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Zehntes Kapitel. Clara

Als er dreiundzwanzig Jahre alt war, sandte Paul der Winterausstellung im Schloß zu Nottingham eine Landschaft ein. Fräulein Jordan hatte viel Anteil an ihm genommen, hatte ihn in ihr Haus eingeladen, wo er andere Künstler traf. Er begann ehrgeizig zu werden.

Eines Morgens kam der Briefträger, grade als er sich in der Spülküche wusch. Plötzlich hörte er ein wildes Geräusch von seiner Mutter her. In die Küche stürzend, fand er sie auf der Herdmatte stehen, wo sie wild einen Brief hin und her schwenkte und Hurra! schrie, als wäre sie verrückt geworden. Er war entsetzt und erschreckt.

»Was denn, Mutter!« rief er aus.

Sie flog auf ihn zu, schlang ihm einen Augenblick die Arme um den Hals und rief dann, den Brief schwenkend:

»Hurra, mein Junge! Ich wußte ja, wir brächten es fertig!«

Er wurde bange vor ihr – wie die kleine, ernste Frau mit dem ergrauenden Haar plötzlich in solchen Jubel ausbrechen könne. Der Briefträger kam zurückgerannt, voller Furcht, es sei etwas vorgefallen. Sie sahen seine Dienstmütze über dem kurzen Vorhang. Frau Morel stürzte zur Tür.

»Sein Bild hat den ersten Preis gekriegt, Fred!« rief sie, »und ist für zwanzig Guineen verkauft.«

»Herrjeh, das ist noch mal was!« sagte der junge Briefträger, den sie schon seit seiner Kindheit kannten.

»Und Major Moreton hat es gekauft!« rief sie.

»Das sieht doch recht vielsagend aus, das, Frau Morel,« sagte der Briefträger, seine blauen Augen glänzend. Er freute sich, einen solchen Glücksbrief überbracht zu haben. Frau Morel ging hinein und setzte sich zitternd nieder. Paul befürchtete, sie möchte den Brief falsch verstanden haben, und er würde sich am Ende noch enttäuscht fühlen. Er durchforschte ihn einmal, zweimal. Ja, nun war auch er überzeugt, es war richtig. Dann setzte er sich hin, das Herz klopfend vor Freude.

»Mutter!« rief er aus.

»Habe ich dir nicht gesagt, wir brächten es fertig!« sagte sie und tat so, als weine sie gar nicht.

Er nahm den Kessel vom Feuer und goß den Tee auf.

»Du hast doch nicht geglaubt, Mutter ,...« begann er versuchsweise.

»Nein, mein Sohn – nicht so viel – aber ich erwartete doch ein gut Teil.«

»Aber doch nicht so viel,« sagte er.

»Nein – nein – aber ich wußte, wir brächten es fertig.«

Und damit gewann sie ihre Fassung wieder, dem Anschein nach wenigstens. Er saß mit aufgeknöpftem Hemd da, das seine junge, beinahe mädchenhafte Kehle sehen ließ, und hatte das Handtuch in der Hand; das Haar stand ihm naß zu Berge.

»Zwanzig Guineen, Mutter. So viel brauchtest du grade, um Arthur loszukaufen. Nun brauchst du nichts zu borgen. Es reicht grade.«

»Tatsächlich, aber ich nehme nicht so viel,« sagte sie.

»Aber warum nicht?«

»Weil ich nicht will.«

»Schön, dann nimm du zwölf Pfund, und ich behalte neun.«

Sie kabbelten sich über die Teilung der zwanzig Guineen. Sie wollte aber nur die fünf nehmen, die sie nötig hatte. Davon wollte er nichts hören. So kamen sie durch dies Gezänk über ihre Rührung hinweg.

Morel kam abends aus der Grube heim und sagte:

»Se haben mich erzählt, Paul hat 'n ersten Preis fier sein Bild un hats fier fufzig Pfund an Lord Henry Bentley verkooft.«

»Ach, was die Leute für Geschichten erzählen!« rief sie.

»Ha!« antwortete er. »Ick sagte, ick wär sicher, det wär jelogen. Aber sie sagten, du hättst et Fred Hodgkisson erzählt.«

»Als ob ich dem so'n Zeugs erzählen würde!«

»Ha!« stimmte der Bergmann zu.

Aber enttäuscht war er trotzdem.

»Es ist wahr, den ersten Preis hat er gekriegt,« sagte Frau Morel.

Der Bergmann setzte sich schwerfällig in seinen Stuhl.

»Hat er, bei Jott!« rief er aus.

Er starrte fest durchs Zimmer.

»Aber für fünfzig Pfund – so'n Unsinn!« Sie schwieg einen Augenblick. »Major Moreton hat es für zwanzig Guineen gekauft, das ist wahr.«

»Zwanzig Guineen! Ne, sag mal!« rief Morel aus.

»Ja, und es war es auch wert.«

»Ach!« sagte er. »Det bezweifle ick jar nich. Aber zwanzig Guineen for so'n bißken Pinselei, wie er det so in ne Schtunde oder zwee 'runterhaut.«

Er schwieg vor Stolz auf seinen Sohn. Frau Morel rümpfte die Nase, als wäre das noch gar nichts.

»Un wenn kriegt er det Jeld in de Hände?« fragte der Bergmann.

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich vermute, wenn das Bild zurückgeschickt wird.«

Es entstand Schweigen. Morel starrte den Zuckertopf an, anstatt zu essen. Sein schwarzer Arm mit der gänzlich zerarbeiteten Hand lag auf dem Tische. Seine Frau tat, als bemerkte sie weder, wie er sich mit der Rückseite der Hand über die Augen fuhr, noch die blanken Rinnen in dem Kohlenstaub auf seinem schwarzen Gesicht.

»Ja, un der andere Bursche hätte det ooch fertigjekriegt, wenn se'n nich umjebracht hätten,« sagte er ruhig.

Der Gedanke an William durchfuhr Frau Morel wie kalter Stahl. Er ließ sie fühlen, wie müde sie war und wie sehr sie sich nach Ruhe sehnte.

Paul wurde zu Herrn Jordan zum Abendessen eingeladen. Nachher sagte er:

»Mutter, ich muß einen Gesellschaftsanzug haben.«

»Ja, ich fürchtete schon,« sagte sie. Sie freute sich. Einen oder zwei Augenblicke trat Schweigen ein. »Da ist William seiner noch,« fuhr sie fort, »ich weiß, er hat viereinhalb Pfund gekostet, und er hat ihn bloß dreimal angehabt.«

»Möchtest du, daß ich den trüge, Mutter?« fragte er.

»Ja. Ich glaube, er würde dir passen – der Rock wenigstens. Die Hosen müßten etwas gekürzt werden.«

Er ging nach oben und zog Rock und Weste an. Als er wieder herunterkam, sah er sonderbar aus in seinem Flanellhemd und Kragen mit Frack und Weste darüber. Sie waren ihm recht weit.

»Das kann der Schneider in Ordnung bringen,« sagte sie, ihm mit der Hand die Schulter glattstreichend. »Es ist wunderschöner Stoff. Ich konnte es nie übers Herz bringen, deinen Vater die Hosen tragen zu lassen, und nun freuts mich sehr.«

Und während sie mit der Hand den seidenen Kragen glattstrich, gedachte sie ihres ältesten Sohnes. Aber dieser hier war lebendig genug in dem Anzuge. Sie fuhr ihm mit der Hand den Rücken hinunter, um ihn zu fühlen. Er war lebendig und gehörte ihr. Der andere war tot.

Mehrere Male ging er in dem Abendanzug aus, der William gehört hatte. Jedesmal wurde seiner Mutter Herz stark vor Freude und Stolz. Nun war er auf dem Wege. Die Hemdknöpfe, die sie und die Kinder für William gekauft hatten, steckten in seiner Hemdbrust; er trug eines von Williams Frackhemden. Aber er hatte eine vornehme Gestalt. Sein Gesicht war rauh, aber warm und anziehend. Er sah zwar nicht grade wie ein vornehmer Herr aus, aber doch durchaus männlich.

Er erzählte ihr alles, was vorgekommen, alles, was gesagt worden war. Ihr kam es vor, als wäre sie mit dabei gewesen. Und er starb vor Begierde, sie seinen neuen Freunden zuzuführen, die abends um halb acht zu Mittag aßen.

»Geh mir doch weg!« sagte sie. »Weswegen wollten die mich wohl kennen lernen?«

»Sie wollens aber!« rief er aufgebracht. »Wenn sie mich kennen lernen wollen – und das sagen sie doch – denn wollen sie dich auch kennen, weil du doch genau so klug bist wie ich.«

»Ach, geh mir doch weg, Kind!« lachte sie.

Aber sie begann ihre Hände zu schonen. Auch sie waren jetzt zerarbeitet. Die Haut glänzte von zu vielem heißen Wasser, die Knöchel waren recht geschwollen. Aber sie begann damit, sie etwas vorsichtiger aus der Soda herauszuhalten. Mit Kummer dachte sie daran, wie sie gewesen waren – so klein und fein. Und als Annie darauf bestand, sie müsse ihrem Alter angemessene neumodischere Blusen tragen, da gab sie nach. Sie ging sogar so weit, daß sie sich eine schwarze Samtschleife ins Haar stecken ließ. Dann rümpfte sie die Nase in ihrer spöttischen Weise und war sicher, sie sähe schön aus. Aber sie sah wie eine Dame aus, erklärte Paul, genau so gut wie Frau Major Moreton, und viel, viel netter. Die Seinen waren im Aufsteigen. Nur Morel blieb unverändert, oder sackte vielmehr langsam zusammen.

Paul und seine Mutter hielten nun lange Unterhaltungen über das Leben. Die Gottesgläubigkeit trat in den Hintergrund. Er hatte alle Glaubenssätze vergraben, die ihm hinderlich waren, hatte den Boden geebnet und war mehr und mehr zu dem felsenfesten Glauben gekommen, man müsse innerlich fühlen, was gut und was böse sei, und solle sich in Geduld allmählich über das Wesen seiner Gottheit klar werden. Nun fesselte ihn das Leben mehr.

»Weißt du,« sagte er zu seiner Mutter, »ich will gar nicht dem wohlhabenden Mittelstand angehören. Ich mag unser gewöhnliches Volk am liebsten. Ich gehöre zum gewöhnlichen Volk.«

»Wenn dir das aber jemand anders sagte, mein Sohn, dann würdest du schön losfahren. Du weißt doch, du hältst dich jedem noch so Vornehmen ebenbürtig.«

»Mich für meine Person,« antwortete er, »aber nicht nach meinem Stand oder meiner Erziehung oder meinem Benehmen. Aber als Mensch gewiß.«

»Na schön denn. Aber weshalb redest du dann von gewöhnlichem Volk?«

»Weil – der Unterschied zwischen den verschiedenen Leuten gar nicht in ihrem Stande liegt, sondern in ihnen selbst. Nur aus dem Mittelstande holt man sich Gedanken, und von den gewöhnlichen Leuten – grade Leben, Wärme. Du fühlst ihren Haß und ihre Liebe.«

»Das ist alles ganz schön, mein Junge. Aber warum gehst du denn nicht hin und unterhältst dich mit deines Vaters Kumpeln?«

»Ja, die sind aber auch ganz anders.«

»Ganz und gar nicht. Die sind das gewöhnliche Volk. Schließlich, mit wem gehst du denn jetzt um – aus dem gewöhnlichen Volk? Mit denen, die Gedanken austauschen, wie der Mittelstand. Die anderen ziehen dich doch nicht an.«

»Aber – da ist doch Leben ,...«

»Ich glaube nicht, daß du auch nur ein Körnchen Leben mehr aus Miriam herausholst als aus jedem andern gut erzogenen Mädchen – nimm etwa Fräulein Moreton. Du bist es, der sich was auf seinen Stand einbildet.«

Sie wollte ihn ganz offen zum Aufstieg in den Mittelstand bringen, etwas nicht übermäßig Schwieriges, wie sie wußte. Und schließlich wünschte sie, er möchte eine Dame heiraten.

Nun begann sie, ihn wegen seines ewigen Sichgrämens zu bekämpfen. Er hielt seine Verbindung mit Miriam immer noch aufrecht, konnte sich weder ganz frei von ihr machen noch eine regelrechte Verlobung zustande bringen. Und diese Unentschlossenheit schien ihm seine ganze Tatkraft abzuzapfen. Zudem beargwöhnte seine Mutter ihn einer uneingestandenen Neigung zu Clara, und da diese eine verheiratete Frau war, wünschte sie, er möchte sich in ein Mädchen in besserer Lebensstellung verlieben. Aber er war töricht und weigerte sich, ein Mädchen zu lieben oder auch nur besonders zu bewundern, grade weil sie ihm gesellschaftlich überlegen war.

»Mein Junge,« sagte seine Mutter zu ihm, »deine ganze Klugheit, all dein Dichlosmachen vom Alten und daß du dein Leben in die eigenen Hände nimmst, scheint dir nicht viel Glück einzubringen.«

»Was ist denn Glück!« rief er. »Das gilt mir gar nichts! Wie sollte ich denn glücklich werden?«

Diese so rundheraus gestellte Frage verwirrte sie.

»Das kannst nur du beurteilen, mein Junge. Könntest du aber ein gutes Mädchen finden, das dich glücklich machen würde – und du dächtest dann mal daran, dein Leben einzurichten – falls du die Mittel dazu hast – so daß du ohne alle diese Sorgen arbeiten könntest – das wäre viel besser für dich.«

Er runzelte die Stirn. Seine Mutter berührte die frische Wunde, die Miriam ihm geschlagen hatte. Er warf sich das in Unordnung geratene Haar aus der Stirn, die Augen voller Feuer und Schmerz.

»Du stellst dir das so leicht vor, Mutter,« rief er. »Das ist so richtig der Leitsatz der Frau fürs ganze Leben – Seelenruhe und körperliches Behagen. Und die verachte ich.«

»Ach, wirklich!« erwiderte seine Mutter. »Und nennst du dein Mißbehagen etwa göttlich?«

»Ja. Aus seiner Göttlichkeit mache ich mir allerdings nichts.

Aber dein Glück – verdammt nochmal! Solange das Leben nur ausgefüllt ist, ist es doch einerlei, ob es glücklich ist oder nicht. Ich bin bange, dein Glück würde mich langweilen.«

»Du hast ja noch nie einen Versuch gemacht,« sagte sie. Da brach plötzlich ihr ganzer leidenschaftlicher Kummer um ihn durch. »Aber es ist gar nicht einerlei!« rief sie aus. »Und du sollst glücklich sein, du sollst versuchen, glücklich zu werden, so zu leben, daß du glücklich wirst. Wie sollte ich den Gedanken ertragen, dein Leben würde kein glückliches werden!«

»Dein eigenes ist schlecht genug ausgefallen, Mater, aber es hat dich doch nicht so mitgenommen wie manche glücklicheren Leute. Ich finde, du bist noch ganz gut durchgekommen. Und mir gehts genau so. Gehts mir nicht auch recht gut?«

»Durchaus nicht, mein Sohn. Kampf – Kampf und Leid. Das ist beinahe alles, was du fertig bringst, soweit ichs übersehen kann.«

»Aber warum auch nicht, mein Liebstes? Ich sag dir, es ist am besten so ,...«

»Nein. Und man soll glücklich sein, jawohl.«

Frau Morel zitterte allmählich heftig. Kämpfe dieser Art fanden häufig statt zwischen ihr und ihrem Sohne, in denen sie gegen seinen Todeswillen mit ihm um sein Leben zu ringen schien. Er nahm sie in die Arme. Sie war krank und jämmerlich.

»Laß man, mein Kleines,« murmelte er. »Solange dir das Leben noch nicht gemein und kläglich vorkommt, kommts auf den Rest gar nicht an, ob Glück oder Unglück.«

Sie drückte ihn an sich.

»Ich möchte dich aber glücklich sehen,« sagte sie leiddurchzittert.

»I, mein Liebstes – sag doch lieber, ich sollte leben.«

Frau Morel war es, als solle ihr das Herz um ihn brechen. In diesem Zustand, das wußte sie, könnte er nicht weiter leben. Er zeigte jene bittere Sorglosigkeit gegen sein eigenes Leid, sein Leben, die eine Abart langsamen Selbstmordes ist. Sie brach ihr fast das Herz. Mit der ganzen Leidenschaft ihrer starken Veranlagung haßte sie Miriam dafür, daß sie seine Lebensfreudigkeit auf so feine Art unterhöhlt hatte. Daß Miriam nichts dafür konnte, machte ihr nichts aus. Miriam hatte es getan, und dafür haßte sie sie.

Sie wünschte so sehnlichst, er möchte sich in ein Mädchen verlieben, das eine passende Lebensgefährtin für ihn wäre, wohlerzogen und stark. Aber er mochte keine ansehen, die über seinen Verhältnissen stand. Frau Dawes schien er leiden zu mögen. Jedenfalls war dies eine gesunde Empfindung. Seine Mutter betete und betete für ihn, er möge nicht vergeudet werden. Das war ihr einziges Gebet – nicht für seine Seele oder seine Rechtschaffenheit, nur daß er nicht vergeudet würde. Und während er schlief, dachte sie und betete sie für ihn stunden- und stundenlang.

Unwahrnehmbar trieb er von Miriam fort, ohne zu wissen, daß er davonginge. Arthur verließ den Heeresdienst nur, um zu heiraten. Das Kleine wurde sechs Monate nach der Trauung geboren. Frau Morel verschaffte ihm wieder eine Anstellung in seinem alten Geschäft, für eine Guinee die Woche. Mit Hilfe von Beatrices Mutter richtete sie ihm ein kleines Häuschen mit zwei Zimmern ein. Nun war er eingefangen. Wie er hinten ausschlug und kämpfte, war gleichgültig, er war festgemacht. Eine Zeitlang schimpfte er, war reizbar gegen seine junge Frau, die ihn liebte; er verlor beinahe den Verstand, wenn das Kleine, das recht zart war, schrie oder unruhig war. Stundenlang brummte er mit seiner Mutter. Sie sagte lediglich: »Ja, mein Junge, du hasts dir ja selbst eingebrockt, nun sieh zu, wie du durchkommst.« Und dann wurde ihm der Zornbraten ausgeschnitten. Er machte sich hinter seine Arbeit, lernte seine Verantwortlichkeit begreifen, erkannte, daß er zu Weib und Kind gehöre und machte sich recht gut heraus. An die Seinen hatte er sich nie sehr eng gebunden gefühlt. Nun war er gänzlich fort.

Langsam gingen die Monate hin. Paul war mehr oder weniger mit Sozialisten, Suffragetten und Unitariern in Nottingham in Verbindung geraten, dank seiner Bekanntschaft mit Clara. Eines Tages bat ihn eine gemeinsame Freundin in Bestwood, Frau Dawes eine Bestellung zu überbringen. Am Abend ging er über den Sneintonmarkt nach Bluebell Hill. Er fand das Haus in einer gemeinen kleinen Straße, mit Granitkopfsteinen gepflastert und mit Fußsteigen aus ausgetretenen dunkelblauen Klinkern. Von diesem groben Pflaster, auf dem die Tritte der Vorübergehenden rappelten und klapperten, ging es eine Stufe zur Vordertür hinauf. Die braune Farbe der Tür war so alt, daß man in den Rissen das nackte Holz hindurchsehen konnte. Er blieb unten auf der Straße stehen und klopfte. Ein schwerer Schritt ertönte; turmhoch stand eine große, dicke Frau von etwa sechzig Jahren vor ihm. Er sah vom Pflaster zu ihr auf. Sie hatte ein recht strenges Gesicht.

Sie ließ ihn ins Wohnzimmer eintreten, das auf die Straße hinausging. Es war ein dumpfer, kleiner, grabesähnlicher Raum, mit Mahagoni und totenähnlichen Vergrößerungen nach Lichtbildern Verstorbener in Kohle. Frau Radford ließ ihn allein. Sie war stattlich, beinahe kriegerisch. Im Augenblick erschien Clara. Sie errötete tief, und er war ganz beklommen vor Verwirrung. Es schien, als ließe sie sich nicht gern in ihren häuslichen Verhältnissen aufspüren.

»Ich hätte nicht gedacht, daß das Ihre Stimme sein könnte.«

Aber ob sie um ein Schaf oder um ein Lamm gehängt würde, war wohl gleichgültig. Sie lud ihn aus der Totenkammer von Wohnzimmer in die Küche hinüber ein.

Auch die war ein kleiner dunkler Raum, aber sie verschwand völlig unter weißen Spitzen. Die Mutter hatte sich wieder neben den Tassenschrank gesetzt und zog Fäden aus einem großen Spitzengewebe. Ein Haufen flaumartiger, aufgerebbelter Baumwolle lag ihr zur rechten Hand, ein Haufen drei Viertel Zoll breiter fertiger Spitzen zur linken, während vor ihr ein Berg fertiger Spitze die Herdmatte bedeckte. Fäden krauser Baumwolle, aus den fertigen Stücken herausgezogen, lagen umhergestreut auf dem Herdgitter und der Feuerstelle. Paul wagte nicht vorwärts zu gehen, aus Furcht, auf die Haufen weißen Zeuges zu treten.

Auf dem Tische stand ein Wickler zum Aufwickeln der Spitze. Ein Haufen brauner, viereckiger Pappstücke war ferner da, ein Pack aufgewickelter Spitze, ein kleines Schächtelchen mit Stecknadeln, und auf dem Sofa lag ein Haufen ausgereckter Spitze.

Der ganze Raum war eine Spitze und war so dunkel und warm, daß der weiße, schneeige Stoff nur um so deutlicher hervortrat.

»Wenn Sie hier mit hereinkommen, dürfen Sie sich aus unserer Arbeit nichts machen,« sagte Frau Radford. »Ich weiß, wir sind schön vollgepackt. Aber nehmen Sie Platz.«

Clara, sehr verlegen, gab ihm einen Stuhl an der Wand gegenüber den weißen Haufen. Dann nahm sie verschämt ihren Platz auf dem Sofa wieder ein.

»Wollen Sie eine Flasche Dunkles?« fragte Frau Radford. »Clara, gib ihm 'ne Flasche Dunkles.«

Er erhob Einspruch, aber Frau Radford bestand darauf.

»Sie sehen aus, als schadete es Ihnen nicht,« sagte sie. »Haben Sie nie mehr Farbe als jetzt?«

»Das ist bloß mein dickes Fell, das das Blut nicht so durchscheinen läßt,« sagte er.

Clara, beschämt und bekümmert, brachte ihm eine Flasche Dunkles und ein Glas. Er schenkte sich von dem schwarzen Zeuge ein.

»Na,« sagte er und hob das Glas, »Ihre Gesundheit!«

»Und vielen Dank,« sagte Frau Radford.

Er nahm einen tüchtigen Zug.

»Und stecken Sie sich 'ne Zigarette an, solange Sie nicht das Haus in Brand setzen,« sagte Frau Radford.

»Danke Ihnen,« erwiderte er.

»Ach, Sie brauchen mir gar nicht zu danken,« antwortete sie; »ick bin ja nur zu froh, wieder mal 'nen bißken Rooch im Hause zu riechen. So'n Weiberhaus ist so tot wie ein Haus ohne Feuer, nach meinem Gefühl. Ick bin keene Spinne, die jern ihre Ecke für sich haben möchte. Ich habe jern einen Mann um mich, wenn auch bloß, um nach ihm schnappen zu können.«

Clara begann zu arbeiten. Ihr Wickler drehte sich mit unterdrücktem Surren; die weiße Spitze hüpfte ihr zwischen den Fingern hervor auf das Pappstück. Es war voll; sie schnitt die Länge ab und steckte das Ende mit einer Stecknadel an das fertige Bund. Dann befestigte sie ein neues Pappstück auf dem Wickler. Paul beobachtete sie. Fest und prächtig saß sie da. Ihr Hals und Arme waren bloß. Das Blut wallte ihr immer noch unterhalb der Ohren; sie senkte den Kopf in Scham wegen ihrer Niedrigkeit. Ihr Gesicht blieb auf ihre Arbeit gesenkt. Ihre Arme erschienen neben der weißen Spitze sahnefarben und lebensvoll; ihre großen, wohlgehaltenen Hände arbeiteten mit einer ausgeglichenen Bewegung, als vermöge nichts sie zu beschleunigen. Ohne es zu wissen, beobachtete er sie die ganze Zeit. Er sah ihren gewölbten Nacken von der Schulter an, wenn sie den Kopf senkte; er sah die Masse ihres dunkelbraunen Haares; er sah ihre Arme sich bewegen, aufleuchten.

»Ich habe etwas über Sie von Clara gehört,« fuhr die Mutter fort. »Sie sind bei Jordan, nicht wahr?« Ohne innezuhalten arbeitete sie an ihrer Spitze weiter.

»Ja.«

»So, ja, und ich kann mich noch der Zeit erinnern, als Thomas Jordan mich um ein Endchen von meiner Lutschstange bat.«

»Wirklich?« lachte Paul. »Und kriegte er es denn?«

»Zuweilen, zuweilen auch nicht – aber das war erst später. Denn er gehört zu denen, die alles annehmen und nichts dafür wiedergeben, jawohl – oder wenigstens war er so.«

»Ich finde, er ist sehr anständig,« sagte Paul.

»So; schön, freut mich zu hören.«

Frau Radford blickte fest zu ihm herüber. Es lag etwas Entschlossenes in ihr, was er gern hatte. Ihr Gesicht fing an faltig zu werden, aber ihre Augen waren ruhig, und sie hatte etwas Festes an sich, das sie nicht alt erscheinen ließ; nur ihre Runzeln und ihre hängenden Backen paßten hierzu nicht. Sie besaß die Kraft und Kaltblütigkeit einer Frau in der Blütezeit des Lebens. Mit langsamen, würdevollen Bewegungen fuhr sie fort, ihre Spitze abzumessen. Unweigerlich kam das Spitzengewebe über ihre Schürze herauf; die abgemessene Länge fiel ihr zur Seite wieder herab. Ihre Arme waren schön geformt, aber glänzend und gelb wie altes Elfenbein. Sie besaßen nicht den sonderbaren stumpfen Glanz, der ihm Claras Arme so bezaubernd machte.

»Und Sie sind mit Miriam Leivers gegangen?« fragte die Mutter ihn.

»Na ,...« antwortete er.

»Ja, sie ist ein nettes Mädchen,« fuhr sie fort. »Sie ist sehr nett, aber sie schwebt etwas zu sehr über der Welt, für meinen Geschmack.«

»Etwas tut sie das wohl,« stimmte er zu.

»Sie wird nie zufrieden sein, bis sie Flügel kriegt und allen Leuten über die Köpfe fliegen kann, sicherlich,« sagte sie.

Clara unterbrach sie, und er richtete seine Bestellung aus. Sie sprach demütig zu ihm. Er hatte sie in ihrer Aschenbrödelei überrascht. Sie in dieser Demut vor sich zu sehen, ließ ihn den Kopf voller Erwartung heben.

»Wickeln Sie gerne so auf?« fragte er.

»Was kann eine Frau denn anfangen!« erwiderte sie bitter.

»Ist es 'ne Schwitzkur?«

»Mehr oder weniger. Ist denn das nicht alle Frauenarbeit? Das ist wieder so ein Kniff, den die Männer angewandt haben, seitdem wir uns auf den Arbeitsmarkt drängen.«

»Nu hör mal auf von wegen die Männer,« sagte ihre Mutter; »wären die Weiber nicht solche Narren, wären die Männer nicht solche Lumpen, un das sag ich. Kein Mann is je so schlecht gegen mich gewesen, daß ichs ihm nicht heimgezahlt habe; 'ne Lausebande sind sie trotzdem, das kann niemand leugnen.«

»Aber in Wirklichkeit sind sie doch ganz ordentlich, nicht?« fragte er.

»Na, so'n bißken anders als die Weiber sind sie ja,« antwortete sie.

»Möchten Sie nicht wieder zu Jordan kommen?« fragte er Clara.

»Ich glaube nicht,« erwiderte sie.

»Jawoll möchte sie's!« rief ihre Mutter; »ihren Sternen würde sie danken, wenn sie's nur könnte. Hören Sie gar nicht auf sie. Sie sitzt immer auf ihrem hohen Pferde, und dem sein Rücken is so dünn und ausgehungert, daß er sie noch eines Tages mitten durchschneidet.«

Clara litt sehr unter ihrer Mutter. Paul war zumute, als öffneten sich seine Augen weit. Brauchte er Claras Blitze schließlich gar nicht so ernst zu nehmen? Sie wickelte stetig weiter. Eine freudige Aufregung durchfuhr ihn bei dem Gedanken, sie könne am Ende seine Hilfe brauchen. Sie mußte anscheinend sich so viel versagen, so viel entbehren. Und ganz maschinenmäßig bewegte sich ihr Arm, der nie mit einer Maschine hätte zu schaffen haben sollen, und über die Spitze gesenkt war ihr Haupt, das sich nie hätte senken sollen. Sie schien hier zwischen weggeworfenen Überbleibseln des Lebens gestrandet, wie sie so an ihrem Wickler dasaß. Es war ein bitteres Los für sie, derart vom Leben beiseite geworfen zu werden, als habe es keine Verwendung für sie. Kein Wunder, daß sie Widerspruch erhob.

Sie ging mit ihm bis an die Tür. Er stand unten in der gemeinen Straße und sah zu ihr auf. So schön war sie in ihrer Haltung und ihrem Benehmen, daß sie ihn an eine entthronte Juno erinnerte. Als sie hier im Eingang stand, scheute sie vor der Straße zurück, vor ihrer Umgebung.

»Und dann wollen Sie also mit Frau Hodgkinson nach Hucknall gehen?«

Er fragte sie ohne jeden Sinn, nur um sie zu beobachten. Schließlich trafen ihre grauen Augen die seinen. Stumm vor Erniedrigung sahen sie aus, als flehten sie ihn an in einer Art verborgenen Jammers. Vor Erschütterung wußte er nicht, was er machen solle. Er hatte sie für so großartig gehalten.

Nachdem er sie verlassen hatte, wünschte er zu laufen. In einer Art Traum ging er zum Bahnhof und kam wieder nach Hause, ohne sich darüber klar geworden zu sein, daß er aus ihrer Straße heraus wäre.

*

Er hatte eine Ahnung, Susanne, die Aufseherin über die Strickerinnen, beabsichtige zu heiraten. Er fragte sie am nächsten Tage.

»Sagen Sie mal, Susanne, ich habe so was flüstern hören, Sie wollten heiraten. Stimmt das?«

Susanne wurde dunkelrot.

»Wer hat Ihnen das erzählt?« erwiderte sie.

»Niemand. Ich habe bloß so'n Gerücht gehört, Sie dächten daran.«

»Na ja, das tu ich auch; aber Sie brauchen niemand was davon zu sagen. Und noch mehr, ich wollte, ich täte es nicht.«

»Na, Susanne, das können Sie mir doch nicht vormachen.«

»Nicht? Sie könnens aber trotzdem glauben. Tausendmal lieber bliebe ich hier.«

Paul war verdonnert.

»Warum denn, Susanne?«

Des Mädchens Farben brannten, ihre Augen blitzten.

»Darum!«

»Dann müssen Sie?«

Als Antwort sah sie ihn an. Er hatte eine Aufrichtigkeit und Freundlichkeit an sich, die ihm das Vertrauen der Mädchen erwarb. Er begriff.

»Ah, das tut mir leid,« sagte er.

Die Tränen kamen ihr in die Augen.

»Aber Sie sollen mal sehen, es wird schon alles zurechtkommen. Sie werden schon ganz hübsch zurechtkommen,« fuhr er nachdenklich fort.

»Mir bleibt ja auch nichts anders übrig.«

»O doch, Sie können die Sache auch ganz verfahren. Versuchen Sie sie in Gang zu bringen.«

Er schaffte sich bald eine Gelegenheit, Clara wieder zu besuchen.

»Würde Ihnen was dran liegen,« sagte er, »wieder zu Jordan zu kommen?«

Sie legte ihre Arbeit hin, ihre schönen Arme auf den Tisch, und sah ihn ein paar Augenblicke an ohne zu antworten. Allmählich stieg ihr die Röte ins Gesicht.

»Wieso?« fragte sie.

Paul kam sich recht ungeschickt vor.

»Na, weil Susanne dran denkt wegzugehen,« sagte er.

Clara fuhr mit ihrem Wickeln fort. In kleinen Sprüngen und Hopsern wickelte sich die Spitze auf die Pappe. Er wartete auf sie. Ohne den Kopf zu heben, sagte sie schließlich mit sonderbar leiser Stimme:

»Haben Sie schon irgend etwas davon gesagt?«

»Außer Ihnen noch niemand ein Wort.«

Ein langes Schweigen trat ein.

»Ich will mich melden, wenn die Ausschreibung heraus ist,« sagte sie.

»Sie werden sich vorher melden. Ich werde Sie den genauen Zeitpunkt wissen lassen.«

Sie fuhr fort, an ihrer kleinen Maschine zu arbeiten, und widersprach ihm nicht.

Clara kam wieder zu Jordan. Ein paar der älteren Kräfte, unter ihnen Fanny, erinnerten sich ihrer früheren Herrschaft, und zwar mit herzlichem Mißbehagen. Clara war immer hochnäsig gewesen, zurückhaltend und überlegen. Sie hatte sich nie mit den anderen Mädchen als eine von ihnen zusammengefunden. Hatte sie Gelegenheit zu tadeln, so tat sie es kühl und mit vollkommener Höflichkeit, die die Getadelte als größere Beleidigung empfand als jede Schroffheit. Gegen Fanny, die arme, überarbeitete Buckelige, war Clara unverändert mitleidvoll und sanft, und infolgedessen vergoß Fanny mehr bittere Tränen, als die groben Zungen der anderen Aufseherinnen ihr je verursacht hatten.

Es war etwas in Clara, was Paul gar nicht mochte, und vieles, das ihn reizte. War sie um ihn, so beobachtete er immer ihre starke Kehle und ihren Nacken, auf dem kurzes Blondhaar wie ein Flaum wuchs. Auf der Haut ihres Gesichts und der Arme wuchs fast unsichtbar ein feiner Flaum, und sobald er dies erst einmal bemerkt hatte, bemerkte er es immer.

Saß er an der Arbeit bei seiner Malerei des Nachmittags, so pflegte sie zu kommen und vollständig regungslos neben ihm stehen zu bleiben. Dann fühlte er sie, obwohl sie weder mit ihm sprach noch ihn anrührte. Obgleich sie einen Schritt von ihm stand, fühlte er sich doch, als berührten sie einander. Dann konnte er nicht länger malen. Er warf seine Pinsel hin und fing an mit ihr zu reden.

Zuweilen lobte sie seine Arbeit; zuweilen war sie auch sehr wählerisch und kalt.

»In dem Ding da liegt zu viel Geziertes,« konnte sie sagen; und als läge in ihrer Verurteilung etwas grundsätzlich Wahres, geriet sein Blut vor Ärger ins Kochen.

Dann konnte er wieder begeistert fragen: »Wie ist dies?«

»Hm!« Sie gab einen leisen Ton des Zweifels von sich; »daraus mache ich mir nicht viel.«

»Weil Sie es nicht verstehen,« gab er zurück.

»Warum fragen Sie mich denn danach?«

»Weil ich glaubte, Sie würden es verstehen.«

Sie konnte vor Verachtung einer seiner Arbeiten die Achseln zucken. Sie machte ihn verrückt. Er wurde wütend. Dann schimpfte er auf sie und erging sich in leidenschaftlichen Erklärungen seiner Arbeiten. Das machte ihr Spaß und regte sie an. Aber sie gab nie zu, daß sie im Unrecht wäre.

Sie hatte sich in den zehn Jahren, die sie der Frauenbewegung angehört hatte, einen hübschen Vorrat an Wissen erworben, und da sie auch etwas von Miriams Leidenschaft fürs Lernen besaß, hatte sie sich selbst Französisch beigebracht und konnte diese Sprache, wenn auch mühsam, lesen. Sie hielt sich für eine besondere Frau, und für etwas ganz Besonderes ihren Standesgenossinnen gegenüber. Die Mädchen in der Strickereiabteilung kamen alle aus anständigen Häusern. Es war ein kleiner, abgesonderter Wirkungskreis und nahm eine gewisse bevorzugte Stellung ein. Über beiden Arbeitsräumen lag etwas von Verfeinerung. Aber Clara hielt sich auch von ihren Mitarbeiterinnen fern.

Nichts von all diesem enthüllte sie Paul indessen. Sie gehörte nicht zu denen, die sich selbst verraten. Über ihr lag etwas Geheimnisvolles. Sie war so zurückhaltend, daß er fühlte, sie habe guten Grund dazu. An der Oberfläche lag ihre Geschichte offen da, aber ihre innere Bedeutung blieb jedermann verborgen. Das war aufregend. Und dann ertappte er sie manchmal dabei, wie sie ihn unter ihren Brauen hervor mit einem fast verstohlenen, mürrischen Forschen anblickte, so daß er sich rasch wegwenden mußte. Oft trafen sich ihre Augen. Aber dann waren die ihren stets sozusagen bedeckt, nichts enthüllend. Sie schenkte ihm ein nachsichtiges kleines Lächeln. Sie konnte außerordentlich herausfordernd gegen ihn sein, weil sie so viel über ihn zu wissen schien, und sie sammelte Früchte der Erfahrung, die er nicht erreichen konnte.

Eines Tages hob er einen Band › Lettres de mon moulin‹ von ihrer Arbeitsbank auf.

»Sie lesen Französisch?« rief er.

Clara sah sich nachlässig um. Sie arbeitete an einem geschmeidigen Strumpf aus heliotropfarbener Seide und drehte ihre Strickmaschine mit langsamer, abgemessener Regelmäßigkeit, dabei beugte sie sich gelegentlich einmal vor, um nach ihrer Arbeit zu sehen oder um die Nadeln wieder zurechtzuschieben; dann glänzte ihr prächtiger Nacken mit seinem Flaum und feinen Haarbüscheln weiß gegen die lavendelfarbig leuchtende Seide. Sie machte noch ein paar Umdrehungen und hielt dann inne.

»Was sagten Sie?« fragte sie mit süßem Lächeln.

Pauls Augen glitzerten über diese unverschämte Gleichgültigkeit ihm gegenüber.

»Ich wußte nicht, daß Sie Französisch lesen,« sagte er sehr höflich.

»Nein?« sagte sie mit einem schwachen Hohnlächeln.

»Verbohrte Krabbe!« sagte er, aber kaum laut genug, daß sie es hören konnte.

Ärgerlich schloß er den Mund, während er sie beobachtete. Sie schien ihre so gedankenlos hervorgebrachte Arbeit zu verachten; und doch war der Strumpf, den sie wirkte, so vollkommen wie nur möglich.

»Sie mögen die Strickerei nicht gern,« sagte er.

»Ach, wieso, alle Arbeit ist Arbeit,« antwortete sie, als wüßte sie alles und jedes.

Er bewunderte ihre Kälte. Er mußte bei allem hitzig werden. Sie mußte etwas Besonderes sein.

»Was möchten Sie denn lieber anfangen?« fragte er.

Sie lachte voller Nachsicht, während sie sagte:

»Es besteht nur so geringe Wahrscheinlichkeit, daß mir jemals die Wahl freigestellt wird, daß ich meine Zeit noch nicht mit Nachdenken hierüber vergeudet habe.«

»Pah!« sagte er, nun seinerseits voller Verachtung. »Das sagen Sie nur, weil Sie zu stolz sind, einzugestehen, was Sie gern möchten und nicht erreichen können.«

»Sie kennen mich sehr genau,« antwortete sie kühl.

»Ich weiß, Sie halten sich für ganz was Besonderes und meinen, Sie lebten unter einer fortwährenden Beleidigung, daß Sie hier in der Werkstatt arbeiten müssen.«

In seinem Ärger wurde er sehr grob. Sie wandte sich nur voller Mißachtung von ihm weg. Er schritt pfeifend den Raum entlang und machte lachend Hilda den Hof.

Später sagte er dann bei sich:

»Weswegen war ich denn nur so unverschämt gegen Clara?«

Er ärgerte sich jetzt beinahe über sich selbst und freute sich doch gleichzeitig. »Geschieht ihr schon recht; sie stinkt ja vor verhaltenem Stolz,« sagte er ärgerlich bei sich.

Am Nachmittag kam er wieder herunter. Es lag ihm eine Last auf dem Herzen, die er gern los sein wollte. Er dachte, das am Ende durch Anbieten von etwas Schokolade erreichen zu können.

»Abhaben?« sagte er. »Ich habe eine Handvoll gekauft, um mich zu versüßen.«

Zu seiner großen Erleichterung nahm sie sie an. Er setzte sich auf die Arbeitsbank neben ihrer Maschine und wickelte sich ein Stück Seide um den Finger. Sie liebte ihn wegen seiner raschen, unerwarteten Bewegungen, gleich denen eines jungen Tieres. Seine Füße baumelten hin und her, während er überlegte. Die Süßigkeiten lagen über die Bank verstreut da. Sie beugte sich über ihre Maschine, die sie genau abgemessen drehte; dann sah sie wieder nach dem Strumpf, der, durch ein Gewicht niedergezogen, herunterhing. Er beobachtete das hübsche Vorbeugen ihres Nackens und ihre auf der Erde schleifenden Schürzenbänder.

»Über Ihnen«, sagte er, »liegt immer eine Art Erwartung. Was ich Sie auch anfangen sehe, nie sind Sie wirklich dabei: Sie warten – wie Penelope vor ihrem Gewebe.« Er konnte einen Ausbruch von Niedertracht nicht unterdrücken.

»Ich werde Sie Penelope nennen,« sagte er.

»Würde das irgendwelchen Unterschied ausmachen?« sagte sie, vorsichtig eine ihrer Nadeln herausnehmend.

»Darauf kommts ja nicht an, solange es mir nur Spaß macht. Hier, sagen Sie mal, Sie vergessen anscheinend, daß ich Ihr Meister bin. Das fällt mir grade ein.«

»Und was bedeutet das?« fragte sie kühl.

»Das bedeutet, daß ich das Recht habe, Sie zu meistern.«

»Haben Sie sich über irgend etwas zu beklagen?«

»Na, hören Sie mal, eklig brauchen Sie nun auch nicht zu sein,« sagte er ärgerlich.

»Ich verstehe nicht, was Sie wollen,« sagte sie und fuhr mit ihrer Arbeit fort.

»Ich will, daß Sie mich nett und achtungsvoll behandeln.«

»Soll ich Sie vielleicht ›Herr‹ nennen?« fragte sie ruhig.

»Jawohl, nennen Sie mich ›Herr‹. Das möchte ich sehr gern.«

»Dann möchte ich, Sie gingen nach oben, Herr.«

Sein Mund schnappte zu, und ein Runzeln fuhr ihm übers Gesicht. Er sprang plötzlich von seinem Sitz herunter.

»Sie sind weiß Gott verdammt hochnäsig,« sagte er.

Und damit ging er zu den andern Mädchen. Er fühlte, er war ärgerlicher als nötig. Tatsächlich war er sich nicht sicher, daß er sich nur hatte zeigen wollen. Aber wenn er das tat, dann wollte er es auch. Clara hörte ihn auf eine ihr verhaßte Weise mit den Mädchen im nächsten Zimmer lachen.

Als er am Abend, nachdem die Mädchen fort waren, durch seine Abteilung ging, sah er seine Schokolade unberührt neben Claras Maschine liegen. Er ließ sie liegen. Am Morgen lag sie noch immer da, und Clara war an ihrer Arbeit. Nachher rief Minnie, ein kleiner Braunkopf, den sie immer Pussi nannten, ihn an:

»He, haben Sie für niemand ein bißchen Schokolade?«

»Tut mir leid, Pussi,« erwiderte er. »Ich wollte dir eigentlich ein bißchen anbieten; aber dann habe ich es vergessen.«

»Ich glaube schon,« antwortete sie.

»Heute nachmittag will ich dir welche mitbringen. Nun sie da herumgelegen hat, magst du sie doch nicht mehr, nicht wahr?«

»Oh, ich bin nicht so eigen,« lächelte Pussi.

»Ach nein,« sagte er. »Nun ist sie ja staubig.«

Er ging zu Claras Bank.

»Tut mir leid, daß ich die Dinger da habe herumliegen lassen,« sagte er.

Sie war wie mit Scharlach übergossen. Er nahm die Schokoladenstückchen in die Hand.

»Jetzt sind sie ja doch schmutzig,« sagte er. »Sie hätten sie nehmen sollen. Ich wundere mich, weshalb sie es nicht getan haben. Ich glaubte doch, Sie darum gebeten zu haben.«

Er warf sie aus dem Fenster in den Hof hinunter. Von der Seite warf er einen Blick auf sie. Sie schrak vor seinen Augen zurück.

Am Nachmittag brachte er eine neue Schachtel.

»Möchten Sie ein paar?« sagte er, indem er sie Clara zuerst anbot. »Sie sind frisch.«

Sie nahm ein Stück und legte es auf die Bank.

»Ach, nehmen Sie doch ein paar – auf gut Glück,« sagte er.

Sie nahm noch ein paar und legte sie ebenfalls auf die Bank. Dann wandte sie sich verwirrt wieder ihrer Arbeit zu. Er ging weiter durch den Raum.

»So, Pussi, da sind sie,« sagte er. »Nun sei nicht zu gierig!«

»Sind die alle für sie?« schrien die andern herbeistürzend.

»Selbstverständlich nicht,« sagte er.

Die Mädchen riefen durcheinander. Pussi zog sich von ihren Gefährtinnen zurück.

»Geht weg!« rief sie. »Ich darf mir doch erst aussuchen, nicht, Paul?«

»Sei aber nett gegen sie,« sagte er im Weggehen.

»Bist 'n lieber Kerl,« riefen die Mädchen.

»Zehn Pence,« antwortete er.

Ohne zu sprechen ging er an Clara vorbei. Sie kam sich vor, als würden die drei Stückchen Schokolade sie verbrennen, wenn sie sie anrührte. Sie mußte ihren ganzen Mut zusammennehmen, um sie in ihre Schürzentasche zu stecken.

Die Mädchen liebten und fürchteten ihn. Er war so nett, wenn er nett war; war er aber beleidigt, so behandelte er sie kühl, als wären sie überhaupt kaum da oder wären kaum mehr als Garnspulen. Und wurden sie mal unverschämt, dann sagte er ruhig: »Kümmert euch lieber um eure Arbeit,« und blieb stehen und paßte auf.

*

Als er seinen dreiundzwanzigsten Geburtstag beging, war das Haus in großer Unruhe. Arthur stand unmittelbar vor seiner Hochzeit. Seine Mutter war nicht wohl. Der Vater, der alt und durch seine verschiedenen Unfälle steif geworden war, bekam nur noch einen unbedeutenden, armseligen Posten. Miriam war ihm ein ewiger Vorwurf. Er fühlte, er gehöre ihr an, und konnte sich ihr doch nicht hingeben. Zudem brauchte der Haushalt seine Unterstützung. Aus allen Richtungen wurde an ihm gezerrt. Er freute sich nicht auf seinen Geburtstag. Der Gedanke an ihn machte ihn bitter.

Um acht kam er zur Arbeit. Die meisten Gehilfen waren noch nicht da. Die Mädchen brauchten erst um halb neun zu kommen. Als er seinen Rock wechselte, hörte er hinter sich eine Stimme:

»Paul, Paul, ich möchte was von dir.«

Es war Fanny, die Buckelige, die oben auf ihrer Treppe stand, mit einem vor Geheimnis leuchtenden Gesicht. Paul sah sie voller Erstaunen an.

»Ich möchte was von dir,« sagte sie.

Er blieb stehen und wußte nicht, was er tun sollte.

»Komm,« bat sie. »Komm doch, ehe du mit deinen Briefen anfängst.«

Er stieg das halbe Dutzend Stufen in ihren trockenen, engen Fertigstellungsraum hinunter. Fanny ging vor ihm her: ihr schwarzes Jäckchen war kurz – die Einschnürung saß ihr unter den Achseln – und ihr grünschwarzes Kaschmirkleid erschien sehr lang, als sie mit großen Schritten vor dem jungen Mann einherging, der selbst so anmutig war. Sie ging zu ihrem Sitz am schmalen Ende des Zimmers, wo ein Fenster auf die Schornsteine hinausging. Paul beobachtete ihre dünnen Hände und die flachen, roten Handgelenke, als sie aufgeregt an ihrer weißen Schürze herumzupfte, die vor ihr über die Bank gebreitet lag. Sie zögerte.

»Du hast doch nicht geglaubt, wir hätten dich vergessen?« fragte sie vorwurfsvoll.

»Wieso?« fragte er. Er selbst hatte seinen Geburtstag vergessen.

»Wieso, sagt er! Wieso! Wieso, sieh hier!« Sie wies auf den Kalender, und er sah rund um die große Zahl ›21‹ Hunderte von kleinen Bleistiftkreuzen.

»Oh, Küsse für meinen Geburtstag,« lachte er. »Woher wußtet ihr den denn?«

»Ja, das möchtest du wohl wissen, nicht wahr?« Höchlichst ergötzt verspottete Fanny ihn. »Da hast du einen von jeder von uns, ausgenommen von Frau Clara – und von einigen zwei. Aber das sage ich dir nicht, wie viele ich gemacht habe.«

»Ach, das weiß ich wohl, du bist ja ganz rappelig,« sagte er.

»Da irrst du dich nun doch!« rief sie aufgebracht. »So verliebt würde ich nie sein.« Ihre Stimme klang stark und sehr tief.

»Du tust immer, als wärest du so 'ne hartherzige Hexe,« lachte er. »Und weißt du, du bist so weichherzig ,...«

»Ich will lieber noch weichherzig genannt werden als Gefrierfleisch,« platzte Fanny heraus. Paul verstand, daß sie damit auf Clara abzielte, und lächelte.

»Sagt ihr mir so was Ekliges nach?« lachte er.

»Ne, mein Kücken,« antwortete die Buckelige, rührend, zärtlich. Sie war neununddreißig. »Ne, mein Kücken, denn du hältst dich selbst nicht für 'ne feine Marmorpuppe und uns bloß für Dreck. Ich bin doch ebensogut wie du, nicht, Paul?« Die Frage machte ihr viel Vergnügen.

»Wieso, keiner von uns ist doch besser als der andere, nicht wahr?« erwiderte er.

»Aber ich bin doch ebensogut wie du, nicht, Paul?« drang sie mutig in ihn.

»Gewiß bist du das. Soweit es auf Güte ankommt, bist du die bessere.«

Sie bekam etwas Angst vor der Sachlage. Sie möchte ins Heulen geraten.

»Ich dachte, ich wollte etwas früher hier sein als die andern – werden die nicht sagen, ich wäre tief! Nun mach mal die Augen zu ,...« sagte sie.

»Unds Maul auf und sieh zu, was Gott dir schickt,« fuhr er fort, indem er die Tat seinen Worten folgen ließ, und ein Stück Schokolade erwartete. Er hörte ihre Schürze rauschen, und ein leises Klingen von Metall. »Jetzt kucke ich,« sagte er.

Er öffnete die Augen. Fanny starrte ihn an, ihre langen Backen waren hoch gerötet, die blauen Augen glänzten. Vor ihm auf der Bank lag ein kleines Bündel Farbennäpfchen. Er wurde ganz blaß.

»Nein, Fanny,« sagte er rasch.

»Von uns allen,« antwortete sie hastig.

»Nein, aber ,...«

»Sinds die richtigen?« fragte sie, sich dabei vor Freude hin und her wiegend.

»Bei Gott, das sind ja die schönsten in der ganzen Liste!«

»Aber sinds auch die richtigen?« rief sie.

»Sie stehen alle auf der kleinen Liste, die ich mir mal besorgen wollte, wenn ich mein Schiff in den Hafen gebracht hätte.« Er biß sich auf die Lippen.

Fanny wurde von Rührung überwältigt. Sie mußte die Unterhaltung ablenken.

»Sie waren alle wie geprickelt, mitzumachen; sie haben alle ihren Anteil dran bezahlt, bloß die Königin von Saba nicht.«

Die Königin von Saba war Clara.

»Und wollte die nicht mitmachen?« fragte Paul.

»Sie hatte keine Möglichkeit; wir haben ihr nichts davon gesagt; sie sollte uns diese Geschichte nicht doktern. Wir wollten sie gar nicht dabei haben.«

Paul lachte sie an. Er war sehr gerührt. Schließlich mußte er fort. Sie stand sehr dicht bei ihm. Plötzlich schlang sie ihm die Arme um den Hals und küßte ihn heftig.

»Heute darf ich dir doch einen Kuß geben,« sagte sie entschuldigend. »Du sahst so weiß aus, das Herz hat mir ordentlich wehgetan.«

Paul gab ihr einen Kuß und verließ sie. Ihre Arme waren so jämmerlich dünn, daß ihm das Herz auch wehtat.

An diesem Tage traf er Clara, als er in der Essenszeit zum Händewaschen nach unten lief.

»Sie sind zum Essen hiergeblieben?« rief er. Das war etwas Ungewöhnliches bei ihr.

»Ja, und mir scheint, ich habe von dem Vorrat alter wundärztlicher Geräte zu essen gekriegt. Ich muß jetzt hinaus, oder ich komme mir noch durch und durch wie altes Gummi vor.«

Sie zögerte. Sofort verstand er ihren Wunsch.

»Gehen Sie irgendwo hin?« fragte er.

Sie gingen zusammen zum Schlosse hinauf. Für draußen zog sie sich sehr einfach an, fast bis zur Häßlichkeit; drinnen sah sie immer sehr nett aus. Sie ging zögernden Schrittes neben Paul her, vornübergebeugt und von ihm abgewandt. Schäbig in ihrer Kleidung und von schlechter Haltung, war sie äußerlich sehr im Nachteil. Er vermochte kaum ihre starke Gestalt wiederzuerkennen, so voller schlummernder, innerer Kräfte.

Sie erschien ihm fast unbedeutend, als ertränke sie ihre Gestalt in diesem Vornüberbeugen, als schrecke sie vor dem Blick der Öffentlichkeit zurück.

Der Schloßgarten war sehr grün und frisch. Als sie den steilen Zugang hinanklommen, lachte und schwatzte er, sie aber war stumm und schien über irgend etwas zu brüten. Sie hatten kaum Zeit genug, das Innere des viereckigen, niedrigen Gebäudes zu betreten, das die Felsklippe krönt. Sie lehnten sich über die Mauer, da, wo die Klippe senkrecht zum Park abfällt. Unter ihnen in den Sandsteinlöchern des Felsens putzten sich die Tauben und gurrten leise. Weit drunten auf der breiten Zufahrtstraße standen winzige Bäume in ihren eigenen kleinen Schattentümpeln, und winzige Menschen liefen in beinahe lächerlicher Geschäftigkeit umher.

»Man hat das Gefühl, als könnte man die Leute wie Kaulquappen auflöffeln und sich eine Handvoll von ihnen mitnehmen,« sagte er.

Sie lachte, als sie antwortete:

»Ja, wir brauchen gar nicht so weit zu gehen, um uns in richtigem Verhältnis zu sehen. Die Bäume sind doch viel bedeutender.«

»Nichts als Umfang,« sagte er.

Sie lachte spöttisch.

Weit jenseits der Zufahrtstraße glänzten die Schienen auf der Bahnstrecke, deren Rand mit kleinen Haufen Zimmerholz besetzt war, und daneben qualmten kleine Spielzeuglokomotiven ganz gewichtig. Dann lief der Silberstreifen des Wasserwegs aufs Geratewohl durch die schwarzen Haufen. Die Häuser, die drüben auf der Niederung am Fluß entlang sehr dicht standen, sahen wie schwarzes, giftiges Kraut aus, in dichten Reihen und vollgepfropften Beeten dehnten sie sich gradehin, ab und an durch ein höheres Kraut unterbrochen, genau bis dahin, wo der Fluß wie ein geheimes Schriftzeichen durch die Landschaft gleißte. Die steilen, abschüssigen Klippen drüben auf der anderen Seite des Flusses sahen lächerlich klein aus. Große Strecken der Landschaft, verdunkelt durch Bäume und schwach aufgehellt, wo Kornland war, breiteten sich gegen den Dunst hin aus, in dem die Hügel blau hinter dem Grau aufstiegen.

»Es ist ein tröstlicher Gedanke,« sagte Frau Dawes, »daß die Stadt nicht weiter reicht. So bildet sie doch erst eine kleine Wunde auf der Landschaft.«

»Einen kleinen Schorf,« sagte Paul.

Sie schauderte. Sie haßte die Stadt. Als sie so traurig über das ihr verbotene Land hinaussah, ihr leidenschaftsloses Gesicht blaß und feindselig, da erinnerte sie Paul an einen der verbitterten, reumütigen Engel.

»Aber die Stadt ist doch ganz in der Ordnung,« sagte er; »sie steht ja nur auf Zeit. Dies ist doch nur der rohe, ungeschickte Notbehelf, den wir uns ausgeklügelt haben, bis wir auf den richtigen Gedanken kommen. Die Stadt wird schon zurechtkommen.«

Die Tauben in den Felslöchern zwischen den angeklebten Büschen gurrten behaglich. Zur Linken hob sich die große Marienkirche in den Raum, als naher Gefährte des Schlosses, hoch über die aufgehäuften Massen der Stadt empor. Frau Dawes lächelte strahlend, als sie in das Land hinausblickte.

»Jetzt fühle ich mich besser,« sagte sie.

»Danke Ihnen,« sagte er. »Große Anerkennung!«

»Ach, mein Bruder!« lachte sie.

»Hm! Das heißt doch, mit der linken Hand wieder wegreißen, was du mit der rechten gegeben hast, weiß Gott,« sagte er.

Sie lachte vor Vergnügen über ihn.

»Aber was ist denn mit Ihnen los?« fragte er. »Ich weiß, Sie brüteten über irgendwas Besonderem. Die Anzeichen davon sehe ich noch auf ihrem Gesicht.«

»Ich denke, ich möchte es Ihnen lieber nicht erzählen,« sagte sie.

»Schön, denn knutschen Sie es man alleine ab,« antwortete er.

Sie errötete und biß sich auf die Lippen.

»Nein,« sagte sie, »die Mädchen waren es.«

»Was denn mit den Mädchen?« fragte Paul.

»Sie haben sich nun schon seit einer Woche verschworen, und heute scheinen sie ganz besonders voll davon. Alle miteinander; sie beleidigen mich mit ihrer Geheimtuerei.«

»Wirklich?« fragte er voller Teilnahme.

»Ich würde mir ja nichts draus machen,« fuhr sie mit ihren metallischen, ärgerlichen Tönen fort, »wenn sie es mir nicht so unter die Nase hielten – die Tatsache, daß sie ein Geheimnis haben.«

»Richtig wie Frauenzimmer,« sagte er.

»Häßlich, ihre gemeine Schadenfreude,« sagte sie heftig.

Paul war stumm. Er wußte, worüber die Mädchen sich freuten. Es tat ihm leid, die Ursache dieses neuen Zwiespaltes zu sein.

»Mögen sie doch alle Geheimnisse der Welt haben,« fuhr sie fort, in bitterem Brüten; »aber sie brauchen doch nicht so'n Wesens davon zu machen und mich fühlen machen, daß ich ihnen ferner stehe als zuvor. Es ist – es ist fast nicht zum Aushalten.«

Paul dachte ein paar Minuten nach. Er war sehr verstört.

»Ich will Ihnen sagen, um was es sich handelt,« sagte er, blaß und gereizt: »Es ist mein Geburtstag, und sie haben mir einen feinen Haufen Farben geschenkt, die Mädchen alle. Sie sind eifersüchtig auf Sie« – er fühlte, wie sie bei dem Worte ›eifersüchtig‹ steif erkältete – »bloß weil ich Ihnen zuweilen mal ein Buch mitbringe,« fügte er langsam hinzu. »Aber sehen Sie, das ist doch nur 'ne Kleinigkeit. Grämen Sie sich nicht drum, nicht wahr? – weil« – er lachte rasch auf – »na ja, was würden sie sagen, wenn sie uns hier jetzt sähen, trotz ihres Sieges?«

Sie war ärgerlich auf ihn wegen seiner ungeschickten Bezugnahme auf ihre augenblickliche Vertraulichkeit. Das war beinahe unverschämt von ihm. Und doch war er so ruhig, daß sie ihm vergab, wenn es sie auch eine große Anstrengung kostete.

Ihrer beider Hände lagen auf der steinernen Brüstung der Schloßmauer. Er hatte von seiner Mutter die Feinheit des Körperbaus geerbt, so daß seine Hände klein und kräftig waren. Die ihren waren groß, im Einklang mit ihren großen Gliedmaßen, sahen aber weiß und mächtig aus. Sowie Paul sie ansah, verstand er sie. »Sie sehnt sich nach jemand, der ihre Hände ergreift – bei all ihrer Verachtung gegen uns,« sagte er bei sich. Und sie sah nichts als seine beiden Hände, so warm und lebensvoll, die für sie zu leben schienen. Nun begann er zu brüten und unter mürrischen Brauen hervor über das Land hinauszuschauen. Der fesselnde kleine Unterschied in der Gestalt war jetzt von der Bühne verschwunden; was blieb, war ein undeutlicher dunkler Stempel von Sorge und Trauer, der gleiche überall in Häusern und auf Schleppkähnen, bei Menschen und Vögeln; nur waren sie verschieden gestaltet. Und nun, wo die Formen hinweggeschmolzen schienen, blieb nur noch die Masse übrig, aus der die Landschaft sich zusammensetzte, eine dunkle Masse von Kampf und Schmerz. Die Werkstatt, die Mädchen, seine Mutter, die große aufstrebende Kirche, das Dickicht der Stadt, alle in ein und denselben Dunstkreis hinabgetaucht – dunkel, brütend und sorgenvoll, jedes bißchen.

»Schlägts da zwei Uhr?« sagte Frau Dawes voller Überraschung.

Paul fuhr auf, und alles sprang wieder in seine frühere Gestalt zurück, nahm seine alte Wesenheit wieder an, seine Vergeßlichkeit, seine Fröhlichkeit.

Sie eilten wieder an ihre Arbeit.

Als er in höchster Eile die Abendpost vorbereitete und grade die aus Fannys Raum heraufgeschickten Sachen prüfte, die noch nach dem Plätten rochen, kam der Abendbriefträger herein.

»›Herrn Paul Morel‹« sagte er lächelnd, indem er Paul ein Päckchen aushändigte. »Eine Damenhand! Lassen Sie das man die Mädchen nicht sehen.«

Der Briefträger, selbst gut angeschrieben, fand seinen Spaß daran, sich über die Zuneigung der Mädchen zu Paul lustig zu machen.

Es war ein Band Gedichte mit einem kurzen Briefchen: »Sie wollen mir gestatten, Ihnen dies zu übersenden und so meine Vereinsamung zu schonen. Auch ich nehme allen Anteil an Ihnen und wünsche Ihnen alles Gute. – C. ;D.« Paul errötete über und über.

»Guter Gott! Frau Dawes. Sie kanns doch nicht. Lieber Gott, wer hätte das je gedacht!«

Er war plötzlich tief gerührt. Er fühlte sich voller Wärme gegen sie. In dieser Glut war es ihm beinahe, als wäre sie bei ihm – ihre Arme, ihre Schultern, ihr Busen, als könne er sie sehen, fühlen, sie beinahe umfangen.

Dieser Schritt von Claras Seite brachte sie zu engerer Vertraulichkeit. Die anderen Mädchen bemerkten, daß, wenn Paul Frau Dawes traf, seine Augen sich hoben und jenen besonderen Glanz annahmen beim Grüßen, den sie recht gut auszulegen verstanden. Im Bewußtsein, daß er dies gar nicht bemerke, gab Clara kein Zeichen von sich, sondern wandte nur gelegentlich ihr Gesicht zur Seite, wenn er zu ihr kam. Sie gingen sehr oft nach dem Essen zusammen aus; das geschah völlig offen, völlig frei. Jedermann schien zu fühlen, daß er sich über den Zustand seiner Empfindungen völlig im unklaren sei, und daß daher nichts Unrechtes vor sich gehe. Er sprach zu ihr nun mit ein wenig der gleichen alten Wärme, mit der er zu Miriam gesprochen hatte, aber er machte sich nicht so viel aus der Unterhaltung; er quälte sich nicht viel um seine Schlußfolgerungen.

Eines Tages im Oktober gingen sie zum Tee nach Lambley hinaus. Plötzlich kamen sie oben auf dem Hügel etwas zum Halten. Er kletterte auf ein Gatter und setzte sich dort hin, sie saß auf dem Pfosten. Der Nachmittag war vollkommen ruhig, mit einem schwachen Dunst, durch den gelbe Garben hindurchglühten. Sie schwiegen.

»Wie alt waren Sie, als Sie heirateten?« fragte er ruhig.

»Zweiundzwanzig.«

Ihre Stimme klang unterdrückt, fast unterwürfig. Nun würde sie ihm alles erzählen.

»Das war vor acht Jahren?«

»Ja.«

»Und wann verließen Sie ihn?«

»Vor drei Jahren.«

»Fünf Jahre. Liebten Sie ihn, als Sie ihn heirateten?«

Sie schwieg eine Zeitlang; dann sagte sie langsam:

»Ich glaubte es – mehr oder weniger. Ich dachte nicht viel darüber nach. Und er wollte mich haben. Ich war damals sehr spröde.«

»Und Sie liefen da so beinahe gedankenlos hinein?«

»Ja. Ich habe anscheinend mein ganzes Leben lang geschlafen.«

»Schlafwachend? Aber – wann wachten Sie denn auf?«

»Ich weiß gar nicht, ob ich je aufwachte oder überhaupt je wach geworden bin – seit meiner Kinderzeit.«

»Sie schliefen ein, als Sie zur Frau wurden? Wie sonderbar! Und er weckte Sie nicht auf?«

»Nein; so weit ist er nie gelangt,« antwortete sie eintönig.

Braune Vögel sausten über die Hecken, in denen die Hagebutten in scharlachner Nacktheit dastanden.

»Wie weit?« fragte er.

»Bis zu mir. Er war mir tatsächlich nie Etwas.«

Der Nachmittag war von so sanfter Wärme und Duftigkeit. Rot flammten die Häuserdächer in dem blauen Dunst. Solche Tage liebte er. Er konnte fühlen, wenn auch nicht begreifen, was Clara sagte.

»Aber warum verließen Sie ihn denn? War er gemein gegen Sie?«

Sie schauerte leicht zusammen.

»Er – er erniedrigte mich in gewisser Weise. Er wollte mich einschüchtern, weil er mich nicht erreichen konnte. Und dann wars mir, als müßte ich rennen, als wäre ich gefesselt und gebunden. Und er kam mir so schmutzig vor.«

»Ich sehe.«

Er sah ganz und gar nichts.

»Und war er immer so schmutzig?« fragte er.

»Ein wenig,« erwiderte sie langsam. »Und dann schien es auch, als könnte er tatsächlich gar nicht zu mir kommen. Und dann wurde er roh – er war roh.«

»Und warum haben Sie ihn schließlich verlassen?«

»Weil – weil er mir untreu wurde ,...«

Nun schwiegen sie beide eine Zeitlang. Sie hatte, um sich im Gleichgewicht zu halten, ihre Hand auf den Gatterpfosten gelegt. Er legte seine darüber. Sein Herz klopfte schwer.

»Aber haben Sie ihm denn – waren Sie je – gaben Sie ihm denn wohl je eine Möglichkeit dazu?«

»Eine Möglichkeit? Wozu?«

»Ihnen näherzukommen.«

»Ich hatte ihn doch geheiratet – und hatte die beste Absicht ,...«

Sie bemühten sich beide, ihre Stimmen in der Gewalt zu behalten.

»Ich glaube, er liebt Sie,« sagte er.

»Es sieht so aus,« erwiderte sie.

Er wollte seine Hand wieder wegnehmen und konnte es nicht. Sie rettete ihn, indem sie die ihre wegzog. Nach einigem Schweigen begann er wieder:

»Haben Sie ihn ganz aus Ihrem Leben gestrichen?«

»Er hat mich doch verlassen,« sagte sie.

»Und ich vermute, er konnte Ihnen gegenüber gar keine Bedeutung gewinnen?«

»Er versuchte das durch Einschüchterung.«

Aber diese Unterhaltung hatte sie beide aus ihrer Tiefe hervorgeholt. Plötzlich sprang Paul herunter.

»Kommen Sie,« sagte er. »Wir wollen gehen und Tee trinken.«

Sie fanden ein Häuschen, wo sie in dem kalten Wohnzimmer sitzen konnten. Sie schenkte ihm Tee ein. Sie war sehr ruhig. Er fühlte, sie habe sich wieder von ihm zurückgezogen. Nach dem Tee stierte sie brütend in ihre Tasse, wobei sie ihren Ehering die ganze Zeit über hin und her drehte. In ihrer Geistesabwesenheit zog sie den Ring vom Finger, stellte ihn aufrecht hin und ließ ihn über den Tisch hintanzen. Das Gold wurde zu einer durchscheinenden glitzernden Kugel. Es fiel, und der Ring lag zitternd auf dem Tische. Sie ließ ihn wieder und wieder tanzen. Paul beobachtete ihn wie verzaubert.

Aber sie war eine verheiratete Frau, und er glaubte noch an reine Freundschaft. Und er hielt sich für völlig ehrenhaft in seinen Beziehungen zu ihr. Es war lediglich eine Freundschaft zwischen Mann und Frau, wie sie jeder beliebige Mensch hätte pflegen können.

Er war wie so viele junge Menschen seines Alters. Das Geschlechtliche in ihm war so verzwickt geworden, daß er es abgestritten hätte, er wolle Clara oder Miriam oder überhaupt irgendein weibliches Wesen seiner Bekanntschaft haben. Geschlechtliche Begierden waren für ihn etwas ganz abseitsstehendes, etwas, das gar nicht zur Frau gehörte. Er liebte Miriam mit der Seele. Er wurde warm beim Gedanken an Clara, er focht mit ihr, er kannte die Rundungen ihrer Brust und Schultern, als wären sie in seinem Innern geformt worden; und doch wollte er sie nicht gradewegs haben. Das hätte er stets abgestritten. Er hielt sich tatsächlich an Miriam gebunden. Sollte er überhaupt jemals heiraten, irgendwann in ferner Zukunft, dann würde es seine Pflicht sein, Miriam zu heiraten. Das gab er Clara zu verstehen, und sie sagte nichts, sondern ließ ihn seinen Weg gehen. Er kam zu ihr, Frau Dawes, so oft er konnte. Dann schrieb er häufig an Miriam und besuchte sie auch gelegentlich. So trieb er es den Winter hindurch; aber er schien nicht mehr so vergrämt. Seine Mutter fühlte sich leichter seinetwegen. Sie glaubte, er käme von Miriam los.

Miriam begriff jetzt, wie stark die Anziehungskraft Claras auf ihn war; aber sie war sich immer noch sicher, das Beste in ihm werde den Sieg davontragen. Seine Empfindungen für Frau Dawes – die überdies ja auch eine verheiratete Frau war – waren oberflächlich und nur zeitweilig, verglichen mit seiner Liebe zu ihr selbst. Er würde zu ihr zurückkommen, dessen war sie sicher; ein wenig seiner Frische möchte fort sein, vielleicht, aber er würde von seiner Sucht nach geringeren Dingen geheilt sein, die andere Frauen als sie ihm hatten gewähren können. Sie könnte alles ertragen, wenn er nur innerlich ihr treu bliebe und wiederkäme.

Er sah nichts von dem Ungewöhnlichen seines Verhaltens. Miriam war seine alte Freundin, seine Geliebte, und sie gehörte zu Bestwood, zu seinem Heim, seiner Jugend. Clara war eine neuere Freundin, und sie gehörte zu Nottingham, zum Leben, zur Welt. Das erschien ihm ganz einfach.

Frau Dawes und er hatten manche Zwischenräume von Erkaltung, in denen sie sich selten sahen; aber sie kamen immer wieder zusammen.

»Waren Sie eklig gegen Baxter Dawes?« fragte er sie. Das war etwas, was ihn zu beunruhigen schien.

»Inwiefern?«

»Oh, ich weiß nicht. Aber waren Sie nicht eklig gegen ihn? Taten Sie nichts, das ihn in Stücke schlug?«

»Was denn, bitte?«

»Indem Sie ihm das Gefühl beibrachten, als wäre er überhaupt nichts – ich weiß,« erklärte Paul.

»Sie sind so klug, mein Freund,« sagte sie kühl.

Hier brach das Gespräch ab. Aber es kühlte sie gegen ihn auf eine Zeitlang ab.

Sie sah Miriam jetzt nur sehr selten. Die Freundschaft zwischen den beiden Frauen wurde nicht abgebrochen, aber doch erheblich schwächer.

»Werden Sie Sonntagnachmittag zum Konzert hereinkommen?« fragte Clara ihn gleich nach Weihnachten.

»Ich habe versprochen, nach dem Willeyhofe zu gehen,« erwiderte er.

»Oh, schön.«

»Sie machen sich doch nichts draus?« fragte er.

»Warum sollt ich?« erwiderte sie.

Und das ärgerte ihn beinahe.

»Wissen Sie, Miriam und ich sind uns einander sehr viel gewesen, seit ich sechzehn war – das sind jetzt sieben Jahre.«

»'ne lange Zeit,« erwiderte Clara.

»Ja; aber trotzdem, sie – es geht nicht so recht ,...«

»Wieso?« fragte Clara.

»Sie scheint an mir zu zerren und zu zerren, und sie würde mir nicht ein einziges Haar ausfallen und wegwehen lassen – sie würde es aufbewahren.«

»Aber Sie lassen sich ja so gern aufbewahren.«

»Nein,« sagte er, »gar nicht. Ich wollte, ich könnte wie andere sein, geben und nehmen – wie Sie und ich. Ich sehne mich nach einer Frau, die mich hält, aber nicht in der Tasche.«

»Aber wenn Sie sie lieben, könnte es eben nicht wie gewöhnlich sein, wie zwischen mir und Ihnen.«

»Doch; dann könnte ich sie viel lieber haben. Sie sehnt sich scheinbar so sehr nach mir, daß ich mich ihr nicht geben kann.«

»Sehnt sich, wie denn?«

»Sie sehnt sich nach der Seele aus meinem Leibe. Ich muß immer vor ihr zurückschrecken.«

»Und doch lieben Sie sie?«

»Nein, ich liebe sie nicht. Ich küsse sie sogar niemals.«

»Warum denn nicht?« fragte Clara.

»Ich weiß nicht.«

»Ich vermute, Sie sind bange,« sagte sie.

»Nein. Etwas in mir schreckt vor ihr zurück wie vor der Hölle – sie ist so gut, wenn ich nicht gut bin.«

»Wie können Sie denn wissen, wie sie ist?«

»Das weiß ich aber! Ich weiß, sie sehnt sich nach einer Art Seelengemeinschaft.«

»Aber woher wissen Sie denn, wonach sie sich sehnt?«

»Ich bin doch sieben Jahre mit ihr zusammen gewesen.«

»Und haben noch nicht mal das allererste über sie ausfindig gemacht.«

»Was ist das?«

»Daß sie von Ihrer Seelengemeinschaft gar nichts wissen will. Das ist bloß Ihre Einbildung. Sie will Sie selbst.«

Er dachte hierüber nach. Vielleicht war er im Unrecht.

»Aber sie scheint doch ,...« begann er.

»Sie habens ja nie versucht,« antwortete sie.


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