße meinen saubern Teppich betreten, ich fühle den Neid, die Mißgunst der Abgewiesenen – denn Sie müssen die Menschen fern von sich halten, Regina. Ich höre, sehe, fühle das Alles schon im Voraus, wie Heinrich der Vierte den Dolch des Ravaillac – und wie er kann ich dem Verhängniß, der Nemesis nicht entrinnen. – – Ihr Ruhm wird mich meinen Frieden kosten!« rief er nochmals aus, und sank mit komischer Verzweiflung in den Stuhl zurück.

Hatte er sich Anfangs in dem Scherze gehen lassen, um Regina zu zerstreuen, so hatte er sich bald in die Idee hineingeschwatzt, daß seine Behaglichkeit und Ruhe durch ihre Erfolge gefährdet werden würden, und daß seine innere Aufregung ihm schon heute die gewohnte Eßlust geraubt hatte, war nach seiner Ansicht das erste und nicht das kleinste der ihm auferlegten Leiden.

Während er Regina zur Ruhe ermahnte, zu den Speisen und zum Weine nöthigte, damit sie frisch und kräftig sei, sah er von fünf zu fünf Minuten nach der Uhr, hörte er mit gespannter Aufmerksamkeit auf jedes Geräusch der Straße, den Wagen zu erspähen, der sie zum Theater fahren sollte. Er war aufgeregter als sie selbst. Es litt ihn nicht auf seinem gewohnten Platze am Kamine, als man den Kaffee trank. Er fragte nach dem Mantel, nach der Capuze der Freundin, er holte einen Shawl herbei, den sie zur Vorsicht noch mit sich nehmen sollte, um sich bei der Rückkehr nicht zu erkälten, und dazwischen drückte er die Brille an die Augen, Regina aus der Ferne zu betrachten, oder er trat unerwartet an sie heran, gab ihr die Hand und rief: »Sie werden Furore machen, Regina! Furore! sage ich Ihnen!«

Endlich hörte man Räder rollen und einen Wagen vor der Thüre halten.

»Das ist er!« rief Larssen. Regina wechselte die Farbe.

»So laßt uns aufbrechen!« sagte sie mit sanftem Tone. Larssen band ihr selbst den Mantel um. Die Hände zitterten ihm, als er es that. Dann reichte die Sängerin ihm und dem Doctor die Hand zum Abschiede, und verließ mit Cornelien das Gemach, die ihr versprochen hatte, sie an diesem ersten Abende zum Theater zu begleiten. Larssen führte sie die Treppe hinunter. Erst als der Wagen fortgefahren und mit den Augen nicht mehr zu erreichen war, kehrte er in das Zimmer zurück. Aber auch jetzt noch fand er keine Ruhe. Mit schnellen Schritten ging er mehrmals in der Stube auf und nieder, dann blieb er vor dem Doctor stehen.

»Kannst Du Dir es denken,« sagte er, »daß ich mich verantwortlich fühle für sie? – Verantwortlich, als wäre sie mein Kind? mein eigen Fleisch und Blut? – Der und Jener hat sich eingebildet, als ich noch zu Hause in dem alten Neste saß, in dem ein Mensch, wie ich, nur ein Pedant oder ein Taugenichts werden konnte, Der und Jener hat sich eingebildet, ich hätte ihn verführt, und nie habe ich Reue, nie habe ich eine Verantwortlichkeit dafür empfunden. Wer zwang die Bursche mir nachzufolgen? Ich lebte mir selber, nicht zu ihrem Beispiele! – Aber für dies Mädchen, für dieses seltene Mädchen, da fühle ich mich verantwortlich. – Ich, ich habe sie mit Erich bekannt gemacht, ich bin die Veranlassung ihres Unglücks geworden, das nur sie so sanft und glorreich überstehen konnte. Aber ich brachte sie auch in das Conservatoir! Auch ihr Glück wird mein Werk sein! Und,« sagte er nach einer Weile, »wenn es möglich wäre, wenn die Hoffnungen fehlschlügen, die ich für sie hege, wenn sie nicht das Wunder wäre, das ich mit Zuversicht in ihr erblicke, wenn ihr nicht die glänzende Zukunft beschieden wäre, die ich für sie erwarte, so soll ihr doch Nichts fehlen. Ich, ich will für sie arbeiten. Ich arbeite gern! und was ich besitze und erwerbe, das soll das Ihre sein.«

Er wendete sich ab, sich die Augen zu trocknen, auch der Doctor war ergriffen. Larssen's ganzes Wesen war verändert in diesem Augenblicke. Die schöne, selbstlose Liebe verklärte es. Er gönnte jedoch seiner Bewegung nur kurze Frist. Es drängte ihn Reginen zu folgen, und eben brachen die beiden Freunde auf, nach dem Theater zu gehen, als die Thüre sich öffnete und Georg hereintrat. In demselben Augenblicke lag er an des Doctors Brust, der den schönen kräftigen Mann mit Herzlichkeit umarmte.

»Ich konnte nicht in London, Dir nicht so nahe sein,« sagte Georg, »ohne Dich zu sehen.«

»Seit wann bist Du zurück?« fragte der Doctor. –

»Heute vor acht Tagen bin ich in Southampton gelandet. In London fand ich Eure Briefe vor, und heute bin ich eben hier. Wo aber ist Cornelie?«

Der Doctor gab ihm Auskunft, Larssen jedoch ließ ihn nicht enden. »Das Alles hat Zeit!« rief er, »das Alles kannst Du später erfahren, nur das Eine vernimm jetzt: Du kommst zur guten Stunde! Du sollst den Aufgang eines neuen Gestirnes erleben, Du sollst die Tosta debütiren hören! Du sollst erleben, was Du weder in Indien noch in Amerika erleben konntest, was man auf der Bühne nicht erlebt hat, seit die Malibran in Eurem kalten Manchester hinsterben mußte! Also komm!«

Mit freundlichem Drängen trieb er die Freunde zum Aufbruch, und bald saßen der Doctor und Georg in einer Prosceniums-Loge neben einander, während Larssen sich zu Reginen begeben hatte, um mit Cornelien ihr bis zu ihrem Auftreten zur Seite zu bleiben.

Georg war mehrere Jahre von Europa entfernt gewesen. Nur einmal hatten er und Cornelie sich wiedergesehen, seit sie im Vaterhause von einander geschieden waren. Als die Schwester nach Paris gekommen, hatte Georg sich in Amerika befunden, dann war sie nach seiner Rückkunft zu ihm gegangen, einige Monate in London mit ihm zuzubringen, und bald darauf hatte er sich nach Ostindien eingeschifft. Dort hatte er bis jetzt gelebt.

Der Doctor fand ihn sehr verändert. Die südliche Sonne hatte seine ohnehin dunkle Farbe noch gebräunt. Seine militairische Haltung hatte einer großen Ungezwungenheit der Bewegungen Platz gemacht. Die bürgerliche Tracht, der kurze, volle Bart, den er gegen die englische Sitte um Kinn und Wangen stehen ließ, machten ihn für den ersten Eindruck vollkommen fremd erscheinen. Indeß schon die ersten Worte zeigten, daß die Herzen der Freunde sich nicht fremd geworden waren. Nur die ernste Reife, nur die größere Ruhe, welche sich in Georg jetzt unverkennbar kundgaben, erinnerten den Doctor an die Jahre, welche der jüngere Freund von ihm getrennt verlebt hatte, an die mannigfachen Erfahrungen, die er gemacht. Aber der Erörterung war für jetzt nur wenig Raum gegönnt.

Der Musikdirector nahm seinen Platz ein, die ersten Klänge der Ouvertüre erschallten und mit dem Anschwellen und Brausen der Toneswogen stiegen die Theilnahme und die Spannung in den Freunden. Georg hatte durch die Schwester und durch Larssen viel von Regina gehört, aber er kannte sie noch nicht, denn Cornelie war ohne ihre Begleitung in England gewesen. Selbst die näheren Umstände ihres Schicksals waren ihm verborgen. Nur dem Doctor hatten Cornelie und Larssen sie vertraut, und als man in Erwartung Georg's berathen hatte, ob man ihn in das Geheimniß ziehen müsse, hatte Cornelie sich dagegen ausgesprochen, um der Freundin die Begegnung mit dem Bruder Erich's zu erleichtern, vor der Regina stets erbangt hatte.

Gespannt auf ihren Anblick gingen für Georg die Ouvertüre und die erste Scene in Erwartung vorüber. Endlich hatte Leporello sich zurückgezogen, und ein Ausruf der Bewunderung ertönte von allen Ecken, als Donna Anna, den fliehenden Don Juan verfolgend, auf der Scene erschien.

Schon die ersten Worte, jenes gewaltige: »Ja! ich wage selbst mein Leben, Räuber, du entgehst mir nicht!« elektrisirten die Hörer. Die Kraft und Reinheit der Stimme, der Schmerz, die Angst, die Liebe und der Haß, welche aus den Klängen sprachen, hatten etwas Ueberwältigendes, und von Minute zu Minute wuchs der Beifall des Publicums Regina über sich selbst hinweg zu tragen.

Jede Scheu, jedes Bedenken und Wollen waren verschwunden für sie. Was hatten die Menschen um sie her mit dem Entsetzen, mit der Schmach, mit dem Zorne zu thun, die in Donna Anna's Busen brannten? Was mit der aufzuckenden heißen Liebe, die sie zu dem Verräther zog? Was mit jener schauervollen Seligkeit der unfreiwilligen Hingebung, die sie zu seiner Mitschuldigen gemacht? – Regina wußte nicht mehr, daß sie eine erlernte, vielfach studirte Rolle spielte. Sie selbst erlebte das Alles, Alles war neu, war überwältigend für sie. Sie war Donna Anna! Sie war es ja selbst, das entehrte, von schneller Liebesgluth erfaßte Weib. Ihre ganze Vergangenheit lebte in ihr auf, stellte sich dar in einer kunstgeschaffenen Gestalt. Sie wollte den Verräther fesseln, mit den Worten des Zornes, mit den Thränen der Liebe. Sie wollte den Fliehenden nicht lassen, um ihn sich, sich selber, nicht der strafenden Gerechtigkeit zu erhalten. – Sie war ein Wunder, ein schönes, nie dagewesenes Wunder für Alle, welche sie sahen und hörten.

Als dann der Comthur erschien, der Zweikampf begann, der Greis seinen letzten Seufzer ausgehaucht hatte, Don Juan entflohen war, da richtete Donna Anna sich aus ihrer Erstarrung empor. Ihr Blick sah verständnißlos und doch vom Grauen furchtbarer Ahnungen erfüllt, in die Leere, die sie umgab. Wie nach einem Weltuntergange stand sie da. Alles war für sie verloren, und mit einem Aufschrei der Verzweiflung, die den Verlust zu begreifen anfängt, stieß sie die herzzerreißende Klage hervor: »Welch ein schreckliches Bild erscheint vor meinen Augen!«

Kein Laut regte sich in dem Auditorium, kein Auge blieb trocken. Von Minute zu Minute steigerte sich die Kraft ihres Spieles, bis es in dem Verlangen des Racheschwurs, in dem Donna Anna ihre Liebe zu ertödten sucht, den Höhenpunkt erreichte, und das Publikum in fanatische Beifallsbezeugungen ausbrach.

Matt und bleich, als hätte sie die Schrecken eben selbst erlebt, trat sie in die Coulissen zurück. Sie hörte nicht die Glückwünsche des Directors, nicht der Mitspielenden Lob, die sich zu ihr drängten. Sie warf sich in Corneliens Arme, und ließ sich fast willenlos von dieser in ihre Garderobe führen. Da stand Larssen, die Augen voller Thränen, die Hände gefaltet und blickte sie sprachlos an. Regina sah ihn nicht. Hingerissen von der Gewalt der Eindrücke, welche sie bestürmten, warf sie sich Cornelien zu Füßen.

»Dir! Dir allein danke ich das! Dir allein! die Du mich aufgenommen hast an Dein Herz, wo Jede an Deiner Stelle mich von sich gestoßen hätte. Dir danke ich, daß meine Seele sich reingebadet in dem Aether der Kunst; Dir danke ich Alles, Alles, was ich bin!« rief sie aus. Sie weinte im Ueberwallen ihrer leidenschaftlichen Freude. Cornelie hob sie auf, drückte sie an ihr Herz und sagte: »Du lohnst mir überreich, was so natürlich war! Vergiß den Treuen nicht, vergiß nicht unsern Rath und unsere Stütze!«

Sie hatte Larssen die Hand gereicht und ihn herbeigezogen; Regina umarmte ihn, er wagte nicht sie anzurühren.

»Wie habe ich das Glück verdient!« sprach er endlich, »ich, grade ich!« Da traten der Doctor und Georg in das Gemach, und seine Erschütterung mit spottendem Humor bemeisternd, rief Larssen gegen sie gewendet: »Steh ich nicht da, wie Saul, der Sohn Kiß, der ausgesendet ward, seines Vaters Eselin zu suchen und der ein Königreich fand! Ehrbarere Verhältnisse sollte ich mir erwerben, meinte der Baron, und ich gebe dem Vaterlande seine beste Schriftstellerin, ich gebe der Welt eine Sängerin, wie sie keine andere je gehabt hat!«

Indeß Niemand hörte ihn. Cornelie war hingenommen von dem Wiedersehen des Bruders, und das Zeichen erschallte, das Regina auf die Bühne rief.

Ihr Triumph war ein vollständiger. Nach jedem Acte wurde sie gerufen, der Beifall beim Schlusse der Vorstellung wollte kein Ende nehmen. Man drängte sich an den Wagen, sie bei'm Einsteigen noch einmal zu sehen, und betäubt und freudebebend langte sie in der stillen Wohnung ihrer Freundin an.

Mit diesem ersten Auftreten auf der Bühne war Reginens Geschick entschieden. Schon am folgenden Morgen unterzeichnete sie einen Contract für die große Oper. Eine glänzende Unabhängigkeit, ein Leben voll Arbeit, Erfahrung und Genuß breiteten sich plötzlich vor ihr aus. Getheilt zwischen ihren Studien und den Ansprüchen, welche die große Welt an sie zu machen begann, bedurfte sie ihrer ganzen Sammlung, sich nicht durch die Masse der Eindrücke verwirren zu lassen, welche sie bestürmten, und die ruhigen Abendstunden mit Cornelien und den Freunden waren ihr Erholung, wenn sie nicht auf der Bühne zu erscheinen hatte.

Auch Georg, der nach jahrelanger Arbeit sich Ruhe gönnen wollte, war in Paris geblieben, und hatte sich bereits in den Kreis der Schwester eingelebt, als der Sylvesterabend sie nach heimischer Sitte vereinte. Wie es in solchen Stunden natürlich ist, in denen man einen bestimmten Lebensabschnitt beendet hat, konnte es an Rückblicken in die Vergangenheit nicht fehlen.

»Mir ist der Unterschied zwischen der früheren und. der jetzigen Zeit,« sagte der Doctor, »nie schlagender entgegengetreten, als an dem Abende vor Reginens erstem Debüt. Nie habe ich lebhafter an eine Unterredung gedacht, die ich einmal vor langen Jahren mit Dir, Georg, mit Deinem Bruder und mit Friedrich hatte.«

»Welche Unterredung meinst Du?« fragte der Angeredete.

»Erinnerst Du Dich des Abendes, da die ersten Nachrichten von der Julirevolution nach unserer Heimath kamen und Erich und Friedrich so warm die Rechte des Bestehenden vertheidigten?«

»Vollkommen deutlich!« antwortete Georg. »An jenem Abende fand mein Zerwürfniß mit dem grade anwesenden Hauptmann statt, und die Störung meiner Dienstverhältnisse begann. Du predigtest uns damals die Lehre von der Wandlung des Menschen!«

»Und hat sie sich nicht bewährt, mein Freund? hat sie sich nicht an Jedem von uns unwiderleglich bewährt?« fragte der Doctor. »Als ich die Tochter Deines Vaters, als ich Cornelie neulich freudestrahlend in einem Ankleidezimmer der großen Oper vor mir sah, wie sie den Erfolg ihrer Freundin, eines armen Bürgermädchens, als ihr eignes Glück genoß; als ich Regina emporgehoben sah von dem Zuruf der Menge, die den Namen der bis dahin Namenlosen jetzt durch die Welt trägt; als ich Dich mit Zufriedenheit und Behagen Cornelien von Deinen merkantilischen Erfolgen in fernen Zonen sprechen hörte, da habe ich jener Unterredung gedacht, und unseren beiden damaligen Genossen, Friedrich und Erich, Wandlungen gegönnt, wie wir sie erlebt, wie sie uns unserer Zufriedenheit entgegen geführt haben!«

Georg stimmte ihm bei, Larssen aber rief: »Komische Menschen, die Ihr seid! als ob Ihr allein Wandlungen erlitten hättet? Als ob ich nicht viel größere durchgemacht habe? Ist es nicht mehr als eine bloße Wandlung, ist's nicht ein Wunder, aus dem alten Vater Larssen ein rangirter Mann zu werden? Ist's nicht ein Wunder, daß ich Wein trinke aus solchen Finkennäpfchen, wie Cornelie sie uns bietet, statt mich in Humpen jenes diabolisch starken Punsches zu versenken, den ich nicht wieder zu genießen meine, wenn Mephisto ihn mir nicht einmal zum kühlenden Willkomm in dem Fegefeuer kredenzt, vor dem mich aber, wie ich zuversichtlich glaube, meine Liebe für unsere lieben Frauen, Cornelie und Regina, bewahren wird. Unseren lieben Frauen also!« wiederholte er, sein Glas zum Toast erhebend. Die Freunde stießen lachend mit ihm an.

Als Corneliens Glas mit dem des Doctors an einander klang, sagte sie: »Auf Ihre Unwandelbarkeit! Denn der Einzige, der unverändert sich gleich geblieben ist, sind Sie!«

»Ich! Cornelie?« fragte er. »Welch schlimmes Zeugniß stellen Sie mir mit der Behauptung aus. Glücklicher Weise ist sie aber nicht wahr.«

»Und sind Sie nicht derselbe geblieben für und für? Derselbe treue, werkthätige Freund? Der vorsichtig schonende Leiter unserer Jugend, der uns immer wieder das Sternbild zeigte, dem wir folgen sollten? Hat Ihr Eifer für Menschenwohl, für Freiheit sich vermindert? Worin wollen Sie sich geändert haben? Es würde mir auch schmerzlich sein, wäre es der Fall.«

»War ich, waren wir unser und unserer Liebe denn von Jugend an so sicher?« fragte er, während sein Auge zu ihr hinüberschaute und ihr Antlitz in freudigem Widerschein erglühen machte.

Die Anwesenden waren überrascht. Alle kannten die tiefe, ruhige Neigung, welche Cornelie und den Doctor verband, aber niemals war das Wort derselben vor den Anderen ausgesprochen worden, und Alle begrüßten es mit Freuden.

»Es ist mir eine Genugthuung,« sagte Georg, »daß ich es Euch nun sagen kann, wie ich mich Eurer Liebe freue, wie es mir wohlthut, Cornelie, die ich in solch kränkelndem Seelenzustande verließ, jetzt gesund und glücklich wiederzufinden. Laßt mich denn auch, da wir einmal nach langen Jahren zu so guter Stunde wieder beisammen sind, eine Frage an Euch thun, die ebenfalls auf eine Wandlung hinaus läuft.« Er hielt inne, dann sprach er gegen den Doctor und die Schwester gewendet: »Ihr liebt Euch, Ihr ergänzt Euch und seid glücklich mit einander; warum seid Ihr nicht längst schon Mann und Weib geworden?«

»Er fragt, als ob er die Wilden vor sich hätte, unter denen er gelebt hat!« fuhr Larssen auf.

»Nein!« sagte der Doctor, »er fragt, wie ein Mensch gesunde Menschen fragen mußte, und er hat Recht, wir verlangen nach dieser letzten Vereinigung, ohne welche der Liebe ihre Vollendung fehlt!«

»Aber was hält Euch ab, sie zu erreichen?« rief Georg.

»Ich hatte immer noch gehofft, des Vaters Zustimmung, die wir erbeten haben, zu erlangen!« entgegnete Cornelie bewegt.

»Und er verweigert sie?«

»Sind die Zustände Deiner Heimath Dir so fremd geworden, kennst Du Deinen Vater so wenig,« meinte der Doctor, »daß Du glaubst, er sähe die Civilehe, die allein für Cornelie und mich, für die Christin und den Juden möglich ist, als eine legitime Verbindung an? Er hat uns beschworen, ihm diese letzte Kränkung zu ersparen, er hat der Tochter mit Enterbung, mit seinem Fluch gedroht – –«

»Und das Alles erfahre ich erst jetzt? Das Alles hast Du geduldet ohne mich?« rief Regina.

»Sollte ich Dir die Tage Deiner ernsten Arbeit, die Stunden Deines ersten Triumphes mit diesen Sorgen trüben? Trug Er sie nicht mit mir?« antwortete Cornelie und reichte dem Doctor die Hand, der sie herzlich drückte.

»Aber Erich, hat Erich nicht für Dich gesprochen?« fragte Georg die Schwester.

»Erich?« wiederholte sie, stand auf, suchte aus ihrem Schreibtisch einen Brief hervor und reichte ihn dem Bruder hin. Nach einer Einleitung, in welcher Erich die Stimmung und den Kummer des Vaters schilderte, hieß es darin:

»Du weißt, geliebte Cornelie! wie fern mir alle Vorurtheile sind, wie hoch ich den Doctor halte, wie stolz ich darauf sein würde, ihn einen der Unseren zu nennen, und wie erfreut, Dich zufrieden zu sehen. Aber so wenig ich im Stande gewesen wäre, mein Glück auf Kosten unseres Vaters zu bauen, so wenig darf ich Dir rathen es zu thun. – Ohne eine ascetische Weltanschauung zu hegen, sehe ich Selbstbefriedigung nicht als das letzte Ziel des Menschen an. Ich habe, glaube mir das, es in schwerem Kampfe an mir selbst erfahren, daß in der Entsagung, in Selbstüberwindung eine erhebende Kraft liegt. Du mußt entsagen, Du mußt es, Cornelie! Die Familie, des Vaters Wille haben Ansprüche an uns, die wir neben die eignen Wünsche stellen müssen, denn Jeder bleibt der Schuldner der Familie, der er angehört. Du darfst dem Vater, dem Deine früheren religiösen Verbindungen, dem Deine Entfernung aus dem Hause und Deine literarische Laufbahn ohnehin kränkend genug gewesen sind, nicht das Leid zufügen, eine Ehe zu schließen, welcher in seinen Augen und in den Augen von Millionen unserer Zeitgenossen die rechte Heiligung fehlt.

Ich selbst, obschon alle Kirchlichkeit im beengenden Sinne mir fremd ist, ich selbst erkenne die Berechtigung der bürgerlichen Ehe natürlich unbedenklich an, aber ich kann Dir nicht verbergen, daß für mein Empfinden ihr die Schönheit, die Würdigkeit fehlen, welche die kirchliche Trauung der Ehe verleiht. Die Ehe müßte eigentlich, da sie nach ihrem Wesen ein Mysterium ist, auch unter uns, wie bei den Katholiken, ein Sacrament und unauflöslich sein. Nicht nur mein Gefühl, auch meine politische Ueberzeugung spricht für die strengste Aufrechterhaltung der Ehe im staatlichen und kirchlichen Sinne. So sehr es mich schmerzt. Dir damit wehe zu thun, kann ich Dir nicht verbergen, daß eine Civilverbindung, welche die Ehe aus der Sphäre ihrer Heiligkeit in den Bereich eines fast kündbaren bürgerlichen Contractes herabzieht, nach meinen und nach Sidoniens Ansichten ein Verhältniß ist, welches Dich eingehen zu sehen, mich um Deinetwillen betrüben würde!«

Georg las nicht weiter. Ein Ausdruck von Mißbilligung und Zorn flog über seine Züge, während er verächtlich die Achseln zuckte.

»Das ist der ganze Erich,« rief Larssen, »so war er von seiner Jugend an! Immer hat er seine Verstandesüberzeugung verleugnet aus liebender Nachgiebigkeit. Er wird hart und ungerecht um dieser schwachen Güte willen, und doch leidet er selbst am meisten, wenn er Andere leiden macht.« Regina erbleichte bei Larssen's Worten. Georg bemerkte es und sah bald sie, bald die Andern fragend an, denn ihre Bewegung konnte Niemand entgehen.

»Kennen Sie meinen Bruder?« fragte er, und ließ den forschenden Blick auf ihr ruhen, den die Nothwendigkeit der Menschenbeobachtung dem Vielgereisten angeeignet hatte.

»Ja, ich kenne ihn!« antwortete sie verwirrt.

»Und Sie finden das Urtheil wohl zu hart?«

»Fragen Sie mich nicht! nur jetzt nicht! Sie sollen Alles wissen! Alles!« bat sie bewegt. Plötzlich aber stürzten ihr Thränen über die Wangen herab, und mit dem Ausruf: »Gott, warum habt Ihr ihn betrogen?« stand sie schnell vom Tische auf und verließ das Zimmer. Cornelie eilte ihr nach.

Die menschliche Vorsicht und Berechnung zeigten sich in ihrer ganzen Unzulänglichkeit. Alle hatten es gleichmäßig zu bereuen, daß man nicht offen und einfach zu Werk gegangen war. Schmerzen, die man sich ersparen will, brechen meist doppelt schwer herein.

Georg war betroffen. »Was war das?« fragte er.

»Ein Unglück! Ein himmelschreiender Frevel!« rief Larssen emphatisch.

»Regine war Erich's Geliebte. Als er sie verlassen hatte, fand Cornelie sie und nahm sich ihrer an. Es war Corneliens Wille, daß man's Dir verbergen sollte!« sprach der Doctor ruhig.

Georg war blaß geworden und preßte die Lippen wie im Schmerz zusammen, aber er faßte sich schnell. »Thörichte Vorsicht!« – stieß er heftig heraus. »Das arme Weib so zu quälen! Und weshalb! Bin ich denn Erich?«

Er ging in das Nebenzimmer, in das sich die Frauen begeben hatten. Als er zurückkehrte, folgten sie ihm nach. Regine sah bleich und thränenmüde aus, setzte sich aber mit den Andern wieder zur Tafel nieder. Larssen verwendete kein Auge von ihr. Georg war der Erste, der die Unterhaltung wieder zu dem Punkte zurückwendete, an dem sie unterbrochen worden war.

»Da das Thun und Handeln doch in allen Fällen die Hauptsache ist,« sagte er zum Doctor, »so erklärt mir, was denkt Ihr zu thun, da Ihr die Einwilligung des Vaters zu Eurer Heirath nicht erhalten werdet?«

»Was jeder Vernünftige in solcher Lage thun muß!« entgegnete der Doctor. »Ihr hättet es jeden Falls noch heute erfahren«

»Was?« fragte Georg.

»Daß ich Dich und Larssen bitten wollte, übermorgen mit uns auf der Mairie den ›kündbaren Contract‹ zu unterzeichnen, wie Erich es nennt. Er wird es wohl noch einsehen lernen, daß eine überlegte Verbindung selbst gewisser, lebenssicherer Menschen zwar kein Sacrament und kein Mysterium, dafür aber eine schöne sichere Anwartschaft auf Frieden und auf Freude ist!«

»Du fester, treuer Bürge meines Glücks!« sagte Cornelie, indem sie sich an den Geliebten schmiegte, der sie umarmte.

»Da schlägt es zwölf!« rief Georg. »Laßt uns denn das Neujahr begrüßen, als das Jahr des beginnenden Heils für Cornelie und für Dich, und möge es uns Allen gewähren, was wir zur Befriedigung bedürfen! Möge uns Allen diese Stunde eine gesegnete sein!«


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