Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel. Liebeszwist

Arthur hatte seine Lehrlingszeit beendet und bekam eine Stellung auf dem Elektrizitätswerk der Mintongrube. Er verdiente nur wenig, hatte aber gute Aussichten für sein Weiterkommen. Aber er war wild und rastlos. Er trank nicht und spielte auch nicht. Und doch brachte er sich in endlose Schwierigkeiten, stets durch irgendeine hitzköpfige Gedankenlosigkeit. Entweder fing er in den Wäldern Kaninchen, wie ein Wilddieb, oder blieb die ganze Nacht über in Nottingham anstatt nach Hause zu kommen, oder er verrechnete sich beim Tauchen in den Wasserweg bei Bestwood und zerschrammte sich die ganze Brust auf den Steinen und Blechbüchsen am Boden zu einer wunden Masse.

Er war noch nicht viele Monate in seiner neuen Stellung, als er eines Nachts wieder einmal nicht nach Hause kam.

»Weißt du, wo Arthur ist?« fragte Paul beim Frühstück.

»Ich nicht,« erwiderte seine Mutter.

»Er ist ein Narr,« sagte Paul. »Und wenn er noch irgendwas ausführte, dann wollte ich noch nichts sagen. Aber nein, einfach, weil er nicht vom Whist wegfinden kann, oder ein Mädchen vom Schlittschuhlaufen nach Hause bringen muß – ganz ehrbar, deswegen kann er nicht nach Hause kommen. Er ist ein Narr.«

»Ich weiß nicht, ob es so viel besser wäre, wenn er etwas ausführte, worüber wir uns alle schämen müßten,« sagte Frau Morel.

»Na, jedenfalls würde ich ihn mehr achten,« meinte Paul.

»Das bezweifle ich noch sehr,« sagte seine Mutter kalt.

Sie fuhren mit ihrem Frühstück fort.

»Hast du ihn so furchtbar lieb?« fragte Paul seine Mutter.

»Warum fragst du danach?«

»Weil es heißt, eine Frau liebt ihren Jüngsten am meisten.«

»Vielleicht – ich nicht. Nein, er macht mich mürbe.«

»Und du möchtest wirklich lieber, er wäre gut?«

»Ich wollte, er zeigte etwas gesunden Menschenverstand.«

Paul war roh und reizbar. Er machte seine Mutter auch oft mürbe. Sie sah den Sonnenschein aus ihm verschwinden und nahm das übel.

Als sie mit dem Frühstück zu Ende waren, kam der Briefträger mit einem Briefe aus Derby. Frau Morel kniff die Augen zusammen, um die Anschrift zu erkennen.

»Gib her, du blinde Henne!« rief ihr Sohn und riß ihn ihr weg.

Sie fuhr auf und haute ihn beinahe um die Ohren.

»Der 's von deinem Sohne Arthur,« sagte er.

»Was hat er nun wieder ,...!« rief Frau Morel.

»›Meine liebste Mutter!‹« las Paul, »›ich weiß nicht, was mich so zum Narren gemacht hat. Ich bitte dich zu kommen und mich hier wieder wegzuholen. Ich bin gestern mit Jack Bredon hierhergekommen, anstatt zur Arbeit zu gehen, und habe mich anwerben lassen. Er sagte, er habe das Stuhldurchsitzen satt, und als der Blödhammel, als den du mich ja kennst, bin ich mitgegangen.‹«

»›Ich habe des Königs Schilling genommen, aber vielleicht, wenn du dich nach mir umsähest, würden sie mich wieder laufen lassen. Ich war verrückt, als ich es tat. Ich will gar nicht ins Heer. Meine liebe Mutter, ich mache dir nichts als Sorgen. Aber wenn du mich hier wieder herausholst, verspreche ich dir, will ich vernünftiger werden und mehr Überlegung zeigen ,...‹«

Frau Morel setzte sich in ihren Schaukelstuhl.

»Ach was,« rief sie, »nun laß ihn dableiben!«

»Ja,« sagte Paul, »laß ihn dableiben.«

Es trat Schweigen ein. Die Mutter saß da, die Hände in der Schürze gefaltet, ihr Gesicht fest, nachdenkend.

»Wenn mich das nicht ganz elend macht!« rief sie plötzlich; »elend!«

»Nun,« sagte Paul und begann die Stirn zu runzeln, »fang mir nicht an, dir die Seele drüber auszuquälen, hörst du?«

»Ich soll es wohl noch als 'nen Segen auffassen,« fuhr sie ihren Sohn an, sich zu ihm wendend.

»Jedenfalls sollst du kein Trauerspiel draus machen, so,« entgegnete er.

»Der Narr! – der junge Hansnarr!« rief sie.

»Er muß sehr gut aussehen in seiner Uniform,« sagte Paul stichelnd.

Seine Mutter wandte sich wie eine Rachegöttin gegen ihn.

»So, meinst du!« rief sie. »In meinen Augen nicht!«

»Er sollte in ein Reiterregiment eintreten; da hat ers gut und sieht mächtig nach was aus.«

»Nach was aus! – nach was aus! – schön nach was aus, wahrhaftig! – ein gemeiner Soldat!«

»Ja,« sagte Paul, »was bin ich denn anders als ein gemeiner Gehilfe?«

»Ein gut Teil, mein Junge,« rief seine Mutter gekränkt.

»Wieso?«

»Jedenfalls ein Mann, und nicht so'n Dings im roten Rock.«

»Ich würde mir nichts draus machen, einen roten Rock zu tragen – oder dunkelblau, das gefiele mir noch besser – wenn sie mich nur nicht zu viel herumschubsten.«

Aber seine Mutter hörte gar nicht mehr auf ihn.

»Grade als er etwas weiterkommt oder hätte weiterkommen können in seiner Stellung – der junge Tunichtgut –, da geht er hin und richtet sich für sein ganzes Leben zugrunde. Was ist denn nachher noch mit ihm anzufangen, meinst du?«

»Es mag ihn ganz hübsch zurechtstutzen,« sagte Paul.

»Zurechtstutzen! – Was er noch an Mark in den Knochen hatte, wirds ihm herausholen. Ein Soldat! – gemeiner Soldat! – nichts als ein Leib, der Bewegungen ausführt, wenn er einen Ruf hört! Das ist was Feines!«

»Ich kann nicht begreifen, weshalb du dich so aufregst,« sagte Paul.

»Nein, am Ende kannst du das nicht. Aber ich begreife es«; und sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück, das Kinn in einer Hand, den Ellenbogen mit der andern haltend, bis zum Überlaufen voller Kummer und Zorn.

»Und gehst du nach Derby?« fragte Paul.

»Ja.«

»Ganz nutzlos.«

»Das will ich erst mal sehen.«

»Und warum in aller Welt läßt du ihn nicht dableiben?

Das ist doch grade, was er sich wünscht!«

»Natürlich!« rief die Mutter; »du weißt auch grade, was er sich wünscht!«

Sie machte sich fertig und fuhr mit dem ersten Zuge nach Derby, wo sie ihren Sohn und den Unteroffizier sah. Es nutzte aber nichts.

Als Morel abends beim Essen saß, sagte sie plötzlich:

»Ich mußte heute nach Derby.«

Der Bergmann schlug die Augen auf, so daß das Weiße in seinem schwarzen Gesicht zu sehen war.

»Mußtest de, Mächen. Wat hattest de denn da?«

»Der Arthur.«

»Oh – wat hat denn der nu vor?«

»Er hat sich bloß anwerben lassen.«

Morel legte sein Messer hin und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Ne,« sagte er, »det hat er doch woll nich!«

»Und morgen geht er nach Aldershot.«

»Na!« rief der Bergmann, »det's 'n Dalschlag!« Er sann einen Augenblick nach, sagte »Hm!« und fuhr mit seinem Essen fort. Plötzlich zog sich sein Gesicht voller Wut zusammen. »Ick hoffe, er wird keenen Fuß wieder in mein Haus setzen,« sagte er.

»So'n Gedanke!« rief Frau Morel. »So was zu sagen!«

»Ick sags aber,« wiederholte Morel. »So'n Narr, der auskneift, um Soldat zu werden, laß den man für sich selber sorgen; ick wer' nichts mehr für'n dun.«

»Du hast ja auch grade mächtig viel für ihn getan,« sagte sie.

Und Morel schämte sich fast, diesen Abend ins Wirtshaus zu gehen.

»Na, bist du hingewesen?« fragte Paul seine Mutter, als er nach Hause kam.

»Ja.«

»Und was sagte er?«

»Er heulte, als ich wegging.«

»Hm!«

»Und ich auch, also brauchst du nicht ›hm‹ zu machen!«

Frau Morel grämte sich um ihren Sohn. Sie wußte, der Heeresdienst würde ihm nicht gefallen. Das konnte er nicht. Jede Zucht war ihm unerträglich.

»Aber der Arzt meinte,« sagte sie zu Paul mit einem gewissen Stolz, »er wäre völlig ebenmäßig – beinahe vollkommen; alle seine Maße wären richtig. Er sieht auch gut aus, weißt du.«

»Er sieht sehr gut aus. Aber die Mädchen fängt er doch nicht so wie William, nicht?«

»Nein; er ist anders veranlagt. Er ist ein gut Teil wie sein Vater, ohne Verantwortlichkeitsgefühl.«

Um seine Mutter zu trösten, ging Paul um diese Zeit nicht häufig nach dem Willeyhofe. Und in der Schüler-Herbstausstellung im Schloß hatte er zwei Arbeiten, eine Landschaft in Wasserfarben und ein Stilleben in Öl, die beide den ersten Preis bekamen. Er war aufs höchste erregt.

»Was meinst du, was ich für meine Bilder gekriegt habe, Mutter?« fragte er, als er eines Abends heimkam. Sie sah seinen Augen an, daß er froh war. Ihr Gesicht färbte sich.

»Na, wie soll ich das wissen, mein Junge!«

»Einen ersten Preis für die Glaspötte ,...«

»Hm!«

»Und einen ersten Preis für die Skizze da oben beim Willeyhofe.«

»Beides erste?«

»Ja.«

»Hm!«

Etwas Rosiges, Helles kam über sie, wenn sie auch nichts sagte.

»Das ist doch nett, nicht?« sagte er.

»Ja.«

»Warum hebst du mich nun nicht in den Himmel?«

Sie lachte.

»Dann müßte ich dich ja nur wieder runterholen,« sagte sie.

Aber trotzdem war sie doch voller Freude. William hatte ihr seine Turnpreise gebracht. Sie hatte sie noch, und seinen Tod konnte sie nicht vergeben. Arthur war hübsch – wenigstens eine gute Nummer – und warm und offenherzig, und würde aller Wahrscheinlichkeit nach am Ende auch noch zurechtkommen. Aber Paul würde sich auszeichnen. Sie besaß großen Glauben an ihn, um so mehr, als er sich seiner Kraft gar nicht bewußt war. Es lag noch so viel in ihm. Ihr Leben war reich an Verheißungen. Sie würde sich noch erfüllt sehen. Ihr Kampf war nicht umsonst gewesen.

Mehrere Male während der Ausstellung ging Frau Morel ohne Pauls Wissen zum Schloß. Sie wanderte den langen Raum hinab, um sich die andern Arbeiten anzusehen. Ja, sie waren gut. Aber sie hatten nicht dies gewisse Etwas in sich, was sie zu ihrer Befriedigung verlangte. Einige machten sie eifersüchtig, so gut waren sie. Lange Zeit sah sie sie sich an, um Fehler in ihnen zu entdecken. Dann plötzlich bekam sie einen solchen Schreck, daß ihr das Herz klopfte. Da hing Pauls Bild! Sie kannte es, als wäre es ihr ins Herz eingepreßt.

»Name – Paul Morel – Erster Preis.«

Es sah so sonderbar aus, da in der Öffentlichkeit an den Wänden des Schlosses, wo sie in ihrem Leben schon so manche Bilder gesehen hatte. Und sie sah sich um, um zu sehen, ob auch sonst jemand sie schon wieder vor derselben Skizze hätte stehen sehen.

Aber sie fühlte sich sehr stolz. Wenn sie gut angezogene Frauen traf, auf ihrem Heimwege zum Park, dann dachte sie bei sich:

»Ja, gut siehst du ja aus – aber soll mich mal wundern, ob dein Junge auch zwei erste Preise im Schlosse hat.«

Und so zog sie weiter, eine so stolze kleine Frau wie nur eine in ganz Nottingham. Und Paul war es, als hätte er etwas für sie getan, wenn auch nur recht wenig. All seine Arbeit gehörte ihr.

Als er eines Tages zum Schloßtor hinaufging, traf er Miriam. Er hatte sie am Sonntag gesehen, und erwartete nicht, sie in der Stadt zu treffen. Sie ging mit einer ziemlich auffallenden Frau, blond, mit verdrossenem Gesichtsausdruck und trotziger Haltung. Es war seltsam, wie Miriam mit ihrer gebeugten, nachdenklichen Haltung zwergenhaft aussah neben dieser Frau mit ihren schönen Schultern. Miriam beobachtete Paul mit suchenden Blicken. Sein Blick lag auf der Fremden, die ihn gar nicht beachtete. Das Mädchen sah seine Männlichkeit ihr Haupt erheben.

»Hallo!« sagte er, »du hast mir ja gar nicht gesagt, daß du zur Stadt kämest.«

»Nein,« sagte Miriam, sich halb entschuldigend. »Ich fuhr mit Vater zum Viehmarkt.«

Er sah ihre Gefährtin an.

»Ich habe dir von Frau Dawes erzählt,« sagte Miriam flüsternd; sie war erregt. »Clara, kennst du Paul?«

»Ich glaube, ich habe ihn schon mal gesehen,« erwiderte Frau Dawes gleichgültig, als sie ihm die Hand gab. Sie hatte verächtliche graue Augen, eine Haut wie weißer Honig, und einen vollen Mund mit leicht in die Höhe gezogener Oberlippe, die nicht wußte, war sie vor Verachtung gegen alle Männer hochgezogen, oder weil sie so gern geküßt worden wäre; sie glaubte aber aus dem ersten Grunde. Sie trug den Kopf hintenüber, als zöge sie sich in Verachtung zurück, vielleicht auch von den Männern. Sie hatte einen breitrandigen, schlampigen schwarzen Biberhut auf und ein etwas geziert einfaches Kleid an, das aussah, als steckte sie in einem Sack. Sie war augenscheinlich arm und hatte nicht viel Geschmack. Miriam sah ungewöhnlich nett aus.

»Wo haben Sie mich denn gesehen?« fragte Paul die Frau.

Sie sah ihn an, als hätte sie keine Lust, sich die Mühe einer Antwort zu geben. Dann sagte sie:

»Als Sie mit Louie Travers gingen.«

Louie war eins der Strickmaschinenmädchen.

»Wieso, kennen Sie die?« fragte er.

Sie antwortete nicht. Er wandte sich an Miriam.

»Wo gehst du hin?« fragte er.

»Zum Schloß.«

»Mit welchem Zuge fährst du nach Hause?«

»Ich fahre mit Vater. Ich wollte, du kämest mit. Wann bist du frei?«

»Du weißt doch, heute erst um acht, verdammt nochmal!«

Und sofort gingen die beiden Frauen weiter.

Paul erinnerte sich, daß Frau Dawes die Tochter einer alten Freundin von Frau Leivers war. Miriam hatte sie sich ausgesucht, weil sie früher Strickmaschinenaufseherin bei Jordan gewesen war, und weil ihr Mann, Baxter Dawes, Schmied in seiner Werkstätte war und die Eisenteile für Krüppelwerkzeuge und ähnliches machte. Miriam fühlte, sie gelangte durch sie in engere Berührung zu Jordans und könnte Pauls Stellung besser einschätzen. Aber Frau Dawes lebte von ihrem Manne getrennt und hatte sich den Frauenrechtlerinnen angeschlossen. Sie galt für klug. Das fesselte Paul. Baxter Dawes kannte er und mochte ihn nicht. Der Schmied war ein Mann von ein- oder zweiunddreißig. Er kam gelegentlich durch Pauls Ecke – ein großer, gutgebauter Mann von auffallendem Aussehen und hübsch. Es bestand eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen ihm und seiner Frau. Er hatte dieselbe weiße Haut, mit einem hellen, goldigen Schimmer. Sein Haar war von einem weichen Braun, sein Schnurrbart golden. Und er hatte den gleichen Trotz in seiner Haltung und seinem Benehmen. Aber dann kam der Unterschied. Seine Augen, dunkelbraun und rasch umherblickend, waren unentschlossen. Sie standen etwas vor, und die Augenlider fielen in einer Weise über sie herab, die halb auf Haß deutete. Sein Mund war ebenfalls sinnlich. Sein ganzes Benehmen war verschüchtert trotzig, als wäre er bereit, jedermann zu Boden zu schlagen, der ihn mißachtete, vielleicht weil er sich tatsächlich selbst mißachtete.

Paul hatte er vom ersten Tage an gehaßt. Sowie er den unpersönlichen, überlegenden, künstlerischen Blick des Jungen auf seinem Gesicht ruhen fand, geriet er in Wut.

»Wat haste zu kieken?« grinste er drohend.

Der Junge sah weg. Aber der Schmied pflegte hinter dem Tisch stehen zu bleiben und mit Herrn Pappleworth zu sprechen. Seine Redeweise war schmutzig mit einem Anflug von Fäulnis. Wieder ertappte er den Jungen bei dem kühlen, prüfenden Blick auf seinem Gesicht.

»Wat haste zu kieken, du Dreikäsehoch?« knurrte er.

Der Junge zuckte leicht die Achseln.

»Wat du ,...!« brüllte Dawes.

»Lassen Sie ihn in Ruhe,« sagte Herr Pappleworth mit jener einschmeichelnden Stimme, die bedeutet, ›er ist ja bloß so'n kleiner Schmachtlappen, der kann das nicht helfen.‹

Seit der Zeit pflegte der Junge den Mann jedesmal, wenn er bei ihnen durchkam, mit derselben prüfenden Neugierde zu betrachten, und wegzusehen, sobald er des Schmiedes Auge traf. Das machte Dawes wütend. Sie haßten sich schweigend.

Clara Dawes hatte keine Kinder. Als sie ihren Mann verlassen hatte, war der Haushalt auseinandergebrochen, und sie war zu ihrer Mutter gezogen. Dawes wohnte bei seiner Schwester. Im selben Hause war auch noch eine Schwägerin, und auf irgendwelche Weise wußte Paul, daß dies Mädchen, Louie Travers, nun Baxters Frau war. Sie war eine hübsche, freche Hexe, die den Jungen verspottete und doch errötete, wenn er auf seinem Wege zum Bahnhof sie auf ihrem Nachhausewege begleitete.

Das nächstemal, als er Miriam besuchte, war es Sonnabendabend. Sie hatte ein Feuer im Wohnzimmer und erwartete ihn. Die andern, mit Ausnahme des Vaters und der Mutter und der kleinen Kinder, waren aus, so daß sie das Wohnzimmer für sich hatten. Es war ein langer, niedriger, warmer Raum. Drei von Pauls kleinen Skizzen hingen an der Wand, und sein Lichtbild stand auf dem Kamin. Auf dem Tische und dem hohen alten Rosenholzklavier standen Krüge mit farbigen Blättern. Er saß in einem Lehnstuhl, sie kauerte auf der Herdmatte zu seinen Füßen nieder. Die Glut lag warm auf ihrem hübschen, nachdenklichen Gesicht, als sie hier wie eine Andächtige kniete.

»Wie fandst du Frau Dawes?« fragte sie ruhig.

»Sie sieht nicht sehr freundlich aus,« erwiderte er.

»Nein, aber meinst du nicht, daß sie eine feine Frau ist?« sagte sie in ihrem tiefen Tonfall.

»Ja – in ihrer Haltung. Aber ohne jedes Körnchen Geschmack. Ich mag sie wohl aus verschiedenen Gründen. Ist sie unangenehm?«

»Ich glaube nicht. Ich glaube, sie ist unzufrieden.«

»Womit?«

»Na ja – wie würdest du das finden, dein ganzes Leben an einen solchen Mann gefesselt zu sein?«

»Warum hat sie ihn denn geheiratet, wenn sie doch so bald die Krämpfe vor ihm kriegte?«

»Ja, warum!« wiederholte Miriam bitter.

»Und ich sollte glauben, sie hätte doch wohl genug Kampflust in sich, um mit ihm fertig zu werden,« sagte er.

Miriam senkte den Kopf.

»So?« fragte sie spöttisch. »Wie kommst du darauf?«

»Sieh doch mal ihren Mund an – für Leidenschaft geschaffen – und erst ihre Kopfhaltung ,...« Er warf den Kopf in Claras trotziger Weise zurück.

Miriam beugte sich etwas tiefer.

»Ja,« sagte sie.

Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen, während er über Clara nachdachte.

»Und was mochtest du an ihr leiden?« fragte sie.

»Ich weiß nicht – ihre Haut und ihre ganze Beschaffenheit, und ihre – ich weiß nicht – es liegt so was Wildes in ihr. Ich schätze sie als Künstler, das ist alles.«

»Ja.«

Er wunderte sich, weshalb Miriam sich da in dieser wunderlich nachdenklichen Weise zusammenkauerte. Es reizte ihn.

»Du magst sie doch nicht wirklich gern, nicht wahr?« fragte er das Mädchen.

Sie sah ihn mit ihren großen, verstörten dunklen Augen an.

»Doch,« sagte sie.

»Nein – das kannst du nicht – nicht wirklich.«

»Was denn?« fragte sie langsam.

»I, das weiß ich nicht – vielleicht magst du sie gern, weil sie auf alle Männer so böse ist.«

Sehr viel wahrscheinlicher war dies einer seiner eigenen Gründe für seine Vorliebe für Frau Dawes, aber das merkte er gar nicht. Sie schwiegen. Auf seiner Stirn lag dies Runzeln, das ihm allmählich zur Angewohnheit geworden war, besonders beim Zusammensein mit Miriam. Sie hätte es gern geglättet, und fürchtete sich davor. Es schien ihr der Stempel eines Mannes in ihm, der nicht ihr Paul Morel war.

Zwischen den Blättern in dem Kruge standen ein paar leuchtend rote Beeren. Er griff danach und zog einen Zweig heraus.

»Wenn du dir rote Beeren ins Haar steckst,« sagte er, »warum siehst du dann immer wie eine Zauberin oder eine Priesterin aus, aber nie wie eine Berauschte?«

Sie lachte mit einem nackten, schmerzvollen Tonfall.

»Ich weiß nicht,« sagte sie.

Seine kräftigen warmen Hände spielten aufgeregt mit den Beeren.

»Warum kannst du nicht lachen?« sagte er. »Du lachst nie ein richtiges Lachen. Du lachst nur, wenn etwas sonderbar ist oder nicht am Platze, und dann tuts dir anscheinend immer weh.«

Sie senkte den Kopf, als schelte er sie.

»Ich wollte, du könntest mal eine Minute lang über mich lachen – nur eine Minute lang. Ich habe das Gefühl, das müßte etwas in dir freimachen.«

»Aber« – und sie sah ihn mit erschreckten, kämpfenden Augen an – »ich lache doch über dich – wirklich.«

»Niemals. Es liegt immer eine Art Spannung drin. Wenn du lachst, möchte ich immer weinen; es zeigt mir, daß du offenbar leidest. Oh, du bringst ja meine Seele zum Stirnrunzeln und Nachdenken über dich.«

Langsam schüttelte sie voller Verzweiflung den Kopf.

»Wirklich, das wollte ich nicht,« sagte sie.

»Bei dir bin ich immer so verdammt geistig!« rief er.

Sie verharrte in nachdenklichem Schweigen und dachte: ›Warum bist du denn nicht mal anders?‹ Aber er sah ihre kauernde, brütende Gestalt, und sie schien ihn entzwei zu reißen.

»Aber schließlich ists ja Herbst,« sagte er, »und alle Welt fühlt sich dann ja wie ein körperloser Geist.«

Wieder schwiegen sie. Diese sonderbare Traurigkeit zwischen ihnen beiden machte ihre Seele erbeben. Er sah so wunderschön aus, wenn seine Augen so dunkel wurden und so aussahen, als wären sie so tief wie der allertiefste Brunnen.

»Du machst mich so geistig!« klagte er. »Und ich möchte gar nicht geistig sein.«

Mit einem kleinen Pop! zog sie den Finger aus dem Munde und sah fast herausfordernd zu ihm auf. Aber immer noch lag ihre Seele nackt in ihren großen dunklen Augen, und dieselbe flehentliche Bitte. Hätte er sie in übersinnlicher Reinheit zu küssen vermocht, er hätte es getan. Aber so konnte er sie nicht küssen – und sie schien ihm keinen andern Weg zu lassen. Und sie sehnte sich so nach ihm.

Er lachte kurz auf.

»Schön,« sagte er, »krieg dein Französisch, und wir wollen etwas – etwas Verlaine lesen.«

»Ja,« sagte sie in tiefem Tone, der fast wie ein Verzicht klang. Und sie stand auf und holte die Bücher. Und ihre so roten, zappeligen Hände sahen so kläglich aus, daß er ganz verrückt danach wurde, sie zu trösten und zu küssen. Aber dann wagte ers wieder nicht – oder konnte es nicht. Es hinderte ihn etwas. Seine Küsse waren für sie nicht recht. Bis zehn fuhren sie mit dem Lesen fort und gingen dann in die Küche, und Paul wurde bei Vater und Mutter wieder natürlich und fröhlich. Seine Augen waren dunkel und glänzend; es lag eine Art Zauber über ihm.

Als er in die Scheune ging nach seinem Rad, fand er, das Vorderrad hatte ein Loch.

»Hol mir 'nen Krug mit einem Tropfen Wasser,« sagte er zu ihr. »Ich komme zu spät, und dann kriege ich was.«

Er zündete die Sturmlampe an, zog seinen Rock aus, drehte das Rad um und ging flugs an die Arbeit. Miriam kam mit einer Schüssel voll Wasser und sah, dicht neben ihm stehend, zu. Sie liebte, seine Hände in Tätigkeit zu sehen. Er war schlank und kräftig, mit einer gewissen Leichtigkeit selbst bei den hastigsten Bewegungen. Und ganz mit seiner Arbeit beschäftigt, schien er sie völlig zu vergessen. Sie liebte ihn so hingerissen. Zu gern hätte sie ihre Hände an seinen Seiten hinunterlaufen lassen. Sie wünschte ihn immer zu umhalsen, so lange als er sie nicht wollte.

»So!« sagte er, sich plötzlich erhebend. »Nun, hättest du das rascher machen können?«

»Nein!« lachte sie.

Er streckte sich. Sein Rücken war ihr zugekehrt. Sie legte ihre beiden Hände an seine Seiten und ließ sie rasch dran hinuntergleiten.

»Du bist so fein!« sagte sie.

Er lachte, voller Haß gegen ihre Stimme, aber sein Blut schlug unter ihrer Hand zu einer Flammenwoge empor. Sie schien ihn gar nicht gewahr zu werden bei alledem. Er hätte ein lebloser Gegenstand sein können. Sie merkte nie, daß er ein Mann war.

Er zündete seine Radlampe an, stupste das Rad auf die Scheunendiele, um zu sehen, ob die Reifen heil wären, und knöpfte sich den Rock zu.

Sie untersuchte die Bremse, von der sie wußte, daß sie zerbrochen war.

»Hast du sie in Ordnung bringen lassen?« fragte sie.

»Nein.«

»Aber warum denn nicht?«

»Die Hinterbremse geht ja ein wenig.«

»Aber das ist doch nicht genug.«

»Ich kann meine Füße brauchen.«

»Ich wollte, du ließest sie heilmachen,« murmelte sie.

»Reg dich nicht auf – komm morgen zum Tee mit Edgar.«

»Ja?«

»Jawohl – gegen vier. Ich komme euch entgegen.«

»Schön.«

Sie war froh. Sie gingen über den dunklen Hof zum Gatter. Als er zurücksah, bemerkte er durch die vorhanglosen Fenster Herrn und Frau Leivers' Köpfe in der warmen Glut. Es sah urbehaglich aus. Die Straße mit ihren Fichten lag dunkel vor ihm.

»Bis morgen,« sagte er, auf sein Rad springend.

»Du bist doch vorsichtig, nicht?« flehte sie.

»Ja.«

Seine Stimme tönte schon aus der Dunkelheit. Einen Augenblick stand sie noch und sah den Schein seiner Lampe über den Boden in die Dunkelheit hineinrasen. Sehr langsam wandte sie sich dem Hause zu. Der Orion stieg über dem Walde empor, seinen Hund funkelnd hinter sich, halb im Nebel. Im übrigen war die Welt voller Finsternis und Schweigen, ausgenommen das Atmen des Viehes in den Ställen. Sie betete diesen Abend ernstlich für seine Sicherheit. Wenn er sie verließ, lag sie oft in Angst und wunderte sich, ob er wohl sicher nach Hause käme.

Er flog nur so die Hügel hinunter auf seinem Rade. Die Wege waren schlüpfrig, daher mußte er es sich selbst überlassen. Er empfand es als ein Vergnügen, wie das Rad über den zweiten steileren Abhang des Hügels hinuntersauste. »Nun gehts los!« sagte er. Es war gewagt, wegen der Biegung unten bei der Dunkelheit, und wegen der Bierwagen, auf denen die betrunkenen Fahrer oft schliefen. Sein Rad schien beinahe unter ihm wegzufallen, und das liebte er. Waghalsigkeit ist fast wie die Rache des Mannes am Weibe. Er fühlt sich nicht gewürdigt, und so will er es denn wagen, sich selbst zu vernichten, um sie ganz zu berauben.

Die Sterne schienen auf dem See zu hüpfen wie Grashüpfer, silbern auf seiner Schwärze, während er vorübersauste. Dann kam die lange Steigung nach Hause.

»Sieh, Mutter!« sagte er, indem er ihr die Beeren und Blätter auf den Tisch warf.

»Hm!« sagte sie, sah sie kurz an und dann wieder weg. Sie saß lesend allein, wie sie immer zu tun pflegte.

»Sind die nicht hübsch?«

»Ja.«

Er merkte, sie war ärgerlich auf ihn. Nach ein paar Minuten sagte er:

»Edgar und Miriam kommen morgen zum Tee.«

Sie antwortete nicht.

»Du machst dir doch nichts draus.«

Sie antwortete immer noch nicht.

»Tust du's?«

»Du weißt doch, ob ich mir was draus mache oder nicht.«

»Ich wüßte auch nicht, warum. Ich esse doch so oft dort.«

»Ja.«

»Warum willst du ihnen denn nicht das bißchen Tee gönnen?«

»Wem gönne ich keinen Tee?«

»Warum bist du so eklig?«

»Ach, hör auf! Du hast sie zum Tee eingeladen, das genügt vollständig. Sie wird schon kommen.«

Er war böse auf seine Mutter. Er wußte, es war nur Miriam, gegen die sie etwas einzuwenden hatte. Er schleuderte seine Stiefel ab und ging zu Bett.

Am nächsten Nachmittag ging Paul seinen Freunden entgegen. Er freute sich, sie kommen zu sehen. Um etwa vier Uhr waren sie im Hause. Alles war sauber und still wegen des Sonntagnachmittags. Frau Morel saß im schwarzen Kleide und Schürze da. Sie stand auf, um den Besuchern entgegenzugehen. Mit Edgar war sie ganz herzlich, mit Miriam aber kalt und unfreundlich. Und doch fand Paul, das Mädchen sah so nett aus in seinem braunen Kaschmirrock.

Er half seiner Mutter beim Anrichten des Tees. Miriam hätte sich gern dazu angeboten, aber sie war bange. Er war recht stolz auf sein Heim. Es lag über ihm jetzt nach seinem Gefühl eine gewisse Eigenart. Die Stühle waren zwar nur aus Holz, und das Sofa war alt. Aber die Herdmatte und die Kissen waren behaglich; die Bilder geschmackvolle Drucke; in allem lag Einfachheit, und viele Bücher waren da. Er schämte sich seines Heims nie im geringsten, ebensowenig wie Miriam des ihren, weil beide waren, wie sie sein sollten, und warm. Und dann war er stolz auf den Tisch; das Geschirr war hübsch und das Tischtuch sehr fein. Daß die Löffel nicht aus Silber waren oder die Messer keine Elfenbeingriffe hatten, war gleichgültig; alles sah hübsch aus. Frau Morel hatte wundervoll hausgehalten, während ihre Kinder heranwuchsen, so daß nichts unpassend erschien.

Miriam redete ein wenig über Bücher. Das war unweigerlich ihr Gespräch. Aber Frau Morel war nicht mit dem Herzen dabei und wandte sich bald zu Edgar.

Zuerst waren Edgar und Miriam immer in Frau Morels Kirchenstuhl gegangen. Morel ging nie zur Kirche, lieber ins Wirtshaus. Frau Morel saß wie ein kleiner Vorkämpfer vorn in ihrem Stuhl, Paul am anderen Ende; und zuerst hatte Miriam neben ihm gesessen. Es war dann in der Kapelle wie zu Hause gewesen. Es war ein hübscher Aufenthalt, mit dunklem Gestühl und schlanken, wohlgeformten Pfeilern und Blumen. Und dieselben Leute saßen an denselben Plätzen seit seiner Kinderzeit. Wundervoll süß und beruhigend war es, hier anderthalb Stunden lang zu sitzen, neben Miriam, und dicht bei seiner Mutter, und so seine beiden Lieben unter dem Zauber dieses Ortes der Verehrung zu vereinigen. Dann fühlte er sich warm und glücklich und fromm zugleich. Und nach der Kirche ging er mit Miriam heim, während Frau Morel den Rest des Abends mit ihrer alten Freundin Frau Burns verbrachte. Er war äußerst lebendig auf seinen Gängen mit Edgar und Miriam am Sonntagabend. Nie ging er abends an den Gruben vorüber, an dem erleuchteten Lampenschuppen, den hohen, schwarzen Fördertürmen und Wagenreihen, den langsam sich drehenden Gebläsemaschinen, ohne daß das Gefühl, Miriam komme wieder zu ihm, lebendig und fast unerträglich wurde.

Sie nahm den Stuhl der Morels nicht sehr lange in Anspruch. Ihr Vater nahm wieder einen für sie alle. Er lag unter dem kleinen Umgang, dem der Morels gegenüber. Wenn Paul und seine Mutter in die Kapelle kamen, war der Stuhl der Leivers immer noch leer. Dann wurde er ängstlich vor Furcht, sie möchte nicht kommen; es war so weit, und es regnete an so vielen Sonntagen. Dann, manchmal tatsächlich sehr spät, kam sie mit ihren langen Schritten herein, den Kopf gesenkt, das Gesicht unter dem dunkelgrünen Samthut verborgen. Ihr Gesicht lag, wenn sie ihm so gegenübersaß, immer im Schatten. Aber es verlieh ihm ein sehr lebhaftes Gefühl, als würde seine Seele dadurch aufgestachelt, sie sich dort gegenüber zu sehen. Es war nicht dieselbe Glut, nicht das Glück und der Stolz, die er bei der Obhut über seine Mutter empfand; etwas noch Wundervolleres, weniger Menschliches und durch ein Schmerzgefühl besonders lebhaft Gefärbtes, als läge etwas vor ihm, das er nicht erreichen könne.

Um diese Zeit begann er den rechten Glauben anzuzweifeln. Er war einundzwanzig, sie zwanzig. Sie begann den Frühling zu fürchten: dann wurde er so wild und tat ihr oft so weh. Den ganzen Weg entlang zertrümmerte er grausam ihre Glaubenssätze. Edgar fand seine Freude dran. Er war sehr wählerisch veranlagt und ziemlich leidenschaftslos. Aber Miriam litt ausgesuchte Schmerzen, wenn der Mann, den sie liebte, mit seinem messerscharfen Verstande den Glauben untersuchte, in dem sie lebte und sich bewegte und ihr Dasein fand. Aber er schonte sie nicht. Er war grausam. Und wenn sie allein gingen, war er sogar noch wilder, als wollte er ihre Seele töten. Er ließ ihrem Glauben zur Ader, bis sie fast die Besinnung verlor.

»Sie frohlockt – sie frohlockt darüber, daß sie ihn mir entführt,« rief Frau Morel in ihrem Herzen, sobald Paul fort war. »Sie ist nicht wie ein gewöhnliches Weib, das mir meinen Anteil an ihm lassen würde. Sie will ihn ganz aufzehren. Sie will ihn herausholen und ihn aufzehren, bis nichts mehr von ihm übrig ist, selbst nicht für ihn selbst. Nie wird er als Mann auf eigenen Füßen stehen – sie wird ihn aufsaugen.« So saß die Mutter da und kämpfte und brütete in Bitternis.

Und wenn er dann von seinen Gängen mit Miriam heimkam, war er wild vor Qual. Er biß sich im Gehen auf die Lippen und ballte die Fäuste, rasch ausschreitend. Dann, plötzlich vor einen Übergang geraten, konnte er ein paar Minuten stillstehen und sich nicht rühren. Ein großes dunkles Loch lag vor ihm, und auf den schwarzen Abhängen waren winzige Lichtpünktchen und im tiefsten Grunde der Nacht die glimmende Grube. Es war alles so unheimlich und furchtbar. Warum wurde er so zerrissen, so verstört, daß er sich kaum zu bewegen vermochte? Warum saß seine Mutter zu Hause und litt? Er wußte, sie litt schrecklich. Aber warum mußte sie das? Und warum haßte er Miriam und empfand eine solche Grausamkeit gegen sie beim Gedanken an seine Mutter? Wenn Miriam seiner Mutter Schmerzen verursachte, dann mußte er sie hassen – und er haßte sie leicht. Warum verursachte sie ihm das Gefühl, als wäre er seiner selbst nicht sicher, ungewiß, ein unbestimmtes Etwas, als besitze er nicht Deckung genug, sich gegen den Einbruch der Nacht und des Raumes zu schützen? Wie er sie haßte! Und dann wieder, welcher Schwall von Zärtlichkeit und Demut!

Mit einem Male fuhr er dann wieder los und lief nach Hause. Seine Mutter sah ihm die Zeichen seiner Qual an und sagte nichts. Aber er mußte sie dazu bringen, mit ihm zu sprechen. Dann war sie böse mit ihm, weil er so weit ginge mit Miriam.

»Warum magst du sie eigentlich nicht, Mutter?« rief er in Verzweiflung.

»Ich weiß nicht, mein Junge,« erwiderte sie kläglich. »Wirklich, ich habe versucht, sie leiden zu mögen. Ich habe es versucht und versucht – aber ich kanns nicht, ich kanns nicht!«

Und er fühlte sich trostlos und hoffnungslos zwischen den beiden.

Frühling war die schlimmste Zeit. Dann wurde er wandelbar und grausam und gereizt. Daher entschloß er sich, ihr fernzubleiben. Dann kamen die Stunden, wo er wußte, Miriam erwarte ihn. Seine Mutter beobachtete, wie er unruhig wurde. Er konnte mit seiner Arbeit nicht weiter. Er konnte nichts machen. Es war, als zöge etwas seine Seele nach dem Willeyhofe. Dann setzte er seinen Hut auf und ging aus, ohne ein Wort zu sagen. Und seine Mutter wußte, nun war er fort. Und kaum auf dem Wege, seufzte er auf vor Erleichterung. Und sobald er bei ihr war, wurde er wieder grausam.

Eines Tages im März lag er am Ufer des Nethersees, und Miriam saß neben ihm. Es war ein schimmernder, weißblauer Tag. Große Wolken, so glänzende, zogen über ihren Köpfen dahin, während ihre Schatten sich über das Wasser hinstahlen. Die freien Stellen am Himmel waren von reinem, kaltem Blau. Paul lag auf dem Rücken in dem alten Gras und sah in die Höhe. Er konnte es nicht ertragen, Miriam anzusehen. Sie schien ihn zu verlangen, und er widerstand ihr. Er widerstand ihr die ganze Zeit über. Nun wünschte er, ihr Leidenschaft und Zärtlichkeit zu geben, und konnte es nicht. Er fühlte, sie wolle seine Seele aus seinem Körper, und nicht ihn selbst. Seine ganze Stärke und Tatkraft zog sie in sich hinüber durch etwas, das sie verband. Sie wollte sich gar nicht mit ihm vereinen, so daß sie zu zweien blieben, ein Mann und eine Frau. Sie wollte ihn ganz in sich hinüberziehen. Das stachelte ihn zu einer wahnsinngleichen Reizbarkeit an, die ihn bezauberte wie ein Schlaftrunk.

Er sprach mit ihr über Michelangelo. Es kam ihr vor, als befühle sie unmittelbar seine bebenden Lebensfasern, den Urstoff des Lebens, während sie ihm zuhörte. Das verlieh ihr tiefste Befriedigung. Und am Ende erschreckte es sie. Da lag er in der weißen Spannung seines Suchens, und seine Stimme erfüllte sie allmählich mit Furcht, so gleichmäßig lief sie, so beinahe unmenschlich, als wäre er verzaubert.

»Sprich nicht mehr,« flehte sie weich und legte ihm die Hand auf die Stirn.

Er lag ganz still, fast unfähig, sich zu bewegen. Sein Leib war gar nicht mehr da.

»Warum nicht? Bist du müde?«

»Ja, und es greift dich so an.«

Er lachte kurz auf und merkte was.

»Und doch bringst du mich immer dazu,« sagte er.

»Ich will es aber gar nicht,« sagte sie sehr leise.

»Wenn du zu weit gegangen bist und es nicht mehr aushalten kannst. Aber unbewußt bittet dein Ich mich immer darum. Und vermutlich möchte ich es selbst auch.«

Er fuhr fort in seiner toten Weise:

»Wenn du doch nur mich haben wolltest, und nicht immer das, was ich dir bloß so vorplappere!«

»Ich!« rief sie bitter. »Ich! Wieso, wann ließest du mich dich denn hinnehmen?«

»Dann ists meine Schuld,« sagte er, und sich zusammenraffend stand er auf und begann Gleichgültiges zu reden. Er fühlte sich körperlos. Unbestimmt haßte er sie deswegen. Und doch wußte er, er selbst wäre genau so sehr zu tadeln. Das verhinderte ihn jedoch nicht, sie zu hassen.

Eines Abends um diese Zeit war er auf dem Heimwege mit ihr. Sie standen auf der Weide, die nach dem Walde hinunterging, unfähig, sich zu trennen. Als die Sterne hervortraten, schlossen sich die Wolken. Zuweilen bekamen sie ihr Sternbild, den Orion, zu sehen, nach Westen hinüber. Sein Gürtel funkelte einen Augenblick auf, sein Hund lief tief unten und kämpfte sich mühsam durch den Wolkenschleier hindurch.

Der Orion stand für sie unter den Sternbildern an Bedeutung obenan. Sie hatten ihn in ihren seltsamen, gefühlüberladenen Stunden angeschaut, bis es ihnen schien, als lebten sie in jedem einzelnen seiner Sterne. Heute abend war Paul düster und verdreht gewesen. Der Orion war ihm wie jedes andere gewöhnliche Sternbild vorgekommen. Er hatte gegen seinen Zauber und seinen Glanz angefochten. Miriam beobachtete ihres Liebsten Laune aufmerksam. Aber er sagte nichts, was ihn verraten hätte, bis der Augenblick zum Abschied kam, wo er stehenblieb und düster die Stirn gegen die aufgezogenen Wolken runzelte, hinter denen ihr Sternbild weiter dahinziehen mußte.

Am nächsten Tage sollte in seinem Hause eine kleine Gesellschaft stattfinden, an der sie auch teilnehmen sollte.

»Ich werde dir nicht entgegenkommen,« sagte er.

»Oh, schön; es ist auch nicht sehr schön draußen,« erwiderte sie langsam.

»Deswegen nicht – bloß, weil sie es nicht mögen. Sie sagen, ich machte mir aus dir mehr als aus ihnen. Und du begreifst doch, nicht wahr? Du weißt doch, es ist bloß Freundschaft.«

Miriam war erstaunt und verletzt. Es hatte ihn eine große Anstrengung gekostet. Sie ließ ihn stehen, da sie ihm jede weitere Erniedrigung ersparen wollte. Ein feiner Regen stäubte ihr ins Gesicht, als sie die Straße entlangschritt. Sie war tief im Innern verletzt; und sie verachtete ihn, weil er sich so leicht von jedem Hauch von Überlegenheit hin und her wehen ließ. Und unbewußt fühlte sie im innersten Herzen, er versuche von ihr loszukommen. Das hätte sie niemals zugegeben. Er tat ihr leid.

Um diese Zeit wurde Paul eine gewichtige Kraft in Jordans Geschäft. Herr Pappleworth ging weg und eröffnete ein eigenes Geschäft, und Paul blieb bei Herrn Jordan als Strickereiaufseher. Sein Gehalt sollte zum Jahresschluß, wenn alles gut ginge, auf dreißig Schilling die Woche erhöht werden.

Miriam kam Freitagabends immer noch oft zu ihrer französischen Stunde. Paul ging nicht so oft nach dem Willeyhofe, und sie grämte sich bei dem Gedanken, ihre Erziehung möchte hier ein Ende nehmen; aber noch mehr, sie waren beide gern beieinander, trotz ihrer Unstimmigkeiten. So lasen sie Balzac und machten Aufsätze und kamen sich sehr verfeinert vor.

Freitagabend war Abrechnungsabend für die Bergleute. Morel ›rechnete‹ – verteilte das Geld aus dem Stollen – entweder im neuen Wirtshause zu Bretty oder zu Hause, je nachdem seine Kumpels es wünschten. Barker war unter die Enthaltsamen gegangen, daher rechneten die Männer jetzt in Morels Hause ab.

Annie, die in ihrem Lehrberuf von Hause weggewesen war, war wieder da. Sie war immer noch ein Wildfang; und sie war verlobt und sollte sich verheiraten. Paul arbeitete an seinen Zeichnungen.

Morel war Freitagabends immer guter Laune, ausgenommen, wenn der Wochenlohn niedrig war. Gleich nach dem Abendessen machte er sich mit seiner Wäsche zu tun. Es war für die Frauen eine Anstandspflicht, nicht dabei zu sein, wenn die Männer abrechneten. Frauen durften in solche rein männlichen Angelegenheiten, wie das Abrechnen der Kumpels es war, keinen Einblick erhalten, und brauchten auch den genauen Betrag des Wochenlohns nicht zu erfahren. Während daher ihr Vater in der Spülküche herumplantschte, ging Annie auf ein Stündchen zu einer Nachbarin. Frau Morel hatte mit Backen zu tun.

»Mach die Tü-ü-ür zu!« brüllte Morel wütend.

Annie haute sie hinter sich zu und war weg.

»Machst se noch mal wieder uff, wenn ick mir wasche, denn sollen dich mal de Knochen klappern!« drohte er tief aus seinem Seifenschaum hervor. Paul und seine Mutter ärgerten sich, ihn so zu hören.

Da kam er auch schon aus der Spülküche hervorgerannt; das Seifenwasser tröpfelte an ihm herunter, und er klapperte vor Kälte.

»Au, Herrschaft!« sagte er. »Wo 's mein Handtuch?«

Es hing über einem Stuhl vorm Feuer zum Wärmen, sonst hätte er geschimpft und gepoltert. Er kauerte sich auf den Hacken vor dem heißen Backfeuer nieder, um sich zu trocknen.

»F-ff-f!« fuhr er fort und tat so, als zitterte er vor Kälte.

»Meine Güte, Mann, sei doch nicht so'n Wickelkind!« sagte Frau Morel. »Es ist ja gar nicht kalt.«

»Zieh du dir erst mal splinternackigt aus und wasch dich dein Fleesch in de Spülküche da,« sagte der Bergmann, während er sich das Haar rubbelte; »eenfach 'n Eiskeller!«

»Ich würde mich nicht so anstellen,« erwiderte seine Frau.

»Ne, du fielst steif um, so dot wie'n Türjriff, wenn du so naß wärst.«

»Warum ist denn ein Türgriff töter als alles andere'?« fragte Paul neugierig.

»I, det weeß ick nich; det 's wat se so sagen,« erwiderte der Vater. »Aber in die Spülküche da is 'n Zug, det et eenen durch de Rippen pustet wie durch 'ne Jittertür.«

»Würde wohl etwas schwierig sein, dir durch die Rippen zu pusten,« sagte Frau Morel.

Morel sah kläglich an sich hinunter.

»Mich!« rief er. »Ick bin doch man 'n abjezogenes Karnickel. Mich stecken die Knochen ja man so aus'n Leibe.«

»Ich möchte wohl wissen, wo,« wandte seine Frau ein.

»Ieberall! Ick bin doch man 'n Sack voll Reisig.«

Frau Morel lachte. Er hatte immer noch einen wunderbar jugendlichen Körper, muskelkräftig, ohne eine Spur von Fett. Seine Haut war glatt und glänzend. Es hätte der Körper eines Achtundzwanzigjährigen sein können, ausgenommen vielleicht, daß er zu viel blaue Narben wie eingebrannte Mäler trug, wo der Kohlenstaub sich unter der Haut festgesetzt hatte, und daß seine Brust zu behaart war. Aber er führte seine Hand kläglich die Seiten hinunter. Es war sein fester Glaube, er sei dünn wie eine verhungerte Ratte, weil er nicht fett wurde.

Paul blickte auf seines Vaters braune, narbenübersäte Hand mit den abgebrochenen Nägeln, wie sie an der feinen Glätte seiner Seiten hinunterfuhr, und das Unzusammengehörige fiel ihm auf. Es erschien so seltsam, daß sie ein und dasselbe Fleisch sein sollten.

»Ich glaube, du hast mal einen schönen Körper gehabt,« sagte er zu seinem Vater.

»I!« rief der Bergmann, sich umsehend, überrascht und furchtsam wie ein Kind.

»Den hatte er auch,« sagte Frau Morel, »wenn er sich nicht zusammenknüllte, als möchte er so wenig Platz einnehmen wie nur möglich.«

»Icke!« rief Morel – »icke 'n feinen Körper! Ick war nie ville mehr als 'n Jerippe.«

»Mann!« rief seine Frau, »sei doch nicht so'n Windbeutel!«

»Det 's wahr!« sagte er. »Du hast mir doch nich anders jekannt, als wollte ick man so rutsch! losschieben.«

Sie setzte sich und lachte.

»Du hast einen Körper wie von Eisen,« sagte sie; »und kein Mensch hätte je bessere Aussichten gehabt, soweit es auf den Körper ankam. Du hättest ihn mal als jungen Mann sehen sollen!« rief sie plötzlich Paul zu und richtete sich hoch auf, um ihres Mannes einst so hübsche Haltung nachzuahmen.

Morel beobachtete sie scheu. Er dachte wieder an die Leidenschaft, die sie für ihn gehegt hatte. Einen Augenblick blitzte sie aus ihr hervor. Er war scheu, recht furchtsam und demütig. Und doch fühlte er wieder die alte Glut. Und gleich hinterher dann den Trümmerhaufen, den er in diesen Jahren aus sich selbst gemacht hatte. Er sehnte sich nach Beschäftigung, um davon loszukommen.

»Wasch mich mal 'n bißken den Buckel,« bat er sie.

Seine Frau nahm einen mit Seife eingeriebenen Flanelllappen und klappte ihn ihm auf die Schultern. Er sprang vorwärts.

»I, du verflixte kleene Hexe!« rief er. »Kalt wie der Dot!«

»Du hättest ein Feuermolch werden müssen,« lachte sie, während sie ihm den Rücken wusch. Es geschah nur sehr selten, daß sie irgend etwas so Persönliches für ihn tat. Die Kinder machten das.

»Die nächste Welt wird dir lange nicht heiß genug sein,« fügte sie hinzu.

»Ne,« sagte er; »sollst mal sehen, et zieht mich da zu sehr.«

Aber sie war fertig. Sie trocknete ihn oberflächlich ab und ging dann nach oben, sofort mit seinen andern Hosen wieder herunterkommend. Als er trocken war, arbeitete er sich in sein Hemd. Dann, rot und glänzend, das Haar zu Berge stehend und sein Flanellunterhemd über die Grubenhosen herabhängend, stand er da und wärmte die Sachen, die er anziehen wollte. Er drehte sie hin und her, kehrte die Innenseite nach außen und versengte sie förmlich.

»Meine Güte, Mann!« rief Frau Morel. »Zieh dich doch an.«

»Möchtest du woll in'n paar Buxen rinkriechen, kalt wie'n Tubben voll Wasser?« sagte er.

Schließlich zog er seine Grubenhosen aus und legte anständiges Schwarz an. Alles dieses machte er auf der Herdmatte, und hätte es genau so gemacht, wären Annie und ihre vertrauten Freundinnen dabei gewesen.

Frau Morel wandte das Brot im Ofen um. Dann nahm sie aus einer roten, irdenen Schüssel, die in der Ecke stand, noch eine Handvoll Teig, brachte sie in die gehörige Form und tat sie in eine Blechform. Während sie dabei war, klopfte Barker an und trat ein. Er war ein ruhiger, festgebauter kleiner Mann, der aussah, als ginge er durch jede Steinwand. Sein schwarzes Haar war kurzgeschoren, sein Kopf knochig. Wie die meisten Bergleute war er blaß, aber gesund und fest.

»'nen Abend, Frau,« sagte er, Frau Morel zunickend, und setzte sich mit einem Seufzer.

»Guten Abend,« erwiderte sie herzlich.

»Du hast deine Hacksen aber knacken lassen,« sagte Morel.

»Det ick nich wüßte,« sagte Barker.

Er saß, wie das die Männer in Frau Morels Küche fast immer taten, als verberge er sich gradezu.

»Wie gehts der Frau?« fragte sie ihn.

Er hatte ihr vor einiger Zeit erzählt: »Wir erwarten unser Drittes nu, wissen Se.«

»Na,« antwortete er, sich den Kopf kratzend, »et jeht se so leidlich, denke ick.«

»Lassen Sie mal sehen – wann?« fragte Frau Morel.

»Na, ick sollt mir nich wundern, wenn et nu jeden Oogenblick losjinge.«

»Ach! Und sie hat sich ganz gut gehalten?«

»Ja, wacker.«

»Das ist ein Segen, denn sie ist wirklich nicht zu stark.«

»Ne. Un denn hab ick noch ne andre Dummheit jemacht.«

»Und was ist das?«

Frau Morel wußte, Barker machte nie große Dummheiten.

»Ick bin ohne meine Markttasche jekommen.«

»Sie können meine kriegen.«

»Ne, die brauchen Sie doch selber.«

»Nein, ich nehme immer mein Netz.«

Sie sah, der entschlossene kleine Bergmann kaufte immer seinen Kram und das Fleisch für die Woche Freitagabends ein, und sie bewunderte ihn deswegen. »Barker ist nur klein, aber er ist zehnmal so'n Mann wie du,« sagte sie zu ihrem Manne.

Grade da trat Wesson ein. Er war dünn, sah ziemlich gebrechlich aus, mit jungenshafter Offenheit und einem etwas albernen Lächeln, trotz seiner sieben Kinder. Aber seine Frau war ein leidenschaftliches Weib.

»Ick sehe, du hast mir vorbeijelaufen,« sagte er mit einem etwas sinnlosen Lächeln.

»Ja,« sagte Barker.

Der Ankömmling legte seine Mütze und sein dickes wollenes Halstuch ab. Seine Nase war spitz und rot.

»Ich fürchte, Sie frieren, Herr Wesson,« sagte Frau Morel.

»Et kneift woll so'n bißken,« erwiderte er.

»Dann kommen Sie doch ans Feuer.«

»Ne, et jeht schon, wo ick sitze.«

Beide Bergleute saßen ganz im Hintergrunde. Sie ließen sich nicht dazu bewegen, an den Herd zu kommen. Der Herd ist das Hausheiligtum.

»Setz dir doch in den Lehnstuhl,« rief Morel fröhlich.

»Ne, danke; hier is et recht nett.«

»Ja, natürlich, nun kommen Sie nur,« bestand Frau Morel.

Er stand auf und kam schwerfällig vorwärts. Schwerfällig setzte er sich in Morels Lehnstuhl. Das war eine zu große Vertraulichkeit. Aber das Feuer machte ihn ganz selig vor Freude.

»Und wie gehts mit Ihrer Brust?« fragte Frau Morel.

Er lächelte wieder, mit recht sonnigen Augen.

»Oh, janz leidlich,« sagte er.

»Mit'n Jerassel drinne wie 'ne Trommel,« sagte Barker kurz.

»T-t-t!« machte Frau Morel rasch mit der Zunge. »Haben Sie sich das Flanellunterhemd machen lassen?«

»Noch nicht,« lächelte er.

»Warum denn aber nicht?« rief sie.

»Det wird schonst kommen,« lächelte er.

»Ja, an'n Jüngsten Tag!« rief Barker aus.

Barker und Morel hatten beide keine Geduld mit Wesson. Aber dann waren sie beide auch körperlich hart wie Eisen. Sobald Morel beinahe fertig war, schob er Paul den Geldsack hin. »Zähl mal nach, Junge,« sagte er ganz demütig. Paul wandte sich ungeduldig von seinen Büchern und seinem Bleistift ab und stürzte den Sack auf dem Tische um. Es war ein Fünf-Pfund-Sack Silber mit Pfundstücken und Kleingeld. Er zählte es rasch, sah die Rechnung nach – die Papiere, die die Kohlenlieferung enthielten – und brachte das Geld in Ordnung. Dann sah Barker die Rechnung nach.

Frau Morel ging nach oben, und die drei Männer kamen zum Tisch. Morel als Hausherr saß in seinem Lehnstuhl, mit dem Rücken nahe dem heißen Feuer. Die beiden Kumpels hatten kühlere Sitze. Keiner von beiden zählte die Rechnung nach.

»Wat sagten w'r noch, wat Simpson haben sollte?« fragte Morel, und die beiden Männer kabbelten sich eine Minute über den Anteil des Tagelöhners. Dann wurde der Betrag beiseite gelegt.

»Un Bill Naylor?«

Auch dies Geld wurde von dem Haufen weggenommen. Dann nahmen, weil Wesson in einem der Häuser der Gesellschaft wohnte und ihm seine Miete abgezogen wurde, Morel und Barker jeder viereinhalb Schilling. Und weil Morels Kohlen schon da waren und sein Dach ausgebessert war, nahmen Barker und Wesson jeder viereinhalb Schilling. Dann war die Fahrt frei. Morel gab jedem ein Pfund-Stück, bis keine mehr da waren; jedem ein Fünf-Schilling-Stück, bis von ihnen keins mehr da war; jedem einen Schilling, bis auch die zu Ende waren. Blieb am Schluß irgend etwas über, was sich nicht teilen ließ, dann nahm Morel es, um die andern dafür freizuhalten.

Dann standen die drei Männer auf und gingen. Morel schlüpfte aus dem Hause, bevor seine Frau von oben herunterkam. Sie hörte die Tür gehen und kam herunter. Hastig sah sie nach dem Brot im Ofen. Mit einem Blick auf den Tisch sah sie dann ihr Geld daliegen. Paul hatte die ganze Zeit über gearbeitet. Aber nun fühlte er, seine Mutter zählte ihr Wochengeld, und daß ihr Zorn anstieg.

»T-t-t-t!« ging ihre Zunge.

Er runzelte die Stirn. Er konnte nicht arbeiten, wenn sie böse war. Sie zählte noch einmal nach.

»Jämmerliche fünfundzwanzig Schilling,« rief sie. »Wieviel war die Rechnung?«

»Zehn Pfund elf Schilling,« sagte Paul gereizt. Er fürchtete, was nun kommen würde.

»Und mir kratzt er fünfundzwanzig Schilling ab, und sein Verein kommt diese Woche auch noch! Aber ich kenne ihn. Er meint, weil du jetzt verdienst, braucht er das Haus nicht länger zu unterhalten. Alles, was er mit dem Gelde anzufangen weiß, ist, es durch die Kehle zu jagen. Aber ich werds ihm zeigen!«

»Oh, Mutter, nicht doch!« rief Paul.

»Nicht doch was, möchte ich wohl wissen?« rief sie aus.

»Hör auf damit. Ich kann nicht arbeiten.«

Sie wurde sehr ruhig.

»Ja, das ist alles ganz gut,« sagte sie; »aber wie stellst du dir meine Wirtschaft vor?«

»Na, davon wirds doch auch nicht besser, daß du drüber schimpfst.«

»Ich möchte wohl wissen, was du anfangen würdest, wenn du dich damit abzuquälen hättest.«

»Es dauert ja nicht lange. Du kannst all mein Geld kriegen. Laß ihn zum Teufel gehen.«

Er ging wieder an seine Arbeit, und sie band sich grimmig die Hutbänder fest. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie sich ärgerte. Aber nun begann er darauf zu bestehen, daß sie ihn anerkenne.

»Die beiden Laibe obenauf«, sagte sie, »sind in zwanzig Minuten fertig. Vergiß sie nicht.«

»Schön,« antwortete er; und sie ging zum Markt.

Er blieb mit seiner Arbeit allein. Aber seine gewöhnliche angespannte Fassung wurde locker. Er horchte nach dem Hofgitter. Um ein viertel nach sieben ertönte ein leises Klopfen, und Miriam trat ein.

»Ganz allein?« fragte sie.

»Ja.«

Als wäre sie zu Hause, legte sie ihre Pudelmütze und ihren langen Mantel ab und hängte sie auf. Ein Beben durchfuhr ihn. Dies könnte ihr eigenes Heim sein, ihres und seines. Dann kam sie wieder und blinzelte nach seiner Arbeit.

»Was ist das?« fragte sie.

»Ein ruhiges Muster, als Verzierung für Stoff und für Stickerei.«

Kurzsichtig beugte sie sich über seine Zeichnungen.

Es reizte ihn, daß sie so in alles hineinspähte, was sein war, und ihn durchforschte. Er ging ins Wohnzimmer und kam mit einem Packen bräunliches Leinen wieder. Sorgfältig entfaltete er es und breitete es auf dem Boden aus. Es wies sich als ein Vorhang oder eine Portiere aus, wunderschön mit einem Rosenmuster gezeichnet.

»Oh, wie schön!« rief sie.

Der ausgebreitete Stoff lag mit seinen wundervollen roten Rosen und dunkelgrünen Stielen, alles so schlicht und dabei doch so mutwillig, ihr zu Füßen. Sie kniete vor ihm nieder, ihre dunklen Locken vornüberhängend. Er sah sie wollüstig vor seinem Werk niedergekauert, und sein Herz schlug rasch. Plötzlich sah sie zu ihm auf.

»Warum kommt mir das so grausam vor?« fragte sie.

»Was?«

»Es kommt mir so vor, als läge eine gewisse Grausamkeit darin,« sagte sie.

»Jedenfalls ists recht gut, so oder so,« erwiderte er, sein Werk mit Liebhaberhänden zusammenlegend.

Sie stand langsam in Gedanken auf.

»Und was willst du damit anfangen?« fragte sie.

»Zu Liberty schicken. Ich hatte es für meine Mutter gemacht, aber ich glaube, das Geld ist ihr lieber.«

»Ja,« sagte Miriam. Er hatte mit einem Anflug von Bitterkeit gesprochen, und Miriam fühlte mit ihm. Ihr wäre das Geld nichts gewesen.

Er brachte den Stoff wieder ins Wohnzimmer. Als er wiederkam, warf er Miriam ein kleineres Stück zu. Es war ein Kissenbezug mit dem gleichen Muster.

»Das habe ich für dich gemacht,« sagte er.

Sie befingerte die Arbeit mit zitternden Händen und sagte nichts. Er wurde verlegen.

»Herrgott, das Brot!« rief er.

Er holte die obersten Laibe heraus und beklopfte sie kräftig. Sie waren gar. Er legte sie auf den Herd zum Abkühlen. Dann ging er in die Spülküche, machte sich die Hände naß, holte den letzten Teig aus der Schüssel und tat ihn in eine Backform. Miriam war immer noch über ihr gezeichnetes Tuch gebeugt. Er stand und rieb sich die Teigkrümel von den Händen.

»Magst du es leiden?« fragte er.

Sie sah zu ihm auf, ihre dunklen Augen eine Flamme der Liebe. Er lachte unbehaglich. Dann fing er an, über die Zeichnung zu sprechen. Für ihn lag das größte Vergnügen darin, über seine Arbeit mit Miriam reden zu können. All seine Leidenschaft, all sein wildes Blut traten in Beziehung zu ihr, wenn er sprach und sein Werk ausdachte. Sie regte seine Einbildungskraft an. Sie verstand das nicht mehr, wie eine Frau es versteht, wenn sie ein Kind in ihrem Schoße empfängt. Aber dies war Leben für ihn und sie.

Während sie noch sprachen, trat ein junges Frauenzimmer von etwa zweiundzwanzig, klein und blaß, mit hohlen Augen und doch etwas Unbarmherzigem darin, ins Zimmer. Sie war eine Freundin der Morels.

»Leg deine Sachen ab,« sagte Paul.

»Nein, ich kann nicht bleiben.«

Sie setzte sich Paul und Miriam gegenüber, die auf dem Sofa saßen, in den Lehnstuhl. Miriam rückte etwas weiter von ihm weg. Das Zimmer war heiß, mit einem Geruch nach frischem Brot. Braune, knusprige Brote standen auf dem Herde.

»Ich hätte dich hier heute abend nicht erwartet, Miriam Leivers,« sagte Beatrice schalkhaft.

»Wieso nicht?« murmelte Miriam leise.

»Na, wollen doch mal deine Schuhe ansehen.«

Miriam verharrte in unbehaglichem Schweigen.

»Wennst de't nich magst, denn magst de't woll nich,« lachte Beatrice.

Miriam schob ihre Füße unter ihrem Kleid hervor. Ihre Schuhe hatten jenes sonderbare, unentschlossene, fast leidende Aussehen an sich, das bewies, wie gewissenhaft und mißtrauisch gegen sich selbst sie war. Und sie waren mit Schmutz bedeckt.

»O Wonne! Du bist ja der reine Dreckhaufen!« rief Beatrice. »Wer putzt dir denn die Schuhe?«

»Die putze ich selber.«

»Denn hast du ja nett was zu tun,« sagte Beatrice. »Das hätte einen schönen Haufen Männer gebraucht, mich heute abend hierherzukriegen. Aber Liebe lacht auch des Dreckwetters, nicht, 'Postel, mein Kücken?«

» Inter alia,« sagte er.

»O Herr, spuckst du nu wieder in fremden Sprachen? Was bedeutet das, Miriam?«

Es lag ein feiner Hohn in dieser letzten Frage; aber Miriam fühlte ihn nicht.

»›Unter anderen Dingen‹, glaube ich,« sagte sie demütig.

Beatrice steckte ihre Zunge zwischen die Zähne und lachte verschmitzt.

»›Unter anderen Dingen?‹ 'Postel?« wiederholte sie. »Meinst du, Liebe lacht der Mütter und Väter und Schwestern und Brüder und Freunde und Freundinnen, und sogar des Liebsten selber?«

Sie tat äußerst unschuldig.

»Tatsächlich ist sie ein großes Lächeln,« erwiderte er.

»Ins Fäustchen, 'Postel Morel – glaub mir nur,« sagte sie und brach damit von neuem in ein schalkhaftes, leises Gelächter aus.

Miriam saß stumm, in sich zurückgezogen. Alle Freunde Pauls fanden ihr Vergnügen darin, Partei gegen sie zu nehmen, und er ließ sie dabei im Stiche – schien das fast als eine Art Rache zu betrachten.

»Bist du noch an der Schule?« fragte Miriam Beatrice.

»Ja.«

»Denn haben sie dir noch nicht gekündigt?«

»Ich erwarte es zu Ostern.«

»Ist das nicht einfach eine Schande, dich so an die Luft zu setzen, bloß weil du deine Prüfung nicht bestanden hast?«

»Ich weiß nicht,« sagte Beatrice kalt.

»Agathe sagt, du wärest eine so gute Lehrerin wie jede andere. Es kommt mir einfach lächerlich vor. Ich wundere mich, daß du nicht durchgekommen bist.«

»Kein Verstand, nich, 'Postel?« sagte Beatrice kurz.

»Verstand bloß zum Beißen,« erwiderte Paul lachend.

»Ekel!« rief sie; und aus ihrem Stuhle aufspringend, flog sie zu ihm hinüber und schlug ihn um die Ohren. Sie hatte wunderschöne kleine Hände. Er hielt ihr die Handgelenke fest, während sie mit ihm rang. Schließlich riß sie sich los und packte mit beiden Händen sein dichtes, braunes Haar und zauste es.

»Beat!« sagte er, als er sich das Haar mit den Fingern wieder glatt strich. »Ich hasse dich!«

Sie lachte vor Vergnügen.

»Bedenke!« sagte sie. »Ich will bei dir sitzen.«

»Ebensogern säße ich bei 'ner Füchsin,« sagte er, machte ihr aber doch Platz zwischen sich und Miriam.

»Hat e sich denn sein hübses Haar vertuselt!« rief sie und striegelte ihn mit ihrem Taschenkamm wieder glatt. »Und seinen hübsen kleinen Snurrbart!« rief sie. Sie drückte ihm den Kopf hintenüber und kämmte seinen jungen Schurrbart.

»So'n böser Schnurrbart, 'Postel,« sagte sie. »Er ist so rot, um anzuzeigen, wie gefährlich er ist. Hast du noch eine von deinen Zigaretten?«

Er zog seine Zigarettendose aus der Tasche. Beatrice sah hinein.

»Und nun der Gedanke, daß ich Connies letzte Zigarette kriege,« sagte Beatrice, sich das Ding zwischen die Zähne steckend. Er hielt ihr ein angezündetes Streichholz hin, und sie paffte zierlich los.

»Vielen Dank, mein Liebling,« sagte sie spöttisch.

Das machte ihr niederträchtige Freude.

»Findest du nicht, er macht das ganz reizend, Miriam?« fragte sie.

»Oh, sehr,« sagte Miriam.

Er nahm sich auch eine Zigarette.

»Feuer, alter Junge?« sagte Beatrice, ihm ihre Zigarette hinhaltend.

Er beugte sich vor, um seine Zigarette an ihrer anzuzünden. Sie zwinkerte ihm dabei zu. Miriam sah seine Augen vor Schadenfreude zittern und seinen vollen, fast wollüstigen Mund beben. Er war gar nicht er selbst, und sie konnte es nicht ertragen. Wie er jetzt war, besaß sie keinerlei Verbindung mit ihm; sie hätte ebensogut gar nicht da zu sein brauchen. Sie sah die Zigarette zwischen seinen vollen roten Lippen tanzen. Sie haßte sein dichtes Haar, weil es ihm so lose in die Stirn fiel.

»Süßer Junge!« sagte Beatrice, während sie sein Kinn hochpreßte und ihm einen leichten Kuß auf die Backe drückte.

»Ick jeb dich eenen wieder, Beat,« sagte er.

»Ne, det dust de nich!« kicherte sie aufspringend und weggehend. »Ist er nicht schamlos, Miriam?«

»Durchaus,« sagte Miriam. »Übrigens, vergißt du nicht das Brot?«

»Herrgott!« rief er, die Ofentür aufreißend.

Heraus puffte blauer Rauch und ein Geruch von verbranntem Brot.

»Ach Gottchen!« rief Beatrice, neben ihn tretend. Er kauerte sich vor dem Ofen nieder, und sie blickte ihm über die Schulter. »Das kommt davon, mein Junge, wenn man sich in der Liebe vergißt.«

Reuevoll holte Paul die Laibe hervor. Eins war an der heißen Seite ganz schwarz; ein anderes war hart wie ein Backstein.

»Arme Mater!« sagte Paul.

»Das mußt du reiben,« sagte Beatrice. »Hol mir die Muskatnußreibe.«

Sie stellte das Brot wieder in den Ofen. Er brachte ihr die Reibe, und sie rieb das Brot auf dem Tische auf eine Zeitung. Er öffnete die Türen, um den Rauch des verbrannten Brotes zu vertreiben. Beatrice rieb weiter drauflos, auf ihrer Zigarette paffend und die verbrannte Kohle von dem armen Laibe abklopfend.

»O weh, Miriam! Diesmal kriegst du's aber,« sagte Beatrice.

»Ich?« sagte Miriam voller Erstaunen.

»Sieh man lieber zu, daß du weg bist, wenn seine Mutter wiederkommt. Ich weiß nun, warum König Alfred die Kuchen verbrennen ließ. Jetzt sehe ichs. 'Postel würde sich ja noch 'ne Geschichte ausdenken von seiner Arbeit, über der er alles vergessen hätte, wenn er nur dächte, es nützte was. Wäre das alte Weib etwas früher hereingekommen, sie hätte dem frechen Dings ein paar hinter die Ohren gehauen, die ihn so vergeßlich machte, anstatt dem armen Alfred.«

Sie kicherte, während sie das Brot abkratzte. Selbst Miriam lachte wider Willen. Paul brachte reumütig das Feuer wieder in Gang.

Sie hörten das Gartengitter zuschlagen.

»Rasch!« rief Beatrice und gab Paul das abgekratzte Brot; »wickle es in ein feuchtes Tuch.«

Paul verschwand in der Spülküche. Beatrice blies schnell ihre Krümel ins Feuer und setzte sich unschuldig nieder. Annie kam hereingefegt. Sie war ein hastiges, ganz fixes junges Frauenzimmer. Sie zwinkerte in dem starken Licht.

»Das riecht ja so verbrannt!« rief sie.

»Das sind die Zigaretten,« sagte Beatrice ganz ehrbar.

»Wo ist Paul?«

Leonhart war hinter Annie eingetreten. Er hatte ein langes, spaßhaftes Gesicht und blaue, sehr traurige Augen.

»Ich glaube, er hat euch allein gelassen, damit ihr es zwischen euch ins reine bringt,« sagte er. Er nickte Miriam teilnehmend zu und wurde sanft spöttisch gegen Beatrice.

»Nein,« sagte Beatrice, »er ist mit Nummer neun losgezogen.«

»Nummer fünf habe ich grade getroffen, sie fragte nach ihm,« sagte Leonhart.

»Ja, wir wollen ihn uns teilen, wie Salomos Säugling,« sagte Beatrice.

Annie lachte.

»O ja,« sagte Leonhart. »Und welches Stück nimmst du?«

»Ich weiß noch nicht,« sagte Beatrice. »Ich lasse die andern erst wählen.«

»Und du nimmst die Überbleibsel,« sagte Leonhart, das Gesicht lächerlich verziehend.

Annie sah in den Ofen. Miriam saß unbeachtet da. Paul trat herein.

»Dies Brot sieht ja hübsch aus, uns' Paul,« sagte Annie.

»Denn hättest du dableiben sollen und danach sehen,« sagte Paul.

»Du meinst wohl, du hättest selber tun sollen, was du zu tun hattest,« erwiderte Annie.

»Nicht, hätte er das nicht?« rief Beatrice.

»Sollte doch meinen, er hatte alle Hände voll,« sagte Leonhart.

»Du hattest wohl einen häßlichen Weg, nicht, Miriam?« sagte Annie.

»Ja – aber ich war die ganze Woche zu Hause.«

»Und da wolltest du wohl mal etwas Abwechslung,« ergänzte Leonhart freundlich.

»Na ja, du kannst auch nicht für ewig im Hause stecken,« gab Annie zu. Sie war ganz freundlich. Beatrice zog ihren Mantel an und ging mit Annie und Leonhart wieder weg. Sie wollte ihren Jungen treffen.

»Vergiß das Brot nicht, uns' Paul!« rief Annie. »Gute Nacht, Miriam. Ich glaube nicht, daß es regnet.«

Als sie alle fort waren, nahm Paul das eingewickelte Brot, wickelte es aus und sah es traurig an.

»'ne Schweinerei!« sagte er.

»Aber,« antwortete Miriam ungeduldig, »was ist es denn schließlich – zwei und einen halben Pence.«

»Ja, aber – Mutters großartiges Backen ist es, und sie wird es sich mächtig zu Herzen nehmen. Aber heulen nützt ja nichts.«

Er brachte das Brot wieder in die Spülküche. Es lag etwas Trennendes zwischen ihm und Miriam. Er stand ein paar Augenblicke ihr gegenüber in der Schwebe und dachte nach, während er an sein Benehmen mit Beatrice dachte. Er fühlte sich schuldbewußt und doch froh. Aus irgendeinem unerforschlichen Grunde geschah Miriam grade recht. Er wollte nichts bereuen. Sie wunderte sich, worüber er wohl nachdächte, als er so dastand. Sein dichtes Haar war ihm in die Stirn gefallen. Warum konnte sie es ihm nicht zurückstreichen und die Anzeichen von Beatrices Kamm verwischen? Warum konnte sie nicht seinen Körper zwischen ihre beiden Hände nehmen? Er sah so fest aus und so durchaus lebensvoll. Und andere Mädchen ließ er doch, warum sie nicht?

Plötzlich kam er wieder zum Leben. Es machte sie fast vor Schreck erbeben, als er sich rasch das Haar aus der Stirn zurückstrich und auf sie zutrat.

»Halb neun!« sagte er. »Wir müssen zumachen. Wo ist dein Französisch?«

Scheu und recht verbittert holte Miriam ihr Übungsheft hervor. Sie schrieb jede Woche für ihn eine Art Tagebuch ihres Innenlebens, in eigenem Französisch. Er hatte herausgefunden, dies wäre die einzige Art und Weise, sie zu Aufsätzen zu bringen. Und ihr Tagebuch war meistens ein Liebesbrief. Er würde es jetzt lesen; sie empfand das, als müsse die Geschichte ihrer Seele von ihm in seiner augenblicklichen Stimmung entweiht werden. Er saß neben ihr. Sie beobachtete seine Hand, fest und stark, streng ihre Arbeit durchgehend. Er las nur ihr Französisch, ohne Rücksicht auf die Seele drin. Aber allmählich vergaß seine Hand ihre Arbeit. Er las schweigend, regungslos. Sie bebte.

»› Ce matin les oiseaux m'ont éveillé,‹« las er. »› Il faisait encore un crépuscule. Mais la petite fenêtre de ma chambre était blême, et puis, jaûne, et tous les oiseaux du bois eclatèrent dans un chanson vif et résonnant. Toute l'aube tressaillit. J'avais rêvé de vous. Est-ce que vous aussi voyez l'aûbe? Les oiseaux m'éveillent presque tous les matins, et toujours il y a quelque chose de terreur dans le cri des grives. Il est si clair ,...‹«

Miriam saß zitternd, halb beschämt. Er blieb ganz stumm und suchte sie zu verstehen. Er wußte nur, sie liebte ihn. Er fürchtete sich vor ihrer Liebe zu ihm. Sie war zu gut für ihn, und er war ihrer nicht würdig. Seine eigene Liebe war unrecht, nicht die ihre. Beschämt verbesserte er ihre Arbeit, indem er demütig über ihre Worte drüberschrieb.

»Sieh,« sagte er ruhig, »das Partizip der Vergangenheit mit avoir stimmt mit dem bestimmten Objekt überein, wenn es vorhergeht.«

Sie beugte sich vorwärts in ihrem Versuche zu sehen und zu begreifen. Ihre feinen, losen Locken kitzelten sein Gesicht. Schaudernd fuhr er auf, als wären sie rotglühend. Er sah sie auf die Seite niederstieren, ihre roten Lippen waren kläglich geöffnet, und ihr schwarzes Haar fiel in feinen Strähnen über die sonnverbrannte, rötlich schimmernde Backe. Sie besaß den Farbenreichtum eines Liebesapfels. Sein Atem ging kurz, als er sie beobachtete. Plötzlich sah sie zu ihm auf. Ihre dunklen Augen waren nackt in ihrer Liebe, ängstlich und sehnsüchtig. Auch seine Augen waren dunkel, und sie taten ihr weh. Sie schienen sie zu beherrschen. Sie verlor alle Selbstbeherrschung, war ungeschützt vor Furcht. Und er wußte, ehe er sie küßte, müßte er etwas aus sich heraustreiben. Und ein Anflug von Haß kroch ihm wieder ins Herz. Er wandte sich wieder zu ihrer Arbeit.

Plötzlich warf er den Bleistift hin und war mit einem Satze beim Ofen, um das Brot umzuwenden. Er war Miriam zu rasch. Sie fuhr heftig zusammen, und es tat ihr wirklich weh. Selbst die Art und Weise, wie er sich vor dem Ofen niederkauerte, schmerzte sie. Es schien etwas Grausames in ihm zu liegen, etwas Grausames in der Art, wie er die Brote aus den Formen kippte und sie wieder auffing. Wäre er nur etwas sanfter in seinen Bewegungen gewesen, sie hätte sich so reich und warm gefühlt. Wie es aber war, fühlte sie sich verletzt.

Er kam wieder und beendete ihre Übung.

»Diese Woche hast du's gut gemacht,« sagte er.

Sie sah, er fühlte sich durch ihr Tagebuch geschmeichelt. Das entschädigte sie nicht ganz.

»Zuweilen gelangst du wirklich zur Blüte,« sagte er. »Du solltest mal Gedichte schreiben.«

Sie hob vor Freuden den Kopf und schüttelte ihn dann mißtrauisch.

»Ich traue mir nicht,« sagte sie.

»Du mußts versuchen!«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Wollen wir noch lesen, oder ist es schon zu spät?« fragte er.

»Spät ist es – aber etwas lesen können wir wohl noch,« bat sie.

Tatsächlich empfing sie jetzt ihre Lebensnahrung für die nächste Woche. Er ließ sie Bandelaires ›Le balcon‹ abschreiben. Dann las er es ihr vor. Seine Stimme war weich und liebkosend, wurde aber allmählich fast roh. Er hatte eine besondere Art, die Lippe zu heben und die Zähne zu zeigen, leidenschaftlich und bitter, wenn er sehr bewegt war. Dies tat er jetzt. Es brachte Miriam zu dem Gefühl, als trampele er auf ihr herum. Sie wagte nicht ihn anzusehen, sondern saß mit gesenktem Kopfe da. Sie konnte nicht begreifen, warum er in solche Aufregung und Wut geriet. Das machte sie elend. Sie mochte Baudelaire nicht, im ganzen genommen – ebensowenig Verlaine.

»Seht wie sie singt dort auf dem Feld,
So ganz allein, die Hochlandsmaid.«

Das nährte ihr Herz. Ebenso ›Schön Ines‹. Und:

»Ein schöner Abend war es, rein und still.
Die Stille atmet' heilig, nonnengleich.«

Das war wie sie selbst. Und da war er und las mit rauhem Kehlton weiter:

» Tu te rappeleras la beaûté des caresses

Das Gedicht war zu Ende; er holte das Brot aus dem Ofen, legte die verbrannten Laibe zu unterst in die Schüssel, und die guten obenauf. Das vertrocknete blieb eingewickelt in der Spülküche.

»Mater brauchts vor morgen früh nicht zu wissen,« sagte er. »Dann regt es sie nicht so auf wie am Abend.«

Miriam sah ins Bücherbort, sah, was für Postkarten und Briefe er bekommen hatte, sah nach, was für Bücher da waren. Sie nahm eins heraus, das ihn gefesselt hatte. Dann drehte er das Gas klein, und sie zogen los. Er machte sich nicht die Mühe, die Tür abzuschließen.

Erst um ein Viertel vor elf war er wieder zu Hause. Seine Mutter saß im Schaukelstuhl. Annie, der ein Haarschwanz den Rücken hinunterhing, blieb auf dem kleinen Stuhl vorm Feuer sitzen, die Ellbogen auf den Knien, düster. Auf dem Tische lag das anklagende Brot, ausgewickelt. Ziemlich atemlos war Paul eingetreten. Niemand sprach. Seine Mutter las die kleine Ortszeitung. Er zog seinen Rock aus und wollte sich aufs Sofa setzen. Seine Mutter rückte kurz beiseite, um ihn vorbeizulassen. Niemand sprach. Er fühlte sich sehr unbehaglich. Ein paar Minuten tat er, als lese er ein Stück Zeitung, das er auf dem Tische fand. Dann sagte er:

»Ich hatte das Brot vergessen, Mutter.«

Keine Antwort von einer der Frauen.

»Na,« sagte er, »es ist ja nur zweiundeinhalber Pence. Ich kann sie dir ja bezahlen.«

In seinem Ärger legte er drei Pence auf den Tisch und schob sie seiner Mutter hinüber. Sie wandte den Kopf ab. Ihr Mund war fest geschlossen.

»Ja,« sagte Annie, »du weißt gar nicht, wie schlecht es Mutter geht.«

Das Mädchen saß da, düster ins Feuer starrend.

»Wieso gehts ihr schlecht?« fragte Paul in seiner überhebenden Weise.

»Na!« sagte Annie, »sie konnte kaum nach Hause kommen.«

Er sah seine Mutter scharf an. Sie sah schlecht aus.

»Warum konntest du kaum nach Hause kommen?« fragte er sie, immer noch scharf. Sie vermochte nicht zu antworten.

»Ich fand sie hier sitzen, weiß wie das Tischtuch,« sagte Annie mit einem Anflug von Tränen in der Stimme.

»Ja, warum denn?« drängte Paul. Seine Brauen zogen sich zusammen, seine Augen weiteten sich leidenschaftlich.

»Das hätte wohl jeden umgeschmissen,« sagte Frau Morel, »die Packen da auf dem Arm – Fleisch und Gemüse, und ein paar Vorhänge ,...«

»Ja, aber warum hattest du denn das alles auf dem Arm; das hättest du doch nicht zu tun brauchen.«

»Wer hätte es denn tun sollen?«

»Laß Annie doch das Fleisch holen.«

»Ja, und ich hätte auch gern das Fleisch geholt, aber wie konnte ich das denn wissen! Du warst weg mit Miriam, anstatt hier zu sein, wenn Mutter nach Hause kam.«

»Und was war denn mit dir los?« fragte Paul seine Mutter.

»Ich glaube, es ist mein Herz,« erwiderte sie. Tatsächlich sah sie um den Mund ganz bläulich aus.

»Und hast du das schon früher gemerkt?«

»Ja – oft genug.«

»Warum hast du mir das denn nie erzählt? – Warum bist du nie beim Arzt gewesen?«

Frau Morel rutschte in ihrem Stuhl hin und her, ärgerlich über seine Bevormundung.

»Du merkst ja auch gar nichts,« sagte Annie. »Du bist ja viel zu erpicht drauf, mit Miriam loszusausen.«

»So, bin ich das – und vielleicht wohl schlimmer als du mit Leonhart?«

»Ich war um ein Viertel vor zehn wieder da.«

Eine Zeitlang war es still im Zimmer.

»Ich hätte doch denken sollen,« sagte Frau Morel bitter, »sie hätte dich nicht so völlig in Anspruch zu nehmen brauchen, daß du deshalb einen ganzen Ofen voll Brot verbrennen lassen mußtest.«

»Beatrice war doch ebensogut hier wie sie.«

»Sehr wahrscheinlich. Wir wissen aber, warum das Brot verdorben ist.«

»Warum denn?« blitzte er auf.

»Weil du so durch Miriam in Anspruch genommen warst,« erwiderte Frau Morel hitzig.

»Oh, sehr schön – aber es war nicht so!« erwiderte er ärgerlich.

Er war bekümmert und elend. Er nahm eine Zeitung und begann zu lesen. Annie, mit aufgehakter Bluse, ihre langen Haarsträhne aufgeflochten, ging zu Bett, indem sie ihm sehr kurz Gute Nacht sagte.

Paul saß da und tat, als lese er. Er wußte, seine Mutter wollte ihn ausschelten. Und er wünschte auch zu wissen, was sie krank gemacht habe, denn er war besorgt. Anstatt also zu Bett zu rennen, wie er es am liebsten getan hätte, saß er da und wartete. Es herrschte ein gespanntes Schweigen. Die Uhr tickte laut.

»Du gehst doch wohl besser zu Bett, ehe Vater nach Hause kommt,« sagte seine Mutter rauh. »Und wenn du noch was essen willst, dann hols dir lieber.«

»Ich brauche nichts.«

Es war eine Gewohnheit seiner Mutter, ihm Freitagabends, dem üppigen Abend der Bergleute, eine Kleinigkeit zum Abendessen mitzubringen. Er war zu ärgerlich, als daß er heute abend in die Speisekammer gegangen wäre und es sich geholt hätte. Das beleidigte sie.

»Wenn ich gern sähe, daß du Freitagabend mal nach Selby gingest, dann möchte ich mal den Auftritt sehen,« sagte Frau Morel. »Aber wenn sie dich nur abholt, dann bist du nie zu müde zum Ausgehen. Nein, dann brauchst du weder Essen noch Trinken.«

»Ich kann sie doch nicht allein gehen lassen.«

»Nein? Und warum kommt sie denn?«

»Nicht, weil ich sie drum bitte.«

»Sie kommt nicht, ohne daß du es wolltest ,...«

»Ja, und wenn ich es nun wollte ,...« erwiderte er.

»Wieso, gar nichts, wenn es verständig oder ordentlich wäre. Aber Meilen und Meilen durch den Dreck trampeln, um Mitternacht nach Hause kommen und dann morgens wieder nach Nottingham müssen ,...«

»Wenn ich das nicht brauchte, machtest du es doch genau so.«

»Ja, das täte ich auch, weil kein Sinn und Verstand drin ist. Ist sie denn so bezaubernd, daß du den ganzen Weg hinter ihr herlaufen mußt?« Frau Morel sagte das in bitterem Hohn. Sie saß still, das Gesicht abgewandt, und strich mit genau abgemessenen, abgerissenen Bewegungen den schwarzen Stoff ihrer Schürze. Es war eine Bewegung, deren Anblick Paul weh tat.

»Ich hab sie gern,« sagte er »aber ,...«

»Hab sie gern!« sagte Frau Morel in demselben bitteren Ton. »Mir scheint, du magst niemand und nichts außer ihr. Weder Annie, noch ich, noch sonst jemand ist mehr für dich da.«

»Was für'n Unsinn, Mutter – du weißt doch, ich liebe sie nicht – ich – ich sage dir, ich liebe sie nicht – sie hakt mich nicht mal ein beim Gehen, weil ich das nicht mag.«

»Warum fliegst du denn so fortwährend hinter ihr her?«

»Ich spreche so gern mit ihr, – ich habe nie gesagt, daß ich das nicht gern täte. Aber lieben tue ich sie nicht.«

»Hast du denn sonst niemand zum Sprechen?«

»Nicht über die Sachen, von denen wir sprechen. Es gibt doch 'ne Menge Sachen, aus denen du dir nichts machst, die ,...«

»Was für Sachen?«

Frau Morel war so hitzig, daß Paul nach Luft zu schnappen begann.

»Wieso – Malerei – und Bücher. Du machst dir doch nichts aus Herbert Spencer.«

»Nein,« war die trübe Antwort. »Und du wirsts in meinem Alter auch nicht mehr tun.«

»Ja, aber ich tue es jetzt doch – und Miriam auch ,...«

»Und wie kannst du wissen, daß ich es nicht auch täte?« blitzte Frau Morel ihn herausfordernd an. »Hast du es jemals mit mir versucht?«

»Aber du tust es doch nicht, Mutter, du weißt doch, du machst dir nichts draus, ob ein Gemälde für Flächenschmuck paßt oder nicht; es ist dir doch ganz einerlei, in welcher Malweise es gemalt ist.«

»Woher weißt du, ob mir das ganz einerlei ist? Hast du je einen Versuch bei mir gemacht? Hast du je zu mir von diesen Sachen gesprochen, um mal einen Versuch zu machen?«

»Aber darauf kommt es dir doch gar nicht an, Mutter, das weißt du doch.«

»Worauf denn – worauf denn, worauf kommts mir denn an?« stieß sie wie ein Blitz hervor. Er runzelte die Brauen vor Schmerz.

»Du bist alt, Mutter, und wir sind jung.«

Er meinte damit nur, die Anteilnahme ihres Alters wäre nicht dieselbe wie die des seinen. Aber im selben Augenblick, wo er es gesagt hatte, merkte er, es war das unrechte Wort.

»Ja, ich weiß wohl – ich bin alt. Und deshalb muß ich beiseite stehen; ich habe nichts mehr mit dir zu tun. Du brauchst mich nur noch als Aufwärterin – alles übrige ist für Miriam.«

Er konnte es nicht aushalten. Gefühlsmäßig merkte er, er bedeute ihr das Leben. Und schließlich war sie ihm doch auch die Hauptsache, der einzige Höhepunkt.

»Du weißt doch, es ist nicht so, Mutter, du weißt doch, es ist nicht so.«

Sie wurde zu Mitleid gerührt durch seinen Aufschrei.

»Es sieht aber sehr danach aus,« sagte sie, ihre Verzweiflung halb beiseite schiebend.

»Nein, Mutter – wirklich, ich liebe sie nicht. Ich spreche mit ihr, aber ich möchte immer wieder nach Hause zu dir.«

Er hatte seinen Kragen und seine Halsbinde abgemacht und stand mit nacktem Halse auf, um zu Bett zu gehen. Als er sich über seine Mutter beugte, um sie zu küssen, warf sie ihm die Arme um den Hals, barg ihr Gesicht an seiner Schulter und rief mit schluchzender Stimme, so ungleich ihrer gewöhnlichen, daß er sich unter der Qual wand:

»Ich kann es nicht ertragen. Jede andere – aber die nicht. Sie würde mir keinen Platz lassen, kein Fleckchen ,...«

Und sofort haßte er Miriam bitterlich.

»Und ich habe ja nie – weißt du, Paul – niemals einen Gatten gehabt – keinen wirklichen ,...«

Er streichelte seiner Mutter Haar, und sein Mund lag auf ihrer Kehle.

»Und sie frohlockt so, daß sie dich mir abspenstig macht – sie ist nicht wie Mädchen gewöhnlich sind.«

»Ja, ich liebe sie ja nicht, Mutter,« murmelte er, den Kopf senkend und seine Augen vor Jammer an ihrer Schulter bergend. Seine Mutter gab ihm einen langen, heißen Kuß.

»Mein Junge!« sagte sie in einer Stimme, die vor leidenschaftlicher Liebe zitterte.

Ohne es zu wissen, streichelte er ihr sanft das Haar.

»So,« sagte seine Mutter, »nun geh zu Bett. Du wirst morgen früh so müde sein.« Während sie noch sprach, hörte sie ihren Mann kommen. »Da ist Vater – nun geh.« Plötzlich sah sie ihn an, fast wie in Furcht. »Vielleicht bin ich eigennützig. Wenn du sie willst, nimm sie, mein Junge.«

Seine Mutter sah so seltsam aus, daß Paul sie zitternd küßte.

»Ach – Mutter!« sagte er weich.

Morel kam herein, unsicher auf den Füßen. Der Hut saß ihm über dem einen Auge. Er schwankte im Eingang.

»Wieder bei euren Unfug?« sagte er giftig.

Frau Morels Rührung verwandelte sich plötzlich in Haß gegen den Trunkenbold, der so plötzlich über sie hereinkam.

»Jedenfalls sind wir nüchtern,« sagte sie.

»Hm-Hm! Hm-Hm!« grinste er. Er ging auf den Gang hinaus und hing seinen Hut und Rock auf. Dann hörten sie ihn die drei Stufen in die Speisekammer hinuntergehen. Er kam mit einem Stück Schweinepastete in der Faust wieder. Das wars, was Frau Morel für Paul gekauft hatte.

»Und für dich war das auch nicht gekauft. Wenn du mir nicht mehr als fünfundzwanzig Schilling geben kannst, dann stopfe ich dich auch sicher nicht mit Schweinepastete, nachdem du dir den Bauch voll Bier gespült hast.«

»Wa-at! Wa-at!« knurrte Morel, das Gleichgewicht verlierend. »Wa-at, nich for mir?« Er sah sich das Stück Fleisch und Kruste an und schleuderte es in einer plötzlichen Zornesaufwallung ins Feuer.

Paul sprang auf.

»Vergeude doch deinen eigenen Kram!« rief er.

»Wat? Wat?« brüllte Morel plötzlich, aufspringend und die Fäuste ballend. »Ick werr't dich mal zeijen, du junger Esel!«

»Schön!« sagte Paul böse, den Kopf auf eine Seite legend. »Zeigs mir mal!«

Liebendgern hätte er in diesem Augenblick irgend etwas zerschmettert. Morel kauerte sich halb zusammen, die Fäuste erhoben, sprungbereit. Der junge Mann stand mit lachendem Munde da.

»Hussa!« zischte der Vater und führte einen mächtigen Streich grade an seines Sohnes Gesicht vorbei. So nahe er ihm auch kam, so wagte er es nicht, den jungen Mann wirklich zu berühren, sondern haute eine Handbreit vorbei.

»Recht so!« sagte Paul, seine Augen auf seines Vaters Mund gerichtet, auf die Stelle, wo seine Faust einen Augenblick später hingetroffen haben würde. Er sehnte sich nach dem Schlage. Aber er hörte ein leises Stöhnen hinter sich. Seine Mutter war totenbleich und um den Mund dunkel. Morel tanzte auf ihn zu, um einen neuen Schlag zu führen.

»Vater!« sagte Paul, so daß das Wort hallte.

Morel fuhr zusammen und stand still.

»Mutter!« stöhnte der Junge; »Mutter!«

Sie begann mit sich zu kämpfen. Ihre offenen Augen beobachteten ihn, obgleich sie sich nicht bewegen konnte. Allmählich kam sie wieder zu sich. Er legte sie aufs Sofa und lief nach oben nach etwas Whisky, den sie schließlich nippen konnte. Die Tränen rollten ihm übers Gesicht. Während er vor ihr niederkniete, weinte er nicht, aber die Tränen liefen ihm rasch übers Gesicht. Morel saß auf der entgegengesetzten Seite des Zimmers, die Ellenbogen auf den Knien, und starrte zu ihnen hinüber.

»Wat's los mit se?« fragte er.

»Ohnmächtig!« erwiderte Paul.

»Hm!«

Der ältliche Mann begann sich die Stiefel aufzuschnüren. Dann stolperte er zu Bett. Sein letzter Schlag in diesem Hause war geführt.

Paul kniete nieder und streichelte seiner Mutter Hand. »Sei nicht so elend, Mutter – sei nicht so elend!« sagte er ein Mal übers andere.

»Es ist nichts, mein Junge,« murmelte sie.

Endlich stand er auf, nahm ein großes Stück Kohle und bedeckte das Feuer. Dann räumte er das Zimmer auf, brachte alles in Ordnung, legte die Sachen zum Frühstück zurecht und holte seiner Mutter Kerze.

»Kannst du zu Bett gehen, Mutter?«

»Ja, ich komme schon.«

»Schlafe bei Annie, Mutter, und nicht bei ihm.«

»Nein. Ich will in meinem eigenen Bett schlafen.«

»Schlaf nicht bei ihm, Mutter.«

»Ich will in meinem eigenen Bett schlafen.«

Sie stand auf, und er machte das Gas aus und ging dann mit ihrer Kerze dicht hinter ihr her nach oben. Auf dem Treppenabsatz küßte er sie heftig.

»Gute Nacht, Mutter.«

»Gute Nacht!« sagte sie.

In wütendem Elend preßte er das Gesicht in die Kissen. Und doch, irgendwo in seiner Seele war er friedevoll, weil er seine Mutter immer noch am liebsten hatte. Es war ein bitterer Verzichtfrieden.

Die Bemühungen seines Vaters am nächsten Tage, ihn wieder zu versöhnen, waren ihm eine große Erniedrigung.

Jeder versuchte den Auftritt zu vergessen.


 << zurück weiter >>