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VII. Zwei Briefe Lenins an Gorki

I.

14. November 1913

Teurer A. M.!

Was machen Sie denn da eigentlich? – Es ist ja geradezu entsetzlich!

Gestern las ich in der »Rjetsch« Ihre Antwort auf das »Geheul« wegen Dostojewski und ich wollte mich schon freuen, heute aber trifft die Liquidatorenzeitung Gemeint ist die »Nowaja Rabotschaja Gazeta« (»Neue Arbeiter-Zeitung«). ein, in der ein Absatz Ihres Artikels abgedruckt ist, den es in der »Rjetsch« nicht gegeben hat.

Dieser Absatz lautet folgendermaßen:

»Die ›Gottsucherei‹ aber muß man eine Zeitlang (nur eine Zeitlang?) aufschieben – das ist eine zwecklose Beschäftigung: es hat keinen Zweck zu suchen, wenn es einem nicht gegeben ist. Wer nicht säet, der erntet nicht. Ihr habt keinen Gott, Ihr habt ihn noch (noch!) nicht geschaffen. Die Götter sucht man nicht – man schafft sie; das Leben wird nicht ausgedacht, man erzeugt es.«

Daraus geht also hervor, daß Sie nur für »eine Zeitlang« gegen die »Gottsucherei« sind!! Daß Sie nur deshalb gegen die Gottsucherei sind, weil Sie sie durch eine Gotterschaffung ersetzen wollen!! Nun, ist es denn nicht grauenhaft, daß bei Ihnen so was herauskommt??

Das Gottsuchen unterscheidet sich vom Gottkonstruieren oder Gotterschaffen oder Gotterzeugen usw. keineswegs mehr, als ein gelber Teufel sich von einem blauen Teufel unterscheidet. Ueber das Gottsuchen sprechen, nicht zu dem Zweck, um sich gegen jegliche Teufel und Götter auszusprechen, gegen jegliche geistige Nekrophilie Nekrophilie – Leichenbegattung. – (jeder Gott bedeutet Nekrophilie und mag es der sauberste, idealste, nicht gesuchte, sondern erschaffene Gott sein, das ist einerlei), sondern um einen blauen Teufel dem gelben vorzuziehen – das ist hundertmal schlimmer, als überhaupt nicht davon reden.

In den freiesten Ländern, in solchen Ländern, wo ein Aufruf »An die Demokratie, an das Volk, an die Oeffentlichkeit und die Wissenschaft« ganz unangebracht wäre, in solchen Ländern (Amerika, die Schweiz usw.) macht man das Volk und die Arbeiter auf das eifrigste gerade mit der Idee eines reinen, geistigen, erst zu schaffenden Gottes stumpfsinnig. Gerade deshalb, weil jede religiöse Idee, jede Idee von jedem Gott, ja sogar jedes Kokettieren mit einem Gott – unaussprechliche Gemeinheit ist, die von der demokratischen Bourgeoisie besonders gern geduldet (oft sogar mit Wohlwollen aufgenommen wird) – gerade deshalb ist es die gefährlichste Gemeinheit, die niederträchtigste »Infektion«. Eine Million Sünden, Schweinereien, Vergewaltigungen und Ansteckungen physischer Art wird von der Menge viel leichter durchschaut und ist daher weniger gefährlich als die raffinierte, vergeistigte, mit den prächtigsten »ideologischen« Kostümen ausstaffierte Gottidee. Ein katholischer Pfaffe, der Mädchen vergewaltigt (von dem ich jetzt gerade zufällig in einer deutschen Zeitung las), ist gerade für die »Demokratie« weit weniger gefährlich als ein Pfaffe ohne Meßgewand, ein Pfaffe ohne plumpe Religion, ein ideeller und demokratischer Pfaffe, der die Erschaffung und Aufrichtung eines Gottes predigt. Denn den ersten Pfaffen zu entlarven, ist leicht, es ist nicht schwer, ihn zu verurteilen und wegzujagen, aber den zweiten kann man nicht so einfach fortjagen – es ist tausendmal schwerer, ihn zu entlarven, und kein »zerbrechlicher und kläglich wankelmütiger« Kleinbürger wird sich bereit finden, ihn »zu verurteilen«.

Und Sie, der Sie die »Zerbrechlichkeit und klägliche Wankelmütigkeit« der russischen (warum der russischen? ist die italienische etwa besser??) spießbürgerlichen Seele kennen, verwirren diese Seele mit dem süßesten und am meisten mit allerlei Zuckerwerk und buntem Firlefanz verhüllten Gift!!

Das ist wirklich entsetzlich.

»Genug der Selbstbespeiungen, die bei uns die Selbstkritik ersetzen.«

Und ist die Gotterschaffung vielleicht nicht die übelste Art der Selbstbespeiung?? Jeder Mensch, der sich mit der Erschaffung eines Gottes beschäftigt oder auch nur eine solche Erschaffung zuläßt, bespeit sich auf die übelste Art, denn er beschäftigt sich statt mit »Taten« gerade mit der Selbstbetrachtung und der Selbstbespiegelung, wobei ein solcher Mensch gerade die unsaubersten, stupidesten, knechtischsten Züge oder Züglein seines »Ichs«, die er mit seiner Gotterschaffung zu vergöttlichen sucht, liebevoll »betrachtet«.

Vom sozialen Gesichtpunkte, nicht vom persönlichen, ist jede Gotterschaffung nichts anderes als die liebevolle Selbstbetrachtung des stumpfsinnigen Kleinbürgertums, des zerbrechlichen Spießertums, der träumerisch »sich selbst bespeienden« Philister und Kleinbourgeois, die »verzweifelt und müde« sind (wie Sie das sehr richtig von der Seele zu sagen geruhten – nur hätten Sie nicht von der »russischen«, sondern von der kleinbürgerlichen Seele schlechthin sprechen müssen, denn die jüdische, italienische, englische Kleinbürgerseele ist nicht anders, es ist Jacke wie Hose, überall ist das schäbige Kleinbürgertum gleich gemein, während das »demokratische Kleinbürgertum«, das sich mit ideologischer Nekrophilie beschäftigt, doppelt gemein ist).

Ich lese mich in Ihren Artikel hinein und möchte herausfinden, woher dieser Fehler bei Ihnen kommen konnte – und staune. Was ist das? Sind es Ueberreste Ihrer »Beichte« » Beichte« – ein Buch von Gorki., die Sie selbst nicht billigten?? Ein Widerhall davon??

Oder etwas anderes – z. B. ein mißglückter Versuch, sich zum allgemein demokratischen Standpunkt herabzulassen, statt den proletarischen Standpunkt einzunehmen? Vielleicht wollten Sie, um ein Gespräch mit der »Demokratie überhaupt« zu ermöglichen, ein wenig (entschuldigen Sie den Ausdruck!) »zuzzeln«, wie man es mit Kindern zu tun pflegt? Vieleicht wollten Sie »zwecks Popularisierung« einen Augenblick lang die Vorurteile der Spießer gelten lassen?

Aber das ist doch eine unrichtige Methode, unrichtig in jedem Sinne, in jeder Beziehung!

Ich sagte schon, daß in demokratischen Ländern ein Appellieren »an die Demokratie, an das Volk, an die Oeffentlichkeit und Wissenschaft« von seiten eines proletarischen Schriftstellers ganz unangebracht wäre. Nun, und bei uns in Rußland? Ein solcher Appell ist nicht ganz angebracht, denn er schmeichelt ebenfalls auf irgendeine Weise den spießbürgerlichen Vorurteilen. Einen Aufruf, so allgemein und nebelhaft gehalten – bei uns würde sogar ein Isgojew A. Isgojew – Mitte der neunziger Jahre Mitarbeiter von marxistischen Zeitschriften. Später wurde er einer der konservativsten Publizisten der Kadettenpartei, Mitarbeiter des Sammelbuches »Wjechi« und ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift »Ruskaja Mysl« in jener Zeit, als dieses Organ unter Leitung Struves zum ausgesprochensten Organ der ideologischen Konterrevolution und des bösartigsten Kampfes gegen die revolutionäre Bewegung wurde. von der »Russkaja Mysl« mit beiden Händen unterschreiben. Warum soll man Losungen nehmen, die Sie zwar sehr wohl vom Isgojewismus zu scheiden wissen, aber nicht der Leser?? Warum soll man sich vor dem Leser demokratisch verschleiern, statt klar zu trennen zwischen den Kleinbürgern (den zerbrechlichen, kläglich wankelmütigen, ermüdeten, verzweifelten, sich selbst betrachtenden, gottbetrachtenden, gotterschaffenden, gottgewährenden, sich selbst bespeienden, blöd-anarchistischen – ein prachtvolles Wort!! usw. usw.) – und den Proletariern (die verstehen, nicht nur in Worten mutig zu sein, die verstehen, »Wissenschaft und Oeffentlichkeit« der Bourgeoisie von ihrer eigenen, die bürgerliche Demokratie von der proletarischen zu unterscheiden)?

Warum tun Sie das?

Es kränkt einen verteufelt!

Ihr W. Uljanow


II.

[Dezember 1913]

 

In der Frage nach Gott, dem Göttlichen und allem, was damit zusammenhängt, kommt bei Ihnen ein Widerspruch heraus – derselbe, meiner Ansicht nach, auf den ich in unseren Gesprächen während unseres letzten Beisammenseins auf Capri hinwies. Sie haben mit den »Vorwärtslern« gebrochen (oder scheinen mit ihnen gebrochen zu haben), ohne die ideologischen Grundlagen des »Vorwärtslertum« zu bemerken.

So auch jetzt. Sie sind »ärgerlich«, Sie »können nicht begreifen, wie der Ausdruck ›eine Zeitlang‹ Ihnen entschlüpfen konnte«, – so schreiben Sie, und gleichzeitig verteidigen Sie die Idee von Gott und Gotterschaffung.

»Gott ist der Komplex jener von Rasse, Nation, Menschheit erschaffenen Ideen, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren, mit dem Ziele, die Persönlichkeit mit der Gesellschaft zu verbinden, den zoologischen Individualismus zu zügeln.«

Diese Theorie hängt offensichtlich mit der Theorie oder den Theorien Bogdanows Bogdanow – alter russischer Sozialdemokrat. Betätigte sich als Schriftsteller besonders auf philosophischem Gebiete, wobei er ein »eigenes« philosophisches System (den »Empiriomonismus«) zu begründen suchte, eine Abart des Empiriokritizismus, d. h. er ist ein Anhänger der idealistischen Richtung von Mach und Avenarius (ausführlich darüber siehe »Materialismus und Empiriokritizismus« von Lenin, siehe »Sämtliche Werke«, Bd. XIII). und Lunatscharskis zusammen.

Und sie ist – offensichtlich falsch und offensichtlich reaktionär. Wie die christlichen Sozialisten (die schlimmste Abart des »Sozialismus« und seine schlimmste Verzerrung), wenden Sie eine Methode an, die (trotz Ihrer besten Absichten) den Hokus-Pokus des Pfaffentums wiederholt: aus der Gottheitsidee wird das ausgeschaltet, was ihr historisch und in der Lebenspraxis anhaftet (Teufelsspuk, Vorurteile, Heiligsprechung der Unwissenheit und Verschüchtertheit einerseits, der Leibeigenschaft und der Monarchie anderseits), wobei an Stelle der historischen und alltäglichen Realität in die Gottheitsidee eine gutherzige, kleinbürgerliche Phrase hineingelegt wird (Gott = »Ideen, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren«).

Sie wollen damit etwas »Gutes und Schönes« sagen, auf die »Wahrheit – Gerechtigkeit« hinweisen und dergleichen mehr. Aber dieser Ihr frommer Wunsch bleibt Ihr persönlicher Besitz, ein subjektiver »harmloser Wunsch«. Sobald Sie ihn einmal niedergeschrieben haben, dringt er in die Masse, und seine Bedeutung wird nicht durch Ihren frommen Wunsch, sondern durch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis, durch die objektive Wechselbeziehung der Klassen bestimmt. Kraft dieser Wechselbeziehung erweist es sich (es erweist sich wider Ihren Willen und unabhängig von Ihrem Bewußtsein), daß Sie die Idee der Klerikalen, der Purischkewitsche, des Nikolaus II. und der Herren Struve geschminkt und gezuckert wiedergegeben haben, denn tatsächlich hilft die Gottheitsidee diesen Leuten, das Volk in Sklaverei zu halten. Indem Sie die Gottheitsidee ausschmücken, schmücken Sie die Ketten, mit denen sie die unwissenden Arbeiter und Bauern fesseln. Seht ihr wohl – werden die Popen und Co. sagen – was für eine schöne und tiefe Idee das ist (die Gottheitsidee), daß sie sogar von »euren« Herren Demokraten, von den Führern anerkannt wird, und wir (die Popen und Co.) dienen dieser Idee.

Es ist nicht wahr, daß Gott ein Komplex von Ideen ist, die die sozialen Gefühle wecken und organisieren. Das ist Bogdanowscher Idealismus, der den materiellen Ursprung der Ideen vertuscht. Gott ist (historisch und praktisch) zu allererst ein Komplex von Ideen, die entstanden sind infolge der stumpfsinnigen Niedergedrücktheit des Menschen sowohl durch die äußere Natur wie durch die Klassenknechtschaft –, von Ideen, die diese Niedergedrücktheit festigen, die den Klassenkampf einschläfern. Wohl gab es eine Zeit in der Geschichte, wo trotz dieses Ursprungs und trotz dieser tatsächlichen Bedeutung der Gottheitsidee der Kampf der Demokratie und des Proletariats in Gestalt des Kampfes einer religiösen Idee wider die andere vor sich ging.

Aber auch diese Zeit ist längst vorbei.

Jetzt ist sowohl in Europa als auch in Rußland jede, selbst die verfeinertste, die wohlgemeinteste Verteidigung oder Rechtfertigung der Gottheitsidee – eine Rechtfertigung der Reaktion.

Ihre ganze Definition ist durch und durch reaktionär und bürgerlich. Gott soll ein Komplex von Ideen sein, die »die sozialen Gefühle wecken und organisieren, mit dem Ziele, die Persönlichkeit mit der Gesellschaft zu verbinden, den zoologischen Individualismus zu zügeln«.

Weshalb ist das reaktionär? Weil es die Idee der Popen und der Verfechter der Leibeigenschaft von der »Zügelung« der Zoologie ausschmückt.

In Wirklichkeit hat nicht die Gottheitsidee den »zoologischen Individualismus« gezügelt, dieser wurde vielmehr durch die Urherde und die Urkommune gebändigt. Die Gottheitsidee hat die »sozialen Gefühle« immer eingeschläfert und abgestumpft und Lebendes durch Totes ersetzt, da sie immer die Idee der Sklaverei (der schlimmsten, rettungslosen Sklaverei) war. Nie hat die Gottheitsidee »die Persönlichkeit mit der Gesellschaft verbunden«, aber immer band sie die unterdrückten Klassen durch den Glauben an die Göttlichkeit der Unterdrücker.

Bürgerlich ist Ihre Definition (und unwissenschaftlich, unhistorisch), weil sie mit undifferenzierten, allgemeinen, »robinsonhaften« Begriffen überhaupt operiert, statt mit bestimmten Klassen einer bestimmten geschichtlichen Epoche.

Die Gottheitsidee beim wilden Syrjanen usw. (oder auch beim Halbwilden) und die Gottheitsidee bei Struve und Co. sind zwei verschiedene Dinge. In beiden Fällen unterstützt die Klassenherrschaft diese Idee und wird ihrerseits von dieser Idee unterstützt. Der »volkstümliche« Begriff vom lieben Gott und dem Göttlichen ist »volkstümlicher« Stumpfsinn, Verschüchterung, Unwissenheit, genau dasselbe wie die »volkstümliche« Vorstellung vom Zaren, vom Waldteufel, vom Prügeln der Ehefrauen. Wie Sie die »volkstümliche Vorstellung« von Gott eine »demokratische« nennen können, ist mir absolut unerfindlich.

Daß der philosophische Idealismus »immer nur die Interessen der Persönlichkeit im Auge hat«, das stimmt nicht. Hatte Descartes im Vergleich zu Gassendi die Interessen der Persönlichkeit etwa mehr im Auge? Oder Fichte und Hegel verglichen mit Feuerbach?

Daß »das Gotterschaffen ein Prozeß weiterer Entwicklung und Ansammlung sozialer Momente im Individuum und in der Gesellschaft« sein soll, das ist geradezu fürchterlich!! Wenn in Rußland Freiheit herrschte – die ganze Bourgeoisie würde Sie ja für solche Sachen, für diese Soziologie und Theologie von rein bürgerlichem Typus und Charakter auf den Schild heben.

Nun genug für heute – der Brief hat sich ohnedies in die Länge gezogen. Ich drücke Ihnen nochmals kräftig die Hand und bleiben Sie mir hübsch gesund.

Ihr W. I.


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