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X.

Tage und Wochen gingen hin, ohne daß es mit Margarethe recht besser werden wollte. Die Mutter war in der Stadt gewesen und wieder fortgegangen, auch der Vater war gekommen, und da sie nichts Unrechtes wahrgenommen hatten, so hatten sie die Tochter dagelassen, weil Margarethe, so schwach sie war, sich nicht bewegen ließ, hinauszuziehen nach dem Birkenhof und dort ihre Genesung abzuwarten.

Gern ließen die Aeltern das Mädchen nicht in der Stadt; denn es war sehr unruhig in der Gegend, seit die Frankfurter Nationalversammlung das Volk aufgeboten hatte, zu der deutschen Verfassung zu stehen gegen die Fürsten, die sich mehr und mehr davon lossagen wollten. Es wurden aus der ganzen Umgegend Deputationen nach Berlin geschickt. Die Land [146]wehr, die nun eingekleidet werden sollte, wollte zum Theil nicht eintreten und weigerte sich, die Uniform anzunehmen. In den Klubs war eine große Aufregung; in den Fabriken arbeitete man zwar, aber Jeder hatte das Gefühl, als müsse er nun bald die Arbeit niederlegen, als werde irgend etwas Besonderes geschehen, da das Undenkliche, Unerwartete geschehen sei, daß der König von Preußen die Kaiserkrone von Deutschland abgelehnt hatte Am 3. April 1849. Die Gründe: Der Ausschluss Österreichs hätte bei der von der Frankfurter Nationalversammlung verabschiedeten ›kleindeutschen Lösung‹ die Vision Friedrich Wilhelms IV. von der Erneuerung eines Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zunichte gemacht. Eine Annahme der Kaiserwürde hätte zudem eine offene außenpolitische Brüskierung Österreichs bedeutet und damit wahrscheinlich Krieg heraufbeschworen. Noch wichtiger war, dass die Kaiserwürde, von der Idee der Volkssouveränität ausgehend, nicht den Anschauungen des monarchischen Legitimationsprinzips und des Gottesgnadentums entsprach., die das Volk ihm bot, um sich im Innern friedlich, nach Außen mächtig zu entwickeln.

In Dresden, wo sich das Volk erhoben hatte, war der furchtbare Kampf bereits blutig beendet. In Düsseldorf, in Essen und Remscheid hatte es Unruhen gegeben; es lag wie ein Gewitter in der Luft, daß es auch in Iserlohn nicht ruhig bleiben konnte. Dem Hofbauer, so ungern er im Frühling, wo noch Alles zu bestellen war, den Hof verließ, wurde angst um die Frauen, und eines Morgens machte er sich wieder auf den Weg; um Margarethe im Guten oder mit Gewalt aus der Stadt zu bringen, da er doch zwei wehrlose Frauen nicht allein lassen durfte, wo es jeden Augenblick losbrechen konnte.

Hatte er früher schon immer gedacht, daß der Kö [147]nig nicht wohlgethan habe, daß er schlecht berathen sei, so fühlte er jetzt den größten Zorn, wenn er sah, wie unnöthig die Aufregung herbeigeführt worden, wie man des Volkes Zufriedenheit und Freude absichtlich in Mißtrauen verkehrt habe und in Haß. Aber wie Kunz Schmidt auf den König zürnte und auf seine Räthe, ebenso erbittert war man am Hofe und im Ministerium zu Berlin über das Volk.

Der Geheimrath vor allen Andern kannte in seinem Zorne keine Grenzen. Er hatte seinem Sohne geschrieben, daß er auf seinen Gütern schonungslos verfahren, Jedweden aus dem Dienste jagen, Jedweden den Behörden ausliefern solle, der sich für die frankfurter Verfassung erkläre und als ein widerspenstiger Unterthan des Königs beweise. Er erwarte von Anton, so hieß es in dem Briefe, daß er auf den Gütern seine Schuldigkeit thun werde, daß er die deutschen Farben nirgends dulden und auf diese Weise die Ehre und Ruhe des eignen Vaterlandes und des eignen Herdes zu wahren wissen werde.

Um dieselbe Zeit aber zogen bewaffnete Corps von Hagen und aus der ganzen Umgegend nach Iserlohn, wo schon am Tage vorher Unruhen gewesen waren. Die alte Margarethe ging noch blässer als [148] vorher, auf eine Krücke gestützt und von Marie geführt, von ihrem Lehnstuhl an das offene Fenster, um zu sehen, was das Geschrei bedeute, das sich in einzelnen Stößen aus der Ferne hören ließ zwischen den Signalen der Bürgerwehr und dem Trommelwirbel der Soldaten. Es war ein schöner Mainachmittag, der Himmel sah in stillem Frieden auf die Stadt herab; vor dem Hause in dem kleinen Garten blühte der Stachelbeerstrauch, und die Sperlinge flogen auf und nieder, ungestört durch den immer stärker werdenden Lärm.

»Mir ist schrecklich angst Muhme!« sagte Marie, »und ich wollte doch, wir wären bei uns zu Hause. Was soll's denn werden, wenn es auch hier losgeht, und wir können nicht fort? Solche Zeiten sind ja nie gewesen!«

»Es sind ganz andere Zeiten gewesen, Kind, wie die Franzosen im Lande waren, und sie sind vorübergegangen, und uns ist kein Haar gekrümmt worden auf dem Kopfe, weil Gott uns beschützt hat. Was der will, das wird auch jetzt geschehen, und soll uns Unglück treffen, so trifft es uns auf dem Birkenhofe so gut als hier.«

Marie schwieg, aber ihr Herz war nicht ruhig. [149] Sie dachte mit immer steigender Sehnsucht nach Hause, je unruhiger es in den Straßen wurde. Die angstvolle Hast, mit der in den Nachbarshäusern die Leute ihre Köpfe zu Fenstern und Thüren heraussteckten, theilte sich ihr, sie immer stärker aufregend, mit. Nicht nur nach dem Vater verlangte sie, es war ihr, als müsse jetzt auch Anton erscheinen, den sie so lange nicht gesehen hatte, als dürfe der sie nicht hier allein lassen, sondern müsse kommen, sie hinauszuholen nach Griesbach, um sie dann nicht mehr von sich zu geben.

Währenddeß nahm die Bewegung zu. In einzelnen Fabriken fingen die Arbeiter an, die Arbeit liegen zu lassen und zogen in Trupps bald singend, bald schweigend, was Marie noch schauriger erschien, durch die Straßen, man sagte, nach dem Landwehrzeughause hin, das am andern Ende der Straße lag.

Da mit einem Male drängte sich eine starke Männergestalt durch den Haufen der Arbeiter, der gerade vor dem Hause in lärmender Berathung Halt gemacht – es war Mariens Vater. Erhitzt vom eiligen Wege, hatte er den blauen Tuchmantel mit den vielen Kragen abgenommen und über den Arm geworfen, den Wanderstock in der Hand und sah mit festem Blick [150] nach den Fenstern hinüber, als wolle er sich schon von fern überzeugen, was er zu hoffen, was er zu fürchten habe.

Sowie sie ihn erblickte, flog Marie ihm entgegen bis mitten auf die Straße. Der Landmann ist kalt und sparsam im Ausdruck der Zärtlichkeit gegen seine Frau und seine erwachsenen Kinder, aber wie Kunz Mariens ansichtig wurde, wie er sie gesund und heil vor seinen Augen sah, breitete er ihr die Arme entgegen, und Vater und Tochter umfingen sich mit einer Wärme und Zärtlichkeit, wie nur solch ungewöhnliche Angst sie diesen spröden, nicht aufgeschlossenen Naturen entlocken konnte. In demselben Augenblicke schlug jedoch schon das Tosen des Kampfes an ihr Ohr.

Der Vater flüchtete die Tochter ins Haus; denn immer neue Züge von Arbeitern eilten an ihnen vorüber nach dem Landwehrzeughause hin, das man zu stürmen begonnen hatte. Es hieß, daß ein Truppendetachement in die Stadt gedrungen, daß bereits ein unbewaffneter Arbeiter niedergestoßen, und daß der Augenblick gekommen sei, sich auch in Iserlohn zu bewaffnen für die deutsche Verfassung, für die deutsche Einheit.

Kunz hatte, als das Schießen in der Ferne stärker wurde, vorsichtig Thür und Laden geschlossen, nur [151] durch die Einschnitte der letztern drang das Licht in das Zimmer und beleuchtete Margarethe, die ruhig, den Kopf in die Hand gestützt, in ihrem Lehnstuhl saß, während Marie sich auf einen Schemel zu ihren Füßen niedergekauert hatte und der Vater bald im Zimmer auf und nieder, bald nach der Hausthüre ging, um durch den Schieber auf die Straße zu sehen, wenn es stiller würde. Das dauerte ein paar Stunden fort, mit einem Male hörte man ein Krachen und Fallen und dann Jubelgeschrei und Flintenschüsse und bald darauf lautes Singen und Marschiren, als ob ganze Trupps von Menschen vorüberzögen. Man hatte das Zeughaus erstürmt, die Arbeiter hatten sich bewaffnet, das Militair sich aus der Stadt zurückgezogen, und man fing an, in den Straßen Barrikaden zu bauen, um sich gegen neue Angriffe der Truppen zu schützen, wenn sie vielleicht mit Verstärkung wiederkommen sollten.

Diesen Zeitpunkt der Ruhe benützten viele Einwohner, die Stadt zu verlassen, und der Vater hatte Marien befohlen, das Nöthigste zu packen, und war eifrig bemüht, Margarethen zum Fortgehen zu überreden, als man draußen an die Thür klopfen hörte.

Kunz ging hinaus, zu öffnen, Marie folgte ihm sorg [152]lich, und Beide traten mit einem Ausruf sehr verschiedener Ueberraschung zurück, als Anton vor ihnen stand. Ehe der Vater etwas fragen konnte, hatte der junge Mann Marien umarmt und sagte:

»Gottlob, daß ich Dich wiedersehe, Gottlob, daß Ihr da seid, Vater! Die Frauen müssen fort, gleich jetzt, da es noch Zeit ist; ich habe Fuhrwerk hier, der Inspector sollte sie hinausbringen, jetzt thut Ihr es selbst, so bleibe ich um so ruhiger hier!«

Es lag eine so feste Entschiedenheit, ein so sicheres Gefühl der Berechtigung in dem Wesen und den Worten des jungen Mannes, daß Kunz in diesem Augenblicke nicht zu fragen vermochte, woher der Jüngling das Recht nehme, über des Mädchens Gehen und Bleiben zu bestimmen. Anton war erhitzt vom Wege, aber ruhig in seiner Haltung; an dem grauen Calabreser steckte die deutsche Cocarde, über der Blouse hing die Büchse auf seiner Schulter, Pulverhorn und Hirschfänger am Gürtel, er war kampfgerüstet.

»Und wo wollt Ihr hin?« fragte Kunz, nachdem er ihn betrachtet hatte.

»Ich bleibe hier mit meinen Leuten in der Stadt; wir sind gekommen, den Iserlohnern beizustehen.«

[153] »Gegen die Truppen, gegen den König, dem Euer Vater dient?«

»Für die Verfassung und das Recht!« antwortete Anton, und ihn mit Ueberraschung anblickend, sagte der Bauer, indem er ihm die Hand reichte:

»Nun, so schlagt ein! Ich will glauben, daß Wunder geschehen, da Eures Vaters Sohn zum Volke hält!«

Nach dieser flüchtigen Aufwallung schien der Bauer sich aber schnell zu besinnen und der Alte zu werden. »Die Frauen sollen fort,« sagte er, »aber nicht zu Euch. Leiht mir Euer Fuhrwerk, junger Herr, daß ich sie fortbringe bis zu einer sichern Eisenbahnstation, von da ab helfe ich mir weiter.«

Und so sehr Anton sich bereit erklärte zu jeder Hülfe, so bestimmt Margarethe den Wunsch aussprach, nach Griesbach gebracht zu werden, ebenso bestimmt widersetzte sich der Bauer diesem Plane, bis Marie, die wie in einer Art von Betäubung dem ganzen Vorgange zugesehen hatte, plötzlich ausrief:

»Glaubt Ihr, ich werde fortgehen von hier und ihn hier lassen mitten im Kampfe? Das hält keine Menschenseele aus. Wo er ist, bleibe ich auch, ich kann nicht anders!«

[154] Dabei warf sie sich mit solcher Leidenschaftlichkeit an Antons Brust und sagte, ihn mit ihren Armen umschlingend:

»Ich will mit Dir gehen, und wenn sie Dich todtschießen, sollen sie mich mit Dir todtschießen; denn ohne Dich leben kann ich ja doch nicht; laß mich nicht von Dir, schicke mich nicht weg, ich kann nicht fort!«

Da nahm Anton sie bei der Hand, wie er sie still und fest an sich gedrückt hatte, und fragte: »Kunz, soll ich sie zum Weibe haben, wenn der Kampf vorüber ist und ich lebe?«

Und in des Hofbauern Gesicht zuckte es wie Wetterleuchten bald auf, bald nieder. Es gefiel ihm nicht, daß nicht Alles in der Ordnung war, wie er es sich gedacht; es gefiel ihm nicht, daß er seine Tochter einem Manne versprechen sollte, dessen Vater nicht selbst für seinen Sohn freiwarb, dessen Vater es nicht gut heißen werde, was sein Sohn that in dieser Stunde. Aber die Stunde war ernst; der Bauer mußte sich sagen, daß wer den Muth und den Willen habe, für sein Volk und dessen Recht zu kämpfen, der werde auch den Muth haben, sich sein Weib zu erringen aller Welt zum Trotz, und dieser zuversichtliche [155] Trotz gefiel ihm; denn es lag ein gutes Theil davon in seiner eignen Natur. Darum sprach er:

»Fechtet erst den Kampf aus, danach wollen wir es überlegen; hier bleiben aber wollen wir; denn daß die Marie nicht fort kann, das ist richtig. Ihr sollt nicht sagen können, daß wir Euch verlassen haben, während Ihr zu uns gehalten habt.«

Danach wendete er sich zu Margarethe, als erwarte er von der einen Dank und wisse, daß sie mit ihm zufrieden sein würde. Margarethe aber sprach kein Wort zu alledem, und man hätte sie für theilnahmlos halten müssen, hätte nicht die Gewalt, mit der sie ihre gefalteten Hände zusammenpreßte, und das schwere Athmen ihrer Brust verrathen, was in ihr vorging. Endlich fragte sie fast tonlos, wann der Kampf beginnen, wann Anton jetzt würde von ihnen gehen müssen?

Das mußte nur zu bald geschehen; denn Anton wollte seinen Gefährten beistehen in jeder Arbeit: im Bau der Barrikaden wie im Kampfe selbst, und die nächsten Tage waren voll Mühe, Aufregung und Noth.

Die Volkspartei hatte die Herrschaft in der Stadt, aber der Selbstregierung durch lange Bevormundung ungewohnt, verstand die Masse es schlecht, und es [156] gelang den Führern nur mit großer Anstrengung, der ungewohnten Freiheit zu wehren, daß sie nicht ausarte in Zügellosigkeit. Man schickte eine Deputation an das Generalcommando in Münster, um zu versuchen, ob eine Ausgleichung möglich sei zwischen dem Verlangen des Volks und dem Verhalten der Regierung; aber obschon bis zur Rückkehr der Deputation eine Art von Waffenstillstand geschlossen worden zwischen dem Commandeur des Iserlohner Bataillons und den für die Verfassung bewaffneten Demokraten, glaubten sie nicht mehr an eine friedliche Ausgleichung, sondern fingen an, mit den immer stärker werdenden Zuzügen von Limburg, Münden und Ham Wenn hier Limburg an der Lahn, Hannoversch Münden und Hamm gemeint sein sollten, wäre dies ein recht großes Einzugsgebiet. sich für den Kampf vorzubereiten.

Die Stadt glich einem Feldlager; die Zuzügler wurden in die für die Landwehr bestimmten Quartiere verlegt, in allen Häusern mußte für die Fremden gekocht werden; der Sicherheitsausschuß, der sich in der Stadt gebildet hatte, strebte nach allen Richtungen hin, so viel als thunlich Ordnung zu erhalten, während die ganze Schwüle einer bevorstehenden Gefahr, das ganze Entsetzen dieses beginnenden Bürgerkriegs über der Stadt wuchtete und seine düstern Schatten auch über die Stirn der Männer [157] legte, welche herbei gekommen waren, die deutsche Sache zu vertheidigen. Der Iserlohner Aufstand im Mai 1849 in Westfalen war einer der bedeutendsten sogenannten Maiaufstände infolge der Reichsverfassungskampagne in der Endphase der Deutschen Revolution 1848/1849.

Anton war täglich im Hause der alten Margarethe, er theilte die Mahlzeiten der Familie, aber nur in einzelnen Augenblicken vermochte seine Liebe ihn zu erheitern. Er fühlte die Schwere des Schrittes, den er mit reiflicher Ueberlegung gethan, er glaubte nicht an einen Sieg in diesem Augenblicke, dennoch schien es ihm Pflicht, Alles daran zu setzen, selbst das Leben, um darzuthun, daß man die Einheit des Vaterlandes, das Halten an der von den erwählten Vertretern des deutschen Volks gegebenen Verfassung für das Höchste und Heiligste erkenne. Diese Stimmung, diese Abgeschlossenheit brachte den jungen Mann dem Hofbauer näher, als es die freudigste Aufwallung seiner Liebe vermocht hätte. Da der Letztere Anton nur mit dem Ernste des Lebens beschäftigt sah, glaubte er an den Ernst seiner Neigung, und dadurch daß er genöthigt war, ihn als Gast täglich zu bewirthen in dem Hause, welches er wie sein eignes betrachtete, gewann er allmälig für ihn das Wohlwollen, das der gutgeartete Mensch für Jeden empfindet, dem er Dienste zu leisten vermag. Margarethe dagegen schien von jener ahnungsvollen Sorge ergriffen zu [158] sein, die nahe am Ziele noch zu scheitern fürchtet. Sie fragte nach Friedrich, als ob ihr von diesem Böses ahne, sie nahm an keinem Gespräch rechten Antheil, das sich in Möglichkeiten für die Zukunft verlor, und verrieth, so still und ruhig sie sich in ihrem Verhalten zeigte, doch in einzelnen Worten solche Zweifel an einem glücklichen Ausgange, daß Marie von ihrer Angst mit angesteckt, immer nur an der Muhme Lippen und Augen hing, als könne diese die Zukunft sehen und verkünden.

Es waren schwere Tage; sie wurden es noch mehr, als mit der wachsenden Schaar der herbeiströmenden Demokraten Noth und in ihrer Folge Unordnungen jeder Art sich in der Stadt zu zeigen begannen. Der Sicherheitsausschuß Am 10. Mai 1849 war in Iserlohn ein radikaler Sicherheitsausschuss nach dem Vorbild der französischen Revolution eingerichtet worden. wurde abgesetzt, ein neuer ernannt; man mußte Anleihen von den Bürgern erheben, um für die Bedürfnisse der in der Stadt anwesenden Fremden zu sorgen. Der Hofbauer schüttelte bedenklich das Haupt, sein Vorsatz, bleiben zu wollen, fing an ihn zu reuen, besonders da auch Anton nun mehr noch als früher die Frauen zur Abreise mahnte, aber es war zu spät. Man ließ keine Männer mehr zu den Thoren hinaus, und mit einer ihr fremden Bestimmtheit und Hartnäckigkeit verweigerte [159] Marie es, die Muhme zu begleiten, als selbst der Doktor verlangte, daß man sie womöglich fortbringen sollte.

»Die Muhme weiß, daß ich hier bleiben muß; sie wird nicht einmal wollen, daß ich gehe; denn sie wird auch bleiben. Wer läuft denn davon in der Ernte, wenn ein Gewitter kommt, ehe Alles untergebracht ist, was man unterbringen kann?« sagte sie.

Es war der Tag vor Himmelfahrt und der Waffenstillstand schon zwei Tage vorher abgelaufen, ohne daß eine Aenderung im Verhalten der Parteien zu Stande gekommen war. An diesem Tage verlangten die Demokraten gegen die bis Minden vorgerückten Truppen geführt zu werden. Anton war einer ihrer Führer. Marie und ihr Vater begleiteten die Ausrückenden bis vor das Thor der Stadt. Das Mädchen war stumm und bleich, sie schied von Anton mit einem Händedruck wie ihr Vater. Die folgenden Stunden, der Rest des Tages vergingen in dem kleinen Hause in jener gleichmäßigen Thätigkeit, hinter der sich in solchen Fällen die größte Erregung der Seele verbirgt. In allen Häusern machte man nach Angabe der Behörden Bandagen zurecht und zupfte Charpie, selbst die schwachen, von der Gicht zusam [160]mengezogenen Hände der alten Margarethe rasteten nicht. Es war ihr ein Bedürfniß, die Stunden auszufüllen, die ihr unendlich erschienen, bis Abends die Glocken das Himmelfahrtsfest 17. Mai 1849. An diesem Tag gelang es den preußischen Linientruppen die Stadt zu erobern. einläuteten, deren friedenvoller Klang wie ein herzzerreißender Spott erschien in dem Augenblicke, als die ausgerückte Schaar flüchtig und geschlagen zurückkehrte in die Stadt.

Marie stand, von allen Qualen der Ungewißheit gefoltert, in der Thüre des Hauses; denn aus der Schaar, welche sich kämpfend nach Iserlohn zurückgeworfen, wußte Niemand von Anton. Es ward Abend, die Nacht brach an, Kunz ging und kam in einer Sorge, die ihm selbst verrieth, wie theuer ihm Anton bereits geworden sei; Margarethe saß, ein Bild der Ergebung, in ihrem Lehnstuhl, unfähig selbst zum Gebete, als endlich ein Aufschrei Mariens vor der Thür das Erscheinen des Ersehnten ankündete.

Anton hatte einen Hieb in die linke Schulter bekommen, aber er schien es nicht zu beachten; denn der Schmerz seiner Seele war stärker. Er hatte gewußt, daß es nicht glücklich enden könne; da er den Ausgang erlebt, mit Augen gesehen hatte, wie aller Muth, alle Begeisterung dieser schlechtbewaffneten, ungeüb [161]ten Männer nichts vermocht hatten gegen die kalte Taktik einer disciplinirten Truppe, zerriß es ihm das Herz.

»Und doch,« sagte er, »ist das Blut nicht vergeblich geflossen, doch muß morgen der neue Kampf gewagt, das Letzte versucht werden! Das Regiment, das in Dresden gekämpft hat, ist vor den Thoren; es wird einen harten Strauß geben und Mancher von uns den Abend nicht erleben. Laßt mich denn hier bleiben, bis der Tag anbricht; denn in jedem Augenblicke kann das Signal gegeben werden.«

Niemand hatte sich zur Ruhe gelegt; Margarethe schlummerte ermattet auf ihrem Sessel, Anton hielt Marie umschlungen, der Vater saß in sich versunken da. Gegen Morgen, als es anfing, sich auf den Straßen zu regen und Anton sich erhob, seine Waffen zu nehmen, sagte der Hofbauer:

»Euer Vater hat's mit verschuldet, was jetzt gekommen ist, und daß Ihr in Waffen steht gegen des Königs Befehl, dem er dient; es kann Keiner wissen, was der Tag bringt und wer am Morgen noch da ist; habt Ihr nichts zu bestellen an Euren Vater?«

»Ich habe ihm geschrieben, ehe wir gestern ausgezogen sind!«

[162] »Und habt Ihr in Frieden geschrieben und in Versöhnung? Denn es soll nicht sein, daß Vater und Kind in Haß von einander gehen aus der Welt!«

»Ich habe ihm geschrieben, daß ich nicht anders handeln konnte, und daß er mir vergeben möge, was ihn schmerzt!«

»Dann geht in Gottes Namen!« sagte der Alte.

Anton schüttelte ihm die Hand und umarmte Marie, die sich weinend an ihn hing, als schon die verabredeten Signale das Anrücken der königlichen Truppen gegen die Stadt verkündeten und ihn auf den Kampfplatz riefen.


[163]


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