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V. Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus

(1922)

… Zum zweiten muß eine solche Zeitschrift » Pod snamenjem marksisma« (»Unter dem Banner des Marxismus«) – eine in Rußland erscheinende philosophische und politisch-ökonomische Zeitschrift, erscheint seit 1925 auch deutsch im Verlag für Literatur und Politik, Wien-Berlin. ein Organ des streitbaren Atheismus sein. Wir haben zwar Ressorts, zum mindesten gewisse staatliche Institutionen, die sich dem widmen. Indessen geschieht dies äußerst träge und äußerst ungenügend. Es scheint, daß sich hierin der Druck der mit unserem echt russischen (wenn auch sowjetistischen) Bürokratismus verbundenen allgemeinen Verhältnisse geltend macht. Es ist daher außerordentlich wichtig, daß zur Ergänzung, Verbesserung und Belebung der Arbeit der entsprechenden staatlichen Institutionen die Zeitschrift, die sich die Aufgabe stellt, ein Organ des streitbaren Materialismus zu sein, eine unermüdliche atheistische Propaganda entfaltet und einen unermüdlichen Kampf für den Atheismus führt. Die gesamte, in allen Sprachen erscheinende einschlägige Literatur muß aufmerksam verfolgt und alles auf diesem Gebiete irgendwie Wertvolle übersetzt oder mindestens besprochen werden.

Schon vor langer Zeit hat Engels den Führern des modernen Proletariats den Rat gegeben, zur Massenverbreitung unter dem Volke die atheistische Kampfliteratur vom Ende des 18. Jahrhunderts zu übersetzen. Zu unserer Schande sei es gesagt, daß wir dies bisher noch nicht getan haben (einer der zahlreichen Beweise dafür, daß es viel leichter ist, in einer revolutionären Epoche die Macht zu erobern, als sich dieser Macht richtig zu bedienen). Zuweilen wird diese unsere Trägheit, Untätigkeit und Unfähigkeit mit allerhand »hochtrabenden« Argumenten gerechtfertigt, so z. B., indem man behauptet, die alte atheistische Literatur des 18. Jahrhunderts sei »veraltet, unwissenschaftlich, naiv« und dergleichen mehr. Es gibt nichts Schlimmeres, als derartige gelehrt sein sollende Sophismen, hinter denen sich entweder Pedanterie oder vollkommenes Nichtbegreifen des Marxismus verbergen. Gewiß findet sich in den atheistischen Schriften der Revolutionäre des 18. Jahrhunderts mancherlei Unwissenschaftliches und Naives. Niemand hindert indes die Herausgeber solcher Schriften, sie zu kürzen und mit kurzen Nachworten und Hinweisen auf den Fortschritt, den die Menschheit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Religionskritik gemacht hat, ferner mit Hinweisen auf die entsprechenden neuesten Schriften zu versehen usw.

Es wäre der größte und schlimmste Fehler, den ein Marxist begehen kann, zu meinen, die Millionenmassen des Volkes (insbesondere die der Bauern und Handwerker), die die ganze heutige Gesellschaft zur geistigen Finsternis, zur Unwissenheit verdammt und im Banne von Vorurteilen hält, könnten aus dieser Finsternis nur auf dem direkten Wege einer rein marxistischen Aufklärung herauskommen. Die atheistische Propaganda muß in der mannigfaltigsten Form in diese Massen getragen werden. Sie müssen mit Tatsachen aus den verschiedensten Lebensgebieten bekanntgemacht werden, man muß an sie bald auf die eine, bald auf die andere Art herantreten, um ihr Interesse wachzurufen, sie aus dem religiösen Schlaf zu erwecken, sie von den verschiedensten Seiten her und mit den verschiedensten Methoden aufzurütteln und dergleichen mehr.

Die schlagfertige, lebendige, talentvolle, witzige und offen das herrschende Pfaffentum angreifende Publizistik der alten Atheisten des 18. Jahrhunderts wird sich durchweg als tausendmal geeigneter erweisen zur Aufrüttelung der Menschen aus ihrem religiösen Schlummer als die langweiligen, trockenen, fast von keinen geschickt zusammengestellten Tatsachen veranschaulichten marxistischen Wiederholungen, die in unserer Literatur überwiegen und – gestehen wir es offen ein – den Marxismus häufig entstellen. Alle größeren Werke von Marx und Engels sind bei uns übersetzt. Es liegt auch nicht der geringste Grund zur Befürchtung vor, der alte Atheismus und Materialismus könnte uns um die von Marx und Engels gegebenen Verbesserungen bringen. Das Wichtigste – das vergessen gerade unsere vermeintlich marxistischen, in Wirklichkeit aber den Marxismus entstellenden Kommunisten am allerhäufigsten – ist, daß man es versteht, das Interesse der noch gänzlich unentwickelten Massen für eine bewußte Einstellung zu religiösen Fragen und eine bewußte Kritik der Religion zu wecken.

Und nun die andere Seite. Man sehe sich einmal die Vertreter der modernen wissenschaftlichen Religionskritik an. Fast immer »ergänzen« diese Vertreter der gebildeten Bourgeoisie ihre eigene Widerlegung der religiösen Vorurteile durch solche Betrachtungen, die sie sofort als geistige Sklaven der Bourgeoisie, als »diplomierte Lakaien des Pfaffentums« entlarven.

Zwei Beispiele. Professor R. J. Wipper ließ 1918 ein Büchlein unter dem Titel »Der Ursprung des Christentums« (Pharos-Verlag, Moskau) erscheinen. Der Verfasser gibt die wichtigsten Ergebnisse der modernen Wissenschaft wieder und verzichtet dabei nicht nur auf jeden Kampf gegen Vorurteile und Betrug, die die Waffe der Kirche als einer politischen Organisation bilden, er weicht diesen Fragen nicht nur aus, sondern erhebt darüber hinaus den geradezu lächerlichen und durch und durch reaktionären Anspruch, über beiden »Extremen«, dem idealistischen wie dem materialistischen, zu stehen. Was ist das anderes als Liebedienerei der herrschenden Bourgeoisie gegenüber, die überall auf der Welt hunderte Millionen Rubel des von ihr aus den Werktätigen herausgepreßten Profits zur Unterstützung der Religion verwendet.

Der bekannte deutsche Gelehrte Arthur Drews spricht sich am Schlusse seines Buches »Die Christusmythe«, in dem er vorher die religiösen Vorurteile und Märchen widerlegt und den Nachweis führt, daß es einen Christus niemals gegeben hat, für die Religion aus, allerdings für eine aufgefrischte, zurechtgeputzte, raffinierte Religion, die fähig wäre, »der täglich mehr und mehr anschwellenden naturalistischen Strömung« zu widerstehen (S. 238, 4. deutsche Auflage 1910). Hier haben wir einen offenen, bewußten Reaktionär vor uns, der den Ausbeutern vor aller Oeffentlichkeit behilflich ist, die alten, morsch gewordenen religiösen Vorurteile durch neue, noch widerwärtigere und gemeinere, zu ersetzen.

Das besagt nicht, daß eine Uebersetzung Drews' ins Russische unnötig sei, sondern, daß die Kommunisten und alle konsequenten Materialisten bei dem innerhalb gewisser Schranken mit dem progressiven Teil der Bourgeoisie zu verwirklichenden Bündnis die Bourgeoisie, sobald sie reaktionär wird, unermüdlich zu entlarven haben. Das besagt weiter, daß ein Zurückschrecken vor einem Bündnis mit den Vertretern der Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts, also jener Epoche, in der das Bürgertum noch revolutionär war, einem Verrate am Marxismus und Materialismus gleichkäme, denn im Kampfe gegen die herrschenden religiösen Finsterlinge ist für uns ein »Bündnis« selbst mit den Drews in der einen oder anderen Form, in diesem oder jenem Ausmaße, eine unbedingte Pflicht.

Die Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus«, die ein Organ des streitbaren Materialismus sein will, muß der atheistischen Propaganda, den Uebersichten der entsprechenden Literatur und der Beseitigung der gewaltigen Mängel unserer staatlichen Tätigkeit auf diesem Gebiete viel Platz einräumen. Besonders wichtig ist die Verwertung jener Bücher und Broschüren, die viel konkretes Tatsachenmaterial und Zusammenstellungen enthalten, die den Zusammenhang der Klasseninteressen und Klassenorganisationen der modernen Bourgeoisie mit den religiösen Institutionen und der religiösen Propaganda aufzeigen.

Aeußerst wichtig sind alle auf die Vereinigten Staaten von Nordamerika bezugnehmenden Materialien. In Amerika tritt zwar der offizielle, amtliche, staatliche Zusammenhang zwischen Religion und Kapital weniger hervor, dafür aber wird es uns umso klarer, daß die sogenannte »moderne Demokratie« (vor der die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre und z. T. auch die Anarchisten und dergl., aller Vernunft zum Trotz, auf dem Bauche rutschen) nichts anderes darstellt als die Freiheit, das zu predigen, was für die Bourgeoisie vorteilhaft ist. Vorteilhaft aber ist für die Bourgeoisie das Predigen der allerreaktionärsten Ideen, der Religion, des Obskurantismus, der Verteidigung der Ausbeuter u. ä. m.

Man darf wohl erwarten, daß eine Zeitschrift, die ein Organ des streitbaren Materialismus sein will, unserem lesenden Publikum Uebersichten über atheistische Literatur bieten und sie mit Charakteristiken versehen wird, die zeigen, für welchen Leserkreis und in welcher Beziehung die einen oder anderen Werke geeignet wären, und auch auf das hinweisen wird, was bei uns bereits erschienen ist (als erschienen sind nur leidlich gute Uebersetzungen zu betrachten, deren es nicht allzu viele gibt) und was noch erscheinen müßte.

Außer einem Bündnis mit konsequenten, der Kommunistischen Partei nicht angehörenden Materialisten ist für die vom streitbaren Materialismus zu bewältigende Aufgabe nicht minder wichtig, wenn nicht gar wichtiger, ein Bündnis mit solchen Vertretern der modernen Naturwissenschaft, die sich dem Materialismus zuneigen und sich nicht scheuen, ihn gegen die in der sogenannten »gebildeten Gesellschaft« herrschenden philosophischen Modeschrullen in der Richtung des Idealismus und Skeptizismus hin zu vertreten und zu propagieren.

Der in Nummer 1/2 der Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus« erschienene Artikel A. Timirjasews A. Timirjasew – Professor an der Moskauer Universität, ein Gelehrter von internationalem Ruf, stellte sich sofort nach der Oktoberrevolution der Sowjetmacht zur Verfügung. über die Relativitätstheorie Einsteins Einstein, Relativitätstheorie: »Die Relativitätstheorie geht von der Tatsache aus, daß es nichts gibt, was nachweislich absolut ruht. Sie stellt deswegen das Prinzip auf, daß die Naturgesetze, d. h. die Beziehungen zwischen Raum, Zeit und Materie, unabhängig vom Bewegungszustand des Körpers, auf dem sie gelten, sein müssen. Die Folgerung daraus ist, daß der Raum und die Zeit erst durch die Materie und deren Bewegung bestimmt sein muß (damit die Beziehung zwischen ihnen sich gleich bleibt).« läßt uns hoffen, daß es der Zeitschrift gelingen wird, auch dieses zweite Bündnis zu verwirklichen. Man muß ihm mehr Aufmerksamkeit widmen. Man muß dabei stets im Auge behalten, daß gerade die in der modernen Naturwissenschaft eingetretene starke Gärung aus sich heraus immer wieder reaktionäre philosophische Schulen und Schülchen, Richtungen und Richtungchen gebiert. Aufmerksames Verfolgen der Fragen, die die neueste Revolution auf dem Gebiete der Naturwissenschaft aufwirft, sowie die Heranziehung von Naturwissenschaftlern zur Mitarbeit an der philosophischen Zeitschrift ist daher eine Aufgabe, ohne deren Lösung der streitbare Materialismus weder streitbar noch materialistisch sein wird. Wenn Timirjasew in der ersten Nummer der Zeitschrift sich genötigt sah, festzustellen, daß die Theorie Einsteins – der selbst, nach den Worten Timirjasews, keinerlei aktive Kampagne gegen die Grundlagen des Materialismus führt – bereits von einer Unmenge von Vertretern der bürgerlichen Intellektuellen aller Länder aufgegriffen worden ist, so gilt das nicht allein für Einstein, sondern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für eine ganze Reihe, wenn nicht die Mehrheit aller großen Reformer auf dem Gebiete der Naturwissenschaft.

Wollen wir also einer solchen Erscheinung gegenüber bewußt Stellung nehmen, so müssen wir begreifen, daß ohne eine solide philosophische Begründung keine wie immer geartete Naturwissenschaft, kein wie immer gearteter Materialismus den Kampf gegen den Ansturm bürgerlicher Ideen und gegen die Renaissance bürgerlicher Weltanschauung bestehen kann. Um diesen Kampf zu bestehen und mit vollem Erfolg zu Ende zu führen, muß der Naturforscher moderner Materialist, bewußter Anhänger des von Marx vertretenen Materialismus, d. h. dialektischer Materialist sein. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Mitarbeiter der Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus« ein systematisches, von materialistischen Gesichtspunkten ausgehendes Studium der Dialektik Hegels Hegel (1770-1831) – deutscher Philosoph, bedeutendster Vertreter einer idealistischen Entwicklungslehre. »Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen ›Idee‹ in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg (Schöpfer) des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle« ( Marx im Nachwort zum 1. Band des »Kapital«. Vgl. Marx-Engels »Ueber historischen Materialismus«, Bd. II, S. 95). organisieren, jener Dialektik, die Marx konkret sowohl in seinem »Kapital« als auch in seinen historischen und politischen Schriften angewandt hat, und zwar mit solchem Erfolg, daß heute jeder Tag des Erwachens neuer Klassen des Ostens zum Leben und Kampf (Japan, Indien, China) – d. h. jener Hunderte von Millionen Menschen, die den größten Teil der Bevölkerung der Erde ausmachen und durch ihre historische Untätigkeit, ihren historischen Schlaf bisher Stillstand und Zersetzung in vielen vorgeschrittenen Staaten Europas verursachten –, daß jeder Tag des Erwachens neuer Völker und neuer Klassen die Richtigkeit des Marxismus immer mehr und mehr bestätigt.

Gewiß ist ein solches Studium, ein solches Erläutern, eine solche Propaganda Hegelscher Dialektik eine äußerst schwierige Sache, und die ersten Versuche in dieser Richtung werden zweifellos mit Fehlern behaftet sein. Doch nur derjenige macht keine Fehler, der nichts tut. Gestützt auf die von Marx befolgte Anwendung der materialistisch erfaßten Dialektik Hegels, können und müssen wir diese Dialektik nach allen Richtungen hin ausarbeiten, in unserer Zeitschrift Auszüge aus den wichtigsten Werken Hegels abdrucken und unter Anführung von Beispielen der Anwendung der Dialektik durch Marx, wie auch von Beispielen der Dialektik auf dem Gebiete der ökonomischen und politischen Beziehungen, wie sie uns die neueste Geschichte, besonders der moderne imperialistische Krieg und die Revolution in so ungewöhnlich reichem Maße bieten, diese Hegelsche Dialektik in die Sprache der Materialisten übersetzen. Der Kreis der Redakteure und Mitarbeiter der Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus« sollte meines Erachtens eine Art »Gesellschaft materialistischer Freunde der Hegelschen Dialektik« bilden. Der moderne Naturforscher wird in der materialistisch erfaßten Dialektik Hegels (wenn er nur zu suchen versteht, und wenn wir es lernen, ihm hierbei behilflich zu sein) eine ganze Reihe von Antworten auf jene philosophischen Fragen finden, die die gegenwärtige Revolution in der Naturwissenschaft aufwirft, und die die intellektuellen Anbeter der bürgerlichen Mode »konfus machen«, und sie veranlassen, sich auf die Seite der Reaktion zu schlagen.

Ohne sich eine solche Aufgabe gestellt zu haben und ohne an ihrer Lösung systematisch zu arbeiten, kann der Materialismus kein streitbarer Materialismus sein, denn er wird, um einen Ausdruck Schtschedrins Saltykow-Schtschedrin – bekannter russischer Satiriker. zu gebrauchen, weniger ein niederringender als ein niedergerungener Materialismus sein.

Vernachlässigen die hervorragenden Naturwissenschaftler den dialektischen Materialismus, wie sie es bisher getan haben, so werden sie in bezug auf philosophische Schlußfolgerungen und Verallgemeinerungen auch fernerhin hilflos dastehen, denn die Naturwissenschaft schreitet so schnell vorwärts und macht dabei auf allen Gebieten eine so tiefgehende revolutionäre Gärung durch, daß sie ohne entsprechende philosophische Verallgemeinerungen unter keinen Umständen wird weiterkommen können …

Aus der Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus« Nr. 3, 1922, siehe die deutsche Ausgabe Bd. I, 1, März 1925, S. 11 ff.


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