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I. Sozialismus und Religion

(1905)

Die heutige Gesellschaft ist ganz auf der Ausbeutung der ungeheuren Massen der Arbeiterklasse durch eine verschwindend kleine, zu den Klassen der Grundbesitzer und Kapitalisten gehörende Minderheit der Bevölkerung aufgebaut. Es ist eine sklavenhaltende Gesellschaft, denn die »freien« Arbeiter, die ihr ganzes Leben lang für das Kapital schuften, »haben Anrecht« lediglich auf solche Existenzmittel, die zum Lebensunterhalt von Sklaven, die Profit erzeugen, zur Sicherung und Verewigung der kapitalistischen Sklaverei notwendig sind.

Die ökonomische Unterdrückung der Arbeiter verursacht und erzeugt unvermeidlich alle möglichen Arten politischer Unterdrückung und sozialer Erniedrigung, führt zur Verrohung und Verkümmerung des geistigen und sittlichen Lebens der Massen. Die Arbeiter können sich mehr oder weniger politische Freiheit für ihren Kampf um ökonomische Befreiung erringen, aber keine Freiheit wird sie von der Armut, der Arbeitslosigkeit und der Knechtschaft erlösen, solange die Macht des Kapitals nicht gestürzt ist. Die Religion ist eine Art des geistigen Druckes, der überall und allenthalben auf den Volksmassen lastet, die durch ewige Arbeit für andere, durch Not und Vereinsamung niedergedrückt werden. Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampfe gegen ihre Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben nach dem Tode, wie die Ohnmacht des Wilden in seinem Kampfe mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder und dergleichen hervorruft. Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Geduld hienieden, und sie vertröstet ihn mit Hoffnungen auf himmlischen Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, indem sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins gibt und zu annehmbaren Preisen Eintrittskarten zur himmlischen Seligkeit verkauft. Die Religion ist das Opium des Volks »Religion ist das Opium des Volks.« Dieser Satz aus Marx' Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1844) – siehe Marx-Engels, »Ueber historischen Materialismus«, Teil I, S. 17 (»Elementarbücher des Kommunismus«, 1930) – wurde von den Bolschewiken nach der siegreichen Revolution 1917 in Moskau an der Mauer gegenüber der berühmten Kapelle der iberischen Gottesmutter eingemeißelt.. Die Religion ist eine Art geistiger Fusel, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihren Anspruch auf eine halbwegs menschenwürdige Existenz ersäufen.

Doch der Sklave, der sich seiner Sklaverei bewußt geworden ist und sich zum Kampf für seine Befreiung erhoben hat, hat zur Hälfte bereits aufgehört, Sklave zu sein. Der moderne klassenbewußte Arbeiter, von der Großindustrie erzogen, durch das städtische Leben aufgeklärt, wirft mit Verachtung die religiösen Vorurteile von sich, überläßt den Himmel den Pfaffen und bürgerlichen Frömmlern und erkämpft sich ein besseres Leben hier auf Erden. Das heutige Proletariat tritt auf die Seite des Sozialismus, der die Wissenschaft zum Kampf gegen den religiösen Nebeldunst heranzieht und die Arbeiter vom Glauben an ein jenseitiges Leben dadurch befreit, daß er sie zum wirklichen Kampf um ein besseres irdisches Leben zusammenschweißt.

»Erklärung der Religion zur Privatsache« – in diesen Worten wird gewöhnlich das Verhältnis der Sozialisten zur Religion ausgedrückt. Doch muß man die Bedeutung dieser Worte genau definieren, damit sie keine Mißverständnisse hervorrufen können. Wir fordern, daß die Religion Privatsache sei gegenüber dem Staat, können aber keinesfalls die Religion in bezug auf unsere eigene Partei als Privatsache betrachten. Der Staat soll mit der Religion nichts zu tun haben, die Religionsgemeinschaften dürfen mit der Staatsmacht nicht verknüpft sein. Jeder muß vollkommen frei sein, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen, oder auch gar keine Religion anzuerkennen, d. h. Atheist zu sein, was ja in der Regel jeder Sozialist auch ist. Alle durch das religiöse Bekenntnis bestimmten Unterschiede in den Rechten der Staatsbürger sind völlig unzulässig. Selbst die Erwähnung der Konfessionszugehörigkeit der Staatsbürger in offiziellen Dokumenten muß unbedingt ausgemerzt werden. Keine Zuwendungen an eine Staatskirche, keine Zuwendungen von Staatsmitteln an kirchliche und religiöse Gemeinschaften, die vielmehr völlig freie, von den Behörden unabhängige Vereinigungen gleichgesinnter Bürger werden müssen. Nur die restlose Erfüllung dieser Forderungen kann jener schändlichen und verfluchten Vergangenheit ein Ende machen, wo die Kirche im Hörigkeitsverhältnis gegenüber dem Staate, und die Bürger im Hörigkeitsverhältnis gegenüber der Staatskirche waren, wo mittelalterliche Inquisitionsgesetze Mittelalterliche Maßnahmen zur Feststellung und Bestrafung der »Ketzerei«. bestanden und Anwendung fanden (die bis auf den heutigen Tag in unseren Strafgesetzen Desgl. auch das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 166 und die ebenso reaktionären Bestimmungen des neuen Strafgesetzentwurfes. und -verordnungen erhalten geblieben sind), die Glauben oder Unglauben verfolgten, das Gewissen der Menschen vergewaltigten, Staatspöstchen und Staatspfründen mit der Verteilung dieses oder jenes Staatskirchenfusels verknüpften. Vollständige Trennung der Kirche vom Staat – das ist die Forderung, die das sozialistische Proletariat an den heutigen Staat und die heutige Kirche stellt Aehnlich formulierte Lenin in seiner 1903 geschriebenen Flugschrift »An die Dorfarmut«: »Die Sozialdemokraten verlangen weiter, daß jeder das Recht habe, sich vollkommen frei zu einem beliebigen Glauben zu bekennen. Von allen europäischen Staaten haben nur Rußland und die Türkei noch schmachvolle Gesetze gegen Leute eines anderen, nicht orthodoxen Glaubens, gegen die Raskolniki, Sektierer, Juden. Diese Gesetze verbieten entweder einen bestimmten Glauben überhaupt oder sie verbieten, ihn zu verbreiten, und nehmen Leuten eines bestimmten Glaubens verschiedene Rechte. Alle diese Gesetze gehören zu den ungerechtesten, gewalttätigsten, schmachvollsten. Jeder muß die vollständige Freiheit haben, sich nicht nur zu jedem beliebigen Glauben zu bekennen, sondern auch jeden beliebigen Glauben zu verbreiten und den Glauben zu wechseln. Kein Beamter darf auch nur das Recht haben, irgendwen nach seinem Glauben zu fragen: das ist Sache des Gewissens, und niemand darf sich da einmischen. Es darf keinen » herrschenden« Glauben und keine » herrschende« Kirche geben. Alle Glaubensbekenntnisse, alle Kirchen müssen vor dem Gesetz gleich sein. Den Geistlichen der verschiedenen Glaubensbekenntnisse können diejenigen einen Unterhalt geben, die zu ihrem Glauben gehören, der Staat aber darf aus staatlichen Geldern keinen einzigen Glauben unterstützen, darf keinem Geistlichen, weder den orthodoxen noch denen der Raskolniki oder der Sektierer oder irgendeiner andern Kirche, den Unterhalt geben. Dafür kämpfen die Sozialdemokraten, und solange diese Maßnahmen nicht ohne Ausflüchte, ohne Hintertüren durchgeführt sind, wird das Volk sich von den schmachvollen polizeilichen Verfolgungen wegen seines Glaubens und von den nicht weniger schmachvollen Polizeialmosen für einen bestimmten Glauben nicht befreien können.« (Siehe Lenin, Sämtliche Werke, Bd. V, S. 418 f.).

Die russische Revolution muß diese Forderung als unentbehrlichen Bestandteil der politischen Freiheit verwirklichen. Die russische Revolution vollzieht sich in dieser Beziehung unter besonders vorteilhaften Bedingungen; denn das widerwärtige Kasernenregime der politisch feudalistischen Selbstherrschaft hat selbst innerhalb der Geistlichkeit Unzufriedenheit, Gärung und Empörung hervorgerufen. So geduckt und unwissend die russische rechtgläubige Geistlichkeit auch gewesen sein mag, selbst sie hat jetzt der dröhnende Sturz der alten, mittelalterlichen Ordnung in Rußland geweckt. Selbst sie schließt sich der Forderung nach Freiheit an, protestiert gegen das Kasernenregime und die Beamtenwillkür, gegen die polizeilichen Spitzeldienste, die den »Dienern Gottes« auferlegt werden. Wir Sozialisten müssen diese Bewegung unterstützen, indem wir die Forderungen der ehrlichen und aufrichtigen Leute innerhalb der Geistlichkeit bis zu Ende entwickeln, sie dort, wo sie von Freiheit sprechen, beim Wort nehmen, von ihnen fordern, daß sie jede Verbindung zwischen Religion und Polizei entschieden zerreißen. Entweder seid ihr aufrichtig – dann müßt ihr für die völlige Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche eintreten, dafür eintreten, daß die Religion bedingungslos und ohne Einschränkungen zur Privatsache erklärt wird. Oder aber ihr akzeptiert diese konsequenten Forderungen nach Freiheit nicht – dann seid ihr also immer noch in den Ueberlieferungen der Inquisition befangen, klebt also immer noch an den Staatspöstchen und Staatspfründen, ihr glaubt also nicht an die geistige Kraft eurer Waffe, laßt euch auch weiterhin von der Staatsmacht bestechen – dann erklären euch die klassenbewußten Arbeiter ganz Rußlands den schonungslosen Krieg.

In bezug auf die Partei des sozialistischen Proletariats ist die Religion keine Privatsache. Unsere Partei ist ein Bund der klassenbewußten, vorgeschrittenen Kämpfer um die Befreiung der Arbeiterklasse. Ein solcher Bund kann und darf sich gegenüber dem Fehlen des Klassenbewußtseins, gegenüber der Unwissenheit und dem Irrsinn des religiösen Glaubens nicht gleichgültig verhalten. Wir fordern die vollständige Trennung der Kirche vom Staat, um gegen den religiösen Nebel mit rein geistigen und nur geistigen Waffen, mit unserer Presse, unserem Wort, kämpfen zu können. Aber wir haben unseren Bund, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, unter anderem gerade für einen solchen Kampf gegen jede religiöse Verdummung der Arbeiter gegründet. Für uns ist der geistige Kampf keine Privatsache, sondern eine Angelegenheit der ganzen Partei, des gesamten Proletariats.

Wenn dem so ist, warum erklären wir nicht in unserem Programm, daß wir Atheisten sind? Warum verbieten wir nicht Christen und Gottesgläubigen, in unsere Partei einzutreten?

Die Antwort auf diese Frage wird einen äußerst wichtigen Unterschied zwischen der bürgerlich-demokratischen und der sozialdemokratischen Fragestellung in bezug auf die Religion klarmachen.

Unser Programm beruht ganz auf wissenschaftlicher, und zwar materialistischer Weltanschauung. Die Erläuterung unseres Programms schließt daher notwendigerweise auch die Klarlegung der wahren historischen und ökonomischen Wurzeln des religiösen Nebels ein. Unsere Propaganda schließt notwendigerweise auch die Propaganda des Atheismus ein; die Herausgabe entsprechender wissenschaftlicher Literatur, die bisher von der absolutistisch-feudalen Staatsmacht streng verboten war und verfolgt wurde, muß jetzt einen Zweig unserer Parteiarbeit bilden. Wir werden jetzt wahrscheinlich den Rat befolgen müssen, den Engels F. Engels, »Internationales aus dem Volksstaat (1871 bis 1875)«, Berlin 1894, S. 44: »[Es] wäre doch nichts einfacher, als dafür zu sorgen, daß die prachtvolle französische materialistische Literatur des vorigen Jahrhunderts massenhaft unter den Arbeitern verbreitet würde, jene Literatur, in der der französische Geist nach Form und Inhalt bisher sein Höchstes geleistet hat und die – den damaligen Stand der Wissenschaft berücksichtigt – dem Inhalt nach auch heute noch unendlich hoch steht und der Form nach nie wieder erreicht worden ist« (aus dem Volksstaat 1874). einmal den deutschen Sozialisten erteilte: die französische atheistische und Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts zu übersetzen und in Massen zu verbreiten.

Aber wir dürfen uns dabei auf keinen Fall dazu verleiten lassen, die religiöse Frage abstrakt, idealistisch, »aus der Vernunft«, außerhalb des Klassenkampfes zu stellen, wie dies häufig bei den radikalen bürgerlichen Demokraten der Fall ist. Es wäre unsinnig, zu glauben, daß man in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, rein propagandistisch die religiösen Vorurteile zerstreuen könne. Es wäre bürgerliche Beschränktheit, zu vergessen, daß der auf der Menschheit lastende Druck der Religion nur das Produkt und die Widerspiegelung des ökonomischen Druckes innerhalb der Gesellschaft ist. Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda kann man das Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren Gewalten des Kapitalismus aufgeklärt wird. Die Einheitlichkeit dieses wirklichen revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für die Schaffung eines Paradieses auf Erden ist uns wichtiger als die Einheitlichkeit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel.

Das ist der Grund, warum wir in unserem Programm nichts über unseren Atheismus verlautbaren und nichts verlautbaren dürfen So verlangte auch das von Lenin und Plechanow entworfene Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (1903) nur »Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche« (vgl. Lenin, »Sämtliche Werke«, V, S. 526). Lenins Entwurf der Umarbeitung des Parteiprogramms (1917) fügte noch die Worte an: »völlige Weltlichkeit der Schule«.; das ist der Grund, warum wir den Proletariern, die noch diese oder jene Ueberbleibsel der alten Vorurteile bewahrt haben, die Annäherung an unsere Partei nicht verbieten und nicht verbieten dürfen. Die wissenschaftliche Weltanschauung werden wir immer propagieren, die Inkonsequenz irgendwelcher »Christen« zu bekämpfen, ist für uns unerläßlich; aber das bedeutet keineswegs, daß man die religiöse Frage an die erste Stelle, die ihr durchaus nicht zukommt, rücken muß, daß man die Zersplitterung der Kräfte des wirklich revolutionären, des ökonomischen und politischen Kampfes um drittrangiger Meinungen oder abgeschmackter Einbildungen willen zulassen soll, die ja rasch jede politische Bedeutung verlieren und durch den Gang der ökonomischen Entwicklung selbst rasch in die Rumpelkammer geworfen werden.

Die reaktionäre Bourgeoisie hat überall danach getrachtet und beginnt jetzt auch bei uns danach zu trachten, den religiösen Haß zu entfachen, um die Aufmerksamkeit der Massen von den tatsächlich wichtigen und grundlegenden ökonomischen und politischen Fragen, deren Lösung das sich in seinem revolutionären Kampfe jetzt praktisch vereinigende gesamtrussische Proletariat in Angriff nimmt, auf das religiöse Gebiet abzulenken. Diese reaktionäre Politik der Zersplitterung der proletarischen Kräfte, die sich heute hauptsächlich in Pogromen der Schwarzen Hundert »Schwarze Hundert« wurden die vom »Bund des russischen Volkes« (einer im Oktober 1905 von Gutsbesitzern, Groß- und Kleinbürgern, Polizeibeamten usw. gegründeten Organisation) unter Heranziehung des Lumpenproletariats zusammengestellten Banden genannt, die die Pogrome gegen die Juden und gegen andere nationale Minderheiten sowie gegen revolutionäre Arbeiter und Intellektuelle durchführten. äußert, wird morgen vielleicht auch irgendwelche feinere Formen ersinnen. Wir werden ihr in jedem Fall die ruhige, beharrliche und geduldige, jeder Aufbauschung untergeordneter Meinungsverschiedenheiten fernstehende Propaganda der proletarischen Solidarität und der wissenschaftlichen Weltanschauung entgegensetzen.

Das revolutionäre Proletariat wird es durchsetzen, daß die Religion für den Staat wirklich Privatsache wird. Und unter diesem, vom mittelalterlichen Moder gesäuberten politischen Regime wird das Proletariat einen großzügigen, offenen Kampf für die Beseitigung der wirtschaftlichen Sklaverei, der wahren Quelle der religiösen Verdummung der Menschheit, aufnehmen.

(»Nowaja Shisn« Nr. 28, 3. Dezember 1905.)


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