Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.

Das Ziel der Reise war die Riviera. Es war zu Anfang April, und die Natur in der Heimat hatte noch nicht angefangen, das geringste Lebenszeichen zu verraten. Ueberall waren große Schneemassen aufgehäuft, die Seen waren noch mit Eis bedeckt, in Schoonen war der Schnee freilich zum Teil schon geschmolzen, aber die Felder lagen grau und kahl da, als könnten sie nach dem langen Winterschlaf nicht so recht wieder zum Leben erwachen. Erst in Deutschland erblickte man grünende Felder und knospende Bäume, und Richard und Aagot sprachen davon, wie herrlich es doch sei, um diese Zeit des Jahres den kalten Norden hinter sich zu lassen.

Alie aber hatte von Anfang an eine feindliche Stellung gegen die Begeisterung eingenommen, die den Nordländer stets ergreift, wenn er zu Anfang des Frühlings gen Süden reist.

Großer Gott, war es denn wirklich wert, so viel Aufhebens davon zu machen, daß der Frühling ein paar Wochen früher kam als sonst? Jedenfalls war er – wenn er kam – lange nicht so schön wie in der Heimat, mit Zugvögeln und hellen Nächten und Blumen unterm Schnee, und all dem Jubel und all den Hoffnungen, die stets mit ihm im Gefolge waren. Davon konnte man ja unmöglich im Süden etwas merken, wo sich alles das ganze Jahr hindurch gleich blieb. Sie weinte jeden Abend ein wenig, wenn sie Frau Rodes und des Kleinen Bild betrachtete, und dachte unablässig daran, wie es den Lieben wohl gehen möge, ob sie äßen, schliefen, hinausgingen und wie vernünftige Menschen lebten?

Nach Verlauf von vierzehn Tagen, während welcher sie hie und da Rast gemacht hatten, langten sie in Cannes an. Dies war also das berühmte mittelländische Meer! Es war ja gar nicht so blau, wie man allgemein behauptete, nicht im entferntesten! Konnte man die Ostsee nicht zuweilen an schönen Sommertagen ebenso rein und himmelblau daliegen sehen? Ein wenig heller waren ja freilich Himmel und Wasser daheim, aber weshalb sollte durchaus ein dunkler Horizont schöner sein als ein lichtblauer? Wie scharf und hart, fast schneidend war nicht dies Licht über dem weißen, bestaubten Ufer! Man hatte ein Gefühl, als brenne es durch das Gehirn bis in den Nacken hinein, als müsse es einen blind und toll machen. Es gab keine Ruhe, kein Vertrauen in dieser Natur. Und diese vereinzelt dastehenden Palmen, die keine Kühlung gewährten, deren harte, violette Schlagschatten sich aber gleich Tintenklecksen auf dem hellen Sand abzeichneten, wie dekorationsmäßig, öldruckartig wirkten sie!

War das ein Meer? Das war ja nichts als ein großer, schwüler Landsee ohne Frische, ohne Tanggeruch.

Und all dieser geschmacklose Luxus, diese Hotels, diese künstlichen Gärten, Restaurants, Toiletten und Equipagen, – konnte man in einer solchen Umgebung in Stimmung kommen?

Zu Alies Freude wünschte auch Richard nicht, sie allein in diesem Weltengewühl zurückzulassen, sondern wollte einen entlegeneren Ort aufsuchen, der sich besser für zwei alleinstehende jüngere Damen eignete, jetzt, wo er wieder in die Heimat zurückkehren mußte. In der Nähe von Genua, in dem stillen, gegen alle Winde geschützten Nervi, fanden sie auch einen Ort, der sie nach jeder Richtung hin befriedigte. Hier hielten sich nur Kranke auf, die um ihrer Gesundheit willen das milde Klima aufgesucht hatten, und von jenen zweifelhaften Persönlichkeiten, die in glänzenden Equipagen und herausfordernden Toiletten den andern größeren Kurorten ihr Gepräge verliehen, sah man hier nichts.

Obwohl Aagot für ihr Leben gern all diesen Luxus sah und auch nicht ungern ihre eignen Toiletten auf der Promenade gezeigt hätte, so war sie doch zu sehr die wohlerzogene Tochter ihrer Mutter, um sich nicht selbst zu sagen, daß es sich für eine junge Frau, welche der Begleitung ihres Gatten entbehren muß, geziemt, in würdigem Strohwitwenstande zu leben und den Zerstreuungen der Welt zu entsagen. Auch war sie ja krank, und es war ihre Pflicht, an ihre Gesundheit zu denken, um so bald wie möglich ihre Stellung als Mutter und Gattin wieder ausfüllen zu können.

Ehe sie sich in Nervi niederließen, verbrachten sie einige Tage in Genua. Während Aagot, die gesehen hatte, daß man im Auslande diesen oder jenen Modeartikel ein wenig anders trug als in der Heimat, und die es daher für nötig hielt, noch einige neue Toiletten anzuschaffen, sich in den Modemagazinen aufhielt, besichtigten Alie und Richard die alten Paläste. Die großartige, edle Schönheit, durch welche diese sich auszeichneten, erweckte zum erstenmal bei Alie Geschmack an Luxus und Reichtum. Den gewöhnlichen, banalen Salonluxus hatte sie stets verachtet, Aagots kleine Plüschtische und gestickte Gardinen waren ihr geradezu ein Greuel, aber diese Höfe mit Marmorsäulengängen, diese hohen Säle in reinen Proportionen, mit Gemälden von der Hand der hervorragendsten Künstler der Welt, diese verborgenen, schattigen Gärten mit Zitronenbäumen und Palmen, und diese Terrassen, auf die man plötzlich aus dem Dunkel des Palastes heraustrat und die sich im Sonnenschein badeten, die Aussicht über das Meer beherrschten, das alles erfüllte sie mit unwiderstehlichem Entzücken und offenbarte ihr einen Schimmer jener erträumten Schönheitswelt, gegen die sie so mißtrauisch gewesen war.

Besonders fesselte sie einer dieser Paläste durch seine reine Schönheit. Es war dies der dem Prinzen von Palmi gehörige Palazzo Serra. Alie, welche in den letzten Wochen vor der Abreise einige Werke über die Geschichte Italiens durchgeblättert hatte, wußte sofort, daß der Besitzer von dem berühmten Admiral abstammen müsse, der im vierzehnten Jahrhundert eine wichtige Schlacht über die aufrührerischen Sizilianer gewonnen und als Belohnung dafür von dem damaligen König von Neapel und Grafen von der Provence, Roberto d'Angio, das Feudalgut Palmi in Calabrien erhalten hatte. Sie erhielten auch bald eine Bestätigung dieser Annahme durch eine Inschrift an der Mauer, welche erzählte, daß der Palast im sechzehnten Jahrhundert erbaut sei, um für alle Zeiten den Nachkommen die Erinnerung an ihren großen Stammvater zu bewahren.

Ueber einen Hof mit korinthischen Säulen gelangte man in das Vestibül, das mit Statuen aus verschiedenen Perioden, ein paar antiken und einer von Canova, sowie einer Porträtbüste des Herrn des Hauses geschmückt war. Von dort führte eine Treppe in das obere Stockwerk hinauf, wo sie einen Saal betraten, dessen Wände aus Gold und Lapislazuli bestanden; der Fußboden bildete das schönste Mosaik, und die von schwarzen Sphinxen getragene Decke war von einem jungen Künstler gemalt, der Raffaels Schüler gewesen, welcher aber gestorben war ohne irgend ein andres Werk hinterlassen zu haben, als dies Deckengemälde, das freilich ein glänzendes Zeugnis für sein Genie ablegte.

Der Diener des Schlosses, der sie herumführte, wiederholte seine traditionelle Geschichte, wie der damalige Prinz von Palmi den jungen Künstler entdeckt hatte, der dem Hungertode nahe gewesen war, wie er seine große Begabung gespürt, ohne einen andern Beweis dafür zu sehen, als einige unvollendete Skizzen, und wie er ihm allein die großartige Aufgabe übertragen hatte, das ganze Palais zu dekorieren, obwohl zahlreiche andre, bereits bekannte Talente um diese Ehre wetteiferten; wie dann der Jüngling sich selbst hatte übertreffen wollen, wie er Tag und Nacht arbeitete, stets neue Skizzen entwarf, wieder vernichtete, was er begonnen, und von neuem anfing, bis er schließlich ganz entkräftet war, und als dann der Palast fertig dastand und er ein ganzes Vermögen als Belohnung erhalten hatte, legte er sich aufs Krankenbett, von dem er nicht wieder aufstehen sollte.

In einem der Säle standen auf einem Tisch von Florentiner Mosaik mehrere Photographien, die Alies Aufmerksamkeit fesselten. Eine junge Dame in venetianischer, mittelalterlicher Hoftracht zeichnete sich durch eine so echt tizianische Schönheit aus, daß Alie der Meinung war, die Photographie sei nach dem Gemälde eines alten Meisters angefertigt.

Der Diener erklärte jedoch, daß es die Prinzessin von Palmi sei, eine geborene Römerin, die diese Tracht auf einem Kostümball während des Karnevals getragen habe. Neben ihr stand das Bild eines jungen Mannes in einem entsprechenden Kostüm aus derselben Zeit; er hatte ebenfalls ein schönes Gesicht, doch lag ein unruhiger, spottender Ausdruck um den seinen, mit einem leichten Schnurrbart geschmückten Mund.

»Der Gemahl der Prinzessin?« fragte Alie.

»Wie neugierig du bist,« lachte Richard.

»Nein, es ist der Bruder des Prinzen, des Marquis Serra,« erwiderte der Diener.

»Welch eine schöne Familie!« rief Alie aus. »Richtige Romanmenschen. Alles ist hier vereint, Geburtsadel, Reichtum, Kunstsinn und Schönheit. Man könnte fast neidisch werden.«

»Ja, und die bezaubernde Prinzessin hat natürlich ihre Liebhaber, der Prinz amüsiert sich auf seine Manier und steckt bis über die Ohren in Schulden, und der junge Marquis lebt natürlich nur für galante Abenteuer und macht dabei Jagd auf ein reiches Mädchen, um seine Finanzen zu verbessern,« bemerkte Richard. »Das ist die Kehrseite der Medaille in den meisten dieser adeligen Familien.«

»Schweig, Richard!« versetzte Alie. »Laß mir meine Illusionen! Es ist so schön hier, daß es einem bis in die Seele hinein wohl thut.«

»Und der Prinz selbst?« wandte sie sich wieder an den Diener. »Ist sein Bild nicht hier?«

»Nein, der Prinz ist sehr kränklich, er läßt sich niemals porträtieren.«

Er sagte dies mit einem eigenartig ehrerbietigen, beklagenden Ausdruck.

»Und haben sie Kinder?«

»Nein, der Marquis Serra wird einstmals den Palast und den Titel erben.«

Sie gelangten in ein andres Zimmer mit Familienporträts, und hier fesselte Alies Aufmerksamkeit sofort ein in Oel gemalter Kopf, der einen jungen Mann mit einer breiten, ein wenig gewölbten Stirn, mit dichtem, lockigem, dunkelm Haar, träumenden, intelligenten Augen und einem seinen, ausdrucksvollen Mund vorstellte.

»Das Gesicht muß ich kennen,« sagte sie zu Richard. »Es ist ein interessanter Kopf. Sicher ein Dichter oder ein Gelehrter. Wen stellt das Bild dar?« fragte sie den Diener.

»Den Marquis Andrea Serra, den jüngeren Bruder des Prinzen,« lautete die Antwort.

»Ist es derselbe, den wir vorhin auf der Photographie sahen?«

»Freilich.«

»Denk nur, Richard, das ist doch merkwürdig! Hast du jemals einen Menschen gesehen, der bei verschiedenen Gelegenheiten so verschiedenartig aussehen kann? Von dem da kannst du doch nicht behaupten, daß er auf galante Abenteuer ausgeht. Ich finde, er sieht so aus, als sei er im Begriff, ein Gedicht zu schreiben.«

»Meinetwegen,« erwiderte Richard. »Aber hast du dich denn nicht endlich satt gesehen? Ich fürchte, Aagot wird ungeduldig.«

»Lieber, guter Richard, laß mich die Photographien in dem andern Zimmer noch einmal besehen; sie interessieren mich wirklich aufs höchste.«

»Ich glaube, du bist in den Märchenprinzen verliebt,« sagte Richard.

»Nein, aber er interessiert mich. Wie kann man nur zwei so verschiedene Gesichter haben!«

Am folgenden Morgen erzählte Alie, daß sie die ganze Nacht von dem Märchenprinzen geträumt habe.

»Und sie will nicht in ihn verliebt sein,« sagte Richard lachend zu Aagot; »sie denkt Tag und Nacht an ihn.«

»Freilich,« erwiderte Alie heiter, »wenn ich mich jemals verlieben sollte, so könnte der Gegenstand nur eine Persönlichkeit sein, von der ich im voraus wüßte, daß ich ihrer nie ansichtig werden würde.«

»Uebrigens,« fügte Richard hinzu, »habe auch ich seither an ihn gedacht. Es war mir gestern gleich, als müsse ich den Namen Andrea Serra bereits gehört haben. Als du sagtest, er denke sicher an ein Gedicht, bildetest du dir ein, eine Physiognomikerin zu sein. Es war aber nur ganz einfach eine Reminiscenz. Entsinnst du dich nicht, daß wir in Cannes in einer italienischen Zeitung von einem Dichter lasen, der kürzlich eine Sammlung satirischer politischer Gedichte herausgegeben und damit die ganze sogenannte Wiedergeburt Italiens angegriffen hatte? Diese Gedichte hatten großes Aufsehen gemacht und sollten im höchsten Grade genial sein.«

»Ja, ja!« rief Alie aus. »Jetzt erinnere ich mich dessen. Das war ja Andrea Serra. Und die Italiener an der Table d'hote sprachen von ihm und sagten, daß er einer der konservativsten Familien angehöre. Ich gehe sofort hin und kaufe mir das Buch.«

*

In Nervi mietete Richard ihnen Zimmer in einem wohleingerichteten Hotel, dessen Gästen die Verfügung über einen großartigen, schattigen Park freistand, der einem augenblicklich verreisten italienischen Marquis gehörte. Sie bekamen zwei Zimmer nebeneinander nach dem Meer hinaus, die den ganzen Tag von der Sonne beschienen wurden.

Die Gesellschaft im Hotel war fein und bestand hauptsächlich aus Engländern; man machte um sieben Uhr zum Diner Toilette und versammelte sich dann im Salon, wo musiziert wurde, falls man sich nicht die Zeit mit Gesellschaftsspielen vertrieb. Nachdem Richard seine Damen wohl angebracht und sie einigen Familien vorgestellt hatte, reiste er ab.

Aagot befand sich vorzüglich. Wohl vermißte sie Richard, von dem sie nie zuvor getrennt gewesen war, auch sehnte sie sich nach ihrem kleinen Sohn, da aber die Nachrichten von ihm häufig und gut waren, wurde ihr die Trennung nicht zu schwer. Sie machte sofort allerlei Bekanntschaften und schloß sich besonders an eine englische Familie mit zwei jungen Töchtern intim an. Sie war fast unzertrennlich von ihnen.

Alie, welche die Engländerinnen steif und langweilig fand, benützte, während Aagot ganz in diesem neuen Verkehr aufging, die Gelegenheit, um ihre Freiheit zu genießen. Sie war des Morgens vor allen andern auf, wenn die Luft noch kühl war, und machte Entdeckungsreisen in die Umgegend, so daß sie bald die ganze Landschaft ringsumher kannte, während die übrigen den lieben langen Tag am Strande saßen und pflichtschuldigst die Seeluft einatmeten, die ihnen ihre Gesundheit wiedergeben sollte. Alie konnte nicht zehn Minuten lang die furchtbare Sonnenglut auf diesem offenen, frei nach Süden gelegenen Strand ertragen, wo die armen Kranken saßen und sich braten ließen, wo heisere Stimmen, röchelnde Hustenanfälle und abgezehrte Wangen in grellem Widerspruch zu der Pracht der Natur standen, wo die Gespräche über Handarbeiten ebenso leer und geistesarm klangen wie des Winters in den eingeschlossenen Salons, und wo man mehr sich gegenseitig als das Meer betrachtete, wo die Ausrufe über die Schönheit der Natur sich in der Unterhaltung wie eine auswendig gelernte Lektüre wiederholten und stets aufs neue Alies Widerspruchsgeist hervorriefen.

Sie litt an einer ganz unmotivierten Sehnsucht nach Nadelwäldern, Fjorden, Landzungen und Felsklippen. Die üppige Vegetation in dieser warmen Bucht, wo sogar die Palmen der Wüstenoasen gedeihen und reife Datteln tragen, und wo jeder Fleck der Erde von der Kultur in Besitz genommen ist, wo Landstraßen und Fußpfade zwischen hohe Mauern geklemmt sind, weil jeder Baum irgend eine Frucht trägt, – ja, das alles war sehr reich und prächtig, aber niemals würde ihr diese Natur bis zum Herzen dringen wie die grünen Wiesen ihrer Heimat mit den grasenden Kühen, wie die weichen Heidekraut- und Moosteppiche zwischen hohen Granitblöcken, die Wälder mit ihrem Tannenduft und ihren Linéen, die frische Meeresbrise und die munteren Wellen, die plätschernd zwischen den Scheren spielen. Sie war eine langsame Natur, wo es sich um neue Stimmungen handelte, und selbst als der eigentümliche Zauber des Südens gleichsam wie aus einem Hinterhalt über sie geschlichen kam, Schritt vor Schritt, ganz allmählich, selbst dann verteidigte sie sich noch dagegen und bewahrte liebevoll in einem Winkel ihres Herzens ihre große Zärtlichkeit für die Natur und die Stimmungen der Heimat und für die Zauberwelt der Kindheitserinnerungen.

Eines Tages, als Alie eine Aufforderung angenommen hatte, mit Aagot und den beiden englischen Misses, Florence und Harriet, auszufahren, kamen sie an einer kleinen, schimmernd weißen Marmorvilla vorüber, die, umrahmt von dem dunklen Grün der Zitronenbäume, auf einer Anhöhe lag, und von deren flachem Dache man eine herrliche Aussicht über die ganze Küstenlinie bis nach Genua und das ganze ligurische Ufer mit den Seealpen im Hintergrunde haben mußte; nach der andern Seite konnte man bei klarem Wetter vielleicht gar bis Korsika sehen.

»Die Menschen, die dort wohnen, müßten eigentlich glücklich sein,« sagte Florence, »und doch glaube ich nicht, daß sie es sind. Wir sahen sie im vorigen Frühling. Sie pflegen zuweilen hierherzukommen – es ist eine sehr vornehme Familie, Prinz so oder so –, sie ist von göttergleicher Schönheit, aber er, denken Sie nur, er ist ein Krüppel und sitzt in seinem Rollstuhl oben auf der Terrasse; er soll bald nach seiner Verheiratung so geworden sein. Sie sind fast niemals zusammen; wenn er kommt, so reist sie. Zuweilen kam auch sein jüngerer Bruder, ein schöner, junger Mann; man sagt, daß der Prinz ihn nicht leiden kann, weil er ihn beerben soll. Er pflegte auch seiner schönen Schwägerin derartig die Cour zu machen, daß wir manchmal fanden, es ginge zu weit. Wie heißen sie doch gleich, Harriet? Sie besitzen auch einen der prächtigen Paläste in Genua.«

»Sollte es etwa der Prinz von Palmi sein?« fragte Alie und fühlte zu ihrem Aerger, daß sie dunkelrot wurde.

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Harriet. »Wer kann auch alle diese seltsamen italienischen Namen behalten. Der jüngere Bruder soll aber eine Gedichtsammlung geschrieben haben, die großes Aufsehen gemacht hat.«

Also waren sie es wirklich! Es wäre doch sonderbar, wenn sie nun gelegentlich ihre Bekanntschaft machte. Seine Gedichtsammlung war ihr täglicher Begleiter, ihre tägliche Beschäftigung gewesen, seit sie nach Nervi gekommen war. Sie war des Italienischen nicht genügend mächtig, um sie völlig zu verstehen, aber sie hatte sofort instinktiv gefühlt, daß sie hier einem ihr verwandten Geist begegnete, der aber eine Stärke und eine Originalität in der Ausdrucksweise, eine Ueberlegenheit in der Satire, eine Schärfe im Angriff besaß, die sie fesselten und blendeten. Es war nicht, wie sie anfänglich geglaubt hatte, der Angriff eines konservativen Gehirns gegen das Neue, das sich in der Zeit rührte, es war die Verachtung eines Skeptikers für die leeren, polternden Phrasen, hie und da in eines Idealisten harmvollem Hinweis auf den fehlenden Zusammenhang zwischen Wort und Handlung, hie und da als das Lachen eines überlegenen Spötters, der sich über die sich ewig wiederholende Komödie der Menschheit lustig macht. Zuweilen brach ein Strom von Lyrik zwischen dem Hohn hindurch, eine Vaterlandsliebe, die, während sie die großklingenden Worte und die patriotische Prahlerei vermied, dennoch einen innigen Ton anschlug, dem man es anmerken konnte, daß er echt war. Dies alles verstand Alie. Man kritisiert denjenigen, der uns nahesteht: man ist betrübt über die Mängel – und man liebt trotzdem.

Aber ihre Freude über die Aussicht, ihn möglicherweise kennen zu lernen, war doch getrübt durch ihre gewöhnliche Furcht, sich in ihren Erwartungen getäuscht zu sehen, und wenn die Bekanntschaft mit ihm nur von einem Wort ihrerseits abgehangen hätte, so würde sie dies Wort nicht ausgesprochen haben.

Es fing jetzt an, beinahe lästig warm in Nervi zu werden, und die Mehrzahl der Gäste, die für die Wintersaison gekommen waren, hatten das Hotel bereits verlassen. Nur Aagots Freunde, die Familie Grey-Johnston, blieben noch, weil die Mutter krank war und nicht reisen konnte.

Aagot und Alie warteten auf Richard, der erst im August kommen konnte; sie wollten dann, ehe sie heimkehrten, gemeinsam eine Rundreise durch Italien machen. Man verbrachte jetzt, wo die Hitze den Aufenthalt im Freien unerträglich machte, fast den ganzen Tag auf den Zimmern; erst des Abends ging man hinaus, um Lawn Tennis in dem schattigen Park zu spielen. Aber der Besitzer, Marquis Gropallo, wurde in allernächster Zeit zurückerwartet, dann wurde man natürlich auch aus diesem Zufluchtsort vertrieben.

Eines Nachmittags, als sie mit ihren Bällen und ihrem Netz in den Park kamen, sahen sie, daß die Villa geöffnet war; mehrere Personen waren in der Loggia versammelt, die nach ihrem Spielplatz hinauswendete. Sie wollten sofort umkehren, aber ein Herr in mittleren Jahren kam höflich auf sie zu und bat sie, sich nicht stören zu lassen. Er habe von dem Hotelwirt erfahren, daß es den Damen Vergnügen mache, zu spielen, und ihm, dem Marquis Gropallo, würde es eine große Freude bereiten, wenn sie nach wie vor kommen und seinen einsamen Park durch ihre Gegenwart beleben wollten.

Die drei jungen Mädchen standen verlegen da und wußten nicht, ob sie das Anerbieten annehmen oder ablehnen sollten. Aagot aber mit ihrer ruhigen Frauenwürde antwortete verbindlich, daß sie dem Herrn Marquis für seine Freundlichkeit dankten und gern von seiner liebenswürdigen Gastfreundschaft Gebrauch machen würden.

Alie war unzufrieden hiermit und fand, daß sie sich hätten entfernen sollen. Ein flüchtiger Blick auf die Loggia hatte ihr gezeigt, daß dort eine ganze Gesellschaft von Herren und Damen versammelt war, und mit dem allen Kurzsichtigen eignen Instinkt hatte sie sofort erraten, daß sich Marquis Serra unter den Gästen befand. Wenn sie einander jetzt begegnen würden, so geschah es unter den ungünstigsten Bedingungen, die man sich nur denken konnte. Alie war keine gewandte Spielerin und fand kein Vergnügen an solchen Zerstreuungen, sie wußte, daß sie sich bei dergleichen Gelegenheiten, kurzsichtig und zerstreut wie sie war, nicht zu ihrem Vorteil zeigte. Und selbst ihre Toilette, – sie besaß keinen besonderen Lawn Tennis-Anzug wie die andern, sondern nur ein einfaches, kurzes Kleid mit einer gestreiften, leinenen Bluse und einem ledernen Gürtel um die Taille. Sie hatte sich die Einsamkeit, in der sie während der letzten Zeit gelebt hatten, zu nutze gemacht und ihrer Neigung für eine bequeme und kühle Kleidung nachgegeben; jetzt wollte ihr diese aber doch ein wenig gar zu einfach erscheinen. Und ihr Haar, das bei den heftigen Bewegungen, die das Spiel erforderte, niemals sitzen bleiben wollte! Sie mußte unaufhörlich stillstehen, um es wieder aufzustecken.

Welch eine einfältige Zerstreuung für erwachsene Menschen war dies Herumlaufen doch im Grunde! Das Spiel war auch kaum jemals so schlecht gegangen wie heute. Es gelang ihr nicht, einen einzigen Ball zu treffen; sie lief gegen die Umfriedigung und fiel zuletzt und verrenkte ihren Knöchel. Es schmerzte so heftig, daß ihr Thränen in die Augen traten. Sofort sah sie sich von mehreren Herren umringt, unter denen sich auch Marquis Serra befand. Sie antwortete auf alle Fragen, daß ihr nicht das geringste fehle, aber trotz der größten Willensanstrengung war es ihr nicht möglich, den Fuß fest aufzusetzen, weshalb der Besitzer der Villa ihr seinen Arm bot und sie ins Hotel zurückführte. Der andre – das hatte sie sofort auf den ersten Blick bemerkt – war ganz durch eine der Damen in Anspruch genommen, eine üppige Schönheit mit zärtlichen Gazellenaugen und strahlend im Schmuck ihrer Juwelen.

In der Nacht, während sie mit einem kalten Umschlag um den stark geschwollenen Fuß dalag, fühlte sie, wie eine wunderliche Verstimmung sie ergriff. Es kränkte sie, daß sie sich so ungeschickt gezeigt hatte, und sie dachte mit einem gewissen Aerger an die schöne Italienerin, die dagestanden und sie durch eine so irritierende Lorgnette mit langem Schildpattstiel angeschaut hatte.

»Aber was geht mich das alles im Grunde an?« sagte sie zu sich selber. »Was habe ich mit der Gesellschaft zu thun? Sie gehören einer ganz andern Welt an als ich, so daß wir uns nicht näher stehen, als wenn wir auf zwei verschiedenen Planeten wohnten.«

»Sahst du deinen Marquis gestern?« fragte Aagot am nächsten Tage. »Harriet behauptet, daß er sich unter den Gästen auf der Villa befand.«

»Ja, ich sah ihn,« entgegnete Alie. »Aber er gleicht seinen Bildern nicht sehr. Sie sind zu idealisiert. Und seine Gedichte sind bedeutend geistreicher als er selbst.«

»Ueber das alles bist du dir in den wenigen Minuten klar geworden?« sagte Aagot. »Du pflegst ja freilich mit deinem Urteil immer sehr schnell bei der Hand zu sein.«

Seit jenem Tage las Alie nicht mehr in seinen Gedichten. Sie hatte alles Interesse für ihn verloren.


 << zurück weiter >>