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VI. Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution

(1908)

Den Namen des großen Künstlers neben die Revolution zu stellen, die er offenkundig nicht verstanden hat, der er offenkundig aus dem Wege gegangen ist, mag auf den ersten Blick seltsam und unnatürlich anmuten. Man kann doch nicht etwas als Spiegel bezeichnen, was eine Erscheinung offensichtlich nicht richtig wiedergibt. Nun ist aber unsere Revolution eine überaus komplizierte Erscheinung; unter der Masse ihrer unmittelbaren Vollstrecker und Teilnehmer gibt es viele soziale Elemente, die die Geschehnisse ebenfalls offenkundig nicht verstanden, die ebenfalls den wirklichen historischen Aufgaben, vor die wir durch den Gang der Ereignisse gestellt wurden, aus dem Wege gingen. Und haben wir es mit einem wirklich großen Künstler zu tun, so wird er nicht umhin können, wenigstens einige der wesentlichsten Seiten der Revolution in seinen Werken widerzuspiegeln.

Die legale russische Presse, die mit Artikeln, Briefen und Notizen anläßlich des 80. Geburtstages Tolstois Tolstoi, am 9. Sept. 1828 geboren, starb am 7. Nov. 1910. überfüllt ist, befaßt sich am allerwenigsten mit einer Analyse seiner Werke vom Standpunkte des Charakters und der Triebkräfte der russischen Revolution. Diese ganze Presse ist bis zur Uebelkeit voll von Heuchelei, und zwar von einer zweifachen Heuchelei: einer offiziellen und einer liberalen. Die erste ist die plumpe Heuchelei käuflicher Skribenten, denen gestern befohlen wurde, gegen Tolstoi zu hetzen, und denen man heute befiehlt, bei ihm Patriotismus ausfindig zu machen und tunlichst den Anstand vor Europa zu wahren. Daß die Skribenten dieser Sorte ihr Geschreibsel bezahlt kriegen, ist jedermann bekannt, und so können sie niemanden irreführen. Weit raffinierter und darum weit schädlicher und gefährlicher ist die liberale Heuchelei. Hört man die kadettischen Flötenspieler von der »Rjetsch«, so scheinen sie Tolstoi vollste und wärmste Sympathie entgegenzubringen. In Wirklichkeit sind die berechneten Deklamationen und die schwülstigen Phrasen vom »großen Gottsucher« nichts als Lug und Trug, denn weder glaubt der russische Liberale an den Tolstoischen Gott noch sympathisiert er mit der Tolstoischen Kritik an der bestehenden Ordnung. Er macht sich an den populären Namen heran, um sein politisches Kapitälchen zu vermehren, um die Rolle des Führers der gesamtnationalen Opposition spielen zu können, er ist bemüht, durch Phrasengeklingel die Notwendigkeit einer offenen und klaren Beantwortung der Frage zu übertönen: wodurch werden die schreienden Widersprüche im »Tolstoianertum« hervorgerufen, welche Mängel und Schwächen unserer Revolution bringen sie zum Ausdruck?

Die Widersprüche in den Werken, in den Anschauungen, in den Lehren und in der Schule Tolstois sind tatsächlich schreiend. Einerseits ein genialer Künstler, der nicht nur unvergleichliche Bilder aus dem russischen Leben, sondern auch erstklassige Werke der Weltliteratur geliefert hat. Andererseits ein Gutsbesitzer und Narr in Christo. Einerseits ein merkwürdig heftiger, unmittelbarer und aufrichtiger Protest gegen die gesellschaftliche Lüge und Unehrlichkeit, andererseits ein »Tolstoianer«, d. h. ein abgenutzter, hysterischer Jammerlappen, genannt russischer Intellektueller, der sich öffentlich an die Brust schlägt und sagt: »Ich bin schlecht, ich bin ekelhaft, aber ich befasse mich mit moralischer Selbstvervollkommnung: ich esse kein Fleisch mehr und ernähre mich jetzt von Reiskoteletts«. Einerseits schonungslose Kritik der kapitalistischen Ausbeutung, Entlarvung der Gewalttaten der Regierung, der Komödie der Justiz und der staatlichen Verwaltung, Enthüllung der ganzen Tiefe der Widersprüche zwischen dem Wachstum des Reichtums und der Errungenschaften der Zivilisation und dem Wachstum der Armut, der Verwilderung und der Qualen der Arbeitermassen; andererseits ein blödsinniges Predigen des »Widersetze dich dem Bösen nicht durch Gewalt«. Einerseits nüchternster Realismus, Herunterreißen aller und jeglicher Masken, andererseits das Predigen eines der niederträchtigsten Dinge, die es überhaupt auf der Welt gibt, nämlich der Religion, – das Streben, an Stelle beamteter Popen Popen aus sittlicher Ueberzeugung zu setzen, d. h. das Kultivieren des raffiniertesten und deshalb besonders widerwärtigen Pfaffentums. Wahrhaftig:

O du armseliges und doch gesegnetes,
O du so mächtiges und doch ohnmächtiges
Mütterchen Rußland! Aus einem Gedicht Nekrassows (1822-1877).

Daß Tolstoi angesichts solcher Widersprüche sowohl die Arbeiterbewegung und ihre Rolle im Kampf für den Sozialismus als auch die russische Revolution absolut nicht verstehen konnte, liegt auf der Hand. Doch sind die Widersprüche in den Anschauungen und Lehren Tolstois keine Zufälligkeiten, sondern vielmehr der Ausdruck jener widerspruchsvollen Bedingungen, in die das russische Leben des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts versetzt worden war. Das patriarchalische Dorf, erst gestern von der Leibeigenschaft befreit, wurde dem Kapital und dem Fiskus buchstäblich zur Ausplünderung ausgeliefert. Die alten Grundpfeiler der Bauernwirtschaft und des Bauernlebens, Grundpfeiler, die sich tatsächlich Jahrhunderte hindurch gehalten hatten, brachen ungewöhnlich schnell zusammen. Und die Widersprüche in den Anschauungen Tolstois sind nicht unter dem Gesichtspunkte der modernen Arbeiterbewegung und des modernen Sozialismus zu beurteilen (eine solche Beurteilung ist natürlich notwendig, aber sie genügt nicht), sondern vom Gesichtspunkte jenes Protestes gegen den anrückenden Kapitalismus, gegen die Ruinierung und das Landlosmachen der Massen, der im patriarchalischen russischen Dorfe entstehen mußte. Tolstoi ist lächerlich als Prophet, der neue Rezepte zur Rettung der Menschheit erfunden haben will, und schon ganz kläglich sind darum die ausländischen und russischen »Tolstoianer«, die ausgerechnet die schwächste Seite seiner Lehre zum Dogma erheben wollen. Tolstoi ist groß, soweit er die Ideen und Stimmungen zum Ausdruck bringt, die zur Zeit des Anbruchs der bürgerlichen Revolution in Rußland die Millionenmasse der russischen Bauernschaft erfaßt hatten. Tolstoi ist originell, weil die Gesamtheit seiner Anschauungen, als Ganzes schädlich, gerade die Besonderheiten unserer Revolution als einer bürgerlichen Bauernrevolution zum Ausdruck bringt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, sind die Widersprüche in den Anschauungen Tolstois ein wirklicher Spiegel der widerspruchsvollen Bedingungen, in die die historische Tätigkeit der Bauernschaft während unserer Revolution versetzt wurde. Einerseits hatten der jahrhundertelange Druck der Leibeigenschaft und die Jahrzehnte des forcierten Ruins nach der Reform »Reform« ist hier die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland 1861. eine Unmenge von Haß, Erbitterung und verzweifelter Entschlossenheit aufgespeichert. Das Bestreben, sowohl die offizielle Kirche als auch die Gutsbesitzer samt ihrer Regierung bis auf den Grund hinwegzufegen, alle alten Formen und Regelungen des Grundbesitzes zu zerschlagen, das Land zu säubern und an Stelle des Polizei- und Klassenstaates ein Gemeinwesen freier und gleichberechtigter Kleinbauern aufzurichten, – dieses Bestreben durchzieht wie ein roter Faden jeden historischen Schritt der Bauern in unserer Revolution, und zweifellos entspricht der geistige Inhalt der Werke Tolstois viel mehr diesem Bestreben der Bauern als dem abstrakten »christlichen Anarchismus«, als welcher das »System« seiner Anschauungen mitunter gewertet wird.

Andererseits verhielt sich die Bauernschaft in ihrem Streben nach neuen Formen des Zusammenlebens sehr unbewußt, patriarchalisch und närrisch der Frage gegenüber, wie dieses Gemeinwesen aussehen soll, durch welchen Kampf die Freiheit zu erringen ist, was für Führer die Bauernschaft in diesem Kampfe haben kann, wie sich das Bürgertum und die bürgerlichen Intellektuellen zur Bauernrevolution verhalten, warum für die Vernichtung des gutsherrlichen Grundbesitzes ein gewaltsamer Sturz der Zarenmacht notwendig ist. Die ganze Vergangenheit hat die Bauernschaft den Haß gegen den Gutsherrn und den Tschinownik gelehrt, hat sie aber nicht gelehrt und konnte sie auch nicht lehren, wo die Antwort auf all diese Fragen zu suchen wäre. In unserer Revolution hat nur der kleinere Teil der Bauernschaft wirklich gekämpft und sich zu diesem Zweck wenigstens einigermaßen organisiert, und nur ein ganz geringer Teil hat sich mit der Waffe in der Hand zur Ausrottung seiner Feinde, zur Vernichtung der Zarenknechte und der Verteidiger der Gutsbesitzer erhoben. Die Mehrzahl der Bauernschaft jammerte und betete, räsonierte und träumte, schrieb Gesuche und entsandte »Fürsprecher« – ganz im Geiste von Leo Nikolajewitsch Tolstoi! Und wie es immer in solchen Fällen zu sein pflegt, hatte die tolstoianische Enthaltsamkeit von der Politik, die tolstoianische Verleugnung der Politik, der Mangel an Interesse und Verständnis für die Politik zur Folge, daß dem klassenbewußten und revolutionären Proletariat nur eine Minderheit der Bauernschaft folgte, die Mehrheit dagegen die Beute jener prinzipienlosen und speichelleckerischen bürgerlichen Intellektuellen wurde, die, Kadetten genannt, in die Versammlungen der Trudowiki und in das Vorzimmer Stolypins Stolypin – Premierminister in der Epoche der Reaktion nach 1905. Seine Politik wird durch seine Worte charakterisiert: »Zunächst Beruhigung, dann Reformen«. Die »Beruhigung« suchte er durch Zertrümmerung der Gewerkschaften, Aufhebung der politischen Freiheiten, Erdrosselung der Arbeiterpresse usw. zu erreichen. Seine Reform bestand darin, die wohlhabenden Bauern von der Dorfgemeinde loszulösen, sie in Einzelgehöften anzusiedeln und dadurch lebensfähige Farmerwirtschaften zu schaffen, die eine Stütze des Zarismus auf dem Lande sein sollten. Seine Politik wurde vom rechten Flügel der Bourgeoisie unterstützt. liefen, bettelten, kuhhandelten, versöhnten, zu versöhnen versprachen, – bis sie durch einen Fußtritt des Militärstiefels hinausgeworfen wurden. Tolstois Ideen sind der Spiegel der Schwächen und der Mängel unseres Bauernaufstandes, die Widerspiegelung der Schwammigkeit des patriarchalischen Dorfes und der vertrockneten Feigheit des »wirtschaftlichen Bäuerleins«.

Man betrachte die Soldatenaufstände von 1905-1906. Ihrer sozialen Herkunft nach stellen diese Kämpfer unserer Revolution ein Mittelding dar zwischen Bauernschaft und Proletariat. Das letztere ist in der Minderheit, deshalb zeigt die Bewegung innerhalb der Truppen nicht annähernd solche Geschlossenheit im Reichsmaßstabe, solches Parteibewußtsein, wie es vom Proletariat an den Tag gelegt wurde, als es gleichsam auf einen Wink hin sozialdemokratisch wurde. Andererseits gibt es keine irrigere Meinung als die, daß die Ursachen des Mißlingens der Soldatenaufstände in dem Mangel an Führern aus dem Offiziersstande zu suchen seien. Im Gegenteil, der riesengroße Fortschritt der Revolution seit der Zeit der »Narodnaja Wolja« äußerte sich gerade darin, daß das »graue Viehzeug« zur Waffe gegen die Obrigkeit griff, eine Selbständigkeit, die die liberalen Gutsbesitzer und die liberalen Offiziere so sehr erschreckte. Der Soldat war voller Sympathie für die Sache der Bauern: seine Augen glühten auf bei der bloßen Erwähnung von Land. Mehrfach war die Macht bei den Truppen in die Hände der Soldatenmasse übergegangen, doch hat es fast nie eine entschlossene Ausnützung dieser Macht gegeben; die Soldaten schwankten; einige Stunden, nachdem sie irgendeinen verhaßten Vorgesetzten getötet hatten, setzten sie die anderen in Freiheit, traten in Verhandlungen mit den Behörden und ließen sich dann erschießen, legten sich unter die Ruten, ließen sich wieder ins Joch spannen – ganz im Geiste von Leo Nikolajewitsch Tolstoi!

Tolstoi hat den aufgespeicherten Haß, das reif gewordene Streben zum Besseren, den Wunsch, sich von dem Vergangenen zu befreien, – aber auch die Unreife der Träumereien, den Mangel an politischer Erziehung, die revolutionäre Schwammigkeit wiedergegeben. Die historisch-ökonomischen Bedingungen erklären sowohl die Notwendigkeit der Entstehung des revolutionären Kampfes der Massen wie auch den Mangel an Vorbereitung zum Kampf und das tolstoianische »Sich dem Bösen nicht widersetzen«, das eine ganz ernste Ursache der Niederlage der ersten revolutionären Kampagne war.

Man sagt, geschlagene Armeen pflegen gut zu lernen. Gewiß, ein Vergleich revolutionärer Klassen mit Armeen ist nur in ganz begrenztem Sinne richtig. Die Entwicklung des Kapitalismus verändert und verschärft mit jeder Stunde die Bedingungen, durch die die Millionenmasse der Bauern, zusammengeschweißt durch gemeinsamen Haß gegen die grundherrlichen Sklavenhalter und ihre Regierung, in einen revolutionär-demokratischen Kampf getrieben wurde. Innerhalb der Bauernschaft selbst verdrängt das Wachsen des Warenaustausches, der Herrschaft des Marktes und der Macht des Geldes immer mehr die patriarchalischen alten Zustände und die patriarchalische philosophische Ideologie. Doch eine Errungenschaft der ersten Jahre der Revolution und der ersten Niederlagen im revolutionären Massenkampfe steht außer Zweifel: das ist der Todesstoß, der der früheren Weichlichkeit und Mürbigkeit der Massen versetzt wurde. Die Trennungslinien sind schärfer geworden. Klassen und Parteien haben sich voneinander abgesondert. Unter dem Hammer der von Stolypin erteilten Lehren, bei beharrlicher, konsequenter Agitation der revolutionären Sozialdemokraten wird nicht nur das sozialistische Proletariat, sondern werden auch die demokratischen Massen der Bauernschaft unvermeidlich immer gestähltere Kämpfer hervorbringen, die immer weniger in unsere historische Sünde des Tolstoianertums verfallen werden!

(»Proletarij« Nr. 35, 11. [24.] September 1908)


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