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Vierzehntes Kapitel. Die Erlösung

Übrigens,« sagte Doktor Ansell eines Abends, als Morel noch in Sheffield war, »wir haben da einen Mann im Fieberkrankenhaus, der aus Nottingham kommt – Dawes. Er besitzt anscheinend keine große Habe in dieser Welt.«

»Baxter Dawes!« rief Paul.

»Das ist er – ist mal ein feiner Kerl gewesen, körperlich, sollte ich meinen. Ist kürzlich etwas in die Klemme geraten. Kennen Sie ihn?«

»Er arbeitete für gewöhnlich in der Werkstatt, wo ich bin.«

»So? Wissen Sie etwas über ihn? Er ist so brummig, sonst würde es ihm schon weit besser geben als jetzt.«

»Über sein häusliches Leben weiß ich nichts, ausgenommen, daß er von seiner Frau getrennt lebte und ein bißchen heruntergekommen ist, glaube ich. Aber erzählen Sie ihm doch mal von mir, ja? Sagen Sie ihm doch, ich wollte kommen und ihn besuchen.«

Beim nächsten Mal, als Morel den Arzt sah, sagte er:

»Und was macht Dawes?«

»Ich sagte ihm,« antwortete der andere: ».Kennen Sie einen Mann namens Morel aus Nottingham?' – und er sah mich an, als wollte er mir an die Kehle fahren. Daher sagte ich: ›Ich sehe, Sie kennen ihn; es ist Paul Morel.‹ Dann erzählte ich ihm, daß Sie gesagt hätten, Sie wollten kommen und ihn besuchen. ›Was will er denn?‹ sagte er, als wären Sie ein Schutzmann.«

»Und er hat gesagt, er wollte mich sehen?« fragte Paul.

»Nichts wollte er sagen – weder Gutes, Schlechtes, noch Gleichgültiges,« erwiderte der Arzt.

»Warum nicht?«

»Das möchte ich grade wissen. Er liegt da und brummt, tagein, tagaus. Kein Wort ist aus ihm herauszubringen.«

»Meinen Sie, ich könnte zu ihm gehen?« fragte Paul.

»Ja.«

Es bestand ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den beiden Nebenbuhlern, seitdem sie sich geschlagen hatten, mehr denn je. Morel fühlte sich in gewisser Weise schuldig vor dem andern und mehr oder weniger verantwortlich. Und in seinem Seelenzustand fühlte er sich Dawes peinlich näher gerückt, der auch litt und verzweifelte. Außerdem waren sie in höchstem Hasse aneinander geraten, und auch das war ein Band. Jedenfalls war der Urmensch in ihnen beiden mit dem andern zusammengetroffen.

Er ging mit Doktor Ansells Karte zu dem Einzelhause hinunter. Die Schwester, eine gesunde, junge Irländerin, führte ihn den Hof hinunter.

»Besuch für Sie, Jacob Rabe,« sagte sie.

Mit aufgeregtem Grunzen fuhr Dawes plötzlich herum.

»Eh?«

»Krah!« spottete sie. »Er kann bloß ›Krah!‹ sagen. Ich habe einen Herrn mitgebracht, der Sie besuchen will. Nun sagen Sie ›Danke‹ und zeigen Sie, daß Sie sich benehmen können.«

Dawes blickte mit seinen dunklen, verstörten Augen rasch an der Schwester vorbei auf Paul. Sein Blick war voller Furcht, Mißtrauen, Haß und Elend. Morel traf die dunkeln, raschen Augen und zögerte. Die beiden Männer hatten Angst vor ihrem nackten Ich, das sie gewesen waren.

»Doktor Ansell erzählte mir, Sie wären hier,« sagte Morel, ihm die Hand hinhaltend.

Dawes schüttelte sie gedankenlos.

»Deshalb dachte ich, ich wollte mal hereinkommen,« fuhr Paul fort.

Keine Antwort. Dawes lag und starrte die gegenüberliegende Wand an.

»Sagen Sie ›Krah!‹« spottete die Schwester. »Sagen Sie doch ›Krah!‹ Jacob Rabe.«

»Kommt er gut weiter?« fragte Paul sie.

»O ja! Er liegt da und bildet sich ein, er stürbe,« sagte die Schwester, »und das schreckt ihm jedes Wort vom Munde.«

»Und Sie müssen doch jemand haben, um mit ihm zu reden,« lachte Morel.

»Richtig!« lachte die Schwester. »Bloß zwei alte Männer und einen Jungen, der immer schreit. Das ist hart. Hier sitze ich und möchte sterben, um mal Jacob Rabes Stimme zu hören, und er will nichts als zuweilen mal ›Krah!‹ sagen.«

»Das ist hart für Sie!« sagte Morel.

»Nicht wahr?« sagte die Schwester.

»Ich glaube wahrhaftig, ich bin 'ne Schickung,« lachte er.

»Oh, glatt vom Himmel 'runtergefallen!« lachte die Schwester.

Nun ließ sie die beiden Männer allein. Dawes war dünner und wieder hübscher, aber seine Lebenskraft schien niedrig zu stehen. Wie der Arzt sagte, lag er und brummte und wollte sich nicht um seine Genesung bemühen. Er schien seinem Herzen jeden Schlag zu mißgönnen.

»Was machen Sie hier in Sheffield?« fragte er.

»Meine Mutter ist bei meiner Schwester in Thurston Street plötzlich krank geworden. Was machen Sie denn hier?«

Keine Antwort.

»Wie lange sind Sie schon hier?« fragte Morel.

»Weiß nicht genau,« antwortete Dawes unfreundlich.

Er lag da und starrte auf die Wand gegenüber, als versuche er zu glauben, Morel wäre gar nicht da. Paul fühlte sein Herz hart und ärgerlich schlagen.

»Doktor Ansell erzählte mir, Sie wären hier,« sagte er kalt.

Der andere antwortete nicht.

»Nervenfieber ist recht eklig, das weiß ich,« beharrte Morel.

Plötzlich sagte Dawes:

»Weswegen sind Sie gekommen?«

»Weil Doktor Ansell sagte, Sie kennen hier niemand. Kennen Sie denn jemand?«

»Ich kenne nirgends eine Menschenseele,« sagte Dawes.

»Ja,« sagte Paul, »denn ists aber nur, weil Sie nicht wollen.«

Neues Schweigen.

»Wir wollen meine Mutter so bald wie möglich nach Hause bringen,« sagte Paul.

»Was fehlt ihr denn?« fragte Dawes, mit der Teilnahme Kranker für jede Art von Krankheit.

»Sie hat Krebs.«

Abermals Schweigen.

»Aber wir möchten sie gern nach Hause bringen,« sagte Paul; »wir müssen einen Motorwagen nehmen.«

Dawes lag und dachte nach.

»Warum bitten Sie nicht Thomas Jordan, daß der Ihnen seinen leiht?« sagte er.

»Der ist nicht groß genug,« antwortete Morel.

Dawes plierte mit seinen dunklen Augen, als er so dalag und nachdachte.

»Denn bitten Sie doch Jack Pilkington; der leiht 'n Ihnen sicher. Sie kennen ihn ja.«

»Ich denke, ich miete einen,« sagte Paul.

»Wenn Sie das tun, sind Sie ein Narr,« sagte Dawes.

Der Kranke war hagerer geworden und wieder hübsch. Er tat Paul leid wegen des müden Blicks in seinen Augen.

»Ich war bloß einen oder zwei Tage hier, ehe mir schlecht wurde,« erwiderte Dawes.

»Sie müßten in ein Erholungsheim,« sagte Paul.

Das Gesicht des andern bewölkte sich wieder.

»In ein Erholungsheim gehe ich nicht,« sagte er.

»Mein Vater ist in einem gewesen in Seathorpe, und es gefiel ihm doch. Doktor Ansell würde Ihnen eine Empfehlung besorgen.«

Dawes lag und überlegte. Augenscheinlich wagte er der Welt nicht wieder ins Gesicht zu sehen.

»Jetzt würde es an der See grade richtig sein,« sagte Morel; »Sonne auf den Dünen, und die Wellen nicht zu weit draußen.«

Der andere antwortete nicht.

»Herrgott!« schloß Paul, zu elend, um sich lange zu quälen, »es ist schon gut, wenn man nur weiß, man kommt wieder auf die Beine und kann wieder schwimmen!«

Dawes sah ihn rasch an. Die dunklen Augen des Mannes fürchteten sich vor dem Zusammentreffen mit jedem andern Augenpaar in der Welt. Aber das wirkliche Elend und die Hilflosigkeit in Pauls Ton gaben ihm ein Gefühl von Erleichterung.

»Ist sie schon weit?« fragte er.

»Sie wird immer wächserner,« antwortete Paul; »aber vergnügt – lebendig!«

Er biß sich auf die Lippen. Nach einer Minute stand er auf.

»Ja, ich muß weg,« sagte er. »Da laß ich Ihnen eine halbe Krone.«

»Die will ich nich,« murmelte Dawes.

Morel antwortete nicht, sondern ließ das Geld auf dem Tische liegen.

»Na,« sagte er, »ich will mal sehen, ob ich nicht wieder hereinlaufen kann, wenn ich wieder in Sheffield bin. Vielleicht möchten Sie mal meinen Schwager sehen? Er arbeitet bei Pyecroft.«

»Kenne ihn nicht,« sagte Dawes.

»Ist ein ordentlicher Kerl. Soll ich ihm sagen, daß er mal kommt? Er könnte Ihnen ein paar Zeitungen mitbringen.«

Der andere antwortete nicht. Paul ging. Die durch Dawes verursachte, bisher unterdrückte starke Erregung ließ ihn zusammenschaudern.

Seiner Mutter erzählte er nichts davon, aber am nächsten Tage sprach er zu Clara von dieser Unterredung. Es war um die Essenszeit. Die beiden gingen jetzt nicht oft zusammen aus, aber heute bat er sie, mit ihm in den Schloßgarten zu gehen. Dort setzten sie sich hin, während die scharlachnen Geranien und die gelben Kalzeolarien im Sonnenschein glänzten. Sie war jetzt immer recht zurückhaltend, recht empfindlich gegen ihn.

»Wußtest du, Baxter läge mit Nervenfieber im Sheffielder Krankenhause?« fragte er.

Mit verstörten grauen Augen sah sie ihn an, und ihr Gesicht wurde blaß.

»Nein,« sagte sie verängstigt.

»Es geht ihm schon besser. Ich habe ihn gestern besucht – der Arzt sagte es mir.«

Clara schien ganz betroffen von dieser Neuigkeit.

»Gehts ihm sehr schlecht?« fragte sie schuldbewußt.

»Es ging ihm. Jetzt gehts ihm besser.«

»Was hat er dir gesagt?«

»Oh, nichts! Es scheint, er brummt immer.«

Nun lag eine Entfernung zwischen ihnen. Er erstattete ihr weiteren Bericht.

Sie ging jetzt verschlossen und schweigend einher. Das nächste Mal, als sie einen Gang unternahmen, machte sie sich von seinem Arm los und ging in einiger Entfernung neben ihm her. Er sehnte sich bitterlich nach ihrem Trost.

»Willst du nicht etwas nett gegen mich sein?« bat er sie.

Sie antwortete nicht.

»Was ist denn los?« fragte er und legte ihr den Arm um die Schulter.

»Nicht!« sagte sie und machte sich wieder los.

Er ließ ab von ihr und gab sich wieder seinen Gedanken hin.

»Wirft Baxter dich so um?« fragte er endlich.

»Gemein bin ich gegen ihn gewesen!« sagte sie.

»Ich habe manchmal gesagt, du hättest ihn nicht recht behandelt,« erwiderte er.

Nun lag etwas Feindseliges zwischen ihnen. Jeder verfolgte seinen eigenen Gedankengang.

»Ich habe ihn behandelt – nein, ich habe ihn schlecht behandelt,« sagte sie. »Und nun behandelst du mich schlecht. Geschieht mir ganz recht.«

»Wieso behandle ich dich schlecht?« sagte er.

»Es geschieht mir ganz recht,« wiederholte sie. »Ich habe nie geglaubt, er wäre wert, daß man ihn hielte, und nun hältst du mich auch nicht dafür. Aber das geschieht mir ganz recht. Er hat mich tausendmal lieber gehabt, als du mich je geliebt hast.«

»Nein, das hat er nicht!« erhob Paul Einspruch.

»Jawohl! Jedenfalls achtete er mich – und das hast du nie getan.«

»Sieht auch grade so aus, als hätte er große Achtung vor dir gehabt!« sagte er.

»Das hat er auch! Und ich habe ihn so schlecht gemacht – ich weiß, ich habs getan! Du hast mir das gezeigt. Und er hat mich tausendmal lieber gehabt, als du mich jemals geliebt hast.«

»Na schön,« sagte Paul.

Er wollte jetzt nur in Ruhe gelassen werden. Er hatte seine eigenen Sorgen, die ihm fast zu schwer zu tragen wurden. Clara quälte ihn nur und machte ihn müde. Es tat ihm nicht leid, als er sie verließ.

Bei der ersten Gelegenheit fuhr sie nach Sheffield, um ihren Mann zu besuchen. Das Zusammentreffen war kein Erfolg. Aber sie ließ ihm Rosen und Obst und Geld da. Sie wollte wieder gut machen. Nicht weil sie ihn liebte. Als sie ihn dort liegen sah, erwärmte sich ihr Herz nicht vor Liebe. Sie wünschte sich nur vor ihm zu demütigen, vor ihm niederzuknien. Selbst aufopfern wollte sie sich nun. Schließlich war es ihr doch nicht gelungen, Morel dahin zu bringen, sie wirklich zu lieben. Sie fürchtete für ihre Sittlichkeit. Sie wollte Buße tun. Daher kniete sie vor Dawes nieder, und das verursachte ihm ein feines Vergnügen. Aber der Abstand zwischen ihnen war immer noch sehr groß – zu groß. Er erschreckte den Mann. Der Frau gefiel er fast. Sie war froh über dies Gefühl, sie diene ihm über einen unüberwindlichen Raum hinweg. Nun war sie stolz.

Morel besuchte Dawes ein- oder zweimal. Es bestand eine Art Freundschaft zwischen den beiden Männern, die die ganze Zeit über tödliche Nebenbuhler waren. Aber nie erwähnten sie die Frau, die zwischen ihnen stand.

Frau Morel ging es allmählich immer schlechter. Zuerst brachten sie sie in der Regel nach unten, manchmal selbst in den Garten. Durch Kissen gestützt saß sie in ihrem Stuhle, lächelnd, und so hübsch. Der goldene Trauring glänzte an ihrer weißen Hand; ihr Haar war sorgfältig gebürstet. Und sie beobachtete, wie das Gewirr der Sonnenblumen hinstarb, die Chrysanthemen hervorkamen und die Dahlien.

Paul und sie waren voreinander bange. Er wußte, und sie ebenfalls, sie stürbe. Aber sie taten immer so, als wären sie ganz fröhlich. Jeden Morgen, wenn er aufstand, ging er in seinem Schlafanzug in ihre Kammer.

»Hast du geschlafen, mein Liebstes?« fragte er.

»Ja,« antwortete sie.

»Nicht sehr gut?«

»O ja!«

Dann wußte er, sie hatte wachgelegen. Er sah ihre Hand unter der Bettdecke die Stelle in ihrer Seite pressen, wo die Schmerzen saßen.

»War es schlimm?« fragte er.

»Nein. Es tat etwas weh, aber es ist nicht der Rede wert.«

Und sie rümpfte die Nase auf ihre alte, geringschätzige Art und Weise. So im Liegen sah sie aus wie ein Mädchen. Und die ganze Zeit über beobachteten ihn ihre blauen Augen. Aber es lagen die dunklen Schmerzensringe unter ihnen, die ihm so weh taten.

»Es ist ein sonniger Tag,« sagte er.

»Ein wunderschöner Tag.«

»Meinst du, du möchtest hinuntergebracht werden?«

»Ich will mal sehen.«

Dann ging er, um ihr Frühstück zu besorgen. Den ganzen Tag wurde er nichts gewahr als sie. Es war ein langes Sehnen, das ihn ganz fieberig machte. Wenn er dann früh am Abend heimkam, blickte er durchs Küchenfenster. Sie war nicht da; sie war nicht aufgewesen.

Er lief sofort nach oben und küßte sie. Er fürchtete sich fast sie zu fragen:

»Bist du nicht aufgewesen, mein Täubchen?«

»Nein,« sagte sie. »Das ist das Morphium, das macht mich so müde.«

»Ich glaube, er gibt dir zu viel,« sagte er.

»Ich glaube auch,« antwortete sie.

Voller Jammer setzte er sich an ihr Bett. Sie hatte eine Art sich zusammenzukauern und auf der Seite zu liegen, wie ein Kind. Ihr graues und braunes Haar lag ihr lose über dem Ohr.

»Kitzelt dich das nicht?« fragte er und strich es sanft zurück.

»Ja,« erwiderte sie.

Sein Gesicht war dem ihren ganz nahe. Ihre blauen Augen lächelten genau in seine hinüber – wie die eines Mädchens – warm, lachend, voll zärtlicher Liebe. Das machte ihn ächzen vor Angst, Qual und Liebe.

»Du mußt dein Haar geflochten haben,« sagte er. »Lieg mal stille.«

Und hinter sie tretend, machte er ihr vorsichtig das Haar auf und bürstete es aus. Es war wie feine, lange, braune und graue Seide. Ihr Kopf lag zwischen die Schultern gezogen. Während er ihr das Haar leicht bürstete und flocht, biß er sich auf die Lippen und fühlte sich wie betäubt. Es kam ihm so unwirklich vor, er konnte es nicht verstehen.

Abends arbeitete er oft in ihrem Zimmer und sah dann von Zeit zu Zeit auf. Und dabei fand er oft ihre blauen Augen auf sich geheftet. Und wenn ihre Augen sich trafen, lächelte sie. Er arbeitete gedankenlos drauflos und brachte gute Leistungen zustande, ohne zu wissen, was er tat.

Zuweilen trat er sehr still und blaß herein, mit wachsamen, hastigen Augen, wie jemand, der sich fast zu Tode getrunken hat. Beide hatten sie Angst vor den Schleiern, die jetzt zwischen ihnen zerrissen.

Dann tat sie, als ginge es ihr besser, schwatzte lustig drauflos und machte viel Wesens über ein paar Neuigkeiten. Denn sie waren jetzt beide so weit gekommen, daß sie sich auch aus Kleinigkeiten viel machten, damit sie sich nicht von dem Großen hinreißen ließen und ihre menschliche Unabhängigkeit in Stücke ginge. Sie hatten Angst, und deshalb scherzten sie über die Dinge und waren lustig.

Zuweilen, wenn sie so dalag, wußte er, sie dächte an die Vergangenheit. Ihr Mund zog sich allmählich zu einem harten Strich zusammen. Sie hielt sich steif, um zu sterben, ohne den großen Schrei von sich zu geben, der sich ihr aus dem Innern losreißen wollte. Nie vergaß er dies harte, so äußerst einsame und hartnäckige Zukneifen ihres Mundes, das wochenlang anhielt. Zuweilen, wenn es leichter wurde, sprach sie über ihren Mann. Sie haßte ihn jetzt. Sie vergab ihm nicht. Sie konnte es nicht ertragen, wenn er im Zimmer war. Und ein paar Dinge, die Dinge, die ihr am bittersten gewesen waren, kamen jetzt so stark in die Höhe, daß sie aus ihr hervorbrachen und sie sie ihrem Sohne erzählte.

Ihm war, als würde ihm sein Leben Stück um Stück im seinem Inneren vernichtet. Oft kamen ihm plötzlich die Tränen. Er lief zum Bahnhof, und die Tropfen fielen aufs Pflaster. Oft konnte er mit seiner Arbeit nicht fortfahren. Die Feder hielt im Schreiben inne. Er saß da und stierte, ganz bewußtlos. Und kam er wieder zu sich, so fühlte er sich elend und zitterte an allen Gliedern. Er fragte sich nie, was es wäre. Sein Geist versuchte gar nicht zu begreifen oder zu zergliedern. Er unterwarf sich einfach und hielt die Augen geschlossen, ließ alles über sich ergehen.

Seine Mutter machte es ebenso. Sie dachte an ihre Schmerzen, an das Morphium, an den nächsten Tag; kaum je an den Tod. Der kam, das wußte sie. Ihm hatte sie sich zu unterwerfen. Aber nie würde sie ihn um Gnade anflehen oder sich mit ihm befreunden wollen. Blind, das Antlitz hart verschlossen und blind wurde sie auf die Türe zu gestoßen. Die Tage gingen hin, die Wochen, die Monde.

Zuweilen, an sonnigen Nachmittagen schien sie fast glücklich.

»Ich versuche immer an die schönen Zeiten zu denken – als wir nach Mablethorpe gingen und Robin Hoods Bucht und Shanklin,« sagte sie. »Schließlich ist doch noch lange nicht jeder an diesen schönen Orten gewesen. Und war es nicht wunderschön! Daran suche ich zu denken, nicht an die andern Sachen.«

Dann sprach sie wieder einen ganzen Abend kein Wort; und er auch nicht. Sie waren zusammen, starr, verbissen, stumm. Endlich ging er dann in sein Zimmer, um sich schlafen zu legen, und lehnte sich gegen den Türpfosten wie gelähmt, wie unfähig, weiter zu gehen. Das Bewußtsein schwand ihm. Ein wütender Sturm, er wußte nicht was, schien in seinem Innern zu rasen. Angelehnt blieb er stehen, unterwürfig, nie fragend.

Am Morgen waren sie beide wieder wie gewöhnlich, obgleich ihr Gesicht grau vom Morphium war und ihr Leib sich wie Asche anfühlte. Aber trotzdem waren sie wieder fröhlich. Oft, besonders wenn Arthur und Annie da waren, vernachlässigte er sie. Von Clara sah er nicht viel. Gewöhnlich war er mit Männern zusammen. Er war rasch und tätig und lebhaft; wenn seine Freunde ihn plötzlich weiß bis an die Kiemen werden sahen, sein Auge dunkel und glitzernd, dann begannen sie ein gewisses Mißtrauen gegen ihn zu fühlen. Zuweilen ging er zu Clara, aber sie war beinahe kalt gegen ihn.

»Nimm mich!« sagte er einfach.

Gelegentlich tat sie es dann. Aber sie hatte Angst. Wenn er sie dann hatte, lag etwas in ihm, das sie vor ihm zurückfahren ließ – etwas Unnatürliches. Sie begann ihn zu fürchten. Er war so ruhig und doch so seltsam. Sie hatte Angst vor dem Manne, der gar nicht bei ihr war, den sie hinter diesem vorgetäuschten Liebhaber bemerkte; jemand Finsteres, der sie mit Entsetzen erfüllte. Sie begann sich vor ihm zu entsetzen. Fast als wäre er ein Verbrecher. Er wollte sie – er hatte sie – und es ließ sie empfinden, als habe der Tod selbst sie in den Krallen. In Schrecken lag sie da. Das war kein Mensch, der sie liebte. Sie haßte ihn beinahe. Dann kamen kleine Regungen von Zärtlichkeit. Aber ihn zu bemitleiden wagte sie nicht.

Dawes war in das Heim Oberst Seelys bei Nottingham gegangen. Hier besuchte Paul ihn zuweilen, Clara sehr gelegentlich. Zwischen den beiden Männern hatte sich die Freundschaft auf eine sonderbare Weise entwickelt. Dawes, der sehr langsam genas und sehr schwach schien, überließ sich anscheinend ganz Morels Händen.

Anfang November erinnerte Clara Paul daran, daß ihr Geburtstag sei.

»Ich hatte es beinahe vergessen,« sagte er.

»Ich dachte, ganz,« erwiderte sie.

»Nein. Wollen wir über Wochenschluß an die See gehen?«

Sie gingen. Es war kalt und recht trübselig. Sie hatte erwartet, er würde zärtlich und warm gegen sie sein, anstatt dessen wurde er sie kaum gewahr. Er saß im Eisenbahnwagen, sah aus dem Fenster und fuhr zusammen, wenn sie zu ihm sprach. Er dachte an nichts Besonderes. Die Dinge schienen ihm so, als wären sie gar nicht da. Sie setzte sich zu ihm hinüber.

»Was ist dir, Lieb?« fragte sie.

»Nichts!« sagte er. »Sehen die Windmühlenflügel nicht mal eintönig aus!«

Er saß und hielt ihre Hand. Er konnte weder sprechen noch denken. Immerhin war es schon ein Trost, dazusitzen und ihre Hand zu halten. Sie war unbefriedigt und jämmerlich. Er war nicht bei ihr; sie war nichts.

Und Abends saßen sie in den Dünen und sahen über die schwarze, schwere See hinaus.

»Sie gibt nicht nach,« sagte er ruhig.

Claras Herz sank.

»Nein,« sagte sie.

»Man kann ja auf verschiedene Weise sterben. Meines Vaters Angehörige sind bange und müssen aus dem Leben in den Tod gezerrt werden, wie das Vieh ins Schlachthaus, am Halse; aber meiner Mutter Leute werden von hinten her getrieben, Schritt für Schritt. Sie sind hartnäckig und wollen nicht sterben.«

»Ja,« sagte Clara.

»Und sie will auch nicht. Sie kann nicht. Herr Renshaw, der Pfarrer, war neulich da. ›Denken Sie doch bloß,‹ sagte er zu ihr, ›Sie werden Ihren Vater und Mutter und Ihre Schwestern wiederhaben und Ihren Sohn, in jenem andern Lande.‹ Und sie sagte: ›Ich bin lange Zeit ohne sie fertig geworden und kann jetzt ohne sie fertig werden. Nach den Lebenden sehne ich mich, nicht nach den Toten.‹ Sie will selbst jetzt noch leben.«

»O wie schrecklich!« sagte Clara, zu erschrocken, um zu sprechen.

»Und sie sieht mich an und möchte bei mir bleiben,« fuhr er eintönig fort. »Sie hat einen solchen Willen, daß es aussieht, als würde sie nie gehen – niemals!«

»Denk doch nicht dran!« rief Clara.

»Und sie war fromm – sie ist auch jetzt noch fromm – aber das nützt nichts. Sie will einfach nicht nachgeben. Und weißt du, Donnerstag sagte ich zu ihr: ›Mutter, wenn ich sterben müßte, dann würde ich sterben. Ich würde sterben wollen.‹ Und sie sagte ganz scharf zu mir: ›Meinst du, das täte ich nicht? Glaubst du, man könnte sterben, wann es einem paßt?‹«

Die Stimme versagte ihm. Er weinte nicht, er sprach nur ganz eintönig weiter. Clara wäre am liebsten weggelaufen. Sie sah sich um. Da lag der schwarze, widerhallende Strand, der dunkle Himmel über ihr. Erschrocken stand sie auf. Sie sehnte sich nach Licht, dahin, wo andere Menschen waren. Sie wollte weg von ihm. Er saß mit vornüberhängendem Kopf, ohne eine Muskel zu bewegen.

»Und ich möchte gar nicht, daß sie noch ißt,« sagte er, »und das weiß sie. Wenn ich sie frage: ›Möchtest du irgendwas haben?‹ dann fürchtet sie sich fast zu sagen: ›Ja. – Eine Tasse Bengers,‹ sagte sie. ›Das hält nur deine Kräfte hoch,‹ habe ich zu ihr gesagt. ›Ja,‹ – und sie weinte beinahe – ›aber es nagt da so, wenn ich nichts esse, ich kanns nicht aushalten.‹ Da bin ich hingegangen und habe es ihr zurechtgemacht. Das ist der Krebs, der so an ihr nagt. Ich wollte, sie stürbe!«

»Komm!« sagte Clara rauh. »Jetzt gehe ich.«

Er folgte ihr über den dunklen Sand. Er kam nicht zu ihr. Er schien sich kaum ihres Daseins bewußt. Und sie war bange vor ihm und verabscheute ihn.

In der gleichen, schweren Betäubung fuhren sie nach Nottingham zurück. Er war immer geschäftig, hatte immer etwas vor, ging stets von einem seiner Freunde zum andern.

Am Montag ging er, um Baxter zu besuchen. Gleichgültig und blaß stand der Mann auf, um den andern zu begrüßen, und hielt sich an seinem Stuhle fest, während er ihm die Hand hinstreckte.

»Sie sollten nicht aufstehen,« sagte Paul.

Dawes setzte sich schwerfällig wieder hin und beäugte Morel mit einer Art Argwohn.

»Vergeuden Sie doch Ihre Zeit nicht bei mir,« sagte er, »wenn Sie was Besseres zu tun haben.«

»Ich wollte aber kommen,« sagte Paul. »Hier! Ich habe Ihnen was Süßes mitgebracht.«

Der Kranke legte es beiseite.

»Es war nicht viel los mit dem Wochenschluß,« sagte Morel.

»Wie gehts Ihrer Mutter?« fragte der andere.

»Kaum verändert.«

»Ich dachte, es ginge ihr vielleicht schlimmer, weil Sie am Sonntag nicht kamen.«

»Ich war in Skegneß,« sagte Paul. »Ich hatte etwas Abwechselung nötig.«

Der andere sah ihn mit dunklen Augen an. Er schien zu warten, wagte aber doch keine Frage in der Überzeugung, er werde es zu hören bekommen.

»Ich war mit Clara,« sagte Paul.

»Das wußte ich wohl,« sagte Dawes ruhig.

»Es war ein altes Versprechen,« sagte Paul.

»Machen Sie doch, was Sie Lust haben,« sagte Dawes.

Dies war das erstemal, daß Clara ausdrücklich zwischen ihnen erwähnt wurde.

»Na,« sagte Morel langsam, »sie hat mich satt.«

Wieder sah Dawes ihn an.

»Seit August hat sie mich über gekriegt,« wiederholte Morel.

Die beiden Männer saßen sehr ruhig zusammen. Paul schlug ein Spiel Dame vor. Sie spielten schweigend.

»Ich gehe ins Ausland, wenn meine Mutter tot ist,« sagte Paul.

»Ins Ausland!« wiederholte Dawes.

»Ja; mir ists einerlei, was ich anfange.«

Sie fuhren mit ihrem Spiele fort. Dawes mußte gewinnen.

»Ich muß auf irgend 'ne Weise wieder von vorn anfangen,« sagte Paul; »und Sie auch, sollte ich denken.«

Er nahm einen von Dawes' Steinen.

»Ich weiß nur nicht wo,« sagte der andere.

»Die Dinge kommen schon zurecht,« sagte Morel. »Es nützt nichts, daß man was anfängt – wenigstens – nein, ich weiß nicht. Geben Sie mir mal ein Stück.«

Die beiden Männer aßen die Süßigkeiten und fingen ein neues Spiel Dame an.

»Wo kommt die Narbe da an Ihrem Munde her,« fragte Dawes.

Paul legte hastig die Hand auf die Lippen und sah über den Garten hin.

»Ich habe einen Unfall beim Radeln gehabt,« sagte er.

Dawes' Hand zitterte, als er seinen Stein bewegte.

»Sie hätten mich nicht auslachen sollen,« sagte er sehr leise.

»Wann?«

»Den Abend da, auf der Woodborough Road, als Sie mit ihr an mir vorbeigingen – Sie mit der Hand auf ihrer Schulter.«

»Da habe ich Sie nicht ausgelacht,« sagte Paul.

Dawes hielt seinen Finger auf dem Damenstein.

»Ich hatte keine Ahnung, wer Sie wären, bis zu dem Augenblick, als Sie vorbeigingen,« sagte Morel.

»Das hat mich dazu gebracht,« sagte er sehr leise.

Paul nahm wieder eins von den süßen Stücken.

»Ich habe nicht anders gelacht,« sagte er, »als ichs immer tue.«

Sie brachten das Spiel zu Ende.

Diesen Abend ging Morel zu Fuße nach Hause, um etwas zu tun zu haben. Die Hochöfen flammten in roter Glut über Bulwell; die schwarzen Wolken waren wie eine niedrige rote Zimmerdecke. Als er die zehn Meilen Landstraße dahinschritt, fühlte er sich, als schritte er zwischen den schwarzen Ebenen des Himmels und der Erde aus dem Leben. Aber am Ende lag nur ein Krankenzimmer. Und wanderte er immer und ewig, er konnte nur zu diesem einen Orte gelangen.

Er war nicht müde, als er dicht bei Hause war, oder wenigstens wußte er es nicht. Über das Feld weg konnte er den roten Feuerschein aus ihrem Kammerfenster funkeln sehen.

»Wenn sie tot ist,« sagte er sich, »geht das Feuer aus.«

Ruhig zog er sich die Stiefel aus und ging nach oben. Seiner Mutter Tür stand weit offen, weil sie immer noch allein schlief. Der rote Feuerschein sprühte seine Glut über den Treppenabsatz. Leise wie ein Schatten spähte er durch die Tür.

»Paul!« murmelte sie.

Wieder schien ihm das Herz zu brechen. Er ging hinein und setzte sich an ihr Bett.

»Wie spät du kommst!« murmelte sie.

»Nicht so sehr,« sagte er.

»Wieso, wieviel Uhr ists denn?« Ihr Murmeln kam klagend und hilflos.

»Es ist grade eben elf durch.«

Das war nicht wahr; es war beinahe eins.

»Oh!« sagte sie. »Ich dachte, es wäre später.«

Und er begriff das unaussprechliche Elend ihrer Nächte, die nicht von der Stelle wollten.

»Kannst du nicht schlafen, mein Täubchen?« sagte er.

»Nein, ich kann nicht,« jammerte sie.

»Laß man, mein Kleines!« sagte er halb singend. »Laß man, mein Lieb. Ich bleibe ein halb Stündchen bei dir, mein Täubchen, vielleicht wirds dann besser.«

Und er saß neben ihrem Bett, langsam, regelmäßig ihre Brauen mit den Fingerspitzen streichelnd, ihre geschlossenen Augen, so sie beruhigend und ihre Finger in der freien Hand haltend. Sie konnten die Schläfer in den anderen Räumen atmen hören.

»Nun geh zu Bett,« murmelte sie, während sie ganz still dalag unter seinen Fingern und seiner Liebe.

»Wirst du jetzt schlafen?« fragte er.

»Ja, ich denke.«

»Nun fühlst du dich besser, mein Kleines, nicht?«

»Ja,« sagte sie, wie ein bekümmertes, halb getröstetes Kind.

Und immer weiter zogen die Tage und Wochen sich hin. Er ging jetzt kaum je noch zu Clara. Aber rastlos wanderte er von einem Menschen zum andern, um Hilfe, und die gab es nirgends. Miriam hatte ihm zartfühlend geschrieben. Er ging und besuchte sie. Ihr wurde das Herz wund, als sie ihn ansah, so weiß, so hager, mit dunklen, erschreckten Augen. Ihr Mitleid wurde rege und schmerzte sie, bis sie es nicht länger aushalten konnte.

»Wie gehts ihr?« fragte sie.

»Dasselbe – dasselbe!« sagte er. »Der Arzt sagt, sie kann nicht mehr, aber ich weiß, sie kanns. Sie ist Weihnachten noch hier.«

Miriam schauderte. Sie zog ihn an sich; sie drückte ihn an ihren Busen, sie küßte und küßte ihn. Er unterwarf sich, aber es war ihm eine Folter. Sie konnte ihm die Todesqual nicht fortküssen. Die blieb und blieb. Sie küßte ihm das Gesicht und erregte sein Blut, während seine Seele abseits stand und sich in Todesqualen wand. Und sie küßte ihn und befühlte seinen Körper, bis er glaubte wahnsinnig zu werden und sich von ihr losriß. Das wars nicht, was er grade jetzt wollte – das nicht. Und sie dachte, sie hätte ihn getröstet und ihm wohlgetan.

Dezember kam und etwas Schnee. Er blieb jetzt die ganze Zeit über zu Hause. Eine Pflegerin konnten sie sich nicht leisten. Annie kam, um nach ihrer Mutter zu sehen; die Gemeindeschwester, die sie liebten, kam morgens und abends. Paul teilte sich mit Annie in die Pflege. Oft des Abends, wenn sie Freunde bei sich in der Küche hatten, lachten sie alle zusammen, daß sie wackelten. Das war die Gegenwirkung. Paul war so spaßhaft, Annie so sonderbar. Die ganze Gesellschaft lachte, bis ihnen die Tränen kamen, und bemühte sich, das Geräusch zu unterdrücken. Und Frau Morel, die allein im Dunklen lag, hörte sie, und ihrer Bitterkeit mischte sich ein gewisses Gefühl der Erleichterung bei.

Dann pflegte Paul vorsichtig nach oben zu gehen, schuldbewußt, um zu sehen, ob sie sie gehört habe.

»Soll ich dir etwas Milch geben?« fragte er.

»Ein wenig,« sagte sie kläglich.

Und er tat etwas Wasser dazu, damit es sie nicht nähre. Und doch liebte er sie mehr als sein eigenes Leben.

Jede Nacht bekam sie Morphium, und ihr Herz bekam Anfälle. Annie schlief neben ihr. Paul pflegte am frühen Morgen hereinzukommen, wenn seine Schwester aufstand. Seine Mutter war morgens zermürbt und aschig durch das Morphium. Dunkler und dunkler wurden ihre Augen, ganz Sehloch, vor Qual. Morgens waren die Müdigkeit und der Schmerz zu stark, um sie ertragen zu können. Und doch konnte sie nicht – wollte sie nicht – weinen oder auch viel klagen.

»Heute morgen hast du etwas länger geschlafen, Kleines,« sagte er dann wohl.

»Ja?« antwortete sie mit müdem Gram.

»Ja; es ist fast acht Uhr.«

Er stand und sah aus dem Fenster. Das ganze Land lag bleich und blaß unter dem Schnee. Dann fühlte er ihr den Puls. Es war ein starker Schlag und ein schwacher, wie ein Klang und ein Widerhall. Das galt als ein Anzeichen des herannahenden Endes. Sie ließ ihn ihr Handgelenk fühlen, da sie wußte, was er wollte.

Zuweilen sahen sie einander in die Augen. Dann schienen sie zu einem Einverständnis zu gelangen. Es war fast, als willige er ein, auch zu sterben. Aber sie willigte nicht ein zu sterben, sie wollte nicht. Ihr Körper war auf ein Aschenstäubchen heruntergebracht. Ihre Augen waren dunkel und voller Qual.

»Können Sie ihr nichts geben, um es zu Ende zu bringen?« fragte er endlich den Arzt.

Aber der Arzt schüttelte den Kopf.

»Sie kann nicht mehr viele Tage vorhalten, Herr Morel,« sagte er.

Paul ging hinein.

»Ich kann es nicht mehr lange aushalten; wir werden noch alle verrückt,« sagte Annie.

Die zwei setzten sich zum Frühstück.

»Geh zu ihr und bleib bei ihr sitzen, während wir frühstücken, Minnie,« sagte Annie. Aber das Mädchen hatte Angst.

Paul ging über Land, durch die Wälder, durch den Schnee. Er sah die Spuren von Kaninchen und Vögeln in dem weißen Schnee. Meilen und aber Meilen wanderte er. Ein dunstiger roter Sonnenuntergang kam langsam herauf, schmerzerfüllt, zaudernd. Er glaubte, sie würde an diesem Tage sterben. Da war ein Esel, der über den Schnee auf ihn zukam, am Waldesrand; der drückte seinen Kopf gegen ihn an und ging neben ihm her. Er schlang die Arme um den Hals des Esels und rieb seine Backen an seinen Ohren.

Seine Mutter, stumm, war noch am Leben, den harten Mund grimmig verschlossen, nur die dunklen, qualerfüllten Augen waren noch lebend.

Es näherte sich Weihnachten; es war mehr Schnee da. Annie und er fühlten, sie könnten nicht mehr. Immer noch lebten ihre dunklen Augen. Morel, stumm und verschüchtert, brachte sich ganz in Vergessenheit. Zuweilen ging er einmal ins Krankenzimmer und sah sie an. Dann drückte er sich voller Verwirrung.

Sie hielt immer noch am Leben fest. Die Bergleute hatten gestreikt und fingen vierzehn Tage oder so vor Weihnachten wieder an. Minnie ging mit der Schnabeltasse nach oben. Es war zwei Tage, nachdem die Männer zu Hause geblieben waren.

»Die Männer meinen wohl, ihnen wären die Hände wund, Minnie?« fragte sie, mit ihrer seltsamen, klagenden Stimme, die nicht nachgeben wollte. Minnie stand überrascht da.

»Nich soviel ich weiß, Frau Morel,« antwortete sie.

»Ich wette aber, sie sinds,« sagte die Sterbende, den Kopf mit einem müden Seufzer bewegend. »Aber jedenfalls wird doch etwas zum Einkaufen da sein diese Woche.«

Nicht die geringste Kleinigkeit ließ sie sich entgehen.

»Deines Vaters Grubensachen müssen gut gelüftet werden, Annie,« sagte sie, als die Männer wieder zur Arbeit gingen.

»Darum kümmere du dich nicht, meine Liebe,« sagte Annie.

Eines Abends waren Paul und Annie allein. Die Schwester war oben.

»Sie lebt noch über Weihnachten,« sagte Annie. Sie waren beide voller Entsetzen.

»Nein,« sagte er grimmig. »Ich gebe ihr Morphium.«

»Welches?« fragte Annie.

»Alles, was aus Sheffield gekommen ist,« sagte Paul.

»Ja – tu's!« sagte Annie.

Am nächsten Tage malte er im Schlafzimmer. Sie schien zu schlafen. Leise trat er bei seinem Malen vor und zurück. Plötzlich klagte ihre leise Stimme:

»Lauf nicht herum, Paul!«

Er sah sich um. Ihre Augen, wie dunkle Blasen auf ihrem Gesicht, sahen auf ihn.

»Nein, mein Lieb,« sagte er sanft. Wieder schien eine Fiber seines Herzens zu zerreißen.

An dem Abend nahm er alle Morphiumpillen, die da waren, mit hinunter. Sorgfältig zerstieß er sie zu Pulver.

»Was machst du?« fragte Annie.

»Ich tue sie ihr heute abend in die Milch.«

Dann lachten sie, wie zwei sich verschwörende Kinder. Über all ihrem Entsetzen flickerte noch dies bißchen gesunder Verstand.

Die Schwester kam den Abend nicht, um Frau Morel umzubetten. Paul ging mit der heißen Milch in der Schnabeltasse nach oben. Es war neun Uhr.

Sie wurde im Bett aufgerichtet, und er setzte ihr die Schnabeltasse an die Lippen, für die er gern gestorben wäre, hätte er ihnen den leisesten Schmerz ersparen können. Sie nahm ein Schlückchen, dann drehte sie den Schnabel zur Seite und sah ihn mit dunklen, verwunderten Augen an. Er sah sie an.

»Oh, ist das bitter, Paul!« sagte sie mit einer kleinen Fratze.

»Das ist ein neues Schlafmittel, das der Arzt mir für dich gegeben hat,« sagte er. »Er meinte, es würde dich morgens nicht in so 'nem Zustand lassen.«

»Ich hoffe, es wirds nicht,« sagte sie wie ein Kind.

Und sie trank mehr von der Milch.

»Aber es ist gräßlich!« sagte sie.

Er blickte auf ihre gebrechlichen Finger über der Tasse und ihre Lippen, die eine leichte Bewegung machten.

»Ich weiß – ich hab es gekostet,« sagte er. »Aber ich gebe dir etwas reine Milch nach.«

»Ich denke auch,« sagte sie und fuhr fort mit ihrem Trank. Sie gehorchte ihm wie ein Kind. Er wunderte sich, ob sie es wisse. Er sah ihre arme, vertrocknete Kehle sich bewegen, als sie mit Mühe trank. Dann lief er nach unten um mehr Milch. Kein Körnchen war auf dem Boden der Tasse.

»Hat sie's gekriegt?« flüsterte Annie.

»Ja – und sie sagte, es wäre so bitter.«

»Oh!« lachte Annie und nahm ihre Unterlippe zwischen die Zähne.

»Und ich habe ihr gesagt, es wäre ein neues Schlafmittel. Wo ist die Milch?«

Sie gingen beide nach oben.

»Es wundert mich, warum die Schwester nicht gekommen ist, um mich umzubetten?« klagte die Mutter wie ein Kind, nachdenklich.

»Sie sagte, sie ginge in ein Konzert, meine Liebe,« sagte Annie.

»So?«

Sie waren eine Minute stumm. Frau Morel schluckte etwas reine Milch.

»Annie, das neue Mittel war gräßlich!« sagte sie klagend.

»Ja, meine Liebe? Na, mach dir man nichts draus.«

Wieder seufzte die Mutter vor Müdigkeit. Ihr Puls war unregelmäßig.

»Laß uns dich umbetten,« sagte Annie. »Die Schwester kommt vielleicht erst so spät.«

»Ja,« sagte die Mutter, – »versuchs nur.«

Sie schlugen die Bettdecke zurück. Paul sah seine Mutter wie ein Mädchen zusammengekauert in ihrem Flanell-Nachthemd. Rasch machten sie die eine Hälfte des Bettes, schoben sie hinüber, machten die andere, deckten ihr den Nachtrock über die kleinen Füße und deckten sie wieder zu.

»So!« sagte Paul und streichelte sie leise. »So! – nun wirst du schlafen.«

»Ja,« sagte sie. »Ich glaubte nicht, Ihr könntet das Bett so nett machen,« fügte sie hinzu, fast fröhlich. Dann kauerte sie sich zusammen, die Wange auf der Hand, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Paul legte ihr den langen grauen Haarzopf über die Schulter und küßte sie.

»Jetzt schläfst du, mein Liebstes,« sagte er.

»Ja,« antwortete sie vertrauensvoll. »Gute Nacht.«

Sie machten das Licht aus, und es wurde still.

Morel war schon im Bett. Die Schwester kam nicht. Annie und Paul kamen etwa um elf, um nach ihr zu sehen. Sie schien wie gewöhnlich nach ihrem Schlaftrunk zu schlafen. Der Mund stand ihr ein wenig offen.

»Wollen wir aufbleiben?« fragte Paul.

»Ich lege mich zu ihr, wie immer,« sagte Annie. »Sie könnte aufwachen.«

»Schön. Und ruf mich, wenn du irgendwas Besonderes bemerkst.«

»Ja.«

Sie blieben zögernd vor dem Feuer im Schlafzimmer stehen und fühlten draußen die Nacht groß und schwarz und schneeig, sich beide ganz allein in der Welt. Schließlich ging er ins Nebenzimmer und zu Bett.

Er schlief fast sofort ein, wachte aber fortwährend wieder auf. Dann fiel er wieder in festen Schlaf. Er wurde plötzlich wach, als Annie flüsterte: »Paul! Paul!« Er sah seine Schwester in ihrem weißen Nachthemd, die langen Haarflechten den Rücken hinunterhängend, in der Dunkelheit dastehen.

»Ja?« flüsterte er und setzte sich aufrecht.

»Komm und sieh sie dir an.«

Er schlüpfte aus dem Bett. Eine Gasflamme brannte klein im Schlafzimmer. Seine Mutter lag mit der Wange in der Hand zusammengekauert da, als wäre sie eingeschlafen. Aber der Mund war ihr auseinandergefallen, und sie atmete mit langen heiseren Atemzügen, wie Schnarchen, und langen Zwischenräumen dazwischen.

»Sie stirbt!« flüsterte er.

»Ja,« sagte Annie.

»Wie lange ist sie schon so?«

»Ich bin grade eben aufgewacht.«

Annie schlüpfte in ihren Morgenrock, Paul wickelte sich in eine braune Decke. Es war drei Uhr. Er schürte das Feuer. Dann saßen die beiden da und warteten. Der große schnarchende Atem hielt an – wurde zurückgehalten – dann wurde er wieder ausgestoßen. Dann eine Pause, eine lange Pause. Dann fuhren sie zusammen. Der große schnarchende Atem wurde wieder angehalten. Er beugte sich dicht zu ihr nieder und sah sie an.

»Ist es nicht furchtbar!« flüsterte Annie.

Er nickte. Hilflos setzten sie sich wieder hin. Wieder kam der große schnarchende Atem. Wieder hingen sie in der Schwebe. Wieder wurde er ausgestoßen, lang und rauh. Der Klang, so unregelmäßig, in so weiten Zwischenräumen, schallte durchs ganze Haus. Morel schlief in seiner Kammer weiter. Paul und Annie saßen zusammengekauert regungslos da. Der große schnarchende Ton begann wieder – eine qualvolle Pause trat ein, während der der Atem angehalten wurde – rasselnd kam der Atem wieder. Minute auf Minute verrann. Paul sah wieder nach ihr, sich ganz dicht über sie beugend.

»Das kann so noch lange dauern,« sagte er.

Sie waren beide stumm. Er sah aus dem Fenster und konnte undeutlich den Schnee im Garten erkennen.

»Geh du in mein Bett,« sagte er zu Annie. »Ich bleibe hier sitzen.«

»Nein,« sagte sie, »ich bleibe bei dir.«

»Ich wollte lieber, du tätest es nicht,« sagte er.

Schließlich kroch Annie aus dem Zimmer, und er war allein. Er wickelte sich in seine braune Decke und kauerte sich voller Erwartung vor seiner Mutter nieder. Sie sah schrecklich aus mit dem heruntergefallenen Unterkiefer. Er beobachtete sie. Zuweilen dachte er, der große Atemzug würde nie wieder von neuem beginnen. Er konnte es nicht ertragen – dies Warten. Dann plötzlich kam, so daß er zusammenfuhr, der große harsche Klang. Wieder schürte er das Feuer, geräuschlos. Sie durfte nicht gestört werden. Die Minuten gingen hin. Die Nacht schwand dahin, Atemzug auf Atemzug. Jedesmal, wenn der Ton kam, merkte er, wie es ihm sein Inneres zusammenschnürte, bis er es endlich nicht mehr so sehr spürte.

Sein Vater stand auf. Paul hörte den Bergmann gähnend sich die Strümpfe anziehen. Dann kam Morel in Strümpfen und Hemd herein.

»Hsch!« sagte Paul.

Morel blieb beobachtend stehen. Dann sah er auf seinen Sohn, hilflos, ganz erschreckt.

»Bleib ick nich besser zu Hause?« flüsterte er.

»Nein. Geh nur zur Arbeit. Sie hälts noch aus bis morgen.«

»Det jloobe ick nich.«

»Doch. Geh nur zur Arbeit.«

Der Bergmann sah sie wieder an, voller Furcht, und ging dann gehorsam aus dem Zimmer. Paul sah die Riemen seiner Hosenträger ihm gegen die Beine baumeln.

Nach einer halben Stunde ging Paul hinunter und trank eine Tasse Tee, dann kam er wieder. Morel, für die Grube angezogen, kam noch einmal wieder nach oben.

»Soll ick jehen?« sagte er.

»Ja.«

Und nach ein paar Minuten hörte Paul den schweren Schritt seines Vaters über den dämpfenden Schnee fortstapfen. Bergleute riefen sich unten auf der Straße an, während sie gruppenweise zur Arbeit trabten. Der schreckliche, langgezogene Atem fuhr immer noch fort – hoch – hoch – hoch; dann eine lange Pause – dann ah – ah – h – h – h – h! kam er wieder. Weit über den Schnee hin tönten die Dampfpfeifen der Eisenwerke. Eine nach der andern krähten sie und brüllten, einige klein und weit weg, andere nahebei, die Tuten der Gruben und der andern Werke. Dann war wieder Stille. Er schürte das Feuer. Die großen Atemzüge unterbrachen die Stille – sie sah genau wie vorher aus. Er schlug den Vorhang zurück und spähte hinaus. Es war noch dunkel. Vielleicht kam da eine hellere Färbung durch. Vielleicht wurde der Schnee etwas blauer. Er zog den Vorhang auf und zog sich an. Schaudernd trank er dann etwas Branntwein aus der Flasche auf dem Waschtisch. Nun wurde der Schnee blauer. Er hörte einen Wagen die Straße hinunterklappern. Ja, es war sieben Uhr, und es wurde ein wenig heller. Er hörte ein paar Leute rufen. Die Welt erwachte. Eine graue, tödliche Dämmerung kroch über den Schnee. Ja, er konnte die Häuser erkennen. Er machte das Gas aus. Es schien sehr dunkel. Der Atem kam noch, aber er war nun fast daran gewöhnt. Er konnte sie erkennen. Sie sah noch genau so aus. Er wunderte sich, wenn er schweres Zeug auf sie draufhäufte, ob das es nicht erschweren werde und ob dann der schreckliche Atem nicht aufhören würde. Er sah sie an. Das war sie gar nicht – kein bißchen. Wenn er die Decke und seine schweren Röcke auf sie ,...

Plötzlich öffnete sich die Tür, und Annie trat herein. Sie sah ihn fragend an.

»Genau so,« sagte er ruhig.

Sie flüsterten zusammen eine Minute, dann ging er hinunter, um etwas zu frühstücken. Es war zwanzig Minuten vor acht. Annie kam bald herunter.

»Ist es nicht furchtbar? Sieht sie nicht fürchterlich aus?« flüsterte sie, ganz betäubt vor Schrecken.

Er nickte.

»Wenn sie so aussieht!« sagte Annie.

»Trink etwas Tee,« sagte er.

Sie gingen wieder nach oben. Bald kamen die Nachbarn mit ihrer erschreckten Frage:

»Wie gehts ihr?«

Es ging immer so weiter. Sie lag da mit der Wange in der Hand, den Mund offen, und die großen entsetzlichen Atemzüge kamen und gingen.

Um zehn Uhr kam die Schwester. Sie sah sonderbar und angstvoll aus.

»Schwester!« rief Paul, »kann es so noch tagelang bleiben?«

»Nein, Herr Morel,« sagte die Schwester. »Nein.«

Es trat Schweigen ein.

»Ist es nicht schrecklich?« jammerte die Schwester. »Wer hätte gedacht, daß sie das aushalten könnte? Gehen Sie nun hinunter, Herr Morel, gehen Sie hinunter.«

Schließlich gegen elf Uhr ging er hinunter und setzte sich zu ihrem Nachbar ins Haus. Annie war auch unten. Die Schwester und Arthur waren oben. Paul saß da, den Kopf in den Händen. Plötzlich kam Annie über den Hof geflogen und schrie, wie halbverrückt:

»Paul – Paul – sie ist tot!«

In einer Minute war er wieder in seinem eigenen Hause und oben. Sie lag zusammengekauert und still, das Gesicht in der Hand, und die Schwester wischte ihr den Mund. Sie traten alle zurück. Er kniete nieder und legte sein Gesicht neben ihres und seine Arme um sie:

»Mein Liebstes – mein Liebstes – oh, mein Liebstes!« flüsterte er wieder und wieder. »Mein Liebstes – oh, mein Liebstes!«

Dann hörte er, wie die Schwester hinter ihm weinend sagte: »Ihr ist wohler, Herr Morel, ihr ist wohler.«

Sobald er den Kopf von seiner noch warmen, toten Mutter aufhob, ging er sofort nach unten und begann sich die Stiefel zu putzen.

Es war eine Menge zu tun, Briefe zu schreiben und so weiter. Der Arzt kam, sah sie flüchtig an und seufzte.

»Ja – armes Ding!« sagte er und wandte sich ab. »Na, kommen Sie so gegen sechs zu mir ins Haus wegen des Totenscheins.«

Der Vater kam etwa gegen vier Uhr von der Arbeit. Stumm schleppte er sich ins Haus und setzte sich nieder. Minnie war bemüht, ihm sein Essen zu geben. Müde legte er die schwarzen Arme auf den Tisch. Es waren Steckrüben für ihn da zum Essen, die er gern hatte. Paul wunderte sich, ob er es schon wüßte. Es dauerte einige Zeit, und noch hatte keiner gesprochen. Zuletzt sagte der Sohn:

»Hast du gesehen, die Vorhänge sind herunter?«

Morel sah auf.

»Nein,« sagte er. »Wieso – is sie tot?«

»Ja.«

»Wenn war't?«

»Ungefähr um zwölf heute morgen.«

»Hm!«

Der Bergmann saß einen Augenblick ganz still und fing dann an zu essen. Es war, als sei nichts geschehen. Er aß seine Rüben in Schweigen. Nachher wusch er sich und ging nach oben, um sich anzuziehen. Die Tür ihres Zimmers war geschlossen.

»Hast du sie gesehen?« fragte Annie ihn, als er wieder herunterkam.

»Nein,« sagte er.

Nach einer kleinen Weile ging er aus. Annie ging fort, und Paul suchte den Leichenbestatter auf, den Prediger, den Arzt, den Standesbeamten. Es war eine lange Arbeit. Ungefähr um acht kam er wieder. Der Leichenbestatter sollte bald kommen, um Maß für den Sarg zu nehmen. Das Haus war leer bis auf sie. Er nahm eine Kerze und ging nach oben.

Das Zimmer war kalt, das solange warm gewesen war. Blumen, Flaschen, Teller, der ganze Krankenzimmerzubehör war fortgeschafft; alles war harsch und ernst. Sie lag erhöht auf dem Bette, der Abfall ihrer Bettdecke von den hochliegenden Füßen war wie ein reiner Schneehang, so stumm. Sie lag da wie ein schlafendes Mädchen. Mit der Kerze in der Hand beugte er sich über sie. Wie ein Mädchen, das schläft und von seiner Liebe träumt, lag sie da. Ihr Mund stand ein wenig offen, als wundere er sich über ihre Leiden; aber ihr Gesicht war wieder jung, ihre Stirn klar und weiß, als hätte das Leben sie nie berührt. Er blickte wieder auf die Brauen, auf ihre kleine, so anziehende Nase, die ein bißchen nach der einen Seite herüberstand. Sie war wieder jung. Nur das Haar, das sich so wunderschön im Bogen von den Schläfen absetzte, war mit Silber durchzogen, und die zwei schlichten Flechten, die ihr auf den Schultern lagen, waren ein Netzwerk aus Silber und Braun. Sie würde wieder aufwachen. Sie müßte die Lider erheben. Sie war immer noch bei ihm. Er beugte sich nieder und küßte sie leidenschaftlich. Aber nun drang ihm die Kälte an den Mund. Er biß sich auf die Lippen vor Entsetzen. Wie er sie ansah, fühlte er, er könne sie nie, niemals fortlassen. Nein! Er strich ihr das Haar aus den Schläfen. Das auch war kalt. Er blickte auf den Mund, so stumm und verwundert über ihre Schmerzen. Dann kauerte er sich auf den Boden hin und flüsterte ihr zu:

»Mutter, Mutter!«

Er war noch bei ihr, als die Leichenbestatter kamen, junge Leute, die noch mit ihm auf der Schule gewesen waren. Sie berührten sie ehrfurchtsvoll und in einer ruhigen, geschäftsmäßigen Weise. Sie sahen sie gar nicht an. Er paßte eifersüchtig auf. Er und Annie bewachten sie wild. Sie wollten keinen Menschen sie sehen lassen, und die Nachbarn waren beleidigt.

Nach einiger Zeit ging Paul aus, um bei einem Freunde etwas Karten zu spielen. Es war Mitternacht, als er nach Hause kam. Sein Vater stand bei seinem Eintreten vom Sofa auf und sagte mit kläglicher Stimme:

»Ick dachte schon, du kämst nie wieder nach Hause, Junge.«

»Ich glaubte nicht, daß du aufbleiben würdest,« sagte Paul.

Sein Vater sah so verlassen aus. Morel war ein Mann ohne jede Furcht gewesen – einfach gar nichts konnte ihn erschrecken. Paul wurde es mit einem Blitz klar, daß er Angst gehabt habe, zu Bette zu gehen, allein im Hause mit der Toten. Er tat ihm leid.

»Ich vergaß, daß du allein sein würdest, Vater,« sagte er.

»Möchtst de nichts zu essen haben?« fragte Morel.

»Nein.«

»Sieh da – ick habe dich en Droppen Milch warm jemacht. Man runter damit; 't is kalt jenug.«

Paul trank.

»Ich muß morgen nach Nottingham,« sagte er.

Nach einer Weile ging Morel zu Bett. Er lief rasch an der verschlossenen Tür vorbei und ließ seine eigene offenstehen. Bald kam der Sohn auch herauf. Er ging hinein, um ihr einen Gutenachtkuß zu geben, wie gewöhnlich. Es war kalt und finster. Er wünschte, sie hätten ihr Feuer brennen lassen. Sie träumte immer noch den Traum ihrer Jugend. Aber sie würde kalt sein.

»Mein Liebstes!« flüsterte er. »Mein Liebstes!«

Und er küßte sie nicht, aus Furcht, sie möchte ihm kalt und seltsam vorkommen. Es erleichterte ihn, daß sie so wunderschön schlief. Leise schloß er ihre Tür, um sie nicht aufzuwecken, und ging zu Bett.

Am Morgen raffte Morel seinen ganzen Mut zusammen, als er Annie unten hörte und Paul im Zimmer jenseits der Treppe hustete. Er öffnete ihre Tür und ging in das verdunkelte Zimmer. Er bemerkte die weiße, erhöhte Gestalt im Zwielicht, aber wagte nicht, sie anzusehen. Verwirrt, zu verängstigt, um irgendwelchen Gebrauch von seinen Fähigkeiten machen zu können, ging er aus dem Zimmer und verließ sie. Er sah nie wieder nach ihr. Er hatte sie seit Monaten nicht gesehen, weil er sie nicht anzusehen wagte. Und nun sah sie wieder aus wie seine junge Frau.

»Hast du sie gesehen?« fragte Annie ihn nach dem Frühstück scharf.

»Ja,« sagte er.

»Und findest du nicht, sie sieht reizend aus?«

»Ja.«

Bald nachher ging er aus. Und die ganze Zeit über schien er beiseite zu kriechen, um diesem aus dem Wege zu gehen.

Paul ging von einer Stelle zur andern, um die Obliegenheiten des Todesfalles zu ordnen. Er traf Clara in Nottingham, und sie tranken in einem Kaffeehause zusammen Tee, wobei sie wieder ganz fröhlich waren. Sie war unendlich erlöst, als sie fand, er nehme die Sache nicht zu traurig.

Späterhin, als die Verwandten zum Begräbnis kamen, wurde es zu einer öffentlichen Angelegenheit, und die Kinder wurden Gesellschaftswesen. Sie drückten sich beiseite. Sie begruben sie unter wütendem Sturmwind und Regen. Der nasse Ton glänzte, alle die weißen Blumen waren durchtränkt. Annie packte ihn am Arm und beugte sich vornüber. Tief unten sah sie eine dunkle Ecke von Williams Sarg. Der Eichensarg sank gleichmäßig hinab. Sie war fort. Der Regen strömte in ihr Grab. Die schwarze Menge mit den glänzenden Regenschirmen wandte sich heimwärts. Der Friedhof lag verlassen unter dem durchdringenden kalten Regen.

Paul ging heim und machte sich damit zu tun, den Gästen Getränke vorzusetzen. Sein Vater saß in der Küche mit Frau Morels Verwandten, ›besseren‹ Leuten, und weinte, und sagte, was für'n gutes Mächen sie gewesen sei, und wie er gesucht habe, stets alles für sie zu tun, was er nur konnte – alles. Sein ganzes Leben lang war er bemüht gewesen, für sie zu tun, was er nur konnte, und er brauchte sich keine Vorwürfe zu machen. Sie war fort, und er hatte sein Bestes an ihr getan. Er wischte sich die Augen mit seinem weißen Taschentuch. Er brauchte sich keine Vorwürfe zu machen, wiederholte er. Sein ganzes Leben lang hatte er sein Bestes für sie getan.

Und so versuchte er sie loszuwerden. Er dachte nie an sie persönlich. Alles, was ihm tiefging, leugnete er ab. Paul haßte seinen Vater wegen dieses Dasitzens und Jammerns über sie. Er wußte, im Wirtshause würde er es ebenso machen. Denn das wirkliche Trauerspiel ging in Morels Innern vor sich, gegen seinen Willen. Später kam er zuweilen von seinem Nachmittagsschlaf ganz weiß und furchtsam herunter.

»Ick hab von deine Mutter jeträumt,« sagte er dann mit leiser Stimme.

»So, Vater? Wenn ich von ihr träume, ist es immer wie damals, als es ihr noch ganz gut ging. Ich träume oft von ihr, aber es kommt mir immer ganz nett und natürlich vor, als wäre nichts anders geworden.«

Morel aber kauerte sich vor dem Feuer in Angst zusammen.

Nur in halber Wirklichkeit gingen die Wochen hin, nicht viel Schmerzen, eigentlich nichts Besonderes, vielleicht ein wenig Erlösung, meist eine ›nuit blanche‹. Paul ging ruhelos von Ort zu Ort. Ein paar Monate lang, seit es seiner Mutter schlechter gegangen war, hatte er seine Liebe nicht mehr zu Clara getragen. Sie war jetzt stumm gegen ihn, mehr fernstehend. Dawes sah sie sehr gelegentlich einmal, aber die beiden konnten keine Handbreit über die große Entfernung hinüber, die sie trennte. Die drei trieben vorwärts.

Dawes erholte sich langsam. Um Weihnachten war er in einem Erholungsheim in Skegneß, fast ganz wiederhergestellt. Paul ging für ein paar Tage an die See. Sein Vater war bei Annie in Sheffield. Dawes kam auf Pauls Zimmer. Seine Zeit im Heim war um. Die beiden Männer, zwischen denen so viel Zurückhaltung lag, schienen einander zu trauen. Dawes verließ sich jetzt ganz auf Morel. Er wußte, Paul und Clara wären tatsächlich auseinander.

Zwei Tage nach Weihnachten mußte Paul nach Nottingham zurück. Den Abend vorher saß er rauchend mit Dawes vorm Feuer.

»Sie wissen, Clara kommt morgen auf einen Tag herüber?« sagte er.

Der andere sah ihn an.

»Ja, Sie haben es mir erzählt.«

Paul trank den Rest seines Glases Whisky.

»Ich habe der Wirtin gesagt, Ihre Frau käme,« sagte er.

»Ja?« sagte Dawes zurückschreckend, aber sich fast gänzlich in der Hand des andern lassend. Ziemlich steif stand er auf und griff nach Morels Glas.

»Lassen Sie mich einschenken,« sagte er.

Paul sprang auf.

»Sie sitzen still,« sagte er.

Aber Dawes fuhr fort, mit recht zitteriger Hand ihm den Trank zu mischen.

»Sagen Sie halt,« sagte er.

»Danke!« erwiderte der andere. »Aber Sie dürfen nicht aufstehen.«

»Ach, das tut mir gut. Junge,« erwiderte Dawes. »Ich fange dann an zu glauben, es geht mir wieder ganz gut.«

»Da haben Sie ziemlich recht, wissen Sie.«

»Habe ich auch, sicher, habe ich auch,« sagte Dawes ihm zunickend.

»Und Len sagt, er hat was für Sie in Sheffield.«

Dawes sah ihn wieder rasch an, mit dunklen Augen, die allem zustimmten, was der andere sagte, vielleicht ein wenig beherrscht von ihm.

»Es ist putzig,« sagte Paul, »dies wieder Von-vorn-Anfangen. Mir kommts vor, ich sitze viel tiefer im Dreck als Sie.«

»Inwiefern, Junge?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Mir ist, als steckte ich in einem ganz vertrackten Loch, sehr dunkel und trübselig, und nirgends ein Ausweg.«

»Ich weiß, – ich verstehe,« sagte Dawes kopfnickend. »Aber Sie werden sehen, Sie kommen doch noch zurecht.«

Er sprach beinahe zärtlich.

»Ich denke auch,« sagte Paul.

Dawes klopfte sich ganz hoffnungslos die Pfeife aus.

»Sie haben sich da nicht selber hineingebracht, wie ich,« sagte er.

Morel sah auf des andern Handgelenk und Hand, die den Pfeifenstiel umklammerte und die Asche ausklopfte, als hätte er alles aufgegeben.

»Wie alt sind Sie?« fragte Paul.

»Neununddreißig,« antwortete Dawes mit einem Seitenblick auf ihn.

Diese braunen Augen, die sich ihres Fehlgriffes so wohl bewußt waren, die beinahe um Bestätigung flehten, um Wiedereinsetzung in sein Recht als Mann, ihn zu wärmen, ihn wieder fest zu machen, die beunruhigten Paul.

»Dann kommen Sie ja grade in Ihr bestes Alter,« sagte Morel. »Sie sehen gar nicht so aus, als wären Sie viel Leben losgeworden.«

Die braunen Augen des andern blitzten plötzlich auf.

»Das ists auch nicht,« sagte er. »Der Trieb ist schon noch da.«

Paul blickte auf und lachte.

»Wir haben beide noch genug Leben in uns, die Dinge fliegen zu lassen,« sagte er.

Die Augen beider Männer trafen sich. Sie wechselten einen Blick. Nun sie beide die Macht der Leidenschaft im andern erkannt hatten, tranken sie beide ihren Whisky.

»Ja, bei Gott!« sagte Dawes atemlos.

Eine Pause trat ein.

»Und ich sehe nicht ein,« sagte Paul, »warum Sie nicht wieder anfangen sollten, wo Sie aufgehört haben.«

»Was ,...« sagte Dawes halb ihm einflüsternd.

»Ja – Ihr altes Heim wieder aufbauen.«

Dawes verbarg sein Gesicht und schüttelte den Kopf.

»Geht nicht,« sagte er und sah mit spöttischem Lächeln auf.

»Wieso? Weil Sie nicht wollen?«

»Vielleicht.«

Sie rauchten schweigend. Dawes zeigte die Zähne, während er auf den Pfeifenstiel biß.

»Sie meinen, Sie wollen sie gar nicht?« fragte Paul.

Dawes starrte zu dem Bilde empor mit einem beißendem Ausdruck im Gesicht.

»Ich weiß kaum recht,« sagte er.

Leise schwebte der Rauch in die Höhe.

»Ich glaube, sie sehnt sich nach Ihnen,« sagte Paul.

»So?« erwiderte der andere, leise, spöttisch, als wäre das eine wissenschaftliche Frage.

»Ja. Sie fand sich niemals wirklich zu mir – Sie standen immer im Hintergrunde. Deshalb wollte sie sich auch nicht scheiden lassen.«

Dawes fuhr fort, in spöttischer Weise zu dem Bilde über der Feuerstelle emporzustarren.

»So sind die Weiber nun mal mit mir,« sagte Paul. »Sie sehnen sich nach mir wie verrückt, aber sie wollen mir nicht angehören. Und sie gehörte Ihnen die ganze Zeit über. Das wußte ich.«

Der Mann als Sieger kam in Dawes empor. Er ließ deutlich die Zähne sehen.

»Vielleicht war ich ein Narr,« sagte er.

»Ein großer Narr waren Sie,« sagte Morel.

»Aber dann waren Sie am Ende ein noch größerer,« sagte Dawes.

Es lag ein Anflug von Siegesfreude und Bosheit darin.

»Meinen Sie?« sagte Paul.

Sie schwiegen eine Zeitlang.

»Jedenfalls reiße ich morgen aus,« sagte Morel.

»Ach so,« antwortete Dawes.

Dann sprachen sie nicht weiter. Das Gefühl, einander am liebsten zu morden, war wieder aufgetaucht. Sie mieden sich fast.

Sie schliefen im selben Zimmer. Als sie sich zurückzogen, schien Dawes ganz geistesabwesend, als dächte er über etwas nach.

Er saß im Hemd auf der Bettkante und sah seine Beine an.

»Werden Sie nicht kalt?« fragte Morel.

»Ich sah die Beine da mal an,« erwiderte der andere.

»Was ist denn damit los? Die sehen doch ganz ordentlich aus,« erwiderte Paul aus seinem Bette hervor.

»Sie sehen ganz ordentlich aus. Aber es steckt noch Wasser drin.«

»Ja, und das?«

»Kommen Sie, sehen Sie mal.«

Widerwillig kletterte Paul aus dem Bett und ging hinüber, um sich die gutgeformten Beine des andern anzusehen, die mit glänzenden, dunkelgoldenen Haaren bedeckt waren.

»Sehen Sie,« sagte Dawes und zeigte auf sein Schienbein; »sehen Sie das Wasser da unten?«

»Wo?« sagte Paul.

Der Mann drückte seine Fingerspitzen hinein. Sie hinterließen kleine Vertiefungen, die sich langsam wieder ausfüllten.

»Das ist nichts,« sagte Paul.

»Fühlen Sie mal,« sagte Dawes.

Paul versuchte es mit seinen eigenen Fingern. Es gab kleine Vertiefungen.

»Hm!« sagte er.

»Übel, nicht?« sagte Dawes.

»Wieso? das ist doch nicht schlimm.«

»Man ist kein rechter Mann mit Wasser in den Beinen.«

»Ich kann nicht einsehen, was das für'nen Unterschied machen sollte,« sagte Morel. »Ich bin schwach auf der Brust.«

Er ging wieder in sein Bett.

»Ich vermute, im übrigen bin ich ganz in Ordnung,« sagte Dawes und machte das Licht aus.

Am Morgen regnete es. Morel packte seine Tasche. Die See war grau und rauh und trübe. Er schien sich mehr und mehr vom Leben abzuscheiden. Das machte ihm ein boshaftes Vergnügen.

Die beiden Männer trafen sich am Bahnhof. Clara trat aus dem Zuge und kam den Bahnsteig entlang, sehr aufrecht und kalt gefaßt. Sie trug einen langen Mantel und einen gesteppten Hut. Die Männer haßten sie beide wegen ihrer Fassung. Paul gab ihr an der Schranke die Hand. Dawes lehnte an ein Büchergestell und beobachtete sie. Sein Überzieher war bis zum Kinn zugeknöpft wegen des Regens. Er war blaß, und in seiner Ruhe lag etwas beinahe Edles. Er kam leicht hinkend auf sie zu.

»Du solltest eigentlich schon besser aussehen,« sagte sie.

»Oh, mir gehts jetzt ganz gut.«

Verlegen standen sie zu dritt da. Sie hielt die beiden Männer zögernd neben sich fest.

»Sollen wir gleich zu unsrer Behausung gehen,« sagte Paul, »oder erst woanders hin?«

»Wir geben ebensogut nach Hause,« sagte Dawes.

Paul ging auf der Außenseite des Bürgersteiges, dann Dawes, dann Clara. Ihre Unterhaltung war höflich. Das Wohnzimmer ging auf die See hinaus, deren graue, rauhe Flut nicht weit entfernt zischte.

Morel rollte den großen Lehnstuhl heran.

»Setz dich, Jack,« sagte er.

»Ich will den Stuhl nicht,« sagte Dawes.

»Hinsetzen!« wiederholte Morel.

Clara nahm ihre Sachen ab und legte sie aufs Ruhebett. Sie sah ein wenig so aus, als wäre sie böse. Sich das Haar mit den Fingern lockernd setzte sie sich hin, recht abweisend und gefaßt. Paul lief hinunter, um mit der Wirtin zu sprechen.

»Ich sollte meinen, du frierst,« sagte Dawes zu seiner Frau; »komm näher ans Feuer.«

»Danke, mir ist ganz warm,« antwortete sie.

Sie sah durchs Fenster auf den Regen und die See.

»Wann gehst du wieder zurück?« fragte sie.

»Ja, die Zimmer sind bis morgen genommen, deshalb will er, ich soll noch bleiben. Er fährt heute abend.«

»Und denn meinst du, du willst nach Sheffield?«

»Ja.«

»Bist du denn so weit, daß du wieder anfangen kannst zu arbeiten?«

»Ich fange wieder an.«

»Hast du wirklich eine Stelle?«

»Ja – am Montag antreten.«

»Du siehst noch nicht danach aus.«

»Wieso nicht?«

Sie blickte wieder aus dem Fenster, anstatt ihm zu antworten.

»Und hast du Unterkunft in Sheffield?«

.Ja.«

Wieder sah sie weg durchs Fenster. Die Scheiben waren durch den strömenden Regen undurchsichtig geworden.

»Und kannst du ganz gut fertig werden?« fragte sie. »Ich denke doch. Ich muß wohl!«

Sie schwiegen, als Morel wiederkam.

»Ich fahre mit dem vier Uhr zwanzig,« sagte er beim Eintreten.

Niemand antwortete.

»Ich wollte, Sie zögen sich die Stiefel aus,« sagte er zu Clara. »Da steht ein Paar Hausschuhe von mir.«

»Danke,« sagte sie. »Sie sind nicht naß.«

Er stellte ihr die Hausschuhe neben die Füße. Sie fühlte sie dort.

Morel setzte sich. Beide Männer schienen hilflos, und beide sahen sie wie gehetzt aus. Aber Dawes benahm sich jetzt ganz ruhig, schien sich gegeben zu haben, während Paul sich zu verschließen schien. Clara fand, sie hätte ihn nie so klein und gemein aussehend gefunden. Er suchte sich auf das nach Möglichkeit geringste Maß einzuschränken. Und während er umherging, um Anordnungen zu treffen, und dann wieder saß und redete, da schien ihm etwas Falsches, nicht mit ihm im Einklang Stehendes anzuhaften. Indem sie ihn beobachtete, ohne daß er es merkte, sagte sie zu sich, es sei keine Beständigkeit in ihm. Er war fein auf seine Art, leidenschaftlich, und fähig, ihr einen Trank reinsten Lebens darzubieten, wenn er in Stimmung war. Und nun sah er heruntergekommen und unbedeutend aus. Es war nichts Stetiges in ihm. Ihr Gatte besaß mehr männliche Würde. Jedenfalls drehte er sich nicht so nach dem Winde. Es war etwas Vorübergehendes in Morel, dachte sie, etwas Veränderliches und Falsches. Nie würde er einer Frau festen Grund bieten, um darauf zu fußen. Sie verachtete ihn recht wegen seines Sichzurückziehens, Sichkleinermachens. Ihr Gatte war wenigstens männlich und gab es zu, wenn er geschlagen war. Aber dieser andere wollte niemals zugeben, daß er geschlagen sei. Er würde sich drehen und wenden, immer kleiner werden. Sie verachtete ihn. Und doch beobachtete sie ihn viel mehr als Dawes, und es schien ihr, als lägen ihre drei Schicksale in seiner Hand. Sie haßte ihn deswegen.

Sie verstand die Männer jetzt anscheinend besser, was sie tun könnten oder würden. Sie war jetzt weniger ängstlich vor ihnen, mehr ihrer selbst sicher. Daß sie nicht die kleinen Selbstsüchtlinge wären, als die sie sich sie vorgestellt hatte, verursachte ihr mehr Behagen. Sie hatte ein gut Teil gelernt – fast so viel wie sie lernen wollte. Ihr Becher war voll gewesen. Er war immer noch so voll, wie sie ihn tragen konnte. Im ganzen würde sie nicht traurig sein, wenn er fort wäre.

Sie aßen zu Mittag und saßen dann noch vorm Feuer, aßen Nüsse und tranken.

Kein ernsthaftes Wort wurde gesprochen. Und doch wurde es Clara offenbar, Morel zöge sich aus dem Kreise zurück und ließe ihr die Wahl frei, ob sie bei ihrem Gatten bleiben wolle. Das ärgerte sie. Er war schließlich doch nur ein gemeiner Bursche, so hinzunehmen, was er gewollt hatte, und sie dann wieder wegzugeben. Sie erinnerte sich nicht mehr daran, daß sie selbst auch gehabt hatte, was sie wollte, und wünschte sich wirklich auf dem Grunde ihres Herzens zurückgegeben zu sehen.

Paul kam sich zusammengeschrumpft vor und einsam. Seine Mutter war die eine wirkliche Stütze seines Lebens gewesen. Er hatte sie geliebt; sie beide hatten tatsächlich zusammen der Welt ins Auge gesehen. Nun war sie fort, und hinter ihm gähnte auf ewig in seinem Leben diese Lücke, der Riß im Schleier, durch den sein Leben langsam dahinzutreiben schien, als würde es in den Tod gezogen. Er wünschte, jemand hätte ihm aus freiem Antrieb geholfen. Die kleineren Dinge ließ er von sich gehen, aus Furcht vor diesem Großen, dem Sturz in den Tod im Gefolge seines Liebsten. Clara vermochte sich nicht vor ihn zu stellen, so daß er an ihr Halt gefunden hätte. Sie sehnte sich nach ihm, aber nicht um ihn zu verstehen. Er begriff, sie wollte zu alleroberst den Mann, nicht sein wirkliches Ich, das in Sorgen war. Das hätte ihr viel zu viel Mühe gemacht; das wagte er ihr nicht zu geben. Sie konnte nicht mit ihm wetteifern. Das beschämte ihn. So, heimlich beschämt darüber, so tief im Dreck zu sitzen, daß sein Halt am Leben so unsicher geworden war, daß niemand mehr ihn hielt, sich ganz unwesenhaft fühlend, schattenhaft, als zähle er gar nicht mehr mit in dieser greifbaren Welt, so zog er sich kleiner und kleiner zusammen. Er wünschte sich nicht, zu sterben; er würde nicht nachgeben. Aber er war auch vor dem Tode nicht bange. Wenn keiner ihm helfen würde, wollte er allein weiterziehen.

Dawes war vom Leben zum äußersten gebracht, bis er bange wurde. Er konnte an den Rand des Todes treten, konnte dort liegen und hineinsehen. Dann mußte er verängstigt, erschreckt wieder zurückkriechen und wie ein Bettler annehmen, was ihm dargeboten wurde. Darin lag ein gewisser Adel. Wie Clara gemerkt hatte, bekannte er sich geschlagen und wünschte so oder so wieder aufgenommen zu werden. Das vermochte sie für ihn.

Es war drei Uhr.

»Ich fahre mit dem vier Uhr zwanzig,« sagte Paul wieder zu Clara. »Kommst du dann auch oder später?«

»Ich weiß nicht,« sagte sie.

»Ich treffe meinen Vater in Nottingham um sieben Uhr fünfzehn,« sagte er.

»Dann«, sagte sie, »komme ich später.«

Dawes fuhr plötzlich zusammen, wie in äußerster Spannung.

Er blickte über die See hinaus, sah aber gar nichts.

»Da in der Ecke stehen ein oder zwei Bücher,« sagte Morel; »ich habe sie durch.«

Um etwa vier Uhr ging er.

»Ich sehe Sie beide dann wohl später,« sagte er, als sie sich die Hände schüttelten.

»Ich denke,« sagte Dawes. »Und vielleicht – später mal werde ich auch imstande sein, Ihnen das Geld zurück zu zahlen ,...«

»Ich komme schon deswegen,« lachte Paul. »Ich werde schon auf dem Trocknen sitzen, ehe ich noch viel älter bin.«

»Na schön ,...« sagte Dawes.

»Lebe wohl,« sagte er zu Clara.

»Lebe wohl,« sagte sie, ihm die Hand gebend. Dann sah sie ihn zum letzten Mal flüchtig an, stumm und demütig.

Er war fort. Dawes und seine Frau setzten sich wieder hin.

»Ein häßlicher Tag zum Reisen,« sagte der Mann.

»Ja,« antwortete sie.

Sie sprachen ganz oberflächliches Zeug, bis zum Dunkelwerden. Die Wirtin brachte den Tee herein. Dawes zog seinen Stuhl an den Tisch, ohne sich auffordern zu lassen, wie als Gatte. Dann saß er ergeben da und wartete auf seine Tasse. Sie bediente ihn, wie es ihr paßte, als Gattin, ohne nach seinen Wünschen zu fragen.

Nach dem Tee, als es auf sechs Uhr ging, trat er ans Fenster.

Alles war dunkel draußen. Die See brüllte.

»Es regnet noch,« sagte er.

»So?« antwortete sie.

»Du fährst doch heute abend nicht, nicht wahr?« fragte er zögernd.

Sie antwortete nicht. Er wartete.

»Ich würde in diesem Regen nicht fahren,« sagte er.

»Möchtest du, daß ich bliebe?« fragte sie.

Seine Hand, die den dunklen Vorhang hielt, zitterte.

»Ja,« sagte er.

Er hatte ihr dauernd den Rücken zugekehrt. Sie stand auf und ging langsam zu ihm. Er ließ den Vorhang fahren, wandte sich zögernd nach ihr um. Sie stand mit den Händen auf dem Rücken und sah ihn in ihrer schweren, unerforschlichen Weise an.

»Möchtest du mich, Baxter?« fragte sie.

Seine Stimme war heiser, als er antwortete:

»Möchtest du wieder zu mir kommen?«

Sie gab einen seufzenden Ton von sich, hob die Arme und legte sie ihm um den Hals, ihn an sich ziehend. Er barg sein Gesicht an ihrer Schulter, während er sie umschlungen hielt.

»Nimm mich wieder!« flüsterte sie verzückt. »Nimm mich wieder, nimm mich wieder!« Und sie fuhr ihm mit den Fingern durch sein feines, dünnes dunkles Haar, als wäre sie nur halb bei Bewußtsein. Er umschloß sie noch enger.

»Möchtest du mich wieder?« murmelte er gebrochen.


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