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Zwölftes Kapitel. Leidenschaft

Allmählich brachte er es so weit, sich seinen Lebensunterhalt durch seine Kunst zu verdienen. Liberty hatte einzelne seiner gemalten Entwürfe für verschiedene Stoffe angenommen, und er konnte Zeichnungen für Stickereien, Altardecken und ähnliches an ein oder zwei Stellen absetzen. Es war noch nicht sehr viel, was er augenblicklich verdiente, aber es würde schon mehr werden. Er hatte auch Freundschaft mit dem Zeichner einer Kunsttöpferei geschlossen und gewann ein wenig Einsicht in seines neuen Bekannten Kunst. Die angewandten Künste fesselten ihn besonders. Zu gleicher Zeit arbeitete er langsam an seinen Bildern weiter. Er mochte sehr gern große Gestalten ausführen, voller Licht, aber nicht lediglich aus Licht und darübergeworfenen Schatten bestehend, wie die der Impressionisten; viel eher bestimmte Gestalten, die etwas Leuchtendes in sich hatten, wie manche von Michelangelos Darstellungen. Und diese setzte er in eine Landschaft hinein, in Verhältnissen, wie er sie für richtig hielt. Zum großen Teil arbeitete er aus dem Gedächtnis und verwandte jeden ihm bekannten Menschen. Er glaubte fest an seine Arbeit, an ihre Güte und ihren Wert. Trotz Anfällen von Niedergeschlagenheit, Zurückschrecken, allem möglichen glaubte er doch an sein Werk.

Er war vierundzwanzig, als er seiner Mutter gegenüber zum ersten Mal sein Selbstvertrauen aussprach.

»Mutter,« sagte er, »ich werde noch ein Maler, auf den die Leute achten sollen.«

Sie rümpfte die Nase in ihrer sonderbaren Weise. Es war, als zucke sie halb wohlgefällig die Achseln.

»Schön, mein Junge, wollen mal sehen,« sagte sie.

»Du sollst schon sehen, mein Täubchen. Du sollst schon sehen, ob du nicht noch eines schönen Tages ganz hochnäsig wirst!«

»Ich bin so ganz zufrieden, mein Junge,« lächelte sie.

»Du mußt aber anders werden. Sieh dich doch bloß mal an mit Minnie!«

Minnie war das kleine Dienstmädchen von vierzehn.

»Und was ist denn mit Minnie?« fragte Frau Morel würdevoll.

»Ich hörte sie heute morgen: ›I, Frau Morel, das wollte ich doch tun!‹ als du in den Regen hinausgingst nach Kohlen,« sagte er. »Das sieht grade danach aus, als ob du Dienstboten richtig behandeln könntest!«

»Ach, das war nur, weil das Kind so nett war,« sagte Frau Morel.

»Und du entschuldigst dich noch bei ihr: ›Du kannst doch nicht zweierlei auf einmal tun, nicht wahr?‹«

»Sie hatte aber auch aufzuwaschen,« erwiderte Frau Morel.

»Und was sagte sie: ›Das hätte auch leicht noch etwas warten können. Nun sehen Sie mal, wie patschenaß Ihre Füße wieder sind!‹«

»Ja – so'n freches junges Pack!« sagte Frau Morel lächelnd.

Er sah seine Muter lachend an. Sie war wieder ganz rosig und warm vor Liebe zu ihm. Es schien, als läge aller Sonnenschein einen Augenblick lang auf ihr. Froh fuhr er mit seiner Arbeit fort. Sie schien so glücklich, wenn sie sich wohlfühlte, daß er ihr graues Haar ganz vergaß.

Und dies Jahr ging sie mit ihm auf die Insel Wight in die Sommerfrische. Es war zu aufregend für sie beide und zu wunderschön. Frau Morel war voll freudiger Bewunderung. Aber er hätte sie gern zu längeren Gängen mitgenommen, als sie zu unternehmen imstande war. Sie bekam einen bösen Ohnmachtsanfall. So grau wurde ihr Gesicht, so blau ihr Mund! Das verursachte ihm Todesqualen. Er fühlte sich, als stieße ihm jemand ein Messer in die Brust. Dann wurde sie wieder wohler, und er vergaß es. Aber die Angst blieb doch fühlbar, wie eine sich nicht schließende Wunde.

Sobald er Miriam verlassen hatte, ging er beinahe sofort zu Clara. An dem Montag noch, dem Tage seines Bruches mit ihr, ging er in den Arbeitsraum hinunter. Sie sah zu ihm auf und lächelte. Ohne es zu bemerken, waren sie sehr vertraut miteinander geworden. Sie bemerkte eine neue Helligkeit an ihm.

»Na, Königin von Saba!« sagte er lachend.

»Wieso denn?« fragte sie.

»Ich finde, das paßt gut für Sie. Sie haben einen neuen Rock an.«

Sie errötete, während sie fragte:

»Und was ist mit dem?«

»Steht Ihnen – schauderhaft. Ich müßte Ihnen mal ein Kleid entwerfen.«

»Wie würde das werden?«

Er blieb vor ihr stehen, seine Augen glitzerten, als er es ihr auseinandersetzte. Er hielt ihre Augen mit den seinen fest. Dann plötzlich packte er sie. Sie fuhr halbwegs zurück. Er zog den Stoff ihrer Bluse fester zusammen und glättete ihn über der Brust.

»Mehr so!« erklärte er.

Aber sie waren alle beide von flammender Röte übergossen, und er lief sofort davon. Er hatte sie berührt. Sein ganzer Körper erbebte unter dieser Empfindung.

Es war bereits eine Art geheimen Einverständnisses zwischen ihnen vorhanden. Am nächsten Abend ging er mit ihr auf ein paar Minuten vor Abgang seines Zuges ins Lichtspielhaus. Während sie dasaßen, sah er ihre Hand dicht neben sich liegen. Ein paar Augenblicke wagte er nicht, sie zu berühren. Die Bilder tanzten und flimmerten. Dann nahm er ihre Hand in die seine. Sie war groß und fest; sie füllte die seinige vollständig aus. Er hielt sie fest. Sie bewegte sie weder, noch gab sie irgendein Zeichen von sich. Als sie nach draußen gingen, war sein Zug grade fällig. Er zögerte.

»Gute Nacht,« sagte sie. Mit einem Satze war er über die Straße.

Am nächsten Tage kam er wieder und sprach mit ihr. Sie war ziemlich hochmütig gegen ihn.

»Wollen wir Montag etwas spazierengehen?« fragte er.

Sie wandte ihr Gesicht zur Seite.

»Werden Sie es Miriam erzählen?« entgegnete sie spöttisch.

»Ich habe mit ihr gebrochen,« sagte er.

»Wann?«

»Vorigen Sonntag.«

»Haben Sie sich gezankt?«

»Nein! Ich war fest entschlossen. Ich habe ihr ein für allemal gesagt, daß ich mich für frei halte.«

Clara antwortete nicht, und er kehrte an seine Arbeit zurück. Sie war so ruhig und stolz!

Am Sonnabend bat er sie, in ein Gasthaus zu kommen und mit ihm Kaffee zu trinken, sie wollten sich dort nach der Arbeitszeit treffen. Sie kam und sah sehr zurückhaltend und fern aus. Er hatte noch drei Viertelstunden Zeit bis zu seinem Zuge.

»Wir wollen noch einen Augenblick gehen,« sagte er.

Sie stimmte zu, und sie gingen am Schloß vorüber in den Park. Er war bange vor ihr. Sie schritt düster neben ihm her in einer bösen, widerwilligen, verärgerten Gangart. Er fürchtete sich, ihre Hand zu ergreifen.

»Wo wollen wir hin?« fragte er, als sie in der Dunkelheit dahinschritten.

»Mir ists einerlei.«

»Dann wollen wir hier die Treppe hinauf.«

Plötzlich wandte er sich um. Sie waren an der Parktreppe vorbei. Sie stand still und war böse, daß er sie plötzlich im Stiche gelassen hatte. Er sah sich nach ihr um. Sie stand abseits. Plötzlich nahm er sie in die Arme, hielt sie einen Augenblick ganz steif und küßte sie. Dann ließ er sie los.

»Komm,« sagte er reumütig.

Sie folgte ihm. Er nahm ihre Hand und küßte ihre Fingerspitzen. Sie schritten in Schweigen einher. Sobald sie wieder ins Helle kamen, ließ er ihre Hand fahren. Keiner sprach, bis sie an den Bahnhof kamen. Dann sahen sie einander in die Augen.

»Gute Nacht,« sagte sie.

Und er ging zu seinem Zuge. Sein Körper handelte ganz gedankenlos. Leute sprachen ihn an. Er hörte einen schwachen Widerhall ihnen antworten. Er war rasend. Er fühlte, er würde verrückt werden, wenn Montag nicht sogleich herankäme. Am Montag würde er sie wiedersehen. Sein ganzes Ich war hier im voraus festgenagelt. Der Sonntag lag dazwischen. Das konnte er nicht aushalten. Bis Montag sollte er sie nicht sehen. Und Sonntag lag dazwischen – Stunden und aber Stunden der Spannung. Er hätte gern mit dem Kopf gegen die Wagentür geschlagen. Aber er saß still. Auf dem Nachhausewege trank er etwas Whisky, aber der machte es nur schlimmer. Seine Mutter durfte nicht aufgeregt werden, das war die Hauptsache. Er verstellte sich und ging rasch zu Bett. Da saß er, ganz angezogen, das Kinn auf den Knien, und starrte durchs Fenster nach dem fernen Hügel mit seinen paar Lichtern. Er dachte nicht und schlief auch nicht, er saß nur still und starrte hinaus. Und als er schließlich so kalt wurde, daß er wieder zu sich kam, da fand er, seine Uhr war um halb drei stehengeblieben. Es war nach drei Uhr. Er war erschöpft, aber das quälende Bewußtsein, es sei erst Sonntag morgen, hielt noch an. Er ging zu Bett und schlief. Dann radelte er den ganzen Tag, bis er ausgepumpt war. Und er wußte kaum, wo er gewesen war. Aber der Tag darauf war Montag. Er schlief bis vier Uhr. Dann lag er und dachte nach. Er kam sich wieder näher – er konnte sein wirkliches Ich irgendwo da vorne erkennen. Am Nachmittag würde sie mit ihm ausgehen. Nachmittag! Das schien noch Jahre entfernt zu liegen.

Langsam krochen die Stunden dahin. Sein Vater stand auf; er hörte ihn herumkramen. Dann zog der Bergmann los zur Grube, wobei seine schweren Stiefel über den Hof schlürften. Hähne krähten noch. Ein Wagen fuhr die Straße hinunter. Seine Mutter stand auf. Sie schürte das Feuer. Da rief sie ihn auch schon leise. Er antwortete, wie aus tiefem Schlaf. Diese Verhüllung seiner selbst war gut.

Er ging zum Bahnhof – wieder eine Meile. Der Zug näherte sich Nottingham. Würde er vorm Tunnel halten? Aber das war ja einerlei, er würde schon noch vor der Essenszeit hinkommen. Er war bei Jordan. In einer halben Stunde würde sie kommen. Jedenfalls müßte sie schon in der Nähe sein. Mit seinen Briefen war er fertig. Sie müßte da sein. Vielleicht war sie nicht gekommen. Er lief nach unten. Ah! er sah sie durch die Glastür. Ihre ein wenig über ihre Arbeit gebeugten Schultern ließen ihn sich fühlen, als könne er nicht weiter vorwärts; er konnte nicht mehr aufrechtstehen. Er trat ein. Er war blaß, gereizt, ungeschickt, und ganz kalt. Würde sie ihn mißverstehen? In dieser Verhüllung konnte er sich nicht geben wie er war.

»Und heute Nachmittag,« brachte er mit Anstrengung hervor; »werden Sie kommen?«

»Ich denke,« erwiderte sie flüsternd.

Er stand vor ihr, unfähig ein Wort zu sagen. Sie verbarg ihr Gesicht vor ihm. Wieder überkam ihn das Gefühl, er müsse das Bewußtsein verlieren. Er biß die Zähne zusammen und ging nach oben. Bis jetzt hatte er alles gehörig durchgeführt, und das wollte er auch weiterhin. Alle Obliegenheiten des Morgens schienen ihm so fern, wie sie einem Menschen unter Chloroform vorkommen. Er selbst kam sich wie in den Banden einer festen Zwangsvorstellung vor. Dann war noch sein anderes Ich da, weit weg, das allerlei tat, Sachen in Bücher eintrug, und er beobachtete dies ferne Ich sorgfältig, damit es keine Fehler mache.

Aber viel länger konnten der Schmerz und die Anstrengung dieses Zustandes nicht dauern. Er arbeitete unablässig. Aber es war erst zwölf Uhr. Als hätte er seinen Anzug an den Schreibtisch genagelt, stand er da und arbeitete, rang er seinem Inneren jeden Federstrich ab. Es war ein Viertel vor eins; er konnte aufräumen. Dann lief er nach unten.

»Wollen Sie mich um zwei Uhr am Springbrunnen treffen?« sagte er.

»Vor halb drei kann ich nicht da sein.«

»Ja!« sagte er.

Sie sah den Wahnsinn in seinen dunklen Augen.

»Ich will versuchen, ein Viertel nach ,...«

Und damit mußte er sich zufrieden geben. Er ging und aß etwas. Die ganze Zeit über war er immer noch unter Chloroform, und jede Minute dehnte sich unendlich lang hin. Meilenweit lief er durch die Straßen. Dann dachte er, er könne zu spät zu ihrem Treffpunkt gelangen. Fünf Minuten vor zwei war er beim Springbrunnen. Die Folter der nächsten Viertelstunde war ausgesucht über jeden Begriff. Es war die Angst um das Zusammensein seines lebendigen Ich und seiner Verhüllung. Dann sah er sie. Sie kam. Und er war da.

»Sie kommen spät,« sagte er.

»Fünf Minuten nur,« antwortete sie.

»Ich hätte Ihnen das nie angetan,« lachte er.

Sie war in einem dunkelblauen Kleid. Er sah ihre schöne Gestalt an.

»Sie müssen ein paar Blumen haben,« sagte er und schritt auf den nächsten Blumenhändler zu.

Sie folgte ihm in Schweigen. Er kaufte ihr einen Strauß scharlachner, ziegelroter Nelken. Errötend steckte sie sie in ihre Jacke.

»Das ist 'ne schöne Farbe!« sagte er.

»Ich hätte lieber etwas Sanfteres gehabt,« sagte sie.

Er lachte.

»Denken Sie, Sie wären ein Zinnoberfleck, der die Straße hinunterläuft!« sagte er.

Sie ließ den Kopf hängen, aus Furcht vor den ihnen entgegenkommenden Leuten. Er sah sie während des Gehens von der Seite an. Auf ihrem Gesicht dicht am Ohre wuchs ein wundervoller Flaum, den er zu gern berührt hätte. Und eine gewisse Schwere, die Schwere einer sehr vollen, im Winde schwankenden Kornähre, die auf ihr lag, jagte sein Hirn im Kreise herum. Er glaubte, er torkle in Kreisen über die Straße, alles gehe mit ihm in die Runde.

Als sie in der Elektrischen saßen, lehnte sie ihre schwere Schulter gegen ihn an, und er nahm ihre Hand. Er fühlte sich aus der Betäubung aufwachen und wieder zu atmen anfangen. Ihr halb unter ihrem dunklen Blondhaar verborgenes Ohr war ihm ganz nahe. Die Versuchung, es zu küssen, war fast zu groß. Aber es saßen noch andere Leute oben an Deck. Es zu küssen blieb ihm also noch vorbehalten. Schließlich war er ja gar nicht er selbst, er war nur eins ihrer besonderen Merkmale, etwa wie der auf sie herniederfallende Sonnenschein.

Er sah rasch weg. Es hatte geregnet. Die große Klippe des Schloßfelsens war ganz von Regenwasser gestreift, wie sie sich da so über die Niederung der Stadt emporhob. Sie kreuzten den weiten, schwarzen Raum der Mittelland-Eisenbahn und fuhren an den weiß hervorstechenden Viehhürden vorüber. Dann liefen sie die schmutzige Wilford Road hinab.

Sie schwankte leise, entsprechend der Bewegung des Wagens, und da sie sich an ihn anlehnte, schwankte sie gegen ihn an. Er war ein kräftiger, schlankgewachsener Mann mit nicht zu erschöpfender Tatkraft. Sein Gesicht war rauh, mit grobgehauenen Zügen, wie beim gewöhnlichen Volk; aber seine Augen unter den tiefen Brauen waren so voller Leben, daß sie sie bezauberten. Sie schienen zu tanzen und waren doch so still, sie zitterten mit der feinsten Schwebung seines Lachens. Sein Mund ebenso stand grade im Begriff, in ein Siegeslachen auszubrechen, und tats doch nicht. Eine scharfe Zurückhaltung lag über ihm. Sie biß sich düster auf die Lippen. Seine Hand schloß sich hart über der ihren.

An der Schranke bezahlten sie jeder einen halben Penny und gingen dann über die Brücke. Der Trent war sehr hoch. Schweigend und hinterhältig fuhr er unter der Brücke hindurch, eine weiche, dahineilende Masse. Es hatte stark geregnet. Auf den Niederungen am Flusse schimmerten flache Wasserlachen. Der Himmel war grau, mit Silberblicken hier und da. Auf dem Kirchhofe in Wilford waren die Dahlien ganz vom Regen durchtränkt – nasse, schwärzlich-purpurne Klumpen. Niemand war auf dem Pfade an den grünen Flußwiesen entlang zu sehen, unter dem Ulmengange.

Der denkbarst feine Dunst lag über dem schwärzlich-silbernen Wasser und den grünen Flußufern und den mit Gold umklammerten Ulmenbäumen. In einer dichten Masse glitt der Fluß dahin, äußerst geräuschlos und geschwinde, sich in sich selbst verschlingend wie ein ganz feines, verwickeltes Wesen. Clara schritt düster neben ihm her.

»Warum«, sagte sie endlich, in ziemlich gehässigem Tone, »haben Sie Miriam verlassen?«

Er runzelte die Stirn.

»Weil ich sie verlassen wollte,« sagte er.

»Wieso?«

»Weil ich nicht mit ihr weitermachen wollte. Und heiraten wollte ich sie nicht.«

Sie blieb einen Augenblick stumm. Sie suchten ihren Weg den schlammigen Pfad entlang. Wassertropfen fielen von den Ulmenbäumen herab.

»Sie wollten Miriam nicht heiraten, oder Sie wollten überhaupt nicht heiraten?« fragte sie.

»Beides,« antwortete er; »beides!«

Sie hatten sich hin und her zu winden, um zu dem Übergang zu gelangen, wegen der Wassertümpel.

»Und was sagte sie?« fragte Clara.

»Miriam? Ich wäre ein Kind von vier Jahren und hätte immer von ihr weggestrebt.«

Hierüber dachte Clara eine Zeitlang nach.

»Aber Sie sind wirklich eine Zeitlang mit ihr gegangen?« fragte sie.

»Ja.«

»Und nun wollen Sie nichts mehr von ihr wissen?«

»Nein. Ich weiß, es hat keinen Zweck.«

Wieder dachte sie nach.

»Finden Sie nicht, Sie haben sie recht schlecht behandelt?« fragte sie.

»Ja; ich hätte es vor Jahren fallen lassen sollen. Aber es hätte keinen Zweck gehabt, weiter fortzufahren. Zwei Fehlschläge machen nicht einen Erfolg.«

»Wie alt sind Sie denn?« fragte Clara.

»Fünfundzwanzig.«

»Und ich bin dreißig,« sagte sie.

»Ich weiß.«

»Ich werde bald einunddreißig – oder bin ich schon einunddreißig?«

»Ich weiß nicht und mache mir auch nichts draus. Was liegt denn daran!«

Sie waren am Eingang zum Hain. Der nasse, rote Pfad, schon klebrig durch gefallene Blätter, führte das steile Ufer hinauf durch das Gras. Auf beiden Seiten standen die Ulmenbäume wie die Pfeiler an einem großen Kirchenschiff entlang, sie wölbten sich und bildeten hoch oben ein Dach, aus dem die toten Blätter herniederfielen Alles war leer und schweigend und naß. Sie blieb oben auf dem Übergang stehen, und er hielt ihre beiden Hände. Lachend sah sie in seine Augen hinunter. Dann sprang sie herab. Ihre Brust schlug gegen die seine; er hielt sie und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

Sie gingen den schlüpfrigen, steilen, roten Pfad hinan. Auf einmal machte sie seine Hand los und legte sie sich um die Hüfte.

»Sie pressen mir die Adern zu am Arm, wenn Sie ihn so festhalten,« sagte sie.

Sie gingen weiter. Seine Fingerspitzen fühlten das Schwanken ihrer Brust. Alles war stumm und verlassen. Zur Linken zeigte sich der nasse, rote Acker durch die Zwischenräume zwischen den Ulmen und ihren Ästen. Zur Rechten konnten sie, wenn sie hinuntersahen, die Wipfel der tief unter ihnen wachsenden Ulmen erblicken und gelegentlich das Gurgeln des Flusses vernehmen. Zuweilen erhaschten sie auch einmal einen Blick auf den vollen, sanft dahingleitenden Trent und die mit winzigem Vieh übersprenkelten Wasserwiesen.

»Das hat sich kaum verändert, seit die kleine Kirke White hierherzukommen pflegte,« sagte er.

Aber er beobachtete ihren Hals unter dem Ohre, wo die Röte ins Honigweiß überging, und ihren trostlos schmollenden Mund. Beim Gehen bewegte sie sich gegen ihn an, und sein Körper war wie eine straff gespannte Saite.

Auf halber Höhe des großen Ulmenganges, wo der Hain sich am höchsten über den Fluß erhob, kam ihr Vorwärtsstreben zögernd zu Ende. Er führte sie auf das Gras hinüber, unter die Bäume am Rande des Weges. Die rote Tonklippe fiel hier rasch durch Bäume und Büsche zum Flusse hinab, der dunkel durch das Laubwerk hindurchschimmerte. Die tief unten liegenden Wasserwiesen waren lebhaft grün. Er und sie standen aneinander gelehnt, schweigend, furchtsam, ihre Körper sich in ganzer Länge berührend. Ein rasches Gurgeln kam von dem Flusse drunten.

»Warum«, fragte er sie endlich,»haßten Sie Baxter Dawes?«

Mit einer prachtvollen Bewegung wandte sie sich ihm zu. Ihr Mund, ihre Kehle boten sich ihm dar; ihre Augen waren halb geschlossen; ihre Brust hob sich ihm entgegen, als sehne sie sich nach ihm. Ein leises Lachen blitzte aus ihm hervor, er schloß die Augen und traf sie in einem langen, allumfassenden Kusse. Ihr Mund verschmolz mit dem seinen; ihre Leiber waren versiegelt und vernichtet. Es dauerte Minuten, bevor sie sich voneinander lösten. Sie standen neben dem öffentlichen Wege.

»Willst du zum Flusse hinunter?« fragte er.

Sie sah ihn an und überließ ihm ihre Hände. Er trat über den Rand des Abhanges und begann hinunterzuklettern.

»Es ist glatt,« sagte er.

»Das macht nichts,« erwiderte sie.

Fast senkrecht ging der rote Klei hinunter. Er rutschte beim Gehen von einem Grasbüschel zum nächsten, hing sich an die Büsche und suchte am Fuße jedes Baumes ein wenig Halt zu gewinnen. Hier wartete er auf sie, lachend vor Erregung. Ihre Schuhe waren von dem roten Klei ganz verkleistert. Es war sehr schwierig für sie. Er runzelte die Stirn. Zuletzt ergriff er ihre Hand, und sie stand neben ihm. Über ihnen hob sich die Klippe empor und fiel unter ihnen ab. Sie hatte mehr Farbe bekommen, und ihre Augen blitzten. Er blickte auf die große Tiefe vor ihnen.

»Es ist gewagt,« sagte er; »oder doch jedenfalls dreckig. Sollen wir umkehren?«

»Meinetwegen nicht,« sagte sie rasch.

»Schön. Siehst du, helfen kann ich dir nicht; ich würde dich nur hindern. Gib mir das kleine Päckchen und deine Handschuhe. Deine armen Schuhe!«

Sie standen hoch auf der Fläche des Abhanges unter den Bäumen.

»Na, ich will mal weitergehen,« sagte er.

Hinunter fuhr er, gleitend, stolpernd, bis zum nächsten Baum rutschend, gegen den er mit einem Krach ansauste, daß es ihm fast den Atem auspreßte. Sie kam vorsichtig hinterher, sich an alle Zweige und Grasbüschel anhängend. So stiegen sie Stufe um Stufe hinab bis an den Rand des Flusses. Hier hatte zu ihrem Ärger die Flut den Pfad weggefressen, und der rote Abhang ging unmittelbar ins Wasser über. Er bohrte die Hacken ein und brachte sich mit Gewalt zum Stehen. Der Bindfaden des Päckchens riß mit einem Schnapp! – das braune Päckchen hüpfte hinunter, sprang ins Wasser und segelte ruhig von dannen. Er hing an seinem Baume.

»I verdammt nochmal!« rief er ärgerlich. Dann mußte er lachen. Ihr Abstieg sah gefährlich aus.

»Paß auf,« warnte er sie. Er stand mit dem Rücken gegen seinen Baum und wartete. »Nun komm,« sagte er und öffnete die Arme.

Sie ließ sich laufen. Er fing sie auf, und zusammen standen sie nun und sahen das dunkle Wasser an der rauhen Kante des Abhanges entlanggleiten. Das Päckchen war bereits außer Sicht.

»Das macht nichts,« sagte sie.

Er hielt sie dicht an sich und küßte sie. Es war grade Raum für ihre vier Füße da.

»So'n Schwindel!« sagte er. »Aber da ist eine Spur, wo ein Mann gegangen ist; wenn wir also weitergehen, werden wir wohl den Pfad wiederfinden.«

Gleitend wirbelte der Fluß seine großen Massen durcheinander. Auf dem andern Ufer weidete das Vieh auf der einsamen Niederung. Zur Rechten erhob die Klippe sich hoch über Paul und Clara. In diesem wässerigen Schweigen lehnten sie sich gegen den Baum.

»Laß uns mal versuchen weiter zu kommen,« sagte er; und so kämpften sie sich in dem roten Klei der Furche entlang, die die Nagelschuhe eines Mannes gemacht hatten. Sie waren von Hitze übergossen. Ihre verkleisterten Schuhe erschwerten ihre Schritte. Schließlich fanden sie den abgebrochenen Pfad wieder. Er war mit Geröll aus dem Flusse übersät, aber auf alle Fälle ging es nun doch leichter. Sie reinigten sich die Schuhe mit Zweigen. Sein Herz schlug laut und schwer.

Plötzlich, grade als sie wieder auf den ebenen Pfad kamen, sahen sie vor sich zwei Männergestalten stumm am Rande des Wassers stehen. Sein Herz machte einen Satz. Sie fischten. Er wandte sich und hob warnend die Hand gegen Clara. Sie zauderte und knöpfte sich die Jacke zu. Zusammen gingen sie weiter.

Neugierig wandten sich die Fischer, um die beiden Eindringlinge in ihre Einsamkeit und Abgeschiedenheit zu betrachten. Sie hatten ein Feuer gehabt, aber das war beinahe erloschen. Alle waren vollkommen stumm. Die Männer wandten sich wieder dem Fischfang zu und standen über dem grauglitzernden Flusse wie Bildsäulen. Clara ging gebeugten Hauptes, dunkelrot; er lachte innerlich. Da waren sie auch schon außer Sicht hinter ein paar Weiden.

»Nun müßten sie versoffen sein,« sagte Paul sanft.

Clara antwortete nicht. Sie arbeiteten sich vorwärts über einen schmalen Pfad am Rande des Flusses entlang. Plötzlich hörte er auf. Vor ihnen war das Ufer reiner roter Klei, unmittelbar in den Fluß abfallend. Er stand und fluchte mit verhaltenem Atem und zusammengebissenen Zähnen.

»Das ist unmöglich!« sagte Clara.

Hoch aufgerichtet stand er da und sah sich um. Grade vor ihnen im Strom lagen zwei kleine Inselchen, mit Weiden bestanden. Aber sie waren unerreichbar. Wie eine schräge Mauer kam die Klippe von hoch oben über ihren Köpfen herunter. Hinter ihnen, nicht sehr weit, waren die Fischer. Jenseits des Flusses weidete das Vieh stumm in dem einsamen Nachmittag. Wieder fluchte er mit tief verhaltenem Atem. Er spähte das mächtige Steilufer hinan. Bestand denn keine Hoffnung, an ihm empor zu dem öffentlichen Wege zurück zu klimmen?

»Wart mal 'nen Augenblick,« sagte er, und, die Hacken seitwärts in die steile Fläche aus rotem Klei eingrabend, begann er vorsichtig anzusteigen. Er spähte nach jedem Baumfuß aus. Zuletzt fand er, was er suchte. Zwei Buchen bildeten nebeneinander am Abhang stehend oberhalb ihrer Wurzeln eine kleine ebene Fläche. Sie war mit feuchten Blättern überstreut, aber sie würde genügen. Die Fischer waren am Ende genügend außer Sicht. Er warf seinen Regenmantel hin und winkte ihr zu, zu kommen.

Sie arbeitete sich zu ihm heran. Als sie neben ihm stand, sah sie ihm schwer in die Augen und legte ihren Kopf an seine Schulter. Er hielt sie fest, während er sich umsah. Sie waren sicher vor allem, bis auf ein paar einsame kleine Kühe drüben über dem Flusse. Er senkte seinen Mund auf ihre Kehle, wo er ihren schweren Pulsschlag an seinen Lippen fühlte. Alles war vollkommen still. Nichts gab es in dem Nachmittag außer ihnen selbst.

Als sie wieder aufstand, sah er, der die ganze Zeit über zu Boden geschaut hatte, plötzlich über die nassen schwarzen Buchenwurzeln eine Menge scharlachroter Blütenblätter verstreut, wie verspritzte Blutstropfen; und rote kleine Spritzer fielen ihr aus dem Busen und rieselten über ihr Kleid zu ihren Füßen hinab.

»Deine Blumen sind hin,« sagte er.

Sie sah ihn schwer an, während sie sich das Haar zurückstrich. Plötzlich legte er seine Fingerspitzen auf ihre Backe.

»Warum guckst du so schwer?« tadelte er sie.

Sie lächelte traurig, als fühlte sie sich innerlich vereinsamt.

Er liebkoste ihre Backe mit den Fingern und küßte sie.

»Ne!« sagte er. »Da quäl dich man nicht drum!«

Sie packte seine Finger fest und lachte etwas zitterig. Dann ließ sie die Hand sinken. Er strich ihr das Haar aus der Stirn zurück und streichelte ihr die Schläfen, worauf er sie leise küßte.

»Du sollst aber nicht brummen!« sagte er sanft, flehend.

»Nein, ich brumme auch gar nicht!« lächelte sie zärtlich und entsagungsvoll.

»Doch, tust du doch! Brumme nich!« bat er unter Liebkosungen.

»Nein!« tröstete sie ihn mit einem Kuß.

Sie mußten hart klettern, um wieder nach oben zu gelangen.

Es kostete sie eine Viertelstunde. Als er oben auf die ebene Grasfläche kam, warf er seine Mütze hin, wischte sich den Schweiß von der Stirn und seufzte auf.

»Nun stehen wir wieder im gewöhnlichen Leben,« sagte er.

Keuchend setzte sie sich auf das büschelige Gras nieder. Ihre Backen waren rötlich angelaufen. Er küßte sie, und sie gab sich ihrer Freude hin.

»Un nu will ich dir die Stiefel putzen und dich zustutzen, damit du wieder unter achtbares Volk paßt,« sagte er.

Er kniete zu ihren Füßen nieder und arbeitete mit einem Stöckchen und ein paar Grasbüscheln drauflos. Sie steckte ihm die Finger ins Haar, zog seinen Kopf an sich und küßte ihn.

»Was soll ich denn nun eigentlich machen, Stiefel putzen oder schnäbeln? Das sag mir mal!«

»Alles was mir grade Spaß macht,« erwiderte sie.

»Für den Augenblick bin ich dein Stiefeljunge und weiter nichts!« Aber sie sahen sich doch weiter einander in die Augen und lachten. Dann küßten sie sich mit kleinen, nippenden Küssen.

»T-t-t-t!« machte er mit der Zunge, grade wie seine Mutter. »Ich sag dir, wenn so 'n Weibsbild dabei ist, bringt man nichts fertig.«

Und unter leisem Singen machte er sich wieder an sein Stiefelputzen. Sie berührte sein dichtes Haar, und er küßte ihre Finger. Er arbeitete weiter an ihren Schuhen. Schließlich waren sie wieder ganz ansehnlich.

»So, siehst du!« sagte er. »Bin ich nicht grade der Richtige, um dich wieder öffentlich achtbar zu machen? Steh auf! So, du siehst so untadelig aus wie Britannia selber.«

Er machte seine eigenen Stiefel ein wenig sauber, wusch sich die Hände in einer Pfütze und sang dazu. Dann gingen sie nach dem Dorfe Clifton hinein. Er war wahnsinnig verliebt in sie; jede Bewegung, die sie ausführte, jede Falte ihres Kleides durchfuhr ihn heiß wie ein Blitz und ließ sie ihm anbetungswürdig erscheinen.

Die alte Dame, in deren Hause sie Tee tranken, wurde von ihrer Fröhlichkeit angesteckt.

»Ich möchte wünschen, Sie hätten einen besserer Tag erwischt,« sagte sie, in ihrer Nähe stehenbleibend.

»Ach nein!« lachte er. »Wir sagten grade, wie schön es wäre.«

Die alte Dame sah ihn neugierig an. Es lag eine besondere Glut und Anziehungskraft in ihm. Seine Augen waren dunkel und voll Lachens. Er zwirbelte seinen Schnurrbart in fröhlicher Weise.

»Das haben Sie gesagt!« rief sie, und ein Licht wurde in ihren alten Augen wach.

»Wahrhaftig!« lachte er.

»Denn ist das Wetter sicher gut genug,« sagte die alte Dame.

Sie machte sich etwas zu tun, da sie sie nicht verlassen wollte.

»Ich weiß nicht, möchten Sie nicht vielleicht auch ein paar Radieschen,« sagte sie zu Clara; »aber ich habe ein paar im Garten – und 'ne Gurke auch.«

Clara errötete. Sie sah sehr hübsch aus.

»Ein paar Radieschen hätte ich gern,« antwortete sie.

Vergnügt stuppelte die alte Dame von dannen.

»Wenn sie bloß wüßte!« sagte Clara ruhig zu ihm.

»Na, sie weiß es ja nicht; und auf alle Fälle beweist es, daß wir so für uns selbst recht nett sind. Du siehst ruhig genug aus, um einen Erzengel zufrieden zu stellen, und ich komme mir ganz harmlos vor – also – wenn es dich hübsch aussehen macht, und die Leute glücklich macht, wenn sie uns um sich haben und uns selbst auch glücklich macht – wieso, dann betrügen wir sie doch wohl nicht sehr!«

Sie fuhren mit ihrer Mahlzeit fort. Als sie fortgingen, kam die alte Dame furchtsam mit drei kleinen, vollerblühten Dahlien, glänzend wie Bienen, scharlach und weiß gefleckt, herbei. Sie blieb vor Clara stehen und sagte ganz selbstzufrieden:

»Ich weiß nicht, ob ,...« und hielt ihr die Blumen mit ihrer alten Hand hin.

»Oh, wie hübsch!« rief Clara, als sie die Blumen hinnahm.

»Soll sie die alle haben?« rief Paul der alten Dame vorwurfsvoll zu.

»Ja, sie soll sie alle haben,« erwiderte sie, strahlend vor Vergnügen. »Sie haben für Ihr Teil längst genug.«

»Ach, ich werde sie aber bitten, daß sie mir eine abgibt!« neckte er sie.

»Das muß sie halten wie sie will,« sagte die alte Dame lächelnd. Und vor Freuden machte sie ihnen einen kleinen Knicks.

Clara war recht still und beklommen. Als sie weitergingen, sagte er:

»Du fühlst dich doch nicht wie 'ne Verbrecherin, was?«

Sie sah ihn mit verstörten grauen Augen an.

»Verbrecherin, nein!« sagte sie.

»Aber du fühlst dich anscheinend, als hättest du unrecht getan?«

»Nein,« sagte sie. »Ich denke bloß immer, ›wenn sie's wüßten‹««

»Wenn sie es wüßten, würden sie es darum nicht besser begreifen. So wie es ist, begreifen sie es und mögen es. Was liegt denn an ihnen? Hier, bloß mit den Bäumen und mir zusammen, fühlst du dich doch nicht im geringsten im Unrecht, nicht wahr?«

Er faßte sie am Arm und hielt sie so, daß sie ihm ins Gesicht sah, und fesselte ihre Augen mit den seinen. Es wurmte ihn etwas.

»Wir sind doch keine Sünder?« sagte er mit einem leichten Stirnrunzeln.

»Nein,« erwiderte sie.

Lachend küßte er sie.

»Ich glaube, du hast dein bißchen Schuldbewußtsein gern,« sagte er. »Ich glaube, Eva hatte auch ihren Spaß dran, als sie sich zusammenduckte und aus dem Paradiese schlich.«

Aber es lag eine gewisse Glut und Ruhe über ihr, die ihn froh machte. Als er allein im Eisenbahnwagen saß. fand er sich stürmisch vergnügt, und die Leute außerordentlich nett, und die Nacht entzückend, und alles gut.

Frau Morel saß und las, als er heimkam. Ihre Gesundheit war jetzt nicht gut, und es zeigte sich eine Elfenbeinblässe in ihrem Gesicht, die er früher nie wahrgenommen hatte und die er später niemals vergessen konnte. Sie selbst erwähnte ihr schlechtes Befinden ihm gegenüber nie. Schließlich, dachte sie, wäre es wohl nichts von Bedeutung.

»Du kommst spät!« sagte sie und sah ihn an.

Seine Augen glänzten; sein Gesicht schien zu glühen. Er lächelte sie an.

»Ja; ich bin mit Clara nach dem Clifton Hain hinunter gewesen.«

Seine Mutter sah ihn wieder an.

»Aber werden die Leute nicht reden?« sagte sie.

»Wieso? Sie wissen ja, sie ist 'ne Frauenrechtlerin und so. Und wenn sie auch reden!«

»Natürlich, es mag ja nichts Unrechtes dabei sein,« sagte seine Mutter. »Aber du weißt ja, wie die Leute sind, und kommt sie erst mal ins Gerede ,...«

»Ja, denn kann ichs nicht helfen. Schließlich liegt ja an ihrem Geschwätz auch nicht so viel.«

»Ich meine, du solltest Rücksicht auf sie nehmen.«

»Das tu ich auch! Was können die Leute denn sagen? – daß wir zusammen spazierengehen. Ich glaube, du bist eifersüchtig.«

»Du weißt ja, ich würde mich sehr freuen, wäre sie nur keine verheiratete Frau.«

»Ja, mein Liebstes, sie lebt von ihrem Manne getrennt und redet öffentlich; also ist sie schon von den Schafen geschieden und hat, so weit ichs sehen kann, nicht viel zu verlieren. Nein; ihr Leben bedeutet ihr nichts, also was ist der Wert von nichts? Sie geht mit mir – da wird es was. Dann muß sie auch dafür bezahlen – das müssen wir beide. Die Leute haben so 'ne Angst vorm Bezahlen; lieber hungern sie und sterben.«

»Na schön, mein Sohn. Wollen mal sehen, wie es ausläuft.«

»Sehr schön, meine Mutter. Ich will mich mit dem Ende schon zufrieden geben.«

»Wollen mal sehen!«

»Und sie – riesig nett ist sie, Mutter; wirklich! Du weißt ja nicht!«

»Das ist aber noch nicht dasselbe wie sie heiraten.«

»Vielleicht ists besser.«

Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Er wollte seine Mutter gern etwas fragen, wagte es aber nicht.

»Möchtest du sie wohl kennenlernen?« Er zögerte.

»Ja,« sagte Frau Morel kühl. »Ich möchte wohl mal sehen, was sie für eine ist.«

»Ach, sie ist so nett, Mutter, wirklich! Und kein bißchen was Gewöhnliches!«

»Das habe ich ja niemals angenommen.«

»Aber du glaubst anscheinend, sie wäre ,... nicht so gut wie ,... Sie ist besser als neunundneunzig unter hundert, sag ich dir! Sie ist besser, wirklich! Sie ist gerecht, sie ist ehrlich, sie ist gradeaus! Da ist auch nichts Heimliches oder Hochnäsiges in ihr. Sei nicht gemein gegen sie!«

Frau Morel errötete.

»Ich bin doch ganz gewiß nicht gemein gegen sie. Sie mag ja ganz so sein, wie du sagst, aber ,...«

»Dir ists doch nicht recht,« sagte er schließlich.

»Und hattest du das denn von mir erwartet?« antwortete sie.

»Ja! – ja! – Du würdest nur zu froh sein, wenn du irgendwas gegen sie hättest! Willst du sie denn überhaupt sehen?«

»Ich sagte ja, jawohl.«

»Dann will ich sie mitbringen – soll ich sie hierherbringen?«

»Wie es dir paßt.«

»Dann will ich sie hierherbringen – mal Sonntags – zum Tee. Wenn du aber nur irgend etwas Ekliges über sie denkst, das vergebe ich dir nie.«

Seine Mutter lachte.

»Als ob das irgendwelchen Unterschied ausmachte,« sagte sie. Er wußte, er hatte gewonnen.

»Oh, aber es fühlt sich so gut an, wenn sie da ist, Mutter! In ihrer Weise ist sie solch 'ne Königin.«

Gelegentlich ging er mal eine kleine Strecke nach der Kirche mit Edgar und Miriam. Nach dem Hofe ging er nicht mehr hinauf. Sie jedoch war ganz so wie immer gegen ihn, und er fühlte sich in ihrer Gegenwart keineswegs verlegen. Eines Abends war sie allein, als er sie begleitete. Sie begannen über Bücher zu sprechen: das war ihr nie versagender Gesprächsgegenstand. Frau Morel hatte einmal gesagt, seine und Miriams Liebesgeschichte wäre ein mit Büchern genährtes Feuer – wären keine Bände mehr da, würde es verlöschen. Miriam ihrerseits brüstete sich, sie könne ihn wie ein Buch lesen, sie könne jeden Augenblick ihren Finger auf Hauptstück und Zeile legen. Er in seiner leichten Überzeugtheit glaubte, Miriam wisse mehr von ihm als sonst irgend jemand. So machte es ihm Spaß, ihr von sich zu erzählen, als harmloser Selbstsüchtling. Sehr bald trieb die Unterhaltung zu seiner Tätigkeit hinüber. Es schmeichelte ihm gewaltig, eine solche Anziehungskraft zu besitzen.

»Und was hast du kürzlich angefangen?«

»Ich – och, nicht viel! Ich habe eine Skizze von Bestwood gemacht, vom Garten aus, die endlich beinahe richtig ist. Es ist der hundertste Versuch.«

So fuhren sie fort. Dann sagte sie:

»Denn bist du kürzlich gar nicht mal ausgewesen?«

»Doch; Montagnachmittag bin ich mit Clara nach dem Clifton Hain hinaufgegangen.«

»Es war kein sehr schönes Wetter,« sagte Miriam, »nicht wahr?«

»Ich wollte aber gern ausgehen, und es ging schon. Der Trent ist aber hoch.«

»Und seid ihr nach Barton gegangen?« fragte sie.

»Nein; wir haben in Clifton Tee getrunken.«

»Ja! Das muß nett gewesen sein.«

»Wars auch! Das vergnügteste alte Weiblein! Sie gab uns ein paar Dahlien, so hübsch wie du sie dir nur denken kannst.«

Miriam senkte den Kopf und dachte nach. Er bemerkte gar nicht, daß er ihr etwas verbarg.

»Wie kam sie darauf, sie euch zu geben?« fragte sie.

Er lachte.

»Weil sie uns gern leiden mochte – weil wir so vergnügt waren, möchte ich glauben.«

Miriam steckte den Finger in den Mund.

»Kamst du spät nach Hause?« fragte sie.

Jetzt nahm er allmählich ihren Ton übel.

»Ich faßte den Halbacht-Zug.«

»Ha!«

Sie gingen in Schweigen weiter, und er war ärgerlich.

»Und wie gehts Clara?« fragte Miriam.

»Ich glaube, sehr gut.«

»Das ist gut!« sagte sie mit einem Anflug von Spott. »Bei der Gelegenheit, was macht eigentlich ihr Mann? Von dem hört man nie was.«

»Er hat ein anderes Frauenzimmer, und ihm gehts auch ganz gut,« erwiderte er. »Wenigstens glaube ich.«

»Ich sehe – sicher weißt du's nicht. Findest du nicht, eine derartige Lage ist hart für 'ne Frau?«

»Schauderhaft hart!«

»Es ist so ungerecht!« sagte Miriam. »Der Mann tut, was er will ,...«

»Denn laß die Frau es doch auch tun,« sagte er.

»Wie kann sie das? Und wenn sie's tut, sieh dir mal ihre Lage an.«

»Wieso?«

»Na, das ist doch ganz unmöglich! Du verstehst nicht, was eine Frau zu verscherzen hat ,...«

»Nein, tu ich auch nicht. Aber wenn eine Frau von nichts als ihrem guten Ruf leben soll, wieso, das ist man schmale Kost, und ein Esel ginge dran kaputt!«

Nun begriff sie endlich seine sittliche Stellung, und daß er ihr entsprechend handeln würde.

Sie stellte ihm nie unmittelbare Fragen, aber sie erfuhr doch stets genug.

Als er Miriam einmal eines andern Tages traf, wandte die Unterhaltung sich der Ehe zu, und dann zu Claras Ehe mit Dawes.

»Siehst du,« sagte er, »sie hat die fürchterliche Bedeutung der Ehe nie begriffen. Sie glaubte, es ginge einem Tag wie alle Tage – es würde schon kommen – und Dawes –, na, eine Menge Weiber hätten ihre Seele für ihn hingegeben; warum sollte er also nicht? Dann entwickelte sie sich zur unverstandenen Frau und behandelte ihn schlecht, darauf wette ich meine Stiebel.«

»Und sie verließ ihn, weil er sie nicht verstand?«

»Ich glaube. Ich glaube, sie mußte wohl. Das ist nicht allein eine Frage des Sichverstehens, es ist eine Frage des Zusammenlebens. Bei ihm war sie nur halb lebendig; der Rest schlief, ertötet. Und die schlafende Frau war die unverstandene Frau, und die mußte erst aufgeweckt werden.«

»Und er?«

»Ich weiß nicht. Ich möchte eher glauben, er liebt sie so gut ers vermag, aber er ist ein Narr.«

»Es war ungefähr so wie mit deinem Vater und deiner Mutter,« sagte Miriam.

»Ja; aber meine Mutter, glaube ich, hat doch zuerst wirkliche Freude und Befriedigung durch meinen Vater genossen. Ich glaube, sie besaß eine Leidenschaft für ihn; deshalb ist sie auch bei ihm geblieben. Schließlich waren sie auch aneinander gebunden.«

»Ja,« sagte Miriam.

»Und die muß man haben, meine ich,« fuhr er fort – »die wirkliche, echte Flamme des Empfindens durch den andern ,... einmal, einmal bloß, und wenns auch nur drei Monate dauert. Sieh, meine Mutter sieht aus, als hätte sie alles besessen, was für ihr Leben und ihre Entwicklung nötig war. Nicht das kleinste bißchen des Gefühls der Unfruchtbarkeit ist an ihr.«

»Nein,« sagte Miriam.

»Und an meinem Vater, ich bin ganz sicher, da hatte sie zuerst das Richtige. Sie weiß es; sie ist dagewesen. Das kann man bei ihr fühlen, und bei ihm auch, und bei hundert Leuten, die man alle Tage trifft; und sobald es dir mal so gegangen ist, kannst du mit allem weiterkommen und reifen.«

»Was war denn das eigentlich?« fragte Miriam.

»Das ist so schwer zu sagen, aber es ist das eine Große und Wichtige, das einen vollkommen umändert, sobald man richtig mit jemand anders zusammenkommt. Es scheint einem beinahe die Seele zu befruchten und dazu zu bringen, daß man weiterkommen und ausreifen kann.«

»Und das hatte deine Mutter bei deinem Vater, meinst du?«

»Ja; und im Grunde genommen fühlt sie sich ihm zu Dank verpflichtet, daß er ihr dies gegeben hat, selbst jetzt noch, obwohl sie meilenweit auseinander sind.«

»Und das hatte Clara nie, meinst du?«

»Sicher nicht.«

Darüber mußte Miriam nachdenken. Sie sah, nach was er suchte – eine Art Feuertaufe der Leidenschaft, wie es ihr schien. Sie merkte, er werde nie zufrieden sein, ehe er die nicht empfangen hätte. Vielleicht war es nötig für ihn wie für manche Männer, daß er sich erst mal die Hörner ablief; und nachher, wenn er dann befriedigt war, würde er nicht länger vor Ruhelosigkeit rasen, sondern könnte sich ruhig niederlassen und sein Leben in ihre Hände legen. Schön also, wenn er denn gehen mußte, mochte er gehen und sich sättigen – an etwas Großem, Tiefem, wie er es nannte. Jedenfalls würde er, sobald er es genossen hätte, es nicht weiter genießen wollen – das sagte er ja selbst; dann würde er das andere wollen, was sie ihm geben konnte. Er würde sich nach Hörigkeit sehnen, so daß er arbeiten könnte. Es erschien ihr bitter, daß er gehen müsse, aber sie konnte ihn ja wegen eines Glases Whisky ins Wirtshaus gehen lassen, warum also nicht auch zu Clara, solange es sich darum handelte, ein Bedürfnis in ihm zu befriedigen und sein Ich später für sie frei zu lassen.

»Hast du deiner Mutter von Clara erzählt?« fragte sie.

Sie wußte, dies würde eine Art Probe auf die Ernsthaftigkeit seiner Gefühle für die andere sein; sie wußte, er ginge zu Clara wegen etwas Lebensnotwendigem, nicht wie ein Mann seines Vergnügens halber zu einer Gefallenen geht, wenn er es seiner Mutter erzählt hätte.

»Ja,« sagte er, »und sie kommt Sonntag zum Tee zu uns.«

»In euer Haus?«

»Ja; ich möchte, daß Mater sie sähe.«

»Ach!«

Nun herrschte Schweigen. Die Dinge hatten sich rascher entwickelt, als sie gedacht hatte. Plötzlich empfand sie eine Bitterkeit, daß er sie so bald und so vollkommen hatte verlassen können. Und würde Clara von den Seinen aufgenommen werden, die so feindselig gegen sie gewesen waren?

»Ich sehe vielleicht mal herein, wenn ich zur Kirche gehe,« sagte sie; »es ist eine lange Zeit her, daß ich Clara gesehen habe.«

»Schön,« sagte er, erstaunt und unbewußt auch ärgerlich.

Am Sonntag nachmittag ging er nach Keston, um Clara an der Haltestelle zu treffen. Während er auf dem Bahnsteig stand, versuchte er sich auf eine Art Vorahnung hin zu prüfen.

»Ist mir denn so, als müßte sie kommen?« sagte er bei sich und versuchte das herauszufinden. Sein Herz fühlte sich sonderbar und beklommen. Das schien doch wie eine Vorahnung. Dann hatte er also eine Vorahnung, sie würde nicht kommen. Sie würde also nicht kommen, und anstatt sie über die Felder nach Hause zu führen, würde er allein gehen müssen. Der Zug hatte Verspätung; der Nachmittag würde verdorben sein, und der Abend auch. Er haßte sie, weil sie nicht kam. Warum hatte sie es ihm denn versprochen, wenn sie ihr Versprechen nicht halten konnte? Vielleicht hatte sie den Zug verpaßt – er selbst verpaßte seine Züge immer –, aber das war doch kein Grund, weshalb sie grade diesen verpassen sollte. Er war böse auf sie; er war wütend.

Plötzlich sah er den Zug vorsichtig um die Ecke kriechen. Hier war also der Zug, aber selbstverständlich war sie nicht mitgekommen. Die grüne Maschine zischte den Bahnsteig entlang, die Reihe der braunen Wagen hielt, ein paar Türen öffneten sich. Nein; sie war nicht da! Nein! Ja; ah, da war sie! Sie hatte einen großen schwarzen Hut auf! Im Augenblick war er an ihrer Seite.

»Ich dachte, du würdest nicht kommen,« sagte er.

Sie lachte ziemlich atemlos, als sie ihm die Hand hinstreckte; ihre Augen trafen sich. Rasch führte er sie den Bahnsteig entlang und redete mächtig drauflos, um seine Gefühle zu verbergen. Sie sah wunderschön aus. Auf ihrem großen Hute saßen große, seidene Rosen, wie gebranntes Gold gefärbt. Ihr dunkles Tuchkleid saß ihr prachtvoll über Brust und Schultern. Sein Stolz hob sich, als er mit ihr einherschritt. Er fühlte, wie die Bahnhofsleute, die ihn kannten, ihr mit Ehrfurcht und Bewunderung nachsahen.

»Ich war sicher, du würdest nicht kommen,« lachte er zitterig.

Sie lachte als Antwort, daß es fast wie ein leichter Schrei klang.

Heftig packte er ihre Hand, und sie schritten den engen Wiesenpfad entlang. Sie schlugen die Richtung über Nuttall ein und den Rechnungshaushof. Es war ein milder, blauer Tag. Überall lagen braune Blätter verstreut; viel scharlachne Hagebutten saßen in den Hecken den Wald entlang. Er pflückte ein paar für sie zum Anstecken.

»Obgleich du wirklich«, sagte er, als er sie ihr in die Jacke steckte, »dagegen sein solltest, daß ich sie abpflücke, wegen der Vögel. Aber hier in dieser Gegend, wo sie so viel zu fressen finden können, kümmern sie sich nicht viel um Hagebutten. Im Frühling findet man sie oft verrottet.«

So schwatzte er und wurde kaum gewahr, was er sagte, nur bewußt, ihr Beeren an die Brust ihrer Jacke zu stecken, während sie geduldig auf ihn wartete. Und sie beobachtete seine raschen Hände, so lebensvoll, und es schien ihr, sie habe noch nie vorher richtig gesehen. Bis jetzt war ihr alles undeutlich geblieben.

Sie kamen dicht an das Bergwerk. Ganz still und schwarz lag es zwischen den Kornfeldern, seine gewaltigen Schlackenhalden schienen beinahe aus dem Hafer emporzusprossen.

»Wie schade, daß hier eine Kohlengrube sein muß, wo es so hübsch ist!« sagte Clara.

»Findst du?« antwortete er. »Siehst du, ich bin so daran gewöhnt, daß ich sie entbehren würde. Nein; ich mag die Grube hie und da gern. Ich liebe die Wagenreihen und die Fördertürme und den Dampf tagsüber und die Lichter des Nachts. Als ich noch ein Junge war, dachte ich immer, die Staubsäule bei Tage und die Feuersäule bei Nacht wären eine Grube gewesen, mit ihrem Dampf und ihren Lichtern und der brennenden Halde – und ich glaubte, der Herrgott säße immer oben am Förderschacht.«

Als sie sich seinem Hause näherten, ging sie schweigend weiter und schien zurückzuhalten. Er preßte ihre Finger in den seinen. Sie errötete, gab ihm aber keine Antwort.

»Möchtest du nicht mit nach Hause?« fragte er sie.

»Doch, ich möchte,« erwiderte sie.

Es kam ihm gar nicht in den Sinn, ihre Stellung in seinem Hause möchte ziemlich eigenartig und schwierig sein. Ihm kam es genau so vor, als wolle sich einer seiner Freunde seiner Mutter vorstellen lassen, nur daß sie netter war.

Die Morels lebten in einem Hause in einer häßlichen, den steilen Hügel hinablaufenden Straße. Die Straße selbst war scheußlich. Das Haus war den andern eher überlegen. Es war alt, schmutzig, mit einem großen Erkerfenster, und stand halb für sich; aber es sah so düster aus. Dann öffnete Paul die Gartentür, und alles wurde anders. Da lag der sonnige Nachmittag, wie ein ganz anderes Land. Den Pfad entlang wuchsen Farne und kleine Bäume. Vor dem Fenster war ein sonniger Rasenplatz, mit alten Fliederbüschen drum herum. Und weiter lief der Garten mit Haufen plusteriger Chrysanthemen im Sonnenschein bis zu dem Platanenbaum hinunter und dem Feld, und drüben sah man über die rotbedachten Häuschen nach den Hügeln hinüber mit der ganzen Glut des Herbstnachmittags auf ihnen.

Frau Morel saß in ihrem Schaukelstuhl und hatte ihre schwarze Seidenbluse an. Ihr graubraunes Haar war glatt von der Stirn und den hohen Schläfen zurückgestrichen; ihr Gesicht war recht blaß. Clara litt, als sie Paul in die Küche folgte. Frau Morel stand auf. Clara hielt sie für eine Dame, für eine recht steife sogar. Die junge Frau war erregt. Sie sah gedankenvoll aus, beinahe entsagend.

»Mutter – Clara,« sagte Paul.

Frau Morel hielt ihr die Hand entgegen und lächelte.

»Er hat mir schon recht viel von Ihnen erzählt,« sagte sie.

Das Blut flammte in Claras Wangen empor.

»Ich hoffe, Sie sind nicht böse, daß ich komme,« stotterte sie hervor.

»Ich habe mich sehr gefreut, als er mir sagte, er wolle Sie gern mitbringen,« erwiderte Frau Morel.

Paul zog sich das Herz zusammen vor Weh, als er sie beobachtete. Seine Mutter sah so klein und erdfarben und abgetan aus neben der prachtvollen Clara.

»Es ist so 'n köstlicher Tag, Mutter!« sagte er. »Und wir haben einen Häher gesehen.«

Die Mutter sah ihn an; er hatte sich an sie gewandt. Sie dachte, wie männlich er aussehe in seinem dunklen, gutgemachten Anzug. Er war blaß und sah zerstreut aus; es würde jeder Frau schwer werden, ihn zu halten. Ihr Herz glühte; dann tat Clara ihr leid.

»Vielleicht lassen Sie Ihre Sachen im Wohnzimmer,« sagte Frau Morel freundlich zu der Jüngeren.

»Oh, danke,« erwiderte diese.

»Komm,« sagte Paul und ging ihr voran in das kleine Vorderzimmer mit seinem alten Klavier, seiner Mahagoni-Einrichtung, seinem gelben Marmorkamin. Ein Feuer brannte; das Zimmer war voller Bücher und Zeichenbretter. »Ich lasse meine Sachen hier so herumliegen,« sagte er. »Das ist viel einfacher.«

Sie hatte seine Künstlergerätschaften gern, und die Bücher, und die Lichtbilder verschiedener Leute. Sehr bald erzählte er ihr: dies war William, dies Williams junge Dame im Gesellschaftskleide, dies waren Annie und ihr Mann, dies Arthur und seine Frau und das Kleine. Sie fühlte sich, als wäre sie bereits in die Sippe aufgenommen. Er zeigte ihr Lichtbilder, Bücher, Skizzen, und sie unterhielten sich ein Weilchen. Dann gingen sie wieder in die Küche. Frau Morel legte ihr Buch beiseite. Clara trug eine Bluse aus feinem Seidenflor, mit schmalen schwarz und weißen Streifen; ihr Haar war ganz schlicht gemacht, oben auf dem Kopfe in einem Knoten geschlungen. Sie sah recht stattlich und zurückhaltend aus.

»Sind Sie jetzt nach dem Sneinton Boulevard hinuntergezogen?« sagte Frau Morel. »Als ich noch ein Mädchen war – was sage ich, Mädchen! – als ich junge Frau war, lebten wir auf der Minerva-Terrasse.«

»Oh, ja?« sagte Clara. »Ich habe ein Freundin in Nummer sechs.«

Und nun war die Unterhaltung im Gange. Sie redeten von Nottingham und Nottinghamer Leuten; das fesselte sie beide. Clara war immer noch etwas nervös; Frau Morel kehrte immer noch etwas ihre Würde hervor. Sie schnitt ihre Worte sehr scharf und genau zu. Aber sie kamen sehr gut miteinander in Gang, merkte Paul.

Frau Morel maß sich an der Jüngeren und fand, sie wäre bei weitem die Stärkere. Clara war ehrerbietig. Sie kannte Pauls überraschende Hochachtung vor seiner Mutter, und hatte sich vor diesem Zusammentreffen gefürchtet in der Erwartung, jemand recht Hartes und Kaltes zu finden. Sie war überrascht, dies kleine, fesselnde Frauchen mit solcher Bereitwilligkeit plaudern zu hören; und dann fühlte sie, was sie auch bei Paul empfand, daß sie Frau Morel lieber nicht im Wege stehen möchte. Es war etwas so Hartes und Sicheres in seiner Mutter, als hätte sie nie in ihrem Leben empfunden, was Unsicherheit sei.

Dann kam auch Morel herunter, verschlafen und gähnend von seinem Nachmittagsschlaf. Er kratzte sich den ergrauenden Kopf, stapfte in seinen Strümpfen umher, die Weste offen über dem Hemde hängend. Erschien nicht dahinein zu passen.

»Dies ist Frau Dawes, Vater,« sagte Paul.

Da riß Morel sich zusammen. Clara bemerkte Pauls Art, sich zu verbeugen und die Hand zu geben.

»Oh, wirklich!« rief Morel. »Ich freue mich sehr, Sie zusehen – wirklich, ich versichere Sie. Aber lassen Sie sich gar nicht stören. Nein, nein; machen Sie es sich bequem und seien Sie herzlich willkommen.«

Clara war ganz erstaunt über diese überströmende Gastfreundschaft bei dem alten Bergmann. Er war so höflich, so zuvorkommend! Sie fand ihn ganz reizend.

»Und Sie sind wohl recht weit hergekommen?« fragte er. »Bloß von Nottingham,« sagte sie.

»Von Nottingham! Dann haben Sie aber einen wunderschönen Tag zum Reisen gehabt.«

Dann bummelte er in die Spülküche hinüber, um sich die Hände und das Gesicht zu waschen, und aus Macht der Gewohnheit kam er mit dem Handtuch zum Herde, um sich dort abzutrocknen.

Beim Tee bemerkte Clara die Feinheit und Kaltblütigkeit der Hausgenossen. Frau Morel fühlte sich so sicher. Das Teeeinschenken und den Leuten Aufwarten ging ihr ganz unbewußt von der Hand, ohne daß sie die Unterhaltung abgebrochen hätte. Es war viel Platz an dem eirunden Tisch; das dunkelblaue Weidenbaumgeschirr sah sehr hübsch aus auf dem glänzenden Tischtuch. Da stand ein kleines Glas mit kleinen gelben Winterastern. Clara fühlte, sie schloß den Kreis grade, und das machte ihr Vergnügen. Aber vor der Selbstbeherrschung der Morels hatte sie doch rechte Angst, beim Vater und all den übrigen. Sie paßte sich ihrem Tone an; bald fühlte sie sich wieder im Gleichgewicht. Es war eine kühle, klare Luft, in der jedermann er selbst war und im Einklang mit den andern. Clara hatte ihre Freude dran, aber tief in ihrem Innern hatte sie doch Furcht.

Paul räumte den Tisch ab, während Clara und seine Mutter sich unterhielten. Clara wurde seines raschen, kräftigen Körpers gewahr, als er kam und ging, wie vom Winde getrieben bei seiner Arbeit. Es war fast wie das Hin und Her eines Blattes, das unerwartet herangeweht kommt. Sie war größtenteils bei ihm. Aus der Art, wie sie sich vornüberbeugte, als höre sie ihr zu, konnte Frau Morel sehen, daß sie anderswo in Anspruch genommen war, während sie sprach; und wieder tat sie der Älteren leid.

Sobald er fertig war, bummelte er in den Garten hinaus und ließ die beiden Frauen reden. Es war ein dunstiger, sonniger Nachmittag, milde und weich. Clara sah ihm aus dem Fenster nach, als er zwischen den Chrysanthemen herumschlenderte. Sie fühlte sich beinahe, als habe etwas Greifbares sie an ihn gefesselt; und doch kam er ihr in seinen anmutigen, nachlässigen Bewegungen so leicht vor, so losgelöst, als er ein paar zu schwere Blütenzweige an die Stäbe band, daß sie vor Hilflosigkeit gern aufgeschrien hätte.

Frau Morel stand auf.

»Sie lassen mich Ihnen doch beim Aufwaschen helfen,« sagte Clara.

»I, da ist bloß so wenig, das hält mich nur 'ne Minute auf,« sagte die andere.

Indessen Clara trocknete das Teegeschirr ab und freute sich, mit seiner Mutter auf so gutem Fuße zu stehen; aber es verursachte ihr Folterqualen, ihm nicht durch den Garten folgen zu können. Schließlich gestattete sie sich zu gehen; ihr war, als sei ihr ein Strick vom Fuß abgenommen worden.

Golden lag der Nachmittag über den Hügeln von Derbyshire. Paul stand drüben in dem andern Garten bei einem Busch blasser Herbsttausendschönchen und beobachtete, wie die letzten Bienen in den Stock krabbelten. Als er sie kommen hörte, wandte er sich mit einer leichten Bewegung um und sagte:

»Die kleinen Burschen sind nun auch fertig mit der Welt.«

Clara stand neben ihm. Jenseits der niedrigen roten Mauer lag das Land und die fernen Hügel, alles in Golddunst.

In diesem Augenblick trat Miriam durch die Gartenpforte. Sie sah Clara auf ihn zugehen, sah ihn sich umdrehen, und sah sie zusammen zur Ruhe kommen. Etwas in ihrer vollkommenen, gemeinschaftlichen Vereinsamung ließ sie merken, daß zwischen ihnen alles in Ordnung war, daß sie, wie sie das nannte, verheiratet waren. Sehr langsam ging sie den Schlackenpfad durch den Garten hinab.

Clara hatte sich eine Samenhülse von einer Klatschrose gepflückt und brach sie grade auf, um den Samen herauszuholen. Über ihrem gebeugten Haupte starrten die Blumen, als wollten sie sie verteidigen. Die letzten Bienen taumelten zum Stock hinab.

»Zähl dein Geld,« lachte Paul, als sie die flachen Samenkerne einzeln aus der Geldrolle losbrach. Sie sah ihn an.

»Ich bin reich,« sagte sie lächelnd.

»Wieviel? Pf!« Er schnappte mit den Fingern. »Kann ich die in Gold verwandeln?«

»Ich fürchte, nicht,« lachte sie.

Sie blickten einander lachend in die Augen. In diesem Augenblick wurden sie Miriams gewahr. Ein Blick, und alles war verwandelt.

»Hallo, Miriam!« rief er aus. »Du sagtest ja, du wolltest kommen!«

»Ja. Hattest du das vergessen?«

Sie gab Clara die Hand und sagte:

»Es kommt mir so merkwürdig vor, Sie hier zu sehen.«

»Ja,« antwortete die andere; »mir ists auch ganz merkwürdig, hier zu sein.«

Ein Zaudern trat ein.

»Es ist hübsch hier, nicht?« sagte Miriam.

»Ich finde es sehr hübsch,« erwiderte Clara.

Da wurde es Miriam klar, daß Clara aufgenommen worden war, wie sie selbst niemals.

»Bist du allein gekommen?« fragte Paul.

»Ja; ich ging zu Agathe zum Tee. Wir gehen zur Kirche. Ich bin nur einen Augenblick hereingekommen, um Clara zu sehen.«

»Du hättest zum Tee kommen sollen,« sagte er.

Miriam lachte kurz auf, und Clara wandte sich ungeduldig zur Seite.

»Magst du die Chrysanthemen gern?« fragte er.

»Ja; sie sind sehr schön,« erwiderte Miriam.

»Welche findest du am schönsten?« fragte er.

»Ich weiß nicht. Ich glaube, die bronzefarbenen.«

»Ich glaube, du hast sie noch gar nicht alle gesehen. Komm und sieh sie dir mal an. Sieh mal zu, Clara, welches deine Lieblinge sind.«

Er führte die beiden Frauen wieder in seinen eigenen Garten, wo zerzauste Blumenstauden aller Farben wild durcheinander den ganzen Pfad entlang bis ans Feld hinunter standen. Die Sachlage verursachte ihm, soweit er es merkte, keinerlei Verlegenheit.

»Sieh hier, Miriam; dies sind die weißen, die aus eurem Garten kamen. Hier sind sie nicht so schön, nicht wahr?«

»Nein,« sagte Miriam.

»Aber sie sind kräftiger. Ihr liegt so geschützt; da werden die Dinger groß und zart, und denn gehen sie tot. Diese kleinen gelben mag ich gern. Willst du ein paar haben?«

Während sie noch draußen waren, begannen die Glocken in der Kirche zu läuten und tönten laut über Stadt und Feld. Miriam sah zu dem stolz die sich aneinander drängenden Dächer überragenden Turm empor und dachte an die Skizzen, die er ihr gebracht hatte. Damals war es so anders gewesen, aber verlassen hatte er sie doch noch nicht. Sie bat ihn um ein Buch zum Lesen. Er lief hinein.

»Was! ist das Miriam?« fragte seine Mutter ihn kalt.

»Ja; sie sagte mir, sie wolle hereinkommen und Clara sehen.«

»Dann hast du's ihr gesagt?« kam die spöttische Antwort.

»Ja; warum nicht?«

»Gewiß, du hast keinen Grund, weshalb du es ihr nicht sagen solltest,« sagte Frau Morel und wandte sich wieder ihrem Buche zu. Er krümmte sich unter seiner Mutter Hohn; gereizt runzelte er die Stirn, während er dachte: ›Warum kann ichs nicht machen, wie es mir Spaß macht?‹

»Sie hatten Frau Morel früher noch nicht gesehen?« sagte Miriam zu Clara.

»Nein; aber sie ist so nett.«

»Ja,« sagte Miriam und ließ den Kopf sinken; »in mancher Hinsicht ist sie sehr schön.«

»Das könnte ich mir denken.«

»Hat Paul Ihnen viel von ihr erzählt?«

»Er hat ein gut Teil über sie gesprochen.«

»Ha!«

Dann trat Schweigen ein, bis er mit dem Buch wieder da war.

»Wann willst du's wiederhaben?« fragte Miriam.

»Wanns dir paßt,« antwortete er.

Clara wandte sich wieder nach drinnen, während er Miriam zur Gartenpforte begleitete.

»Wann kommen Sie mal zum Willeyhofe hinauf?« fragte die letztere.

»Das kann ich nicht sagen,« erwiderte Clara.

»Mutter bat mich, Ihnen zu sagen, sie würde sich jederzeit so freuen, wenn es Ihnen Spaß machen sollte zu kommen.«

»Danke Ihnen; ich möchte sehr gerne, aber wann, das kann ich nicht sagen.«

»Oh, gut!« rief Miriam ziemlich bitter und wandte sich weg.

Mit dem Munde an den Blumen, die er ihr gegeben hatte, ging sie den Pfad hinunter.

»Möchtest du wirklich nicht hereinkommen?« sagte er.

»Nein, danke.«

»Wir gehen zur Kirche.«

»Ah, dann sehe ich euch ja!« Miriam war sehr bitter.

»Ja.«

Sie nahm Abschied. Er fühlte sich schuldig ihr gegenüber. Sie war sehr bitter und verachtete ihn. Er gehörte ihr noch an, glaubte sie; und dennoch konnte er Clara besitzen, sie in sein Heim bringen, mit ihr neben seiner Mutter in der Kirche sitzen, ihr dasselbe Gesangbuch geben, das er ihr vor Jahren gegeben hatte. Sie hörte, wie er rasch hineinlief.

Aber er ging nicht gleich hinein. Auf dem kleinen Rasen stand er stille und hörte seiner Mutter Stimme und dann Claras Antwort:

»Was ich an Miriam hasse, ist ihre Bluthundart.«

»Ja,« sagte die Mutter rasch, »ja; muß man sie nicht deswegen hassen!«

Sein Herz wurde heiß, und er war ärgerlich mit ihnen, daß sie über das Mädchen sprachen. Welches Recht hatten sie, so etwas zu sagen? Etwas in dem Gespräch selbst fachte ihn zu flammendem Hasse gegen Miriam an. Dann aber erhob sein Herz sich wütend gegen Clara, daß sie sich die Freiheit nahm, so über Miriam zu sprechen. Schließlich war das Mädchen doch die bessere von beiden, fand er, wenn es auf Güte ankam. Er ging hinein. Seine Mutter sah aufgeregt aus. Ihre Hand klopfte scharf abgemessen auf die Sofalehne, wie Frauen das so machen, deren Kräfte zu Ende sind. Er konnte es nicht ertragen, sie diese Bewegung ausführen zu sehen. Es herrschte Schweigen; dann fing er an zu reden. In der Kirche sah Miriam, wie er Clara die Stelle im Gesangbuch zeigte, in genau derselben Weise, wie er es für sie zu tun pflegte. Und während der Predigt konnte er das Mädchen quer durch die Kirche hindurch sehen, während ihr Hut ihr einen dunklen Schatten übers Gesicht warf. Woran dachte sie, nun sie Clara neben ihm sah? Er hielt sich nicht bei dieser Betrachtung auf. Er fühlte seine Grausamkeit gegen Miriam.

Nach der Kirche ging er mit Clara über Pentrich. Es war ein dunkler Herbstabend. Sie hatten Miriam Lebewohl gesagt, und es hatte ihm einen Stich durchs Herz gegeben, als er das Mädchen verließ. ›Aber ihr geschieht ganz recht,‹ sagte er bei sich, und beinahe machte es ihm Spaß, vor ihren Augen mit diesem anderen hübschen Frauenzimmer loszugehen.

Durch die Dunkelheit drang der Geruch feuchter Blätter. Claras Hand lag warm und schlaff in der seinen, als sie so dahinschritten. Er war mit sich im Zwiespalt. Der Kampf in seinem Innern machte ihn ganz verzweifelt.

Den Pentrichhügel hinan lehnte Clara sich beim Gehen gegen ihn an. Er schlang seinen Arm um ihre Hüfte. Wie er die starke Bewegung unter seinem Arme fühlte, als sie neben ihm herschritt, ließ die Spannung in seiner Brust um Miriam nach, und das heiße Blut badete ihn. Er hielt sie fester und fester.

Da sagte sie ruhig: »Du hältst es ja immer noch mit Miriam.«

»Nur im Sprechen. Es war nie viel mehr als Reden zwischen uns,« sagte er bitter.

»Deine Mutter macht sich nichts aus ihr,« sagte Clara.

»Nein, sonst hätte ich sie geheiratet. Aber jetzt ist alles aus, tatsächlich!«

Plötzlich wurde seine Stimme leidenschaftlich vor Haß.

»Wenn ich jetzt bei ihr wäre, würden wir über ›Christliche Geheimnisse‹ brabbeln oder sonst so'n Unsinn. Gott sei Dank bin ichs nicht!«

Eine Zeitlang gingen sie in Schweigen weiter.

»Aber du kannst sie doch nicht wirklich aufgeben,« sagte Clara.

»Aufgeben tue ich sie nicht, weil da nichts aufzugeben ist,« sagte er.

»Für sie aber doch.«

»Ich sehe nicht ein, warum sie und ich nicht gute Freunde bleiben könnten, unser Leben lang,« sagte er. »Aber eben nur Freunde.«

Clara entzog sich ihm, bog sich von der Berührung mit ihm zurück.

»Warum ziehst du dich so zurück?« fragte er.

Sie antwortete nicht, sondern zog sich nur noch weiter zurück.

»Warum willst du allein gehen?« fragte er.

Immer noch keine Antwort. Verdrossen ging sie weiter, mit vornüberhängendem Kopf.

»Weil ich sagte, ich möchte mit Miriam gut Freund bleiben!« rief er aus.

Sie wollte ihm durchaus nicht antworten.

»Ich sag dir, es sind bloß Worte, die zwischen uns gewechselt werden,« beharrte er und versuchte sie wieder zu fassen.

Sie widerstand ihm. Plötzlich stellte er sich grade vor sie hin und versperrte ihr den Weg.

»Verdammt noch mal!« sagte er. »Was willst du denn eigentlich?«

»Lauf man lieber hinter Miriam her,« höhnte Clara.

Sein Blut flammte empor. Er ließ die Zähne sehen, wie er so dastand. Sie ließ verdrossen den Kopf hängen. Der Weg war dunkel, ganz einsam. Plötzlich packte er sie in seine vorgestreckten Arme und drückte ihr seinen Mund in einem wütenden Kusse aufs Gesicht. Krampfhaft wand sie sich, um ihm zu entgehen. Er hielt sie fest. Hart und erbarmungslos kam sein Mund wieder. Ihre Brüste schmerzten unter dem Druck seines harten Brustkastens. Hilflos wurde sie allmählich schwach in seinen Armen, und er küßte sie und küßte sie.

Er hörte Leute den Hügel herunterkommen.

»Steh fest! steh fest!« sagte er dick und packte ihren Arm, bis er ihr wehtat. Hätte er ihn fahren lassen, wäre sie zu Boden gesunken.

Sie seufzte und ging schwindelnd neben ihm her. Schweigend schritten sie weiter.

»Wir wollen über die Felder gehen,« sagte er; und da wurde sie wieder wach.

Aber sie ließ sich doch über den Übergang helfen und schritt in Schweigen neben ihm her über das erste dunkle Feld. Es war der Weg nach Nottingham und dem Bahnhof, das wußte sie. Er schien sich umzusehen. Sie gerieten auf eine kahle Hügelkuppe, auf der die dunkle Form einer zerstörten Windmühle stand. Dort blieb er stehen. Hoch oben standen sie beide in der Dunkelheit und blickten auf die vor ihnen durch die Nacht zerstreuten Lichter, Hände voller glitzernder Pünktchen, Dörfer hoch und tief gelegen in der Dunkelheit, hier und dort.

»Als ginge man durch die Sterne,« sagte er mit einem zitternden Lachen.

Dann nahm er sie in die Arme und hielt sie fest. Sie drückte ihren Mund zur Seite, um ihn verbissen und leise zu fragen:

»Wie spät ist es?«

»Was liegt daran,« flehte er schwerfällig.

»Viel liegt dran – jawohl! Ich muß fort!«

»Es ist noch früh,« sagte er.

»Wie spät ist es?« drängte sie wieder.

Ringsum die schwarze, mit zerstreuten Lichtern geschmückte Nacht.

»Ich weiß nicht.«

Sie legte ihm die Hand auf die Brust, um nach seiner Uhr zu tasten. Er fühlte, wie seine Gelenke in Feuer vergingen. Sie suchte in seiner Westentasche umher, während er ächzend dastand. In der Dunkelheit konnte sie das runde, blasse Zifferblatt der Uhr wohl erkennen, aber nicht die Ziffern. Sie beugte sich über sie. Er ächzte, bis er sie wieder in seine Arme schließen konnte.

»Ich kanns nicht sehen,« sagte sie.

»Dann quäl dich doch nicht drum.«

»Doch; ich muß weg!« sagte sie und wandte sich um.

»Warte! Ich will nachsehen!« Aber er konnte nichts sehen.

»Ich will ein Streichholz nehmen.«

Heimlich hoffte er, es werde zu spät sein, um den Zug zu erreichen. Sie sah die glühende Laterne seiner Hände, als er die Flamme schützte; dann wurde sein Gesicht erhellt, seine Augen auf die Uhr geheftet. Sofort war alles wieder dunkel. Alles war schwarz vor ihren Augen; nur ein glühendes Streichholz lag rot zu ihren Füßen. Wo war er?

»Wieviel ist es?« fragte sie ängstlich.

»Du kannst es nicht machen,« antwortete seine Stimme aus der Dunkelheit.

Eine Pause trat ein. Sie fühlte sich in seiner Macht. Sie hatte das Klingen in seiner Stimme gehört. Das machte sie bange.

»Wieviel Uhr ist es?« fragte sie, ruhig, entschieden, hoffnungslos.

»Zwei Minuten vor neun,« erwiderte er, widerwillig die Wahrheit sagend.

»Und kann ich von hier in vierzehn Minuten zum Bahnhof kommen?«

»Nein. Jedenfalls ,...«

Sie konnte seine dunkle Gestalt ungefähr einen Schritt vor sich erkennen. Sie wollte ihm entfliehen.

»Aber kann ichs denn nicht?« sagte sie flehend.

»Wenn du dich beeilst,« sagte er schroff. »Aber du könntest es leicht zu Fuße machen, Clara. Es ist bloß sieben Meilen bis zur Elektrischen. Ich will mit dir gehen.«

»Nein; ich will den Zug haben.«

»Aber warum denn?«

»Ich wills – ich will den Zug erreichen.«

Plötzlich änderte sich seine Stimme.

»Na, schön,« sagte er, trocken und hart. »Dann komm.«

Und er stürzte voraus in die Dunkelheit. Sie lief hinter ihm her und hätte am liebsten geweint. Nun war er hart und grausam gegen sie. Sie lief über die rauhen, dunklen Felder hinter ihm her, atemlos, bereit hinzusinken. Aber die Doppelreihe der Lichter am Bahnhof kam näher. Plötzlich rief er, zu laufen anfangend:

»Da ist er!«

Ein schwaches, rasselndes Geräusch. Weit weg zur Rechten wand sich der Zug wie eine leuchtende Raupe durch die Nacht. Das Rasseln hörte auf.

»Er ist auf der Überführung. Du kriegst ihn grade noch.«

Clara lief, ganz außer Atem, und fiel schließlich in den Zug. Ein Pfiff ertönte. Weg war er. Weg! – und sie saß in einem Wagen voller Leute. Sie fühlte die Grausamkeit des Ganzen.

Er wandte sich um und stürzte nach Hause. Bevor er noch wußte, wo er war, stand er bereits in der Küche zu Hause. Er war sehr blaß. Seine Augen waren dunkel und hatten einen gefahrdrohenden Blick, als wäre er betrunken. Seine Mutter sah ihn an.

»Na, das muß ich aber sagen, deine Stiefel sind ja in einem netten Zustand!« sagte sie.

Er sah auf seine Füße. Dann zog er sich den Überzieher aus. Seine Mutter wunderte sich, ob er wohl betrunken sei.

»Dann hat sie den Zug noch gekriegt?« sagte sie.

»Ja.«

»Ich hoffe, ihre Füße waren nicht auch so schmierig. Wo auf Erden du sie hingeschleppt hast, ahne ich nicht!«

Er blieb eine Zeitlang stumm und regungslos.

»Mochtest du sie leiden?« fragte er endlich mürrisch.

»Ja, ich mochte sie wohl. Aber du wirst sie müde werden, mein Sohn; du weißt das selbst.«

Er antwortete nicht. Sie bemerkte, wie schwer ihm das Atmen wurde.

»Bist du so gelaufen?« fragte sie.

»Wir mußten laufen, um den Zug zu kriegen.«

»Du machst dich noch ganz kaputt. Trink lieber etwas heiße Milch.«

Das wäre das beste Reizmittel gewesen, das er hätte haben können; aber er schlug es aus und ging zu Bett. Da lag er mit dem Gesicht in der Bettdecke und vergoß Tränen der Wut und Pein. Ein körperlicher Schmerz ließ ihn sich auf die Lippen beißen, bis sie bluteten, und der Wirrwarr in seinem Innern machte ihn unfähig zu denken, beinahe zu fühlen.

»So also vergilt sie es mir?« sagte er sich im Herzen immer und immer wieder und preßte das Gesicht in die Bettdecke. Wieder ging er den ganzen Vorgang durch, und wieder haßte er sie.

Am nächsten Tage lag ein ganz neuer Hochmut über ihm. Clara war sehr sanft, beinahe liebevoll. Aber er behandelte sie wie eine Fremde, mit einer Spur von Verachtung. Sie seufzte und blieb weiter ganz sanft. Er kam wieder zu ihr zurück.

An einem Abend dieser Woche war Sarah Bernhardt am Königlichen Theater in Nottingham und gab ›Die Kameliendame‹. Paul wünschte die alte, berühmte Schauspielerin zu sehen und bat Clara, mit ihm zu kommen. Er sagte seiner Mutter, sie möchte den Schlüssel für ihn im Fenster liegenlassen. »Soll ich Plätze besorgen?« fragte er Clara.

»Ja. Und zieh Gesellschaftsanzug an, willst du? Ich habe dich noch nie drin gesehen.«

»Aber lieber Gott, Clara! Denk dir mich doch mal im Gesellschaftsanzug im Theater!« wandte er ein.

»Möchtest du's lieber nicht?« fragte sie.

»Ich tu's, wenn du es willst; aber ich komme mir vor wie ein Narr.«

Sie lachte ihn aus.

»Denn komm dir mal vor wie ein Narr, mir zuliebe, einmal, willst du?«

Diese Bitte machte sein Blut emporwallen.

»Ich vermute, ich muß wohl.«

»Wozu nimmst du denn die Handtasche mit?« fragte seine Mutter.

Er errötete wütend.

»Clara bat mich drum,« sagte er.

»Und auf was für Plätze geht ihr?«

»Rang – dreieinhalb Schilling der Platz.«

»Na, wahrhaftig!« rief seine Mutter spöttisch.

»Es ist ja nur dies eine Mal im blausten aller blauen Monde,« sagte er.

Er zog sich bei Jordan um, zog seinen Überzieher an, nahm seine Mütze und traf Clara in einem Kaffeehause. Sie kam mit einer ihrer Frauenrechtler-Freundinnen. Sie trug einen alten langen Mantel, der ihr gar nicht stand, und über den Kopf ein kleines Tuch, das er haßte. Zu dritt gingen sie zusammen zum Theater.

Auf der Treppe nahm Clara ihren Mantel ab, und er entdeckte sie nun in einer Art halbem Gesellschaftskleide, das ihr Arme und Hals und teilweise die Brust frei ließ. Ihr Haar war ganz modern gemacht. Das Kleid, ein einfaches Dings aus grünem Krepp, stand ihr. Sie sah ganz großartig aus, fand er. Er konnte ihre Gestalt durch den Rock erkennen, als wäre er eng um sie zusammengezogen. Die Festigkeit und Weichheit ihres aufrechten Körpers machten sich beinahe fühlbar, als er sie ansah. Er ballte die Fäuste.

Und den ganzen Abend sollte er neben ihrem nackten Arm sitzen, sollte er ihre Kehle sich über der starken Brust erheben sehen, die Brüste unter dem grünen Stoff beobachten, die Rundung ihrer Glieder in dem enganliegenden Kleide. Abermals haßte etwas in ihm sie dafür, daß sie ihm so der Folter ihrer Nähe unterwarf. Und er liebte sie, wie sie den Kopf wiegte und starr vor sich hinsah, schmollend, nachdenklich, unbeweglich, als wiche sie ihrem Schicksal nur, weil es zu stark für sie wäre. Sie konnte nicht anders; sie lag in den Klauen einer stärkeren Macht, als sie selbst. Etwas Ewiges in ihrem Aussehen, als wäre sie eine gedankenvolle Sphinx, versetzte ihn in die Notwendigkeit, sie zu küssen. Er ließ seinen Zettel fallen und bückte sich zur Erde nieder, um ihn wieder aufzuheben, so daß er ihr die Hand und das Handgelenk küssen konnte. Ihre Schönheit wurde ihm zur Qual. Sie saß unbeweglich. Nur als die Lichter erloschen, sank sie ein wenig gegen ihn an, und er liebkoste ihr Arm und Hand mit seinen Fingern. Er konnte ihren schwachen Duft riechen. Die ganze Zeit über wallte sein Blut in mächtigen, weißglühenden Wogen empor, die jedes Bewußtsein des Augenblicks ertöteten.

Das Drama nahm seinen Fortgang. Er sah alles wie aus weiter Ferne, als ginge es irgendwo anders vor sich; wo, wußte er nicht, aber es schien ihm, tief in seinem Innern. Es war Claras schwerer, weißer Arm, ihre Kehle, ihr wogender Busen. Die erschienen ihm als er selbst. Dann irgendwo da drüben ging das Spiel vor sich, und mit dem war er auch wesenseins. Ein eigenes Ich besaß er nicht mehr. Claras grau und schwarze Augen, ihr zu ihm niederstrebender Busen, ihr Arm, den er zwischen seinen Händen gepackt hielt, waren alles, was noch da war. Dann kam er sich klein und hilflos vor, wie sie in ihrer Kraft ihn so turmhoch überragte.

Nur die Pausen, wenn das Licht wieder anging, taten ihm unaussprechlich weh. Er wollte irgendwo hinrennen, wenn es dort nur dunkel wäre. Ganz betäubt ging er hinaus, um etwas zu trinken. Dann waren die Lichter wieder aus, und die seltsam wahnsinnige Wirklichkeit Claras und des Dramas nahmen ihn in Besitz.

Das Spiel ging weiter. Aber er war besessen von dem Wunsche, die kleine blaue Ader in der Beugung ihres Armes zu küssen. Er konnte sie fühlen. Sein ganzes Leben hing in der Schwebe, bis er seine Lippen auf sie gedrückt hatte. Es mußte geschehen. Und die andern! Schließlich beugte er sich rasch vorüber und berührte sie mit den Lippen. Sein Schnurrbart berührte das empfindliche Fleisch. Clara schauerte zusammen, zog ihren Arm fort.

Als alles vorbei war, die Lichter wieder brannten, die Leute klatschten, da kam er wieder zu sich und sah nach der Uhr. Sein Zug war fort.

»Ich muß zu Fuß nach Hause gehen!« sagte er.

Clara sah ihn an.

»Ist es zu spät?« fragte sie.

Er nickte. Dann half er ihr in den Mantel.

»Ich liebe dich. Wunderschön siehst du in diesem Kleide aus,« flüsterte er ihr in dem Gedränge hastender Menschen über die Schulter zu.

Sie blieb ganz ruhig. Zusammen verließen sie das Theater. Er sah die wartenden Wagen, die vorübergehenden Leute. Es kam ihm vor, als träfe er ein Paar brauner Augen, die ihn haßten. Aber er begriff nichts. Er und Clara wandten sich ab und schlugen gedankenlos die Richtung zum Bahnhof ein.

Der Zug war fort. Er würde die zehn Meilen nach Hause zu Fuß machen müssen.

»Es macht nichts,« sagte er. »Es wird mir Spaß machen.«

»Willst du nicht mit mir die Nacht nach Hause kommen?« sagte sie unter Erröten. »Ich kann bei Muttern schlafen.«

Er sah sie an. Ihre Augen trafen sich.

»Was wird deine Mutter sagen?« fragte er.

»Sie macht sich nichts draus.«

»Bist du sicher?«

»Völlig!«

»Soll ich mitkommen?«

»Wenn du magst.«

»Schön.«

Und sie drehten wieder um. An der ersten Haltestelle nahmen sie die Elektrische. Der Wind blies ihnen frisch ins Gesicht. Die Stadt war dunkel, der Wagen schwankte vor Eile. Er saß mit ihrer Hand fest in der seinen.

»Ist deine Mutter schon zu Bett?« fragte er.

»Vielleicht. Ich hoffe nicht.«

Sie eilten die schweigende, dunkle kleine Straße hinunter die einzigen Menschen draußen. Rasch trat Clara ins Haus. Er zögerte.

»Komm herein,« sagte sie.

Er sprang die Stufe empor und stand im Zimmer. Ihre Mutter erschien in dem innern Durchgang, groß und feindselig.

»Wen hast du denn da?« fragte sie.

»Herr Morel ists; er hat seinen Zug verpaßt. Ich dachte, wir könnten ihn am Ende für die Nacht unterbringen und ihm zehn Meilen Spaziergang ersparen.«

»Hm!« rief Frau Radford. »Das ist deine Ansicht! Wenn du ihn eingeladen hast, ist er sehr willkommen, soweit ich in Frage komme. Du führst ja die Wirtschaft!«

»Wenn Sie mich lieber nicht hierhaben, gehe ich wieder,« sagte er.

»Ne, ne, das brauchen Sie nich! Kommen Sie man herein. Ich weiß nich, was Sie von dem Abendbrot halten werden, das ich für Sie dahabe.«

Es war eine kleine Schüssel gebratene Kartoffeln und ein Stück Schinken. Der Tisch war unordentlich für einen gedeckt.

»Mehr Schinken können Sie kriegen,« fuhr Frau Radford fort. »Mehr Kartoffeln gibts nicht.«

»Es ist 'ne Schande wert, Sie so zu belästigen,« sagte er.

»Och, nu entschuldigen Sie sich man nich! Das zieht bei mir nich! Sie haben sie ja zum Theater eingeladen, nich?« Es lag etwas Hohn in dieser letzten Frage.

»Ja, und?« lachte Paul unbehaglich.

»Na ja, un was is dagegen 'ne Scheibe Schinken! Ziehen Sie Ihren Mantel aus.«

Das große, aufrechte Frauenzimmer versuchte die Sachlage richtig einzuschätzen. Sie machte sich am Geschirrschrank zu tun. Clara nahm seinen Überzieher. Der Raum war warm und behaglich im Lampenlicht.

»Herrschaften!« rief Frau Radford. »Aber ihr beiden seid ein paar Hübsche, das muß ich sagen! Wozu denn all dies Getue?«

»Ich glaube, das wissen wir selbst nicht,« sagte er, sich als Opfer darbietend.

»Für zwei so 'ne Stutzer ist ja gar kein Raum hier im Hause, wenn ihr eure Drachen so hoch steigen laßt!« spottete sie. Das war ein häßlicher Stich.

Er in seiner Abendjacke und sie in ihrem grünen Gesellschaftskleid mit den bloßen Schultern waren beide verwirrt. Sie fühlten, sie müßten sich gegenseitig hier in der kleinen Küche decken.

»Und kuck doch bloß einer die Blume an!« fuhr Frau Radford fort, auf Clara weisend. »Was hat die denn bloß im Kopfe gehabt, als sie das tat?«

Paul sah Clara an. Sie war ganz rosig; ihr Hals war warm vor Erröten. Einen Augenblick herrschte Schweigen.

»Sie sehen so was doch ganz gern, nicht wahr?« fragte er.

Die Mutter hatte sie in ihrer Gewalt. Die ganze Zeit über schlug ihm das Herz wild, und er saß in größter Angst. Aber kämpfen würde er doch für sie.

»Ob ich so was gern sehen mag!« rief die alte Frau. »Warum sollte ichs wohl gern sehen mögen, wenn sie sich zur Närrin macht?«

»Ich habe schon dollere Närrinnen gesehen,« sagte er. Clara stand jetzt unter seinem Schutz.

»O ja, und wann?« kam die spöttische Antwort.

»Wenn sie Vogelscheuchen aus sich machten,« antwortete er.

Frau Radford stand groß und drohend über ihnen auf der Herdmatte, ihre Gabel in der Hand.

»Närrinnen sind sie beide Wege,« antwortete sie endlich und wandte sich ihrem kleinen Aufsatzbratofen zu.

»Nein,« sagte er, standhaft fechtend. »Die Leute sollten immer so gut aussehen, wie sie nur können.«

»Und das nennen Sie nett aussehend!« rief die Mutter, verächtlich mit der Gabel auf Clara zeigend. »Das – das sieht aus, als wäre sie nicht ordentlich angezogen!«

»Ich glaube, Sie sind bloß eifersüchtig, daß Sie nicht auch so loslegen können,« sagte er lachend.

»Ich, ich hätte Gesellschaftskleider anziehen können mit jedermann, wenn ich nur gewollt hätte!« kam die verächtliche Antwort.

»Und warum wollten Sie's denn nicht?« fragte er geschickt. »Oder haben Sie sie doch getragen?«

Nun kam eine lange Pause. Frau Radford brachte den Schinken in ihrem Bratofen wieder zurecht. Sein Herz schlug rasch, aus Furcht, sie beleidigt zu haben.

»Ich!« rief sie endlich aus. »Nein, ich habe keine getragen. Und solange ich in Stellung war, wußte ich sofort, wenn eins der Mädchen mit bloßen Schultern kam, was für 'ne Sorte sie war, so zu ihrem Fünfpennyhopser zu gehen.«

»Hielten Sie sich zu gut, zum Fünfpennyhopser zu gehen?« sagte er.

Clara saß mit gesenktem Kopfe. Seine Augen waren dunkel und glitzernd. Frau Radford nahm ihren kleinen Bratofen vom Feuer, blieb neben ihm stehen und legte ihm Stückchen Schinken auf den Teller.

»Das ist ein nettes großes Stück!« sagte sie.

»Geben Sie mir nicht das beste!« sagte er.

»Sie hat ja, was sie haben wollte,« war die Antwort.

Es lag eine Art verächtlicher Nachsicht im Tone der Frau, der Paul zum Bewußtsein brachte, sie sei besänftigt.

»Aber nehmen Sie doch etwas!« sagte er zu Clara.

Sie sah mit ihren grauen Augen zu ihm auf, erniedrigt und einsam.

»Nein, danke!« sagte sie.

»Warum denn nicht?« antwortete er liebkosend.

Das Blut wallte in seinen Adern empor wie Feuer. Frau Radford setzte sich wieder hin, groß und eindrucksvoll, und hielt sich ihnen fern. Er ließ Clara ganz allein ihrer Mutter aufwarten.

»Es heißt, Sarah Bernhardt ist funfzig,« sagte er.

»Funfzig! Über sechzig ist sie!« kam verachtungsvoll die Antwort.

»Na,« sagte er, »das sollte man nicht denken! Sie hat mich eben jetzt noch fast zum Heulen gebracht.«

»Ich möchte mich mal heulen sehen um so 'n altes übles Pack!« sagte Frau Radford. »Es ist Zeit, daß sie dran denkt, daß sie Großmutter ist, und nicht ein kreischender Katamaran ,...«

Er lachte.

»Ein Katamaran ist doch ein Boot, wie die Malaien es brauchen,« sagte er.

»Und es ist ein Wort, das ich brauche,« wandte sie sich dagegen.

»Meine Mutter tut das auch zuweilen, und es hat gar keinen Zweck, ihr dann was zu sagen,« sagte er.

»Ich sollte denken, sie haute Ihnen ein paar um die Ohren,« sagte Frau Radford gutgelaunt.

»Das möchte sie auch, und sie sagt, sie wills, und dann gebe ich ihr 'ne kleine Fußbank, um sich drauf zu stellen.«

»Das ist das schlimmste bei meiner Mutter,« sagte Clara, »die hat nie 'ne Fußbank für irgendwas nötig.«

»Aber bei der Dame da kann sie manchmal auch mit 'ner Bohnenstange nicht ankommen,« wendete sich Frau Radford zu Paul.

»Ich glaube, ihr liegt gar nichts an 'ner Bohnenstange,« lachte er. »Mir jedenfalls nicht.«

»Euch zwei beiden täte es jedenfalls gut, wenn ihr ein paar damit über den Schädel kriegtet,« sagte die Mutter plötzlich lachend.

»Warum sind Sie so rachsüchtig gegen mich?« sagte er. »Ich habe Ihnen doch nichts gestohlen.«

»Ne, da werde ich wohl aufpassen,« sagte die ältere Frau.

Das Abendessen war bald beendet. Frau Radford saß in ihrem Stuhl auf Posten. Paul zündete sich eine Zigarette an. Clara ging nach oben und kam mit einem Schlafanzug wieder, den sie auf dem Kaminvorsetzer zum Lüften ausbreitete.

»Was! den hatte ich ja ganz vergessen!« sagte Frau Radford. »Wo kommt der denn wieder her?«

»Aus meinem Auszug.«

»Hm! Den hattest du für Baxter gekauft, und der wollte ihn nicht tragen, nicht?« meinte sie lachend. »Sagte, er dächte doch, er könnte im Bett auch wohl ohne Hosen fertig werden.« Sie wandte sich zutraulich an Paul und sagte: »Er konnte sie nicht ausstehen, diese Schlafanzüge.«

Der junge Mann saß und blies Rauchringel.

»Tja, jeder nach seinem Geschmack,« lachte er.

Dann folgte eine kleine Auseinandersetzung über die Vorzüge von Schlafanzügen.

»Meine Mutter mag mich gern in ihnen,« sagte er. »Sie sagt, ich bin ein Pajaz.«

»Kann mir wohl denken, sie stehen Ihnen,« sagte Frau Radford.

Nach einer Weile sah er seitwärts nach der kleinen Uhr, die auf dem Kamin tickte. Es war halbeins.

»Es ist spaßig,« sagte er, »aber es dauert immer Stunden, ehe man nach dem Theater zum Schlafen kommt.«

»Es ist wohl fast Zeit, Sie kämen dazu,« sagte Frau Radford, den Tisch abräumend.

»Sind Sie müde?« fragte er Clara.

»Kein bißchen,« antwortete sie, seine Augen vermeidend.

»Sollen wir noch etwas Cribbage spielen?« sagte er.

»Ich habe es ganz vergessen.«

»Na, denn bring ich es Ihnen wieder bei. Dürfen wir Crib spielen, Frau Radford?« fragte er.

»Tun Sie, was Sie Lust haben,« sagte sie; »aber es ist recht hübsch spät.«

»Ein Spielchen oder so wird uns fein müde machen,« antwortete er.

Clara brachte die Karten und ließ ihren Trauring tanzen, während er mischte. Frau Radford wusch auf in der Spülküche. Je später es wurde, desto gespannter fand Paul die Sachlage.

»Funfzehn zwei, funfzehn vier, funfzehn sechs, und zwei sind acht ,...!«

Die Uhr schlug eins. Das Spiel ging weiter. Frau Radford hatte alle die kleinen Vorkehrungen zum Zubettgehen beendet, hatte die Tür abgeschlossen und den Kessel gefüllt. Trotzdem fuhr Paul fort zu geben und zu zählen. Er war von Claras Armen und Hals ganz besessen. Er glaubte genau den Absatz erkennen zu können, wo die Brüste anfingen. Er konnte sie nicht verlassen. Sie beobachtete seine Hände und fühlte, wie ihre Gelenke hinschmolzen unter ihren raschen Bewegungen. Sie war ihm so nahe; es war fast, als berühre er sie, und doch nicht ganz so. Sein Fleisch war in Wallung. Er haßte Frau Radford. Sie blieb in ihrem Stuhl sitzen, beinahe in Schlaf, aber entschlossen und hartnäckig. Paul sah von der Seite auf sie, dann auf Clara. Sie traf seine Augen, die ärgerlich, höhnisch und hart wie Stahl waren. Ihre eigenen antworteten ihm voller Scham. Er wußte, sie wenigstens war seiner Ansicht. Er spielte weiter.

Zuletzt stand Frau Radford steif auf und sagte:

»Ists nicht allmählich Zeit, Ihr zwei dächtet ans Bett?«

Paul spielte weiter, ohne zu antworten. Er war so wütend auf sie, daß er sie hätte umbringen können.

»'ne halbe Minute noch!« sagte er.

Die ältere Frau stand auf und segelte bockig in die Spülküche hinüber, kam mit seiner Kerze wieder und stellte sie auf den Kamin. Dann setzte sie sich wieder hin. Der Haß flammte ihm derart in den Adern empor, daß er die Karten hinlegte.

»Denn wollen wir aufhören,« sagte er; seine Stimme war immer noch eine Herausforderung.

Clara sah, sein Mund war hart verschlossen. Wieder blickte er auf sie. Es schien ihm wie ein Einverständnis. Sie beugte sich über ihre Karten, hustend, wie um sich die Kehle zu klären.

»Na, ich bin froh, daß Sie aufgehört haben,« sagte Frau Radford. »Hier nehmen Sie Ihre Sachen ,...« – sie warf ihm den warmen Anzug in die Hände – »und da ist Ihre Kerze. Ihr Zimmer ist grade hier drüber; es sind bloß zwei, so können Sie sich wohl nicht gut irren. Na, denn gute Nacht. Ich hoffe, Sie werden gut schlafen.«

»Sicher werde ich das; das tue ich immer,« sagte er.

»Ja; das müssen Sie auch in Ihrem Alter,« erwiderte sie.

Er sagte Clara gute Nacht und ging. Die Wendeltreppe aus weißgescheuertem Holz krachte und quietschte bei jedem Tritt. Verbissen ging er nach oben. Die beiden Türen lagen sich gegenüber. Er ging in sein Zimmer, zog die Tür zu, verriegelte sie aber nicht.

Es war ein kleines Zimmer mit einem großen Bett. Ein paar von Claras Haarnadeln lagen auf dem Spiegeltisch – ihre Haarbürste. Ihre Kleider und ein paar Röcke hingen unter einem Vorhang in der Ecke. Tatsächlich lagen auf einem Stuhl ein Paar Strümpfe. Er durchforschte das Zimmer. Zwei seiner eigenen Bücher standen auf dem Bort. Er zog sich aus, faltete seinen Anzug zusammen und setzte sich lauschend aufs Bett. Dann pustete er die Kerze aus, legte sich hin und war in zwei Minuten beinahe eingeschlafen. Da Klick! – war er völlig wach und wand sich in Qualen. Es war, als hätte ihn etwas, wie er schon beinahe eingeschlafen war, plötzlich gebissen und verrückt gemacht. Er setzte sich aufrecht und blickte in der Dunkelheit durch das Zimmer, die Beine untergeschlagen, völlig regungslos, lauschend. Irgendwo draußen hörte er eine Katze miauen; dann den schweren, gewichtigen Tritt der Mutter; dann Claras klare Stimme:

»Willst du mir das Kleid aufhaken?«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Endlich sagte die Mutter:

»Na! kommst du endlich mit rauf?«

»Nein, noch nicht,« antwortete die Tochter ruhig.

»Na, denn schön! Wenns dir noch nich spät genug ist, bleib noch ein bißchen. Bloß brauchst du mich nich aufwecken, wenn ich erst mal eingeschlafen bin.«

»Ich bleibe nicht mehr lange.«

Gleich darauf hörte Paul die Mutter langsam die Treppe heraufkommen. Der Kerzenschein blitzte durch die Ritzen in der Tür. Ihr Kleid streifte die Tür, und sein Herz schlug empor. Dann war es wieder dunkel, und er hörte das Klappen ihrer Türklinke. Sie nahm es mit ihren Vorbereitungen zum Schlafengehen in der Tat sehr gemächlich. Nach langer Zeit wurde es endlich ganz still. Er saß voller Spannung auf dem Bett, leicht zusammenschauernd. Seine Tür stand eine halbe Handbreit offen. Wenn Clara nach oben kommen würde, wollte er sie abfangen. Er wartete. Alles war totenstill. Die Uhr schlug zwei. Dann hörte er unten ein leises Kratzen am Kaminvorsetzer. Nun konnte er sich nicht mehr helfen. Sein Schaudern wurde unbezwinglich. Er fühlte, er müsse hinunter oder sterben.

Er stieg aus dem Bett und blieb einen Augenblick zitternd stehen. Dann ging er stracks auf die Tür zu. Er versuchte leise aufzutreten. Die erste Treppenstufe krachte wie ein Schuß. Er lauschte. Die alte Frau bewegte sich im Bette. Auf der Treppe war es dunkel. Unter der Tür am Fuße der Treppe lag ein Lichtstreif, sie öffnete sich in die Küche. Er blieb einen Augenblick stehen. Dann ging er gedankenlos weiter. Jede Stufe krachte, und ihm lief eine Gänsehaut über den Rücken, ob die Tür der Alten oben hinter ihm sich nicht öffnen würde. Er fummelte unten an der Tür herum. Die Klinke öffnete sich mit einem lauten Klapp. Er trat in die Küche und machte die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Nun würde die Alte nicht zu kommen wagen.

Dann blieb er wie gefesselt stehen. Clara lag inmitten eines Haufens weißen Unterzeuges auf der Herdmatte in den Knien, den Rücken ihm zugekehrt, und wärmte sich. Sie sah sich nicht um, sondern saß auf den Hacken niederkauernd da, und ihr gerundeter, wunderschöner Rücken blieb ihm zugekehrt, ihr Gesicht abgewandt. Sie wärmte ihren Leib vor dem Feuer, um Trost zu finden. Die Glut lag rosig auf ihrer einen Seite, der Schatten auf der andern war dunkel und warm. Ihre Arme hingen lose hernieder.

Er zitterte heftig und schloß Zähne und Fäuste hart zusammen, um sich in der Gewalt zu behalten. Dann trat er auf sie zu. Er legte ihr die eine Hand auf die Schulter, die Finger der andern unters Kinn, um ihr Gesicht emporzuheben. Ein krampfhafter Schauder durchlief sie, einmal, zweimal, bei seiner Berührung. Sie hielt den Kopf gesenkt.

»Tut mir so leid!« murmelte er, als er bemerkte, daß seine Hände sehr kalt waren.

Dann blickte sie furchtsam zu ihm auf, wie ein Wesen, das sich vor dem Tode fürchtet.

»Meine Hände sind so kalt,« murmelte er.

»Das mag ich gern,« flüsterte sie, die Augen schließend.

Der Atem ihrer Worte lag auf seinem Munde. Ihre Arme umschlangen seine Knie. Die Schnur seines Schlafanzuges baumelte gegen sie an und ließ sie erschauern. Nun die Wärme in ihn überging, nahm sein Zittern ab.

Endlich, als er nicht länger fähig war, so stehenzubleiben, hob er sie auf, und sie begrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Langsam wanderten seine Hände über sie hin in unendlich zarter Liebkosung. Sie hing sich fest an ihn in dem Versuch, sich vor ihm zu verbergen. Er umschlang sie sehr fest. Dann endlich sah sie zu ihm auf, stumm, flehend, um zu sehen, ob sie sich zu schämen habe.

Seine Augen waren dunkel, tief und sehr ruhig. Es war, als schmerze ihn ihre Schönheit, und daß er sie genommen hätte, verursachte ihm Kummer. In leichtem Schmerz sah er sie an und begann sich zu fürchten. Er war so demütig vor ihr. Sie küßte ihn heiß auf die Augen, erst das eine, dann das andere, und klammerte sich an ihn. Nun gab sie sich ihm. Er hielt sie fest. Es war ein Augenblick, fast so gespannt wie Todesqual.

Sie blieb stehen und ließ ihn sie anbeten und vor Freude an ihr erzittern. Das heilte ihren verletzten Stolz. Es heilte sie; es machte sie froh. Es ließ sie sich wieder aufrecht und stolz fühlen. Ihr innerster Stolz war verwundet worden. Sie war herabgesetzt worden. Nun strahlte sie wieder vor Freude und Stolz. Es war ihre Wiederherstellung und Wiederanerkennung.

Dann sah er sie mit strahlendem Gesicht an. Sie lachten einander zu, und er preßte sie an seine Brust. Die Sekunden tickten weiter, die Minuten liefen hin, und immer noch standen die beiden eng umschlungen, Mund an Mund, wie eine Doppelbildsäule aus einem Block.

Aber wieder liefen seine Finger suchend über sie hin, rastlos, wandernd, unbefriedigt. Woge auf Woge schlug sein Blut heiß empor. Sie legte den Kopf auf seine Schulter.

»Komm in mein Zimmer,« murmelte er.

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf, den Mund trostlos vorgeschoben, die Augen schwer vor Leidenschaft. Er beobachtete sie fest.

»Ja!« sagte er.

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Warum nicht?« fragte er.

Sie sah ihn abermals schwer, kummervoll an und schüttelte von neuem den Kopf. Seine Augen wurden hart, und er ließ sie los.

Als er später wieder im Bette lag, wunderte er sich, weshalb sie sich geweigert habe, ganz offen zu ihm zu kommen, so daß ihre Mutter es erfahren hätte. Jedenfalls wären dann die Dinge zur Entscheidung gekommen. Und sie hätte die ganze Nacht bei ihm bleiben können, ohne so, wie sie war, in ihrer Mutter Bett gehen zu müssen. Es war seltsam, und er konnte es nicht begreifen. Und dann fiel er fast sofort in Schlaf.

Am Morgen erwachte er dadurch, daß jemand ihn anredete. Als er die Augen öffnete, sah er Frau Radford groß und stattlich auf ihn niederschauen. Sie hielt eine Tasse Tee in der Hand.

»Meinen Sie, Sie wollten bis an den Jüngsten Tag weiter schlafen?« sagte sie.

Sofort mußte er lachen.

»Es müßte eigentlich erst fünf Uhr sein,« sagte er.

»Jawoll,« antwortete sie, »halb acht ists, ob Sie's glauben oder nich. Hier, ich habe Ihnen eine Tasse Tee gebracht.«

Er rieb sich die Augen, strich sich das verwirrte Haar aus der Stirn und setzte sich aufrecht.

»Warum ists denn auch so spät!« brummte er.

Er war böse, daß sie ihn geweckt hatte. Das machte ihr Spaß. Sie sah seinen Hals in der Flanell-Schlafjacke, so weiß und rund wie ein Mädchenhals. Ärgerlich rubbelte er sich das Haar.

»Das nutzt nichts, daß Sie sich den Kopf kratzen,« sagte sie; »das macht es nicht früher. Hier, und wie lange denken Sie eigentlich, soll ich hier mit Ihrer Tasse Tee stehenbleiben?«

»Och, verflucht nochmal die Tasse!« sagte er.

»Hätten früher zu Bett gehen sollen,« sagte die Frau.

Mit unverschämtem Lachen sah er zu ihr auf.

»Ich bin eher zu Bett gegangen als Sie,« sagte er.

»Jawoll, Sie kleiner Teufel, das sind Sie!« rief sie.

»So 'n Gedanke,« sagte er, sich den Tee umrührend, »daß einem der Tee ins Bett gebracht wird! Meine Mutter wird denken, ich bin ein für allemal zugrunde gerichtet.«

»Tut sie das nie?« fragte Frau Radford.

»Ebensogern würde sie fliegen.«

»Ach, ich habe meine Bande immer verhätschelt! Darum sind sie auch alle so schlecht eingeschlagen,« sagte die Alte.

»Sie haben ja bloß Clara,« sagte er. »Und Herr Radford ist doch im Himmel. Mir scheint also, bloß Sie bleiben über als schlecht eingeschlagen.«

»Ich bin nicht schlecht; ich bin bloß schlapp,« sagte sie, als sie die Kammer verließ. »Ich bin bloß eine Närrin, jawohl!«

Clara war beim Frühstück sehr ruhig; aber sie trug eine Art Eigentumsrecht über ihn zur Schau, die ihm unendlich gefiel. Frau Radford hatte ihn augenscheinlich gern. Er begann von seiner Malerei zu sprechen.

»Was soll denn nun all dies Schnippeln und Murxen und Schrappen und Getue«, rief die Mutter, »bei Ihrem Gemale? Was haben Sie denn davon, möchte ich wissen? Sie sollten sich doch man lieber mal ein Vergnügen gönnen.«

»Oh,« rief Paul, »ich habe aber voriges Jahr über dreißig Guineen verdient.«

»So! Na, das ist doch wenigstens was, aber es ist doch nichts im Verhältnis zu der Zeit, die Sie dranwenden.«

»Und ein Pfund habe ich noch ausstehen. Ein Mann sagte, er wollte mir fünf Pfund geben, wenn ich ihn und seine Frau und den Hund und das Haus malte. Und ich ging hin und setzte die Hühner an Stelle des Hundes; und da wurde er wütig, und deshalb mußte ich ein Pfund abknaxen. Mir war ganz übel dabei, und ich mochte den Hund nicht leiden. Ich machte eben ein Bild draus. Was soll ich nun machen, wenn er mir dies eine Pfund nicht bezahlt?«

»Na, Sie wissen doch wohl selbst am besten, was Sie mir Ihrem Gelde anzufangen haben,« sagte Frau Radford.

»Ich will diese vier Pfund aber um die Ohren schlagen. Wollen wir ein oder zwei Tage an die See gehen?«

»Wer?«

»Sie und Clara und ich.«

»Was, für Ihr Geld!« rief sie halb böse.

»Warum denn nicht?«

»Sie würden beim Hürdenrennen auch schön bald den Hals brechen!« sagte sie.

»Ach, wenn ich nur Spaß für mein Geld habe! Wollen Sie?«

»Ne, das müssen Sie unter sich ausmachen.«

»Und haben Sie denn Lust dazu?« fragte er, erstaunt und froh.

»Tun Sie, was Sie lustig sind,« sagte Frau Radford, »obs mir Spaß macht oder nicht.«


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