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Elftes Kapitel.

Der Zug näherte sich dem Ziel ihrer Reise, und der Enthusiasmus, der Alie bis dahin aufrecht gehalten hatte, war im Sinken begriffen. Wenn er nun, wenn es schließlich so weit war, sich doch nicht darüber freuen würde, sie zu sehen! Vielleicht würde sie ihn durch ihr Kommen nur in Verlegenheit setzen!

Sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie ja im Grunde nur kam, um das Duell zu verhindern. Wenn diese Gefahr erst abgewendet war, konnte sie ihn ja sofort wieder verlassen.

Sie nahm eine Droschke und fuhr nach dem Hotel, in welchem sie früher mit Aagot und Richard gewohnt hatte, und wo man sie kannte. Sie überlegte, ob sie Serra sofort von ihrer Ankunft benachrichtigen sollte, aber eine unbestimmte Furcht, daß er sich ihrem Plan noch einmal widersetzen könne, brachte sie zu dem Entschluß, auf eigne Hand zu handeln; Sie wollte ihn mit der abgemachten Thatsache überraschen, ehe er überhaupt von ihrem Plan erfuhr.

Am nächsten Morgen machte sie sich auf ihre Wanderung nach der Via Nuova, dieser engen, dunkeln Straße, in der jedes Haus ein Museum, jedes Portal ein Kunstwerk, jeder Hof ein architektonisches Prachtstück ist, und wo man jenseits der Höfe ewig blühende Terrassen mit der Aussicht auf das Meer schimmern sieht.

Sie betrat den Palazzo Serra mit einem erdrückenden Gefühl des unendlichen Abstandes zwischen den Bewohnern dieses Prachtbaues und dem kleinen, unbedeutenden Mädchen in dem grauen Reisekleid, das kam, um sich um einen untergeordneten Platz bei einem der Familienmitglieder zu bewerben.

Der Diener an der Thür wollte sie abweisen unter dem Vorwand, daß heute kein Empfangstag sei. Sie erwiderte mit zaghafter Stimme, daß sie die Marquise zu sprechen wünsche, reichte dem Diener ihre Karte und bat ihn, zu sagen, sie sei die Dame, welche Marquis Serra im Sommer der Frau Marquise in Nervi empfohlen habe.

Der Diener kehrte bald zurück und führte sie in einen großen, kalten Saal mit wenigen Möbeln, mit einem Mosaikfußboden, Marmortischen, sowie steifen, unbequemen Sofas. Hier mußte sie lange warten, und da sie bereits verfroren gewesen war, als sie kam, es wehte ein heftiger Nordwind durch die Straßen Genuas, so durchscheuerte die eisige Kälte des alten Palastes sie derartig, daß sie am ganzen Körper, wie von Fieberfrost gepackt, zitterte. Wenn sie sich nun erkältet hatte und krank wurde! Hier krank zu liegen, das war ein entsetzlicher Gedanke. Ihr Mut fing an zu sinken.

Diese Paläste, die ihr in der Sommerwärme als freundliche Zufluchtsstätten erschienen waren, machten durchaus keinen wohnlichen Eindruck auf sie. Sie hatten plötzlich alle Anziehungskraft verloren. Der Adel der Verhältnisse, die Reinheit der Linien erfreuten nicht mehr ihr Auge, sie mußte unwillkürlich denken, daß ein gewisses kleines gemütliches Zimmer daheim in dem dritten Stockwerk einer gewissen Straße, das zwar mit allen möglichen stillosen Möbeln überfüllt, das aber wohl verwahrt gegen alle Winde war, doch unsagbar gemütlicher sei als dieser eiskalte Palast.

Endlich wurde sie zu der Marquise hineingeführt, die in einem Boudoir saß, eine Art Schemel mit glühenden Kohlen unter den Füßen, eine kleine Steinurne mit heißer Asche zur Erwärmung der Hände auf dem Schoße. Neben ihr saß eine andre Dame in mittlerem Alter, die Alie für die amerikanische Gesellschafterin der Marquise hielt, welche seit bereit Erblindung bei ihr gewesen war. Beide waren in Shawls gehüllt, und die Marquise hatte einen Sammethut auf dem Kopf und Pelzmüffchen an den Händen.

Aber Alie gönnte den beiden nur einen flüchtigen Blick, denn es befand sich noch eine Persönlichkeit im Zimmer, die sofort ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkte – in einem niedrigen Lehnstuhl saß die Prinzessin Palmi. Alies Herz pochte heftig; Bewunderung und Eifersucht erfüllten sie bei dem Anblick dieser strahlend schönen Dame. Denn sie war wunderbar schön; es wollte Alie erscheinen, als verdunkle sie alle die Idealbilder weiblicher Schönheit, die sie in den Galerien gesehen hatte. Sie trug ein Morgengewand aus braunem Sammet mit Pelzwerk verbrämt, das wie bei den antiken Statuen römischer Matronen auf der Schulter zusammengehalten war und den Hals freiließ. Ihr Wuchs war wie der einer echten Römerin hoch und üppig. Das Haar, dies eigentümlich rotbraune, tizianische Haar, hing ihr in einem Netz in den Nacken, die mandelförmigen, großen Augen, die ebenfalls rotbraun waren und einen müden, aber doch wieder strahlenden Ausdruck hatten, richteten sich forschend auf Alie, die sich eigenartig klein unter diesem Blick erschien. Ihr Schönheitssinn war stets bereit, das, was schön war, zu bewundern, hier aber offenbarte sich gleichzeitig ein Stolz in der Haltung, eilte Vollendung in den geringsten Einzelheiten der Toilette, sie war so ausgeprägt la grande dame in ihrer ganzen Persönlichkeit, daß Alie zu Mute war, als stehe sie einem höheren Wesen gegenüber; sie hätte den Saum ihres Kleides küssen können und war nahe daran, in Thränen auszubrechen, wenn sie ihre eigne Nichtigkeit mit dieser Frau verglich, mit der er in täglichem, vertraulichem Verkehr stand.

»Sie sind also das junge Mädchen, von dem mir mein Neffe sprach,« begann die Marquise. »Sie sollen sprachkundig sein und wünschen in Italien zu bleiben, mein Neffe kannte einen Bruder oder Vetter von Ihnen, wenn ich nicht irre, und Ihre Verwandten sind geneigt, Sie in Italien zurückzulassen, falls sie ein gutes Heim für Sie finden könnten – war es nicht so?«

Alie nickte schweigend. Sie begriff, daß es so heißen müsse. Gleichzeitig aber sah sie mit einem scheuen Blick zu der Prinzessin hinüber. Was dachte diese nur von der kleinen Schwedin, auf die sie neugierig gewesen war? Denn daß es Eifersucht gewesen und nicht allein die Furcht, daß sich ihr Schwager auf eine Mesalliance einlassen könne, daß diese stolze, fürstliche Schönheit denselben Mann liebte wie sie, das hatte Alie sofort in dem Blicke zu lesen vermeint, mit dem die Prinzessin sie angesehen.

Die Marquise bat Mrs. Howard, Alie ein Buch zu reichen.

»Wollen Sie mir die Freude machen, mir ein Stückchen vorzulesen?« sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. »Ich möchte gern Ihre Stimme hören, und Sie haben ja noch kein Wort gesagt.«

Sie ließ sie Französisch, Deutsch und Englisch lesen.

»Es ist zu bewundern,« sagte sie, »wie gut Sie alle drei Sprachen aussprechen. Darauf lege ich besonderes Gewicht; ich kann es nicht leiden, daß man in einer Sprache radebrecht. Und eine sehr angenehme Stimme, nicht wahr, Lätitia?«

Alie wußte selber sehr wohl, daß sie ohne besonderen Ausdruck gelesen und daß ihre Stimme stark gezittert hatte.

»Jetzt will ich auch die Freude haben, Sie zu sehen,« fuhr die freundliche Marquise fort; »Sie müssen nämlich wissen, daß ich nicht völlig blind bin, in der Nähe kann ich, gottlob, ein wenig sehen. Wollen Sie nicht etwas näher kommen?«

Mrs. Howard machte ihr ein Zeichen, daß sie sich über den Stuhl beugen solle, und die Marquise streichelte ihr die Wange.

»Carina, eh!« sagte sie. »Aber so jung! Wenn Sie sich nur an mein stilles Leben gewöhnen können!«

Alie empfand diese Untersuchung und Zurschaustellung ihrer Person und ihrer Fähigkeiten vor der stumm beobachtenden Prinzessin wie eine unerträgliche Demütigung und war nahe daran, in Thränen auszubrechen.

»Die Sache ist also abgemacht?« fragte die Marquise. »Ich kann nur hinzufügen, daß es mich sehr freuen würde, wenn Sie zu mir kommen wollten. Möchten Sie vielleicht Ihren Vetter oder Ihre Schwägerin, die Dame, mit der Sie hier sind, bitten, sich zu mir zu bemühen, dann kann ich alles weitere mit ihr verabreden.«

Alie erklärte verlegen, daß sie sich in Rom von den Ihren verabschiedet habe und allein hierher gekommen sei.

»Allein? Und wo wohnen Sie denn?«

»Ich bin in dasselbe Hotel gegangen, in dem ich mit meinen Verwandten war, und wo man mich kennt. Mein Pflegebruder war krank, deswegen konnte sie nicht

Sie sprach eifrig, indem sie instinktiv die Notwendigkeit empfand, einen Schritt zu verteidigen, der, wie sie wußte, hier zu Lande für sehr unpassend gehalten werden mußte.

»Die Frau hat ja in den nordischen Ländern dieselbe freie Stellung wie bei uns in Amerika,« sagte die alte Marquise, die ebenfalls ihrer Nichte gegenüber eine Entschuldigung für nötig hielt. »Sie ist dort nicht so gebunden wie hier, Andrea hat mir mehrere interessante Beispiele davon erzählt.«

Jetzt ließ die Prinzessin zum erstenmal ihre Stimme hören, es war, wie Alie auf den ersten Blick vermutet hatte, ein tiefer, voller Alt. »Es ist ja sehr schön,« meinte sie, »wenn die jungen Mädchen auch gleichzeitig so erzogen werden, daß sie eine solche Freiheit nicht mißbrauchen.«

Alie empfand den Pfeil, der in diesen Worten verborgen lag, und errötete.

»Ich für mein Teil muß doch sagen,« fuhr die Prinzessin fort, »daß ich als junges Mädchen von einer solchen Freiheit nichts hätte wissen wollen, wenn sie mir auch angeboten worden wäre. Ich finde, man ist so glücklich, solange man jemand hat, der über uns wacht und für uns sorgt; es macht das Leben so trocken und kalt, so ganz auf die eigne Verantwortung angewiesen zu sein.«

»Die Auffassung ist ja so verschieden,« bemerkte die Marquise vermittelnd. »Aber wir verstehen einander, Signorina mia. Ich gehöre auch zu denjenigen, die durch ihre Selbständigkeit Entsetzen erregt haben. Auf alle Fälle dürfen Sie aber nicht länger im Hotel wohnen, sondern müssen lieber gleich heute zu mir ziehen, wenn Sie überhaupt glauben, daß Sie sich hier zufrieden fühlen können. Die Bedingungen –«

»Lassen Sie uns nicht darüber sprechen. Ich wünsche ein Heim, keine Stelle,« unterbrach sie Alie erregt.

»Gut, gut! Ganz wie Sie wollen.«

»Aber das kann doch nicht angehen,« wandte die Prinzessin ein. »Meine Tante würde stets befürchten, Ihnen Umstände zu machen, sie wünschte eine bezahlte Vorleserin, der sie hundert Lire pro Monat geben wollte, war es nicht so, Tante?«

Alie war sich völlig klar darüber, daß die Prinzessin dies nur sagte, um ihr eine untergeordnete Stellung im Hause anzuweisen, und sie beschloß, sich nicht demütigen zu lassen.

»Ich habe niemals eine bezahlte Stellung gehabt, und ich habe es auch nicht nötig,« sagte sie mit gedämpfter, aber fester Stimme. »Ich bin seit vielen Jahren bei einer älteren Dame im Hause gewesen, mit der ich nicht verwandt bin, ich habe überall keine Verwandten mehr, sie sind sämtlich gestorben, und ich glaube, daß ich es verstanden habe, mich ihr nützlich zu machen, obwohl mein ganzer Lohn nur in einer freundlichen Behandlung bestand, deren man, wenn man allein in der Welt steht, so sehr bedarf.«

Bei diesen Worten traten ihr die Thränen in die Augen, und ihre Stimme klang unsicher.

»Und darauf können Sie rechnen, seien Sie überzeugt davon,« sagte die Marquise in herzlichem Ton. »Du lieber Gott, Kind, küssen Sie mich! – Sie ist ja ganz entzückend! Mir ist's, als habe ich sie schon liebgewonnen! Willst du ihr nicht auch die Hand reichen, Lätitia? Du wirft auch freundlich gegen sie sein, davon bin ich überzeugt.«

Aber die feine, juwelenfunkelnde Hand, die sich infolge dieser Aufforderung nach ihr ausstreckte, war kalt und steif.

»Mrs. Howard! Wollen Sie der Signorina ihr Zimmer zeigen? Sie wissen, das rote Kabinett und die Schlafstube dahinter. Wir wollen einen Schreibtisch hineinsetzen lassen, damit es recht gemütlich wird. Meine Kammerjungfer soll Sie dann gleich ins Hotel begleiten und Ihre Sachen hersenden lassen.«

Die Amerikanerin führte Alie in ein großes Zimmer mit herabgelassenen Jalousien. Sie waren durch mehrere Korridore gegangen, und Alie ahnte nicht, nach welcher Himmelsgegend das Zimmer hinauslag, doch hoffte sie, daß es nach der Süd- oder Sonnenseite wendete. Aber nein, als ihre Begleiterin die Jalousien aufzog, erblickte sie nichts als eine graue Mauer. Derselbe kalte, öde Eindruck, dieselbe Leere wie in dem großen Saal herrschten auch hier.

»Nun, sind Sie zufrieden?« fragte die Marquise sie, als sie zurückkam. Alie nickte schweigend, sie war nahe daran, in Thränen auszubrechen.

»Ich werde Sie nicht überanstrengen,« fuhr die alte Dame freundlich fort. »Sie sind jung und bedürfen natürlich der Zerstreuung. Ich fahre bei gutem Wetter jeden Tag aus, und Sie können mich begleiten, wenn Sie Lust haben. Und wenn Sie zuweilen spazieren gehen wollen, so nimmt Mrs. Howard Sie gewiß gern mit, wenn sie ihre Einkäufe macht.«

Alie bemühte sich, ihrer Freude über diese ihr bevorstehende reiche Abwechslung Ausdruck zu geben. Sie begab sich in Begleitung der Zofe ins Hotel, und ehe sie noch Zeit hatte, sich recht zu besinnen, war der ganze Umzug besorgt, und sie stand in ihrem kalten, dunkeln Zimmer, rieb ihre Hände und stampfte mit den Füßen, unfähig an etwas andres zu denken, als daß sie fror, so fror, wie sie noch nie in ihrem Leben gefroren. Sie war nahe daran, in Thränen auszubrechen, als sie ihre Hände, ihre kleinen weißen Hände ansah, die nun ganz aufgeschwollen und rot waren. Sie sah aschgrau im Gesicht aus, und ihre Füße fühlten sich an wie Bleiklumpen. Während sie auspackte, lief sie im Zimmer hin und her, ohne jedoch warm werden zu können. Es war kein Gedanke daran, sich hinzusetzen und etwas vorzunehmen. Mit Schaudern malte sie sich den Winter aus, den sie nun hier verbringen sollte. Zwischen diesen trüben Mauern eingeschlossen, keine Freiheit, allein auszugehen. Wenn einmal jener unwiderstehliche Freiheitsdrang über sie kam, der sie in der Heimat zuweilen hinausgetrieben hatte, so daß sie erst bei hereinbrechender Dunkelheit wieder zurückgekehrt war, so hatte sie hier keinen andern Ausweg, als mit Mrs. Howard auf Besorgungen zu gehen. Sie mit ihren ungebundenen, freien Gewohnheiten, ihrer ausgeprägten Selbständigkeit, sie sollte in die Etikette eingezwängt werden, welche die junge Italienerin vom Leben ausschließt! Sie unter Aufsicht, begleitet, bewacht, wie daheim nicht einmal ein zehnjähriges Schulmädchen bewacht wurde! Denn sie begriff sehr wohl, daß die Marquise trotz ihrer amerikanischen Erziehung mit den Jahren doch zur Genüge Italienerin geworden war, um Alies Anschauungen in dieser Hinsicht zu verdammen.

Und Andrea? Was konnte sie ihm unter diesen Verhältnissen wohl sein? Würden sie sich jemals unter vier Augen sprechen können, würde es ihr gestattet sein, ihn auf ihrem Zimmer zu empfangen, mit ihm auszugehen? Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht; falls sie ihn nicht heimlich sehen, sich Demütigungen aussetzen wollte, um so der stolzen Prinzessin in ihren Andeutungen über mißbrauchte Freiheit recht zu geben! Das war ja das peinlichste von allem, daß diese Frau, die ihrer Ansicht nach himmelhoch über allen Frauen stand, die er bewunderte und wie eine Schwester liebte, sie mit dem verächtlichen Blick ansehen, sie wie eine untergeordnete Person von zweifelhaftem Charakter, wie eine gewöhnliche, bezahlte Vorleserin mit einem etwas abenteuerlichen Anstrich betrachten sollte! Wie gern hätte sie ihr gerade ins Gesicht gesagt:

»Ich hätte, wenn ich es nur gewollt, Prinzessin von Palmi werden können gleich dir! Aber ich verschmähte es, meine Macht über ihn zu benützen, um mir die Stellung zu verschaffen, die du respektiert haben würdest, und wenn du alles wüßtest, würdest du vielleicht ein wenig mehr Achtung vor mir haben.«

Welch eine unerhörte Thorheit hatte sie nicht begangen! Ein heftiges Heimweh ergriff sie. Ach, wer jetzt zur Dämmerstunde daheim in der Sofaecke säße, die summende Theemaschine vor sich auf dem Tisch, in einer lebhaften Unterhaltung begriffen, während die Schlittenglocken draußen auf der Straße klingelten und der Schneesturm wirbelte, ohne eine andre Wirkung zu haben, als daß er die Gemütlichkeit in dem warmen Zimmer doppelt fühlbar machte!

Bei diesem Gedanken konnte sie sich nicht länger halten, sie brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Und als sie erst einmal angefangen hatte, war es ihr unmöglich, innezuhalten; es war eine Wollust, sich wenigstens einmal ordentlich auszuweinen.

Wie einsam sie sich fühlte, und wie hoffnungslos ihr Kummer war! Denn wenn sie jetzt, ihrer Eingebung folgend, zu der Marquise ging und sagte: »Ich kann nicht bleiben, ich habe einen Brief von meinen Angehörigen bekommen, man bedarf meiner daheim,« das konnte sie ja thun, und dann auf und davon, mit dem Zuge zurück nach Frascati, – selbst wenn sie das that, so wußte sie ja, daß es jedenfalls für sie keinen Frieden mehr in dem alten Heim gab. Sie wußte ja, daß das Glück und die traute Gemütlichkeit, die sie sich so schön ausmalen konnte, ein entschwundenes Glück war, denn nie mehr konnte sie mit der alten Gemütsruhe in der alten Sofaecke sitzen, die Füße in die Höhe gezogen, die Ellbogen auf die Kniee gestützt, nach Herzenslust ihrer Zunge freien Lauf lassend, nie mehr ausgelassen lustig mit dem Kleinen spielen, nie mehr frei und vertraulich mit Richard reden, während er oben bei ihnen auf dem Sofa lag; das alles war jetzt verändert: Richard war in sie verliebt, sie hatte ihn tödlich beleidigt, Aagots Eifersucht war erwacht, und damit war das Verhältnis aus, und sie selber war so verändert, daß sie nirgends mehr festen Fuß fassen konnte. Ihr Leben war aus den Fugen geraten in demselben Augenblick, als das, was das höchste Glück, der tiefste Inhalt ihres Lebens hatte sein sollen, zu ihr in einer Form gekommen war, welche die stärksten Forderungen ihrer Natur nicht befriedigen konnte.

*

Andrea war ausgewesen und kam erst am Nachmittag nach Hause. Die Prinzessin Palmi hatte ihm sagen lassen, daß sie gleich nach seiner Rückkehr mit ihm zu sprechen wünsche. Er trat bei ihr ein mit seiner gewöhnlichen Miene liebenswürdiger Galanterie und fragte scherzend, welchen Befehl seine gnädige Frau Schwägerin denn jetzt erdacht habe, um ihren getreuen Diener zu erfreuen.

Aber er merkte sofort, daß sie ganz erfüllt von etwas war, das sie beunruhigte und ihr mißfiel.

»Ich wollte dich nur fragen, ob es eine abgekartete Sache zwischen dir und ihr ist, oder ob der Einfall von ihr allein ausgegangen ist?« begann sie.

»Welcher Einfall? Was? Ich verstehe kein Wort!«

»Denn wenn es eine abgekartete Sache zwischen euch ist, so wollte ich dir nur sagen, daß du nicht so loyal gegen mich gehandelt hast, wie ich es von dir erwarten durfte. Es ist jedenfalls mein Haus, in das sie kommt, und ich kann es, der Tante wegen, nicht vermeiden, sie bei mir zu empfangen. Ich glaube nicht, daß es zu viel von mir verlangt gewesen wäre, wenn du mich erst gefragt hättest, ob ich geneigt sei, diese fremde Person in unsern Familienkreis aufzunehmen.«

»Um des Himmels willen, was hat dies alles nur einmal zu bedeuten? Von wem redest du?« fragte er in heftiger Erregung, denn eine Ahnung erklärte ihm den ganzen Zusammenhang.

»Du weißt also wirklich nichts davon? Nun, in dem Falle hatte ich ja recht, wenn ich sie für eine intrigante kleine Abenteurerin hielt. So wisse denn, daß deine schöne schwedische Flamme aus Nervi jetzt bei der Tante gleichsam als Tochter des Hauses untergebracht ist.«

Andrea wußte nicht, was in diesem Augenblick in ihm vorging. Es war gleichzeitig Freude, triumphierende, jubelnde Freude, daß sie dies seinetwegen gewagt hatte, und Mißvergnügen über die unbequeme Stellung, in die sie ihn gebracht hatte, denn auf der einen Seite wollte er seine Schwägerin nicht kränken, ihr Mißtrauen nicht bestärken, indem er Alies Partei zu warm ergriff, und auf der andern Seite mußte er sie ja doch in den Augen der Prinzessin rechtfertigen. Er sah im voraus, daß Alies Wagestück eine ganze Reihe von Schwierigkeiten und Verwicklungen zur Folge haben mußte, gleichzeitig aber hatte er ein Gefühl, als müsse er vor ihr auf die Kniee fallen und ihr für das danken, was sie gethan.

»Nun, du scheinst selber über eine solche Kühnheit erstaunt,« sagte die Prinzessin, die ihn mit ihren großen, müden Augen betrachtete, während er, vor sich hinredend und gestikulierend, im Zimmer auf und nieder ging.

Plötzlich blieb er stehen, hob den Kopf in die Höhe mit einer fragenden Miene, als erwache er aus einem Traum.

»Wie – Kühnheit!« Er gewann seine volle Besinnung zurück und erwiderte lächelnd: »Beste Lätitia! Wie deine Phantasie doch mit dir durchgehen kann! Was ist denn Auffallendes darin? Ich hatte der Signorina in Nervi den Vorschlag gemacht, diesen Platz bei der Tante anzunehmen, sie lehnte es ab, und ich fand daher keine Veranlassung, mit dir über die Sache zu reden. Jetzt ist sie wahrscheinlich auf andre Gedanken gekommen, und der Umstand, daß sie mich nicht davon benachrichtigt hat, will mir im Grunde nicht so wunderbar erscheinen. Ich hatte nichts weiter mit der Sache zu thun, sie hat sich direkt an meine Tante gewandt, das war ja auch im Grunde das passendste.«

Gleich darauf ging Andrea zu der Marquise hinab und gratulierte ihr, daß sie das Gesuchte gefunden habe. Lächelnd hörte er ihre Lobreden über das junge Mädchen an.

»Es freut mich, daß sie dir gefällt, da ich auf den Einfall kam, sie dir in Vorschlag zu bringen. Wo ist sie – ich möchte ihr gern meine Aufwartung machen.«

»Ich werde sie rufen lassen.«

»Nein, verzeih, liebe Tante! Fange nur nicht an, sie so zu behandeln. Bedenke, daß sie wie eine Amerikanerin erzogen ist. Gestattest du ihr nicht, Besuch auf ihrem eignen Zimmer zu empfangen, so wird sie sich beleidigt fühlen.«

»Nun, wie du willst. Sie hat das rote Kabinett als Arbeitszimmer bekommen.«

Alie lag noch auf dem Sofa und schluchzte, als sie ein kurzes, hastiges, ein wenig nervöses Pochen an ihrer Thür vernahm. Sie kannte es so gut. Ihre Thränen versiegten plötzlich, das Herz stand ihr vor Erwartung still. Sie hatte ein Gefühl, als müsse sie ersticken, Haß, Glück, Angst und Scham erfüllten ihre Seele, – ja, Scham, weibliche Scham, daß sie treuer und stärker gewesen als er, daß sie festgehalten, als er sich von ihr hatte lossagen wollen. Sie fühlte, daß sie, wenn er jetzt nicht froh über ihr Kommen war, wenn er sie nicht noch einmal bat, zu bleiben, ebensogut thäte, sofort aus dem Fenster zu springen.

Als auf sein Pochen keine Antwort erfolgte, öffnete er die Thür und trat ein. Sie saß halb aufgerichtet auf dem Sofa und hielt, als er die Thür öffnete, das Taschentuch vor das Gesicht.

Er sah auf den ersten Blick, daß ihre Augen vom Weinen aufgeschwollen waren, und daß ihr Haar in Unordnung war, als habe sie den Kopf in die Kissen des Sofas hineingebohrt, es entging ihm auch nicht, daß sie magerer geworden, daß ihr Antlitz und ihr Hals etwas Langgezogenes bekommen hatten, das sie nicht kleidete, das ihn aber tief ergriff und einen neuen Quell von Zärtlichkeit in ihm aufsprudeln ließ. Mit einem Sprung stand er neben dem Sofa, riß sie in die Höhe und preßte sie in einer engen, atemlosen Umarmung an sich.

Sie schloß die Augen und blieb lange unbeweglich auf dem Sofa liegen, die Arme fest um ihn geschlungen, ihren Mund gegen den seinen gepreßt, mit einem Gefühl, als müsse sie vergehen vor Wonne und Glückseligkeit.

Die Sonne war untergegangen, und es war dunkel im Zimmer geworden, als sie sich erhoben, die Arme noch umeinandergeschlungen, noch unter dem Eindruck eines Rausches, der sie unfähig machte, an etwas andres zu denken, als daß sie einander jetzt ganz gehörten, daß alle Sehnsucht, aller Schmerz sich in das vollkommenste Glück verwandelt hatte.

Ein unwiderstehlicher Drang nach Luft und Bewegung veranlaßte ihn, sie mit sich durch einen Korridor auf das flache Dach eines niedrigeren Teiles des Gebäudes hinauszuziehen. Hier fand sie nun zum erstenmal, nachdem sie in das Palais gekommen war, die Aussicht über das Meer, von der sie geträumt hatte. Sie standen auf einer dieser herrlichen, offenen Loggien, welche den größten Reiz des italienischen Baustils ausmachen: ein großer Fayencefußboden, umgeben von einem eisernen Gitter, an dem Kamelien und Rosen in voller Blüte prangten, unter ihnen die ganze Stadt mit all ihren schimmernden weißen Palästen, der Hasen mit seinen Hunderten von Fahrzeugen, das Meer mit seinem unbegrenzten Horizont, alles erglühend in jener reinen, plötzlich aufflammenden und gleich erlöschenden Abendröte, welche den Sonnenuntergang im Süden zu begleiten pflegt.

Hier empfand sie die Kälte nicht mehr, denn die Mauer hinter ihnen schützte sie vor dem Winde, und die rote Beleuchtung, die über allen Gegenständen lag, zauberte die Illusion einer vollen Sommerwärme hervor.

Und hier fand Alie ihr geliebtes Italien wieder, jenes Italien, das für sie nicht mehr das Land des ewig blauen Himmels war, von dem alle Nordländer träumen, sondern ein Land, in dem es ebenfalls kalt und dunkel sein kann, das einem aber, wenn man es erst durch Thränen und Leiden errungen hat, so teuer werden kann, als sei es das eigne Vaterland, unter einen glücklicheren Himmelsstrich gerückt. Und gleichwie man denjenigen inniger liebt, der uns das Glück geschenkt hat, als den, der uns das Leben gab, die Gattin mehr als die Mutter, so war Italien jetzt ihr Heimatland in tieferem Sinne geworden als es Schweden jemals gewesen war. Sie hatte den Zusammenhang des Lebens wiedergefunden.


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