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III. Klassen und Parteien in ihrem Verhältnis zur Religion und Kirche

(1909)

Die in der Reichsduma Reichsduma – die höchste gesetzgebende Institution im zaristischen Rußland, ein Ergebnis der Revolution von 1905. Die erste (1906) wie die zweite Reichsduma (1907) gerieten in Konflikt mit der Regierung und wurden aufgelöst. Am 3. Juni 1907 erließ Minister Stolypin (siehe auch Teil VI, Anm. 4) gleichzeitig mit dem Auseinanderjagen der zweiten Reichsduma, unter Verletzung der Verfassung, ein Edikt, in dem das für die Arbeiter und Bauern ohnehin schon stark beschränkte Wahlrecht noch mehr zugunsten der Großgrundbesitzer und der Großbourgeoisie geändert wurde (so wurde u. a. das ständische Kurienwahlsystem eingeführt). Die dritte, die sog. »Dritte-Juni-Duma«, in der auf diese Weise eine monarchistische Mehrheit zustande gekommen war, existierte die gesetzliche Zeit. Die 4. Duma wurde von der Revolution 1917 liquidiert. über das Budget des Synods Heiliger Synod hieß die an der Spitze der russischen Kirche stehende Reichsbehörde. Ihre Mitglieder wurden vom Zaren ernannt, der selbst durch den Oberprokuror vertreten war, eine Person weltlichen Standes mit den Rechten und der Stellung eines Ministers., ferner über die Wiedereinsetzung von Personen, die aus dem geistlichen Stand ausgeschieden sind, in ihre Rechte und schließlich über die altgläubigen Die Altgläubigen (auch Raskolniki genannt) spalteten sich im 17. Jahrhundert von der orthodoxen Staatskirche ab. Sie hielten sich an die alten Bücher und Gebräuche, verwarfen aber zugleich auch die politische Zentralisation, ja oft sogar die Gewalt des Zaren selbst, die Bürokratie, die Rekrutenaushebungen u. a. An den Aufständen von Rasin und Pugatschew waren sie stark beteiligt. Sie hatten daher heftige Verfolgungen von Regierung und Kirche zu erdulden. Gemeinden geführten Debatten haben äußerst lehrreiches Material zur Charakterisierung der russischen politischen Parteien hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Religion und Kirche geliefert. Werfen wir einen allgemeinen Blick auf dieses Material und verweilen wir hauptsächlich bei dem Budget des Synods (stenographische Parlamentsberichte über die übrigen obenerwähnten Fragen haben wir noch nicht erhalten).

Die erste Schlußfolgerung, die bei der Betrachtung der Dumadebatten ganz besonders in die Augen springt, ist die, daß in Rußland nicht nur ein streitbarer Klerikalismus vorhanden ist, sondern, daß er offensichtlich immer mehr erstarkt und sich organisiert. Am 16. April erklärte der Bischof Metrophanes:

 

»Die ersten Schritte unserer Dumatätigkeit waren gerade darauf gerichtet, daß wir, die wir durch die hohe Volkswahl beehrt worden sind, hier in der Duma uns über alle Parteizersplitterungen erheben und eine geschlossene Gruppe der Geistlichkeit bilden, die alle Seiten von ihrem ethischen Standpunkte aus beleuchtete … Was war nun der Grund, warum wir zu dieser idealen Lage nicht gekommen sind? … Die Schuld liegt an denen, die mit Ihnen (d. h. den Kadetten Die Konstitutionell-Demokratische Partei, nach den Anfangsbuchstaben abgekürzt »Kadetten«, auch Partei der Volksfreiheit genannt, entstand im Oktober 1905. Die Hauptpunkte ihres Programms waren: Parlamentarische Monarchie, Ablösung eines Teiles des Grundherrenbesitzes zu einem »gerechten« Preise, Hebung der Lage der Arbeiter, Zulassung des Achtstundentages dort, wo es möglich ist. Ihre Taktik war die dem Opportunismus der Liberalen eigentümliche: den Massen gegenüber wohlklingende oppositionelle Phrasen, besonders in Zeiten revolutionären Aufschwunges, in Wirklichkeit beständiges Streben zur Verständigung mit der alten Macht. Während des Weltkrieges unterstützten die Kadetten die Eroberungspolitik des Zarismus. Unter dem Druck der Massen erklärten sich die Kadetten nach der Februarrevolution 1917 für die Republik. Sie wurden zur Regierungspartei und sammelten rasch alle konterrevolutionären Elemente um sich. Sie unterstützten den General Kornilow bei seinem konterrevolutionären Marsch auf Petrograd sowie den ganzen Kampf der russischen und internationalen Bourgeoisie gegen die Oktoberrevolution. In der Emigration spaltete sich die Partei: die Linken mit Miljukow an der Spitze in Paris blieben republikanisch und treten für einen Block mit den rechten Sozialrevolutionären ein, die Rechten, die sich um die in Berlin erscheinende Zeitung »Rul« gruppieren, kehrten zurück zum alten konstitutionell monarchistischen Programm und sind für eine Koalition mit den Monarchisten. und »Linken«) diese Bänke teilen, nämlich an jenen Abgeordneten aus der Geistlichkeit, die zur Opposition gehören. Sie haben als erste ihre Stimme erhoben und erklärt, daß das nichts mehr und nichts weniger wäre, als das Entstehen einer klerikalen Partei, was im höchsten Maße unerwünscht sei. Ueber Klerikalismus der russischen rechtgläubigen Geistlichkeit braucht man freilich kein Wort zu verlieren – Tendenzen ähnlicher Art haben wir nie gehabt – und durch den Wunsch, uns in einer besonderen Gruppe zusammenzuschließen, haben wir rein moralische, ethische Ziele verfolgt. Und jetzt, meine Herren, wo infolge einer solchen Uneinigkeit, die die linken Abgeordneten in unsere brüderliche Mitte getragen haben, Trennung und Zersplitterung erfolgt ist, jetzt schieben Sie (d. h. die Kadetten) die Schuld uns zu.«

Der Bischof Metrophanes hat in seiner Analphabetenrede ein Geheimnis ausgeplaudert: die Linken seien daran schuld, daß ein Teil der Dumapfaffen sich von der Bildung einer besonderen »ethischen« (dieses Wort ist für die Beschwindelung des Volkes natürlich bequemer als »klerikalen«) Gruppe abspenstig machen ließ.

Fast einen Monat später, am 13. Mai, verlas der Bischof Eulogius in der Duma einen »Beschluß der Dumageistlichkeit«:

»Die rechtgläubige Dumageistlichkeit vertritt in ihrer überwiegenden Mehrheit die Ansicht« … daß im Interesse »der bevorrechteten und vorherrschenden Lage der rechtgläubigen Kirche« weder die Freiheit des Predigens für die Altgläubigen noch eine bloß mit der Meldepflicht verbundene Gründungsordnung altgläubiger Gemeinden noch die Beilegung des Titels Priester für die altgläubigen Geistlichen zulässig sind.«

 

Der »rein moralische Standpunkt« der russischen Pfaffen hat sich als der reinste Klerikalismus offenbart …

Welcher ist nun der »rein moralische, ethische Standpunkt der überwiegenden Mehrheit der Dumageistlichkeit« (der vom 3. Juni, muß hinzugefügt werden)? Hier einige Auszüge aus den Reden:

 

»Ich sage nur, daß die Initiative dieser (d. h. kirchlicher) Reformen von innen heraus, von der Kirche selbst und nicht von außen, von Seiten des Staates ausgehen muß und gewiß nicht von seiten der Budgetkommission. Ist doch die Kirche eine göttliche und ewige Institution, ihre Gesetze unwandelbar, während die Ideale des Staatslebens bekanntlich fortwährenden Aenderungen unterliegen« (Bischof Eulogius am 14. April).

 

Der Redner erinnert an die »beunruhigende historische Parallele«, die Säkularisation Aneignung des Kirchengutes durch den weltlichen Staat. der kirchlichen Besitztümer unter Katharina II.

 

»Wer kann sich dafür verbürgen, daß die Budgetkommission, die in diesem Jahre den Wunsch ausgesprochen hat, sie (die Mittel der Kirche) der Staatskontrolle zu unterwerfen, im nächsten Jahre nicht den Wunsch äußern wird, sie in den allgemeinen Reichsschatz überzuführen, um dann ihre Verwaltung den Kirchenbehörden auch endgültig zu entziehen und den Zivil- oder Staatsbehörden zu übergeben? … Die Kirchenregeln besagen, daß, wenn die christlichen Seelen dem Bischof anvertraut sind, dies um so mehr von den Kirchengütern zu gelten hat … Heute steht vor Ihnen (den Dumaabgeordneten) Ihre geistige Mutter, die heilige, rechtgläubige Kirche: sie steht vor Ihnen nicht nur als vor Volksvertretern, sondern auch als vor ihren geistigen Kindern« (ebenda).

 

Wir haben vor uns den reinsten Klerikalismus. Die Kirche steht über dem Staat, wie das Ewige und Göttliche über dem Zeitlichen und Irdischen steht. Die Kirche verzeiht dem Staat die Säkularisation der Kirchengüter nicht. Die Kirche fordert für sich eine bevorrechtete und vorherrschende Stellung. Die Dumaabgeordneten sind für sie nicht nur – richtiger: nicht so sehr – Volksvertreter, als vielmehr ihre »geistigen Kinder«.

Das sind keine Beamten in Priestergewändern, wie sich der Sozialdemokrat Surkow ausdrückte, sondern Verfechter der Leibeigenschaft in Priestergewändern. Verteidigung der feudalen Privilegien der Kirche, offenes Eintreten für die mittelalterlichen Zustände – das ist das Wesen der von der Mehrheit der Geistlichkeit der dritten Duma betriebenen Politik. Der Bischof Eulogius ist durchaus keine Ausnahme. Auch Gepezki zetert über die »Säkularisation« als ein unzulässiges »Unrecht« (am 14. April). Der Pfaffe Maschkewitsch verdonnert den oktobristischen Oktobristen – Mitglieder des Verbandes des 17. Oktober, der Partei der reaktionären Großbourgeoisie und der rechten Kreise der Semstwoleute. Der gemäßigt-konstitutionelle Verband nahm von seiner Entstehung (1905) an sofort eine konterrevolutionäre Stellung ein, verteidigte den weißen Terror und die Feldgerichte. Weder in der ersten noch in der zweiten Duma spielte der Verband eine Rolle. Erst in der 3. Duma, die auf Grund eines stark gestutzten Wahlrechtes gewählt war, fingen die Oktobristen an, die Rolle einer Regierungspartei zu spielen, wurden aber sehr bald von der anwachsenden Reaktion für zu links befunden. Während des imperialistischen Krieges vertraten sie den Standpunkt des »Krieges bis zum siegreichen Ende« mit Annexionen und Kontributionen. Die Revolution 1917 drängte die Oktobristen sofort ins Lager der Konterrevolution. Bericht wegen des Bestrebens,

 

»jene historischen und kanonischen Pfeiler zu untergraben, auf denen unser kirchliches Leben ruhte und ruhen muß«, »das Leben und die Tätigkeit der russischen rechtgläubigen Kirche vom kanonischen Weg auf einen solchen zu lenken, auf dem … die wirklichen Kirchenfürsten – die Bischöfe – fast alle ihre von den Aposteln geerbten Rechte werden an weltliche Fürsten abtreten müssen« … »Das ist nichts anderes, als … ein Anschlag auf fremdes Eigentum sowie auf die Rechte und das Vermögen der Kirche« … »Der Berichterstatter führt uns zur Zerstörung der kanonischen Ordnung des kirchlichen Lebens, er will die rechtgläubige Kirche mit all ihren wirtschaftlichen Funktionen der Reichsduma unterordnen, einer Institution, die aus den verschiedenartigsten Elementen besteht, aus geduldeten und nicht geduldeten Konfessionen in unserem Staate« (am 14. April).

 

Die russischen Narodniki und Liberalen trösteten, oder richtiger, betrogen sich lange mit der »Theorie«, in Rußland sei kein Boden vorhanden für einen streitbaren Klerikalismus, für den Kampf der »Kirchenfürsten« gegen die weltliche Macht und dergleichen. Zusammen mit den übrigen volkstümlerischen und liberalen Illusionen hat unsere Revolution auch diese Illusion zerstört. Der Klerikalismus bestand in versteckter Form, solange die Selbstherrschaft unversehrt und unangetastet bestand. Die Allmacht der Polizei und der Bürokratie verhüllte vor den Augen der »Gesellschaft« und des Volkes den Klassenkampf im allgemeinen und den Kampf der »Verfechter der Leibeigenschaft im Priestergewande« gegen den »gemeinen Pöbel« im besonderen. Aber bereits die erste Bresche, die das revolutionäre Proletariat und die Bauernschaft in die feudale Selbstherrschaft schlugen, machte das Unsichtbare sichtbar. Sobald das Proletariat und die fortgeschrittensten Elemente der bürgerlichen Demokratie Ende 1905 die politische Freiheit, die Freiheit der Organisierung der Massen erobert hatten und davon Gebrauch zu machen begannen, trachteten auch die reaktionären Klassen nach einer selbständigen und offenen Organisation. Unter dem unumschränkten Absolutismus organisierten sie sich nicht und traten nicht besonders auffallend auf, – nicht weil sie schwach, sondern weil sie stark waren, nicht weil sie zur Organisierung und zum politischen Kampf unfähig gewesen wären, sondern weil sie damals noch keine ernste Notwendigkeit einer selbständigen Klassenorganisation sahen. Sie glaubten nicht an die Möglichkeit einer Massenbewegung gegen die Selbstherrschaft und die Feudalen in Rußland. Sie verließen sich voll und ganz darauf, daß die Knute genüge, um den Pöbel im Zaum zu halten. Gleich die ersten Wunden, die der Selbstherrschaft geschlagen wurden, zwangen die sozialen Elemente, die die Selbstherrschaft unterstützen und sie benötigen, ans Licht zu treten. Gegen Massen, die fähig waren, den 9. (22.) Januar 22. (9.) Januar 1905 – der »blutige Sonntag« in Petersburg, an dem der Zar auf eine friedliche Arbeiterdemonstration (unter Führung des Popen Gapon) schießen ließ. Es gab mehrere 1000 Tote und Verwundete., die Streikbewegung von 1905 und die Oktober-Dezemberrevolution zu schaffen, ist es nicht mehr möglich, mit der alten Knute allein zu kämpfen. Es gilt, die Bahn selbständiger politischer Organisationen zu betreten; es ist notwendig, daß der Rat des vereinigten Adels Schwarze Hundertschaften organisiert und die hemmungsloseste Demagogie entwickelt; es ist notwendig, daß »die Kirchenfürsten – die Bischöfe« die reaktionäre Geistlichkeit als eine selbständige Kraft organisieren.

Die dritte Duma und die Dritte-Duma-Periode der russischen Konterrevolution werden gerade dadurch gekennzeichnet, daß diese Organisierung der reaktionären Kräfte zum Durchbruch gelangt ist, sich im gesamtnationalen Maßstabe zu entfalten begonnen hat und ein besonderes, erzreaktionär-bürgerliches »Parlament« erforderlich gemacht hat. Der streitbare Klerikalismus ist augenscheinlich geworden, und die russische Sozialdemokratie wird nunmehr des öfteren Zuschauer und Teilnehmer bei Konflikten zwischen der klerikalen mit der nichtklerikalen Bourgeoisie sein müssen. Besteht unsere allgemeine Aufgabe darin, dem Proletariat zu helfen, sich zu einer besonderen Klasse zusammenzuschließen, die sich von der bürgerlichen Demokratie abzugrenzen versteht, so ist ein Bestandteil dieser Aufgabe die Ausnutzung aller Propaganda- und Agitationsmittel, darunter auch der Dumatribüne, um den Massen die Unterschiede zwischen sozialistischem und bürgerlichem Antiklerikalismus klarzumachen.

Die Oktobristen und die Kadetten haben uns durch ihr Auftreten in der dritten Duma gegen die äußersten Rechten, gegen die Klerikalen und die Regierung, diese Aufgabe außerordentlich erleichtert, weil sie anschaulich das Verhältnis der Bourgeoisie zu Kirche und Religion gezeigt haben. Die legale Presse der Kadetten und der sogenannten Progressisten sucht jetzt besonders die Aufmerksamkeit auf die Frage der Altgläubigen zu richten, darauf, daß sich die Oktobristen zusammen mit den Kadetten gegen die Regierung erklärt hätten, daß sie, sei es auch im Kleinen, »den Weg der am 17. Oktober Am 30. ( 17.) Oktober 1905 erließ die Zarenregierung ein Manifest, in dem die Schaffung der Reichsduma und die Sicherung der bürgerlichen Freiheiten versprochen wurde. Das Manifest war ein Ergebnis der breit angewachsenen revolutionären Bewegung. versprochenen Reformen beschritten hätten«. Uns interessiert weit mehr die prinzipielle Seite der Frage, d. h. die Stellung, die die Bourgeoisie überhaupt, einschließlich der auf den Namen Demokraten pochenden Kadetten, gegenüber Kirche und Religion einnimmt. Wir dürfen nicht zulassen, daß durch eine verhältnismäßig partielle Frage, wie es der Konflikt der Altgläubigen mit der herrschenden Kirche ist, das Verhalten der mit den Altgläubigen verbundenen und zum Teil von ihnen sogar direkt finanziell abhängigen Oktobristen (der »Golos Moskwy« » Golos Moskwy« (»Die Stimme Moskaus«) – Tageszeitung der Oktobristen, die 1906-1915 erschien und die Politik der Zarenregierung unterstützte. soll, wie es heißt, von den Altgläubigen finanziert werden) die grundlegende Frage nach den Interessen und der Politik der Bourgeoisie als Klasse verdeckt wird.

Man betrachte die Rede des Grafen Uwarow, der, der Richtung nach Oktobrist, aus der Fraktion der Oktobristen ausgeschieden ist. Nach der Rede des Sozialdemokraten Surkow auftretend, verzichtet er von vornherein darauf, die Frage auf jenen prinzipiellen Boden zu stellen, auf den sie der Arbeiterdeputierte gestellt hatte. Uwarow beschränkt sich auf Angriffe gegen den Synod und den Oberprokuror wegen dessen Weigerung, der Duma Auskunft über einige Kircheneinnahmen und über die Verausgabung der Parochialgelder zu geben. Genau so wird die Frage von Kamenski, dem offiziellen Vertreter der Oktobristen, gestellt (am 16. April), der »im Interesse der Festigung des orthodoxen Glaubens« die Wiederherstellung des Kirchspiels fordert. Dieser Gedanke wird von Kapustin, einem sogenannten »linken Oktobristen«, weitergesponnen:

 

»Wenn wir uns dem Volksleben, dem Leben der Landbevölkerung zuwenden, – ruft er aus, – so sehen wir jetzt eine traurige Erscheinung: es wankt das religiöse Leben, es wankt die größte, die einzige Stütze der sittlichen Verfassung der Bevölkerung … Wodurch soll der Begriff der Sünde, die Stimme des Gewissens ersetzt werden? Es kann doch nicht sein, daß das durch den Begriff des Klassenkampfes und der Rechte der einen oder der anderen Klasse ersetzt werden soll. Das ist ein trauriger Begriff, der uns zur alltäglichen Gewohnheit geworden ist. Und nun, von dem Standpunkte aus, daß die Religion als Grundlage der Sittlichkeit weiter bestehen und der gesamten Bevölkerung zugänglich sein muß, ist es erforderlich, daß diejenigen, die diese Religion übermitteln, die entsprechende Autorität genießen« …

 

Der Vertreter der konterrevolutionären Bourgeoisie will die Religion stärken, will den Einfluß der Religion auf die Massen festigen, weil er die Mangelhaftigkeit, die Zurückgebliebenheit, ja sogar den Schaden fühlt, den die »Beamten in Priestergewändern« den herrschenden Klassen zufügen, indem sie die Autorität der Kirche herabsetzen. Der Oktobrist bekämpft die Uebertreibungen des Klerikalismus und der polizeilichen Bevormundung, um den Einfluß der Religion auf die Massen zu stärken, um wenigstens einige allzu grobe, allzu veraltete, allzu hinfällig gewordene, das Ziel nicht erreichende Mittel der Volksverdummung durch feinere, vervollkommnetere Mittel zu ersetzen. Die Polizeireligion genügt nicht mehr für die Verdummung der Massen, gebt uns eine kultiviertere, neu aufgemachte, geschicktere Religion, die fähig ist, in einem sich selbst verwaltenden Kirchspiel zu wirken, – das ist es, was das Kapital von der Selbstherrschaft fordert.

Auch der Kadett Karaulow steht vollkommen auf demselben Standpunkt. Dieser »liberale« Renegat (der eine Entwicklung von der »Narodnaja Wolja« Narodnaja Wolja (Volkswille) – die Partei der russischen revolutionären Narodniki, entstanden 1879. Die Narodnaja Wolja entwickelte ihre Propagandatätigkeit hauptsächlich unter der studierenden Jugend, dem Militär, aber auch unter der Arbeiterschaft. Sie blieb aber im wesentlichen eine streng konspirative Verschwörerorganisation. Sie baute ihre Kampftaktik gegen die Selbstherrschaft auf dem Terror auf. Diese Taktik war für die Narodnaja Wolja unvermeidlich, da dieser Kampf ein heldenhafter Zweikampf einer kleinen Gruppe von Revolutionären ohne Unterstützung der Massen gegen die gesamte Macht des russischen Absolutismus war. Auf Beschluß des Exekutivkomitees der Narodnaja Wolja wurde der Zar Alexander II. umgebracht. Gleich darauf wandte sich das Exekutivkomitee mit einem Brief an Alexander III., in dem Amnestie, demokratische Freiheiten und die Einberufung einer konstituierenden Versammlung gefordert wurden. Mitte der achtziger Jahre wurde die Narodnaja Wolja von der Zarenregierung zertrümmert. zu den rechten Kadetten durchgemacht hat) wettert gegen die »Entnationalisierung der Kirche, worunter die Ausschaltung der Volksmassen, der Laien von der Aufbauarbeit der Kirche zu verstehen ist«. Er findet es »entsetzlich« (so wörtlich), daß die Massen »religionslos werden«. Er zetert ganz wie Menschikow darüber, daß der »ungeheure Eigenwert der Kirche entwertet wird … zum größten Schaden nicht allein für die Kirche, sondern auch für den Staat«. Die widerwärtige Heuchelei des Fanatikers Eulogius, der behauptet, daß die »Aufgabe der Kirche ewig, unwandelbar sei und deshalb die Kirche nicht mit der Politik verknüpft werden dürfe«, bezeichnet er als »goldene Worte«. Er protestiert gegen das Bündnis der Kirche mit dem Schwarzen Hundert nur deshalb, um die Kirche zu veranlassen, »ihrer großen, heiligen Sache im Geiste Christi, im Geiste der Liebe und der Freiheit mit größerer Kraft und größerem Ruhm als bisher weiter zu dienen«.

Genosse Bjeloussow tat sehr gut daran, von der Dumatribüne herab diesen »lyrischen« Erguß Karaulows zu verspotten. Aber eine derartige Verspottung genügt noch lange nicht. Man hätte feststellen sollen – und man wird das bei der ersten Gelegenheit von der Dumatribüne aus tun müssen –, daß der Standpunkt der Kadetten vollkommen identisch ist mit dem Standpunkt der Oktobristen und nichts anderes zum Ausdruck bringt als das Bestreben des »kultivierten« Kapitals, die Verdummung des Volkes durch religiöse Rauschmittel mit feineren Mitteln des Kirchenbetruges zu organisieren als denjenigen, die der am Althergebrachten haftende russische Durchschnittspfaff praktizierte.

Um das Volk in geistiger Sklaverei zu halten, ist das allerengste Bündnis der Kirche mit dem Schwarzen Hundert notwendig, – sprach durch den Mund von Purischkewitsch der ungehobelte, altväterliche Gutsbesitzer und Gewaltmensch. Sie irren, meine Herren, entgegnet ihm mit Karaulow der konterrevolutionäre Bourgeois: mit solchen Mitteln werden Sie das Volk nur endgültig von der Religion abstoßen. Wir wollen einmal klüger, schlauer, geschickter vorgehen, – wir wollen den allzu dummen und rohen Schwarzhunderter beiseite schaffen, wollen den Kampf gegen die »Entnationalisierung der Kirche« proklamieren und auf unsere Fahne die »goldenen Worte« des Bischofs Eulogius schreiben, daß die Kirche über der Politik stehe, – nur bei einer solchen Art zu handeln, werden wir es fertigbringen, daß wenigstens ein Teil der zurückgebliebenen Arbeiter und insbesondere der Kleinbürger und Bauern sich zum Narren halten läßt, nur so werden wir es verstehen, der erneuerten Kirche dabei zu helfen, ihre »große, heilige Sache« der Aufrechterhaltung der geistigen Sklaverei der Volksmassen durchzuführen.

Unsere liberale Presse, einschließlich der Zeitung »Rjetsch« » Rjetsch« – Zentralorgan der Kadettenpartei bis zur Oktoberrevolution., hat in letzter Zeit die Struve Peter Struve – in den neunziger Jahren Sozialdemokrat, nahm teil an der Ausarbeitung des Manifestes des 1. Parteitages der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Im Anfange des 20. Jahrhunderts bricht St. mit dem Marxismus und geht in das liberale Lager über. Bei Entstehung der Kadettenpartei wird er Mitglied ihres Zentralkomitees. Nach der Niederlage der Revolution von 1905 wird er Führer des äußersten rechten Flügels der Liberalen und landet schließlich beim ultra-reaktionären Nationalismus. Während des Bürgerkrieges nahm er an der weißgardistischen Regierung des Generals Denikin teil und war nachher Minister bei dem Nachfolger Denikins, Wrangel. und Co., als Verfasser des Sammelwerkes »Wjechi«, eifrig getadelt. Indes hat Karaulow, der offizielle Redner der Kadettenpartei in der Reichsduma, die ganze gemeine Heuchelei dieser Vorwürfe und dieses Abrückens von Struve und Co. Vorzüglich entlarvt. Was die Karaulow und Miljukow Miljukow – Führer der russischen liberalen Bourgeoisie, Professor, Historiker, der im Gegensatz zu den Marxisten die Besonderheit des russischen historischen Entwicklungsprozesses vertrat. In der Revolution von 1905 war er Führer der revolutionären Bewegung, Organisator und Führer der Kadettenpartei. In der 3. und 4. Reichsduma führte er die liberal-opportunistische Opposition. Während des Weltkrieges war er leidenschaftlicher Anhänger des »Krieges bis zum siegreichen Ende« und trat für die Annexion der Dardanellen, des Bosporus, Galiziens, Ostpreußens und Armeniens ein. Nach dem Sturze des Zarismus 1917 wurde er Minister des Aeußeren in der Provisorischen Regierung, in welcher Stellung er seine Eroberungspolitik fortsetzte. Die Empörung des revolutionären Proletariats zwang ihn im April 1917 zur Demission. Während des Bürgerkrieges war er Inspirator konterrevolutionärer Aktionen gegen Sowjetrußland. Gegenwärtig ist er in Paris Führer der »demokratischen Gruppe« der Kadettenpartei. im Sinn haben, das hat Struve auf der Zunge. Die Liberalen tadeln Struve nur deswegen, weil er unvorsichtigerweise die Wahrheit ausgeplaudert und die Karten allzusehr aufgedeckt hat. Die Liberalen, die von den »Wjechi« abrücken und die Kadettenpartei nach wie vor unterstützen, betrügen das Volk aufs Gewissenloseste, denn sie tadeln zwar die unvorsichtig offenherzigen Worte, setzen aber die Taten, die diesen Worten entsprechen, fort.

Ueber das Verhalten der Trudowiki Trudowiki (Gruppe der »Werktätigen«) – eine ihrem Programm wie ihrer Zusammensetzung nach verschwommene Gruppe in der Reichsduma. Die Trudowiki drückten die Stimmung des radikalen Kleinbürgertums, in erster Linie der mittleren Bauernschaft, aus. Zu Beginn ihrer Tätigkeit in der Reichsduma gingen die Trudowiki im Schlepptau der Kadetten, später traten sie jedoch in Opposition zur opportunistischen Taktik der Kadetten und gingen des öfteren zusammen mit der sozialdemokratischen Fraktion. Während des Weltkrieges waren sie »Vaterlandsverteidiger«. Der Wortführer der Fraktion der Trudowiki war der Sozialrevolutionär Kerenski, der nach der Februarrevolution in der Rolle des Ministerpräsidenten und Oberbefehlshabers sich vergeblich bemühte, die untergehende bürgerliche Gesellschaftsordnung zu retten. während der Dumadebatten über die hier behandelten Fragen ist nicht viel zu sagen. Wie immer, zeigte sich der grelle Unterschied zwischen den bäuerlichen Trudowiki und den intellektuellen Trudowiki – zuungunsten der letzteren, mit ihrer größeren Bereitschaft, den Kadetten Gefolgschaft zu leisten. Es stimmt, der Bauer Roschkow bewies in seiner Rede seine ganze politische Unaufgeklärtheit: auch er wiederholte die Banalität der Kadetten, daß der »Bund des russischen Volkes« nicht zur Festigung, sondern zur Zerstörung des Glaubens beitrage, auch er vermochte keinerlei Programm vorzulegen. Als er aber ungekünstelt die nackte, ungeschminkte Wahrheit über die Sporteln der Geistlichkeit, über die Erpressungen der Pfaffen zu berichten begann, als er erzählte, wie man für eine Eheschließung außer Geld »eine Flasche Schnaps, Eßwaren und ein Pfund Tee verlangt und zuweilen nach Dingen fragt, die ich mir gar nicht traue von der Tribüne herab auszusprechen« (16. April, Seite 2259 des stenographischen Berichts), – da hielt es die Schwarzhundertduma nicht länger aus und von den rechten Bänken erhob sich ein wildes Geheul. »Verhöhnung! Gemeinheit!« – zeterten die Schwarzhunderter, denn sie fühlten, daß die schlichte Rede eines Bauern über die erpreßten Gelder der Geistlichkeit und die Aufzählung der »Taxe« für Amtshandlungen der Priester die Massen mehr revolutioniert als jegliche theoretischen oder taktischen antireligiösen und antikirchlichen Erklärungen. Und die Bande von Auerochsen, die die Selbstherrschaft in der dritten Duma verteidigen, terrorisierte ihren Lakaien, den Vorsitzenden Meyendorff, und zwang ihn, Roschkow das Wort zu entziehen (die Sozialdemokraten, denen sich einige Trudowiki, Kadetten u. a. anschlossen, legten gegen diesen Schritt des Vorsitzenden Protest ein).

Trotz ihrer außerordentlichen Primitivität deckte die Rede Roschkows in ausgezeichneter Weise die ganze Kluft auf, die die heuchlerische, gewollt reaktionäre Verteidigung der Religion seitens der Kadetten von der primitiven, unbewußten, althergebrachten Religiosität des Bauern trennt, bei dem seine Lebensverhältnisse – ungewollt und unbewußt – eine wirklich revolutionäre Erbitterung gegen die Abgaben an die Geistlichkeit hervorrufen und die Bereitschaft zum entschlossenen Kampf gegen die mittelalterlichen Zustände erzeugen. Die Kadetten sind Vertreter der konterrevolutionären Bourgeoisie, die die Religion gegen das Volk erneuern und festigen will. Die Roschkows sind Vertreter der revolutionären bürgerlichen Demokratie, die zwar unentwickelt, nicht klassenbewußt, eingeschüchtert, unselbständig und zersplittert ist, die aber bei weitem noch nicht erschöpfte Vorräte revolutionärer Energie für den Kampf gegen die Grundbesitzer, die Pfaffen und die Selbstherrschaft in sich birgt.

Der intellektuelle Trudowik Rosanow näherte sich den Kadetten viel weniger unbewußt als Roschkow. Zwar verstand es Rosanow, von der Trennung der Kirche vom Staat als von der Forderung der »Linken« zu sprechen, aber er konnte sich die reaktionären, kleinbürgerlichen Phrasen nicht verkneifen über »eine Aenderung des Wahlrechts dahingehend, daß die Geistlichkeit von der Teilnahme am politischen Kampf ausgeschlossen werde«. Die revolutionäre Gesinnung, die beim typischen Durchschnittsbauern von selber zum Durchbruch kommt, sobald er die Wahrheit über seine Lebensweise zu sagen beginnt, verschwindet beim intellektuellen Trudowik, und an ihre Stelle tritt die verschwommene und mitunter sogar direkt widerliche Phrase. Zum hundertsten und tausendsten Male sehen wir die Wahrheit bestätigt, daß nur dem Proletariat folgend die russischen Bauernmassen imstande sind, das auf ihnen lastende und sie zugrunde richtende Joch aller Verfechter der Leibeigenschaft, sei es in Gestalt des Grundbesitzers, des Kuttenträgers oder des Autokraten, abzuschütteln.

Der Vertreter der Arbeiterpartei und der Arbeiterklasse, der Sozialdemokrat Surkow, war der einzige in der ganzen Duma, der die Debatten auf ein wirklich prinzipielles Niveau erhob und ohne Umschweife sagte, wie sich das Proletariat zur Kirche und zur Religion verhält und wie sich die gesamte konsequente und lebensfähige Demokratie dazu verhalten muß. »Religion ist Opium für das Volk« … »Keinen Groschen des Volksgeldes für diese blutigen Feinde des Volkes, die das Volksbewußtsein umnebeln« – dieser gerade, mutige, offene Kampfruf des Sozialisten erklang wie eine Herausforderung an die erzreaktionäre Duma und fand Widerhall bei Millionen von Proletariern, die ihn unter den Massen verbreiten werden und, wenn die Zeit gekommen ist, auch verstehen werden, ihn in revolutionäre Aktion umzusetzen.

(»Sozialdemokrat« Nr. 6, 4. [17.] Juni 1909)


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