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Fünfzehntes Kapitel. Verlassen

Clara ging mit ihrem Manne nach Sheffield, und Paul sah sie kaum je wieder. Walter Morel hatte anscheinend alle Unruhe über sich ergehen lassen, und da war er nun und kroch immer noch als ganz der gleiche durch den Dreck. Es bestand kaum irgendwelches Band zwischen Vater und Sohn, außer daß jeder von ihnen empfand, er dürfe den andern nicht tatsächlich darben lassen. Da nun aber niemand da war, der ihnen den Haushalt hätte führen können und keiner von ihnen die Leere des Hauses ertragen konnte, so suchte Paul sich eine Wohnung in Nottingham, und Morel ging zu Freunden in Bestwood und lebte mit ihnen.

Alles schien für den jungen Mann zerschmettert zu sein. Malen konnte er nicht mehr. Das Bild, das er an seiner Mutter Todestag beendet hatte – eins, das ihn wirklich befriedigte – war das letzte, das er machte. Bei der Arbeit gabs nun keine Clara mehr. Als er wieder nach Hause kam, konnte er seine Pinsel nicht wieder aufnehmen. Es war ihm nichts geblieben.

So war er in der Stadt immer an einem oder dem anderen Orte, trinkend, sich mit seinen Freunden herumtreibend. Es ermüdete ihn wirklich. Er sprach mit Schankmädchen, mit fast jedem weiblichen Wesen, aber es lag immer jener dunkle, angestrengte Blick in seinen Augen, als pürsche er auf etwas.

Alles kam ihm so anders vor, so unwirklich. Anscheinend bestand doch gar kein Grund, weshalb die Leute die Straße hinuntergehen und die Häuser sich im Sonnenschein emporrecken sollten. Anscheinend gab es keinen Grund, aus dem diese Dinge den Raum ausfüllen sollten, anstatt ihn leer zu lassen. Seine Freunde sprachen mit ihm: er hörte den Klang und antwortete. Aber warum da dies Sprechgeräusch sein sollte, das konnte er nicht begreifen.

Am meisten glich er seinem früheren Ich, wenn er allein war, oder wenn er hart und gedankenlos in der Werkstatt arbeitete. In diesem letzten Falle lag völliges Vergessen, in dem ihm das Bewußtsein entschwand. Aber auch das mußte ein Ende nehmen. Es tat ihm so weh, daß die Dinge ihre Wirklichkeit verloren hatten. Die ersten Schneeglöckchen kamen Er bemerkte die winzigen Perlentröpfchen in dem Grau. Es gab eine Zeit, in der sie ihm die lebhaftesten Empfindungen wachgerufen haben würden. Nun waren sie da, aber sie bedeuteten anscheinend nichts mehr für ihn. In ein paar Augenblicken würden sie aufhören diesen Raum auszufüllen, und nur Leere würde noch sein, wo sie gestanden hatten. Hohe, leuchtende Elektrische fuhren nachts durch die Straßen. Es schien ihm fast ein Wunder, daß sie sich die Mühe nahmen, so hin und wider zu rasseln. »Warum sich die Mühe machen, da nach der Trentbrücke hinabzupendeln?« fragte er die großen Wagen. Es kam ihm vor, sie könnten genau so gut nicht da sein, als fahren.

Das wirklichste war ihm immer noch die Dunkelheit des Nachts. Die erschien ihm vollkommen und faßlich und ruhevoll. Der konnte er sich überlassen. Plötzlich wehte ein Stück Papier vor seinen Füßen in die Höhe und flog über das Pflaster. Starr stand er still, mit geballten Fäusten, eine Flamme der Todesqual überflutete ihn. Und er sah wieder das Krankenzimmer, seine Mutter, ihre Augen. Unbewußt war er bei ihr gewesen, in ihrer Gesellschaft. Das rasche Emporhüpfen des Papiers hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß sie fort war. Aber er war bei ihr gewesen. Er wünschte, alles möchte stillestehen, so daß er wieder bei ihr sein könne.

Die Tage gingen hin, die Wochen. Aber alles schien ihm sich verschmolzen zu haben, zu einer dicht zusammengeballten Masse geworden zu sein. Er konnte nicht einen Tag vom andern unterscheiden, nicht die eine Woche von der andern, kaum einen Ort vom andern. Nichts war ihm klar oder deutlich erkennbar. Oft verlor er sich eine ganze Stunde lang und konnte sich nicht entsinnen, was er getan habe.

Eines Abends kam er spät in seine Wohnung. Das Feuer brannte niedrig; alles war schon im Bett. Er warf etwas mehr Kohlen auf, blickte nach dem Tische und beschloß, nichts zu essen. Dann setzte er sich in den Lehnstuhl. Es war vollkommen still. Er erkannte nichts, aber er sah doch den dünnen Rauch in den Rauchfang hinaufwallen. Da kamen mit einem Mal zwei Mäuse hervor, vorsichtig, und nibbelten an ein paar heruntergefallenen Krumen herum. Er beobachtete sie wie aus großer Ferne. Die Kirchenuhr schlug zwei. Weit weg konnte er das scharfe Klicken der Güterwagen auf der Eisenbahn hören. Nein, sie waren gar nicht weit weg. Sie waren an der richtigen Stelle. Aber wo war er selbst? Die Zeit ging hin. Die beiden Mäuse, die jetzt wild umhersausten, jagten ihm lustig über seine Hausschuhe. Er bewegte keinen Muskel. Er wollte sich nicht bewegen. Er dachte an gar nichts. Es war leichter so. Dann brauchte man sich nicht mit dem Verstehen abzuquälen. Dann blitzte von Zeit zu Zeit irgendein gedankenlos arbeitendes Bewußtsein in scharfer Erscheinung auf.

»Was mache ich denn?«

Und aus dem halbtrunkenen Traumschlaf kam die Antwort:

»Ich vernichte mich.«

Dann sagte ihm ein dumpfes, lebhaftes Gefühl, das im Augenblick wieder vorüber war, das sei falsch. Nach einiger Zeit kam plötzlich die Frage:

»Wieso falsch?«

Wieder kam keine Antwort, aber ein Stich heißer Hartnäckigkeit in seiner Brust widerstand der Selbstvernichtung.

Das Geräusch eines schweren, die Straße hinunterfahrenden Wagens ertönte. Plötzlich ging das elektrische Licht aus; aus dem Lichtmesser wurde ein wählendes Geräusch hörbar. Er rührte sich nicht, sondern blieb vor sich hinstarrend sitzen. Nur die Mäuse waren weggelaufen, und das Fenster glühte düsterrot durch das dunkle Zimmer.

Dann fing, ganz gedankenlos, aber deutlicher, die Unterhaltung in seinem Innern wieder an.

»Sie ist tot. Worauf ging das alles hinaus – ihr Kampf?«

Das war seine Verzweiflung, die ihn hinter ihr hersenden wollte.

»Du lebst doch.«

»Sie aber nicht.«

»Sie auch – in dir.«

Plötzlich fühlte er sich durch diese Last ermüdet.

»Um ihretwillen mußt du dich am Leben halten,« sagte sein innerer Wille.

Irgend etwas in ihm fühlte sich vergrämt, als wolle es nicht hochkommen.

»Du mußt ihr Leben weiterführen, und mit dem, was sie getan hat, weiter fortfahren.«

Aber das wollte er nicht. Er wollte es aufgeben.

»Aber du kannst doch mit deiner Malerei fortfahren,« sagte der Wille in ihm. »Oder sonst kannst du ja auch Kinder zeugen. Das beides führt ihre Bestrebungen fort.«

»Malen ist nicht leben.«

»Dann lebe.«

»Heiraten? wen denn?« kam die vergrämte Frage.

»So gut du's kannst.«

»Miriam?«

Aber dem traute er nicht.

Plötzlich stand er auf und ging stracks zu Bett. Als er in sein Schlafzimmer trat und die Tür zumachte, stand er mit geballten Fäusten da.

»Mater, mein Liebstes ,...« begann er, mit der ganzen Kraft seiner Seele. Dann hielt er inne. Er wollte es nicht sagen. Er wollte nicht zugeben, er möchte sterben, ein Ende machen. Er wollte sich nicht vom Leben geschlagen bekennen, oder vom Tode.

Stracks zu Bett gehend, schlief er sofort ein und überließ sich dem Schlaf.

So gingen die Wochen hin. Immer allein, schwankte seine Seele hin und her, zuerst nach der Seite des Todes hinüber, dann wieder nach der Seite des Lebens, störrisch. Die wirkliche Qual war, daß er nirgends hingehen konnte, nichts beginnen konnte, daß er nichts zu sagen hatte und selbst nichts war. Zuweilen lief er die Straßen hinab wie ein Verrückter; zuweilen war er verrückt; die Dinge waren nicht da, sie waren da. Das machte ihn ächzen. Manchmal stand er am Schanktisch eines Wirtshauses, wo er sich etwas zu trinken geben ließ. Plötzlich trat alles von ihm zurück. Er sah das Gesicht des Schankmädchens, die babbelnden Trinker, sein eigenes Glas auf dem nassen Mahagonitisch wie aus weiter Ferne. Es lag etwas zwischen ihm und denen. Er konnte nicht in Berührung mit ihnen gelangen. Er sehnte sich nicht nach ihnen; er setzte sich nicht nach seinem Trunk. Er wandte sich plötzlich ab und ging fort. Auf der Schwelle blieb er stehen und sah die erleuchtete Straße hinab. Aber er gehörte nicht zu ihr und war nicht in ihr. Etwas trennte ihn von ihr. Alles ging dort unter jenen Lampen weiter, von ihm ausgeschlossen. Er konnte nicht dorthin. Er fühlte, er könne die Laternenpfähle nicht anfassen, auch nicht, wenn er die Hand ausstreckte. Wo konnte er hin? Nirgends, weder zurück ins Wirtshaus, noch irgendwohin voraus. Er fühlte sich ersticken. Für ihn gabs kein anderswo. Die Spannung in seinem Innern wuchs; er fühlte, er ginge zu Bruch.

»Ich darf nicht,« sagte er; und blindlings sich umdrehend ging er hinein und trank. Zuweilen tat das Trinken ihm gut; zuweilen wurde er nur schlimmer. Er lief die Straße hinab. Immer ruhelos lief er hierin, dorthin, überallhin. Er entschloß sich zu arbeiten. Aber sobald er sechs Striche gemacht hatte, verabscheute er den Bleistift aufs heftigste, er stand auf und ging fort, er lief in seine Vereinigung, wo er Karten oder Billard spielen konnte, irgendwohin, wo er mit einem Schankmädchen liebäugeln konnte, die ihm nicht mehr war als der Messinghahn, den sie drehte.

Er wurde sehr dünn und bekam ein Gesicht wie ein Kirchenfenster. Er wagte nicht, seinen eigenen Blick im Spiegel zu treffen; nie sah er sich selbst an. Er wünschte sich selbst zu entfliehen, konnte aber nirgends Halt gewinnen. Voller Verzweiflung dachte er an Miriam. Vielleicht ,... vielleicht ,...?

Da, als er zufällig einmal Sonntagabends in die Unitarische Kirche ging, sah er sie vor sich, als die Gemeinde aufstand, um den zweiten Gesang zu singen. Das Licht erglänzte auf ihrer Unterlippe, während sie sang. Sie sah aus, als besitze sie etwas, auf alle Fälle: eine gewisse Hoffnung auf den Himmel, wenn nicht auf Erden. Ihr Trost und ihr Leben schienen im Jenseits zu beruhen. Ein warmes, starkes Gefühl für sie wurde in ihm wach. Sie empfand anscheinend, während sie sang, Sehnsucht nach etwas Geheimnisvollem, Trostvollem. Er setzte seine Hoffnung auf sie. Er wünschte, die Predigt wäre vorüber, damit er zu ihr sprechen könne.

Die Menge führte sie grade vor ihm nach draußen. Beinahe hätte er sie anrühren können. Sie wußte nicht, daß er da war. Er sah ihren braunen, demütigen Nacken unter den schwarzen Locken. Ihr wollte er sich überlassen. Sie war besser und größer als er. Auf sie wollte er sich verlassen.

Sie wanderte in ihrer blinden Weise durch die kleinen Gruppen von Leuten, die vor der Kirche standen. Sie sah unter andern Leuten immer so verloren und unangebracht aus. Er trat auf sie zu und legte ihr die Hand auf den Arm. Sie fuhr heftig zusammen. Ihre großen braunen Augen weiteten sich vor Furcht und nahmen dann einen fragenden Ausdruck an, als sie ihn erkannten. Er schreckte leicht vor ihr zurück.

»Ich wußte nicht ,...« stammelte sie.

»Ich auch nicht,« sagte er.

Er sah weg. Seine plötzlich hoch aufflammende Hoffnung sank wieder in sich zusammen.

»Was machst du in der Stadt?« fragte er.

»Ich bin bei meiner Base Anna.«

»Hm! Auf lange?«

»Nein; nur bis morgen.«

»Mußt du gleich nach Hause?«

Sie sah ihn an und barg dann ihr Gesicht unter dem Hutrand.

»Nein,« sagte sie; »nein ,...; nötig ist das nicht.«

Er wandte sich ab, und sie ging mit ihm. Sie schlängelten sich durch die Menge der Kirchenbesucher. In der Marienkirche tönte noch die Orgel fort. Dunkle Gestalten traten aus den erleuchteten Türen; Leute kamen die Stufen hinunter. Die mächtigen bunten Fenster glühten in die Nacht empor. Die Kirche war wie eine mächtige aufgehängte Laterne. Sie gingen den Hohlenstein hinunter, und dann nahm er den Wagen nach den Brücken.

»Du ißt mit mir zu Abend,« sagte er; »dann bringe ich dich wieder hin.«

»Schön,« sagte sie, leise und gedämpft.

Solange sie im Wagen saßen, sprachen sie kaum. Der Trent lief dunkel und bordvoll unter der Brücke hin. Nach Colwich hinüber war alles schwarze Nacht. Er lebte unten in der Holme Road an den nackten Ausläufern der Stadt, gegenüber den nach Sneinton Hermitage zu liegenden Wasserwiesen und der steilen Abdachung des Colwich-Waldes. Der Fluß war ausgeufert. Stumm breiteten sich das Wasser und die Dunkelheit zu ihrer Linken aus. Beinahe verängstigt eilten sie an den Häusern entlang.

Der Tisch war gedeckt. Er zog den Vorhang vors Fenster. Ein Glas mit Freesien und scharlachnen Anemonen stand auf dem Tische. Sie beugte sich zu ihnen nieder. Während sie sie noch mit den Fingerspitzen berührte, sah sie zu ihm auf und sagte:

»Sind sie nicht wunderschön?«

»Ja,« sagte er. »Was möchtest du trinken – Kaffee?«

»Gern,« sagte sie.

»Dann entschuldige mich einen Augenblick.«

Er ging hinaus in die Küche.

Miriam legte ihre Sachen ab und sah sich im Zimmer um. Es war ein kahler, ernster Raum. Ihr Lichtbild, Claras, Annies hingen an der Wand. Sie warf einen Blick auf sein Zeichenbrett, um zu sehen, was er vorhabe. Nur ein paar bedeutungslose Striche waren drauf. Sie sah nach, was für Bücher er läse. Augenscheinlich eine ganz gewöhnliche Erzählung. Die Briefe im Ständer waren von Annie, Arthur und von einem oder dem andern Manne, den sie nicht kannte. Alles was er berührt hatte, alles was auch nur die geringste persönliche Beziehung zu ihm besaß, untersuchte sie in zögernder Hingerissenheit. Er war so lange von ihr fortgewesen, daß sie ihn wieder zu entdecken wünschte, seine Stellung, sein jetziges Wesen. Aber hier im Zimmer war nicht viel, was ihr dabei helfen konnte. Es verursachte ihr eigentlich nur ein Gefühl von Traurigkeit, so hart und unbehaglich war es.

Neugierig prüfte sie ein Skizzenbuch, als er mit dem Kaffee zurückkam.

»Da ist nichts Neues drin,« sagte er, »und nichts, was dich besonders anziehen würde.«

Er stellte das Teebrett hin und trat hinzu, um ihr über die Schulter zu sehen. Sie wandte die Blätter langsam um, in dem Wunsche, alles zu untersuchen.

»Hm!« sagte er, als sie bei einer Skizze haltmachte. »Die hatte ich ganz vergessen. Ist nicht schlecht, nicht?«

»Nein,« sagte sie. »Ich verstehe es nur nicht ganz.«

Er nahm ihr das Buch weg und blätterte es durch. Wieder gab er einen sonderbaren Ton von Vergnügen und Überraschung von sich.

»Da ist einzelnes gar nicht schlecht hier drin,« sagte er.

»Durchaus nicht,« antwortete sie ernst.

Wieder fühlte er, wie sie durch seine Arbeiten gefesselt wurde. Oder war es mehr durch ihn selbst? Warum wurde sie immer am meisten durch die Art gefesselt, wie er in seinen Arbeiten erschien?

Sie setzten sich zum Abendbrot nieder.

»Bei der Gelegenheit,« sagte er, »habe ich nicht so etwas gehört, du verdientest dir jetzt deinen Lebensunterhalt selbst?«

»Ja,« erwiderte sie, ihren dunklen Kopf über die Tasse neigend.

»Und was ist da dran?«

»Ich gehe bloß auf drei Monate in die landwirtschaftliche Schule zu Broughton und werde wahrscheinlich als Lehrerin dableiben.«

»Sag mal – das klingt aber doch sehr schön für dich! Du wolltest ja immer gern unabhängig sein.«

»Ja.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Ich erfuhr es erst vorige Woche.«

»Aber ich hörte es doch schon vor einem Monat,« sagte er.

»Ja; aber da war noch nichts abgeschlossen.«

»Ich sollte meinen,« sagte er, »du würdest mir auch erzählen, daß du es versuchtest.«

Sie aß in der überlegten, gezwungenen Art, fast als schrecke sie davor zurück, etwas so vor der Öffentlichkeit zu tun, die er so gut an ihr kannte.

»Du freust dich vermutlich,« sagte er.

»Sehr.«

»Ja – das ist auch was.«

Er fühlte sich recht enttäuscht.

»Ich hoffe, es wird recht viel werden,« sagte sie fast hochmütig, als nehme sie ihm das übel.

Er lachte kurz auf.

»Warum meinst du, es würde das nicht?« fragte sie.

»Oh, ich meine nicht, daß es nicht recht viel für dich werden würde. Nur wirst du finden, den eigenen Lebensunterhalt verdienen ist noch nicht alles.«

»Nein,« sagte sie, mühsam hinunterschluckend; »ich vermute nicht.«

»Ich glaube, für den Mann kann seine Arbeit alles bedeuten,« sagte er, »obwohl sie das für mich nicht tut. Die Frau arbeitet aber nur mit einem Teil ihrer selbst. Der wirkliche und lebendige Teil bleibt verdeckt.«

»Der Mann aber kann sich seiner Arbeit ganz hingeben?« fragte sie.

»Ja, genau genommen.«

»Und die Frau nur den unwichtigeren Teil ihrer selbst?«

»Richtig.«

Sie sah zu ihm auf, und ihre Augen weiteten sich vor Ärger.

»Dann ist das,« sagte sie, »wenn es wahr ist, eine Schande.«

»Ists auch. Aber ich bin ja nicht allwissend,« antwortete er.

Nach dem Abendbrot setzten sie sich näher ans Feuer. Er schwenkte ihr einen Stuhl hin, dem seinen gegenüber, und sie setzten sich. Sie trug ein Kleid von dunkler Rotweinfarbe, das zu ihrer dunklen Hautfarbe und ihren großen Zügen gut stand. Immer noch waren ihre Locken ganz frei und fein, aber ihr Gesicht war viel älter geworden, ihr brauner Hals viel dünner. Sie kam ihm alt vor, älter als Clara. Ihre Jugendblüte war rasch dahingeschwunden. Eine Art Steifheit, fast etwas Hölzernes war über sie gekommen. Sie dachte ein Weilchen nach und sah ihn dann an.

»Und wie geht es mit dir?« fragte sie.

»Ziemlich gut,« antwortete er.

Sie sah ihn an und wartete.

»Nein,« sagte sie sehr leise.

Ihre braunen, feinfühligen Hände lagen über dem Knie gefaltet. Es fehlte ihnen immer noch an Selbstvertrauen oder Ruhe, sie sahen fast überreizt aus. Er krümmte sich innerlich, als er sie ansah. Dann lachte er klanglos. Sie nahm die Finger zwischen die Lippen. Sein schlanker, schwarzer, gequälter Leib lag ganz still in seinem Stuhl. Plötzlich nahm sie die Finger wieder aus dem Munde und sah ihn an.

»Und mit Clara hast du gebrochen?«

»Ja.«

Wie etwas Weggeworfenes lag sein Leib da, wie in den Stuhl gefallen.

»Weißt du,« sagte sie, »ich finde, wir sollten uns heiraten.«

Zum erstenmal seit vielen Monaten öffnete er die Augen und schenkte ihr volle Beachtung.

»Wieso?« sagte er.

»Sieh,« sagte sie, »wie du dich vergeudest. Du könntest krank werden, du könntest sterben, und ich erführe es nicht ,... könnte dir am Ende nicht mehr sein, als hätte ich dich nie gekannt.«

»Und wenn wir heirateten?« fragte er.

»Jedenfalls könnte ich dann verhindern, daß du dich so wegwirfst und andern Frauen zur Beute fällst wie ,... wie Clara.«

»Zur Beute?« wiederholte er lächelnd.

Sie senkte schweigend den Kopf. Er fühlte seine Verzweiflung wieder aufsteigen.

»Ich bin mir nicht sicher,« sagte er, »daß die Ehe uns viel helfen würde.«

»Ich denke nur an dich,« erwiderte sie.

»Das weiß ich. Aber – du liebst mich so sehr, daß du mich in die Tasche stecken möchtest. Und da würde ich ersticken.«

Sie senkte den Kopf, den Finger zwischen den Lippen, während die Bitterkeit in ihrem Herzen emporquoll.

»Und was willst du sonst anfangen?« fragte sie.

»Ich weiß nicht, – so weitermachen, vermutlich. Vielleicht gehe ich bald ins Ausland.«

Die verzweifelte Verbissenheit in seinem Tone ließ sie auf der Herdmatte ganz dicht neben ihm in die Knie sinken. Da kauerte sie sich zusammen, wie von etwas zermalmt, als könne sie den Kopf nicht wiederheben. Seine Hände lagen ganz untätig auf den Lehnen seines Stuhles. Sie wurde sie gewahr. Sie fühlte, nun sei er ganz in ihrer Gewalt. Könnte sie nur aufstehen, ihn hinnehmen, die Arme um ihn schlingen und sagen ›Du bist mein‹, dann würde er sich ganz ihr überlassen. Aber durfte sie das? Leicht konnte sie sich selbst opfern. Aber durfte sie derartige Ansprüche erheben? Sie wurde seinen schlanken, dunkelgekleideten Körper gewahr, der eine einzige Lebensäußerung war, in den Stuhl neben ihr hingegossen. Aber nein; sie wagte nicht, die Arme um ihn zu schlingen, ihn aufzunehmen, zu sagen: ›Mein ist er, dieser Leib. Laß ihn mir.‹ Und sie sehnte sich so danach. Er sprach so zu ihrer ganzen Weiblichkeit. Aber sie kauerte sich nieder und wagte es nicht. Sie befürchtete, er werde es ihr nicht gestatten. Sie war bange, es würde zu viel sein. Da lag er, dieser Körper, verlassen. Sie wußte, sie müßte ihn aufheben und für sich beanspruchen, jedes Recht über ihn für sich in Anspruch nehmen. Aber – konnte sie das? Ihre Ohnmacht in seiner Gegenwart, angesichts des starken Heischens eines unbekannten Wesens in ihm, wurde ihr zur höchsten Notlage. Ihre Hände zitterten; halb hob sie den Kopf. Ihre Augen, schaudernd, flehend, fast verzweifelt, sahen plötzlich bittend zu ihm auf. Sein Herz wurde von Mitleid ergriffen. Er faßte ihre Hände, zog sie an sich und tröstete sie.

»Willst du mich haben und mich heiraten?« sagte er sehr leise.

Oh, warum nahm er sie nicht? Ihre Seele gehörte ihm ja ganz. Warum nahm er nicht, was sein eigen war? Sie hatte die Grausamkeit, ihm anzuhören und doch nicht von ihm gefordert zu werden, so lange getragen. Nun spannte er sie wieder auf die Folter. Das war zu viel. Sie zog den Kopf zurück, hielt sein Gesicht zwischen ihren Händen und sah ihm in die Augen. Nein; er war hart. Er wollte etwas anderes. Mit ihrer ganzen Liebe flehte sie ihn an, nicht ihr die Wahl zuzuschieben. Sie konnte nicht mit dem da in Wettbewerb treten, mit ihm, sie wußte nicht mit was. Aber es riß an ihr, bis sie fühlte, sie müsse zerreißen.

»Möchtest du es?« fragte sie, sehr ernst.

»Nicht sehr,« erwiderte er, voller Schmerz.

Sie wandte das Gesicht ab; dann, sich voller Würde erhebend, legte sie seinen Kopf an ihre Brust und wiegte ihn leise. Sie sollte ihn also nicht bekommen! Dann durfte sie ihn nun trösten. Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. Für sie, die angstvolle Süße der Selbstaufopferung. Für ihn, den Haß und das Elend eines neuen Mißgriffes. Er konnte es nicht ertragen – diese Brust, die so warm war, die ihn wiegte, ohne seine Bürde von ihm zu nehmen. Er sehnte sich so nach Ruhe bei ihr, daß diese vorgespiegelte Ruhe ihn nur quälte. Er zog sich zurück.

»Und ohne Ehe können wir uns nichts sein?«

Sein Mund hob sich vor Schmerz von den Zähnen ab. Sie steckte den kleinen Finger zwischen die Lippen.

»Nein,« klang es, leise, wie eine Sterbeglocke. »Nein, ich glaube nicht.«

Dann war es also zu Ende mit ihnen. Sie konnte ihn nicht hinnehmen und ihn von der eigenen Verantwortlichkeit befreien. Sie konnte sich ihm nur opfern – sich ihm alle Tage opfern, freudig. Und das wollte er nicht. Er sehnte sich danach, daß sie ihn halte und voller Freude und Machtgefühl über ihn zu ihm sagte: »Nun laß alle diese Rastlosigkeit und dies Ankämpfen gegen den Tod. Du gehörst zu mir, als mein Gefährte.« Die Kraft hatte sie nicht. Sehnte sie sich nach einem Gefährten? oder sehnte sie sich nach ihm wie nach einem Christus?

Indem er sie verließ, fühlte er, er betrüge sie um ihr Leben. Aber er wußte auch, wenn er bliebe und den inneren verzweifelten Menschen in sich erstickte, verleugne er sein eigenes Leben. Und er besaß nicht die Hoffnung, durch Verleugnung seines eigenes Lebens ihr zum Leben verhelfen zu können.

Sie saß sehr ruhig da. Er zündete sich eine Zigarette an. Schwankend stieg ihr Rauch in die Höhe. Er dachte an seine Mutter und hatte Miriam vergessen. Plötzlich sah sie ihn an. Die Bitterkeit quoll in ihr empor. Ihr Opfer war also nutzlos. Da lag er, fern, ihrer unachtsam. Mit einem Mal bemerkte sie wieder seinen Mangel an Frömmigkeit, seine ruhelose Unbeständigkeit. Wie ein eigensinniges Kind würde er sich vernichten. Schön, dann mußte er das tun.

»Ich denke, ich muß gehen,« sagte sie sanft.

Aus ihrem Tone begriff er, sie verachte ihn. Er stand ruhig auf.

»Ich komme mit dir,« antwortete er.

Sie stand vor dem Spiegel und steckte ihren Hut fest. Wie bitter, wie unsagbar bitter machte sie die Zurückweisung ihres Opfers! Das Leben vor ihr sah aus wie erstorben, als sei alle Glut aus ihm entschwunden. Sie neigte das Gesicht über die Blumen – die Freesien, so frühlingsgleich und süß, die scharlachnen Anemonen, die über dem Tische schwebten. Das sah ihm ähnlich, solche Blumen um sich zu haben.

Er bewegte sich mit einer gewissen Sicherheit im Zimmer umher, rasch und erbarmungslos und ruhig. Sie konnte den Wettbewerb mit ihm nicht aufnehmen. Wie ein Wiesel würde er ihren Händen entschlüpfen. Und doch, ohne ihn mußte sich das Leben für sie leblos dahinschleppen. In tiefem Brüten berührte sie die Blumen.

»Nimm sie!« sagte er; und er nahm sie aus dem Glase, triefend, wie sie waren, und ging rasch damit in die Küche. Sie wartete auf ihn, nahm die Blumen, und zusammen gingen sie fort, er redend, sie sich wie gestorben fühlend.

Nun ging sie von ihm. In ihrem Elend lehnte sie sich an ihn, während sie im Wagen saßen. Er ging nicht darauf ein. Wo würde er hingehen? Wie würde sein Ende sein? Sie konnte es nicht ertragen, dies unbestimmte Gefühl über seine Zukunft. Er war ja so närrisch, so verschwenderisch, nie in Frieden mit sich selbst. Und nun, wo würde er hingehen? Und was machte er sich daraus, daß er sie vergeudete? Frömmigkeit besaß er nicht; er kümmerte sich nur um augenblicklich Anziehendes, um sonst nichts, nichts Tieferes. Schön, sie wollte warten und sehen, wie die Sache mit ihm ausgehen würde. Sobald er genug hätte, würde er nachgeben und zu ihr kommen.

Er gab ihr die Hand und verließ sie an der Haustür ihrer Base. Sowie er sich umwandte, merkte er, nun habe er den letzten Halt verloren. Wie er da so auf der Elektrischen saß, streckte sich die Stadt über die Bucht der Eisenbahn hin, eine Ebene aus leuchtendem Rauch. Jenseits der Stadt das Land, kleine rauchende Flecken an Stelle weiterer Städte – die See – die Nacht – weiter und weiter! Und für ihn kein Platz drin! Wo er auch stand, da stand er allein. Aus seiner Brust, aus seinem Munde sprang der endlose Raum, und überall hinter ihm war er da. Die die Straße hinabeilenden Leute boten der Leere, in der er sich befand, kein Hindernis. Sie waren kleine Schatten, deren Fußtritte und Stimmen man hören konnte, aber in jedem von ihnen dieselbe Nacht, das gleiche Schweigen. Er verließ den Wagen. Auf dem Lande war alles totenstill. Hoch oben schienen kleine Sterne; kleine Sterne breiteten sich weit hinweg über das Flutwasser, ein Himmel ihm zu Füßen. Überall die Weite und der Schrecken der ungeheuren Nacht, die auf eine kurze Spanne durch den Tag unterbrochen und aufgeführt wird, die aber wiederkommt, und zuletzt ewig bleibt, und alles mit ihrem Schweigen und ihrem lebensvollen Düster umfangen hält. Es gab keine Zeit, nur Raum. Wer könnte sagen, seine Mutter habe gelebt und lebe nicht mehr? Sie hatte sich an einem Orte befunden und weilte jetzt an einem andern; das war alles. Und seine Seele konnte sie nicht verlassen, wo sie auch war. Nun war sie hinausgegangen in die Nacht, und er war immer noch bei ihr. Sie waren zusammen. Aber doch war hier sein Körper, seine Brust, die sich gegen den Durchgang anlehnte, seine Hände auf der hölzernen Schranke. Sie schienen doch etwas. Wo war er? – ein kleines aufrechtstehendes Stückchen Fleisch, weniger als eine auf dem Felde liegengebliebene Weizenähre. Das konnte er nicht ertragen. Von jeder Seite schien das gewaltige dunkle Schweigen auf ihn einzudringen und ihn, den winzigen Funken auslöschen zu wollen, und doch war er, fast ein Nichts, unauslöschbar. Die Nacht, in der sich alles verlor, griff um sich her, über Sonne und Sterne hinaus. Sterne und Sonnen, ein paar leuchtende Körnchen, sausten vor Angst in die Runde und hielten sich einander umschlungen hier in der Dunkelheit, die über sie alle hinausreichte und sie klein und erschrocken hinter sich ließ. So gewaltig, und er, das unendlich Kleine, im Grunde eine Null, und doch kein Nichts.

»Mutter!« klagte er, – »Mutter!«

Sie war das einzige, das ihn inmitten alles dieses aufrechterhalten hatte. Und sie war fort, hatte sich mit dem Unendlichen vermischt. Er sehnte sich nach ihrer Berührung, danach, sie neben sich zu haben.

Aber nein, nachgeben wollte er nicht. Scharf sich umwendend, schritt er auf den goldenen Glimmer der Stadt zu. Die Fäuste geballt, den Mund fest geschlossen. Die Richtung wollte er nicht einschlagen, dort in die Dunkelheit hinaus, hinter ihr her. Rasch schritt er auf die schwach summende, glühende Stadt zu.


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