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Neuntes Kapitel. Miriams Niederlage

Paul war mit sich und der Welt unzufrieden. Seine tiefste Liebe gehörte seiner Mutter. Fühlte er, er hatte sie verletzt oder seine Liebe zu ihr verwundet, so war ihm das unerträglich. Nun war es Frühling und Kampf zwischen ihm und Miriam. Dieses Jahr hatte er recht viel gegen sie. Sie merkte das undeutlich. Das alte Gefühl, sie werde das Opfer seiner Liebe werden, das sie immer hatte, wenn sie betete, vermischte sich mit all ihren Empfindungen. Im Grunde glaubte sie nicht, sie werde ihn je besitzen. Zunächst glaubte sie nicht an sich selbst: sie bezweifelte, ob sie je so werden würde, wie er sie sich wünschte. Sicherlich sah sie sich niemals ein ganzes Leben lang glücklich an seiner Seite. Sie sah ein Trauerspiel, sah Sorgen und Opfer voraus. Und auf ihr Opfer war sie stolz, in Entsagung war sie stark, denn sie traute sich nicht zu, ein Alltagsleben zu führen. Auf große und tiefe Dinge war sie vorbereitet wie für das Trauerspiel. Es war die Selbstgenügsamkeit des kleinen Alltagslebens, die sie sich nicht zutraute.

Die Osterfeiertage begannen glücklich. Paul war wieder ganz der Alte, Frische. Und doch fühlte sie, es könne nicht gut auslaufen. Am Sonntagnachmittag stand sie an ihrem Schlafzimmerfenster und sah nach den Eichen im Walde hinüber, in deren Zweigen das Zwielicht herrschte trotz dem hellen Nachmittagshimmel. Graugrüne Büschel von Jelängerjelieberblättern hingen vor ihrem Fenster, einzelne, meinte sie, bereits mit Knospen. Es war Frühling, den sie liebte und fürchtete.

Sowie sie das Klappen des Gartengitters hörte, blieb sie wie in Erstarrung stehen. Es war ein heller, grauer Tag. Paul kam mit seinem Rad auf den Hof, und es funkelte, während er nebenherschritt. Für gewöhnlich klingelte er und lachte zum Hause hinauf. Heute ging er mit zusammengekniffenen Lippen in einer kalten, grausamen Haltung, die etwas Kriechendes, Höhnisches an sich hatte. Sie kannte ihn allmählich gut genug, um aus dem Anblick seines frischen, hochgemuten jungen Körpers vorhersagen zu können, was in ihm vorging. Es lag etwas kalt Sorgfältiges in der Art, wie er sein Rad an seinen Platz brachte, die ihr Herz sinken machte.

Aufgeregt kam sie herunter. Sie trug eine neue Netzbluse, die ihr nach ihrer Meinung gut stand. Sie hatte einen hohen Kragen mit einer winzigen Krause, die sie an Maria, die Königin der Schotten, erinnerte und sie, wie sie glaubte, wundervoll frauenähnlich und würdig aussehend machte. Mit ihren zwanzig Jahren hatte sie eine volle Brust und üppige Formen. Ihr Gesicht war immer noch wie eine volle, reiche Maske, unveränderlich. Aber ihre Augen, einmal aufgeschlagen, waren wundervoll. Sie fürchtete sich vor ihm. Er würde ihre neue Bluse bemerken.

Er unterhielt ihre Angehörigen in einer harten, spöttischen Stimmung mit der Beschreibung des Gottesdienstes in der Ur-Methodistenkapelle, den ein wohlbekannter Prediger dieser Sekte geleitet hatte. Er saß oben am Tische, während sein bewegliches Gesicht mit den Augen, die so schön sein konnten, wenn sie vor Zärtlichkeit glänzten oder vor Lachen hüpften, nun in Nachahmung der verschiedenen Leute, die er verspottete, fortwährend den Ausdruck wechselten. Sein Spott schmerzte sie immer; er kam der Wirklichkeit so nahe. Er war zu klug und grausam. Sie fühlte, wenn seine Augen so wurden, hart vor spöttischem Haß, daß er dann weder sich selbst noch sonst irgend jemand schonte. Aber Frau Leivers wischte sich die Augen vor Lachen, und Herr Leivers, der eben aus seinem Sonntagsschläfchen aufgewacht war, rieb sich den Kopf vor Vergnügen. Die drei Brüder saßen mit schläfrigem, verstörtem Ausdruck in Hemdärmeln da und gähnten von Zeit zu Zeit. Die ganze Sippe liebte dieses ›Nachmachen‹ mehr als alles andere.

»Er beachtete Miriam gar nicht. Später sah sie, daß er ihre neue Bluse bemerkt hatte, sah, daß der Künstler in ihm sie billigte; aber sie gewann ihr doch kein Fünkchen Wärme. Sie war gereizt und konnte kaum die Tassen aus den Borten herunternehmen.

Als die Männer zum Melken gingen, wagte sie es, ihn unmittelbar anzureden.

»Du kamst so spät,« sagte sie.

»So?« antwortete er.

Ein Weilchen trat Schweigen ein.

»War es schlecht zu fahren?« fragte sie.

»Das habe ich nicht bemerkt.«

Sie fuhr rasch mit dem Tischdecken fort. Als sie fertig war, sagte sie:

»Der Tee dauert noch ein paar Minuten. Willst du mit und dir mal die Narzissen ansehen?«

Er stand auf, ohne zu antworten. Sie traten in den Hintergarten unter die knospenden Pflaumenbäume. Die Hügel und der Himmel waren rein und golden. Alles sah frisch gewaschen aus, beinahe hart. Miriam blickte von der Seite auf Paul. Er war blaß und teilnahmlos. Es kam ihr grausam vor, daß seine Augen und Brauen, die sie so liebte, so schmerzvoll aussehen konnten.

»Hat der Wind dich müde gemacht?« fragte sie. Sie entdeckte an ihm ein verstecktes Gefühl von Müdigkeit.

»Nein, ich glaube nicht,« antwortete er.

»Der Weg muß doch rauh sein – der Wald stöhnt so.«

»Du kannst ja an den Wolken sehen, es ist Südwest; der hilft mir auf dem Wege hierher.«

»Siehst du, ich fahre ja nicht, und daher verstehe ich das nicht,« murmelte sie.

»Muß man radeln, um das zu begreifen?« sagte er.

Sie dachte, sein Spott wäre unnötig. Sie gingen in Schweigen weiter. Um den wilden, mit Büscheln übersäten Rasen hinter dem Hause stand eine Dornhecke, unter der sich Narzissen aus den Bündeln ihrer graugrünen Blätter hervorbeugten. Die Wangen der Blüten waren noch grünlich vor Kälte. Aber immerhin waren einige doch schon offen, und ihr Gold kräuselte sich und glühte. Miriam legte sich vor einem Busch auf die Knie, nahm eine wildaussehende Narzisse zwischen ihre Hände, wandte sich ihr Goldgesicht zu, beugte sich nieder und liebkoste sie mit Mund und Wangen und Stirn. Er stand daneben, die Hände in den Taschen, und beobachtete sie. Sie wandte ihm die Gesichter der gelben, geöffneten Blumen eine nach der andern flehend zu und liebkoste sie die ganze Zeit.

»Sind sie nicht prachtvoll?« murmelte sie.

»Prachtvoll, das ist ein bißchen dick aufgetragen – hübsch sind sie.«

Bei dieser Beurteilung ihres Lobspruches beugte sie sich wieder zu den Blumen nieder. Er beobachtete sie, wie sie niederkauerte und die Blumen mit glühenden Küssen bedeckte.

»Warum mußt du immer alles so liebkosen?« sagte er gereizt.

»Ich fasse sie aber so gern an,« erwiderte sie gekränkt.

»Kannst du denn nicht etwas liebhaben, ohne es zu packen, als wolltest du ihm das Herz ausreißen? Warum hast du nicht etwas mehr Fassung oder Zurückhaltung oder sonstwas?«

Schmerzerfüllt sah sie zu ihm auf und fuhr dann langsam fort, mit den Lippen über die krausen Blumen zu fahren. Ihr Duft war, so wie sie ihn wahrnahm, so viel gütiger als er; er brachte sie fast zum Weinen.

»Du schmeichelst den Dingen die Seele aus dem Leibe,« sagte er. »Ich würde niemals schmeicheln – ich würde jedenfalls gradeaus gehen.«

Er wußte kaum, was er sagte. Diese Sätze entfuhren ihm rein gefühlsmäßig. Sie sah ihn an. Sein Körper erschien ihr eine gegen sie gerichtete Waffe, fest und hart.

»Du bittest immer alles, dich lieb zu haben,« sagte er, »als betteltest du um Liebe. Selbst Blumen, selbst die mußt du anbetteln.«

Miriam schwankte taktmäßig hin und her und strich mit dem Munde über die Blume und atmete dabei ihren Duft ein, der sie später jedesmal zum Schaudern brachte, wenn er ihre Nase traf.

»Du willst nicht selbst lieben – dein ewiges, unnatürliches Sehnen ist, dich lieben zu lassen. Du bist nicht bejahend, du bist verneinend. Du saugst und saugst, als müßtest du dich ganz mit Liebe vollfüllen, weil du irgenwo zu wenig davon hast.«

Sie war ganz betäubt durch seine Grausamkeit und hörte nichts. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er da sagte. Es war, als stieße seine gekränkte, gequälte Seele, heiß gerieben durch seine aussichtslose Leidenschaft, diese Worte wie elektrische Funken von sich ab. Sie begriff gar nicht, was er sagte. Sie saß nur zusammengekauert unter seiner Grausamkeit und seinem Hasse da. Sie begriff nie blitzartig. Über allem mußte sie erst brüten und brüten.

Nach dem Tee blieb er mit Edgar und dessen Brüdern zusammen und schenkte Miriam keinerlei Beachtung. Sie wartete auf ihn, tief unglücklich über den Ausgang dieses sehnlichst erwarteten Feiertages. Und schließlich gab er nach und kam zu ihr. Sie war entschlossen, seiner Stimmung auf den Grund zu kommen. Sie hielt es für nicht viel mehr als eine Stimmung.

»Sollen wir etwas durch den Wald gehen?« fragte sie ihn, wohl wissend, daß er einer unmittelbaren Frage nie auswich. Sie gingen zu den Kaninchenhöhlen hinunter. Auf dem mittleren Pfade kamen sie an einer Falle vorbei, einer engen, hufeisenförmigen Umzäunung aus kleinen Kiefernzweigen, mit den Eingeweiden eines Kaninchens als Köder. Die Stirn runzelnd sah Paul sie an. Sie fing seinen Blick auf.

»Ist das nicht schrecklich?« fragte sie.

»Ich weiß nicht. Ist es denn schlimmer als ein Wiesel mit den Zähnen in einer Kaninchenkehle? Ein Wiesel oder viele Kaninchen? Eins oder das andere muß fort.«

Die Bitterkeit des Lebens lastete schwer auf ihm. Er tat ihr gradezu leid.

»Wir wollen wieder nach Hause,« sagte er. »Ich mag nicht spazierengehen.«

Sie gingen an dem Fliederbusch vorüber, dessen bronzene Blätterknospen im Entfalten waren. Nur ein kleines Bruchstück war noch von dem Heuschober übrig, ein markiges, braunes Denkmal, wie ein Pfeiler aus Stein. Etwas Heu vom letzten Schneiden lag noch davor.

»Laß uns hier eine Minute hinsetzen,« sagte Miriam.

Gegen seinen Willen setzte er sich und lehnte den Rücken gegen die harte Heuwand. Sie hatten das Halbrund der im Sonnenuntergang glühenden, gewölbten Hügel, die mit winzigen weißen Häusern bestreut waren, die goldenen Wiesen und die dunkeln und doch leuchtenden Wälder vor sich; deutlich schoben sich auch in der Ferne Baumwipfel über Baumwipfel. Der Abend war klar geworden und der Osten von einem zarten, bläulichroten Schimmer erfüllt, unter dem das Land still und reich dalag.

»Ist es nicht wunderschön?« sagte sie bittend.

Aber er machte nur ein finsteres Gesicht. Er hätte es grade jetzt häßlich lieber gehabt.

In diesem Augenblick kam ein großer Bullterrier angesetzt, mit offenem Maule, pflanzte dem jungen Mann beide Vorderpfoten auf die Schultern und leckte ihm das Gesicht. Lachend bog Paul den Kopf zurück. Bill war ihm eine große Erleichterung. Er schob den Hund zur Seite, aber der kam in Sprüngen wieder.

»Geh weg,« sagte der Bursche, »oder du kriegst einen.«

Aber der Hund ließ sich nicht abweisen. So hatte Paul einen kleinen Kampf mit dem Geschöpf zu bestehen, wobei er den armen Bill von sich schleuderte, aber der kam wild vor Vergnügen immer aufs neue wie ein Wirbelwind heran. Die beiden kämpften miteinander, der Mann widerwillig lachend, der Hund übers ganze Gesicht grinsend. Miriam beobachtete sie. Es lag etwas Leidvolles über dem Manne. Er wollte so gern lieben, zärtlich sein. Die rauhe Art, in der er den Hund über Kopf warf, war in Wirklichkeit nur Liebe. Bill stand immer wieder auf, vor Wonne nach Luft schnappend, rollte dabei die braunen Augen in dem weißen Gesicht und stolperte wieder vorwärts. Er hing leidenschaftlich an Paul. Der Bursche runzelte die Stirn.

»Ich hab genug von dir, Bill,« sagte er.

Aber der Hund stand da, mit seinen beiden vor Liebe zitternden schweren Vorderpfoten auf seinem Schenkel, und schlenkerte ihm seine rote Zunge entgegen. Er zog sich zurück.

»Nein,« sagte er, »nein, ich hab genug.«

Und im Augenblick trottete der Hund glücklich von dannen, um einem anderen Vergnügen nachzugehen.

Paul verharrte in seinem jämmerlichen Starren nach den Hügeln drüben, denen er ihre stille Schönheit mißgönnte. Er wollte mit Edgar radfahren. Aber noch hatte er nicht den Mut, Miriam zu verlassen.

»Warum bist du so traurig?« fragte sie demütig.

»Ich bin gar nicht traurig; warum auch?« antwortete er; »ich bin ganz wie immer.«

Sie wunderte sich, warum er immer wie gewöhnlich zu sein behauptete, wenn er unfreundlich war.

»Aber was ist denn los?« bat sie, sanft in ihn dringend.

»Nichts!«

»Doch!« murmelte sie.

Er hob einen Stock auf und begann mit ihm in die Erde zu stechen.

»Rede lieber nicht,« sagte er.

»Ich möchte aber gern wissen,« erwiderte sie.

Er lachte empfindlich.

»Das möchtest du immer,« sagte er.

»Das ist nicht nett von dir,« murmelte sie.

Er stieß, stieß, stieß mit dem spitzen Stock in den Boden und hob kleine Klümpchen Erde heraus, wie in fieberhafter Erregung. Leise und doch fest legte sie ihm die Hand aufs Handgelenk.

»Nicht!« sagte sie. »Leg ihn weg.«

Er schleuderte den Stock in die Johannisbeerbüsche und lehnte sich zurück. Nun war er gefangen.

»Was ist es?« bat sie sanft.

Er lag vollkommen still, nur in den Augen noch Leben, und die voller Qual.

»Weißt du,« sagte er endlich ziemlich müde – »weißt du – wir brechen besser ab.«

Das wars, was sie gefürchtet hatte. Sofort schien ihr alles vor den Augen dunkel zu werden.

»Wieso!« murmelte sie. »Was ist denn geschehen?«

»Nichts ist geschehen. Wir werden uns nur klar darüber, wo wir stehen. Es nützt nichts ,...«

Sie wartete in Schweigen, traurig, geduldig. Es nützte nichts, ungeduldig mit ihm zu werden. Jedenfalls würde er ihr nun erzählen, was ihm fehlte.

»Wir hatten uns auf Freundschaft geeinigt,« fuhr er mit stumpfer, eintöniger Stimme fort. »Wie oft haben wir uns daraufhin geeinigt. Und doch – es bleibt dabei nicht stehen, und führt doch zu nichts.«

Er war wieder stumm. Sie brütete vor sich hin. Was meinte er? Er machte sie so mürbe. Da war etwas, was er ihr nicht preisgeben wollte. Und doch mußte sie Geduld mit ihm haben.

»Ich kann nur Freundschaft geben – das ist alles, wozu ich fähig bin – es ist ein Mangel in meiner Veranlagung. Die Sache hat Übergewicht auf einer Seite – und ich hasse ein unsicheres Gleichgewicht. Laß uns Schluß machen.«

In seinen letzten Sätzen lag eine heiße Wut. Er glaubte, sie liebe ihn mehr als er sie. Vielleicht konnte er sie gar nicht lieben. Vielleicht besaß sie in sich gar nicht das, wonach er sich sehnte. Das war der tiefste Grund ihrer Seele, dies Mißtrauen gegen sich selbst. Es war so tief, daß sie weder sich darüber klar zu werden wagte, noch es anerkennen mochte. Vielleicht war das ein Mangel. Wie etwas ein ganz klein wenig Beschämendes ließ es sie immer zaudern. Wenn es so war, dann wollte sie ohne ihn fertig werden. Sie wollte sich nie so weit gehen lassen, daß sie ihn haben wollte. Sie wollte lediglich abwarten.

»Aber was ist denn geschehen?« sagte sie.

»Nichts – es liegt alles in mir – es kommt nur grade jetzt heraus. Wir sind immer so gegen Ostern.«

Er quälte sich so hilflos, daß er ihr leid tat. Wenigstens wand sie sich nie so jämmerlich hin und her. Schließlich war er der am tiefsten Gedemütigte.

»Was willst du denn nur?« fragte sie.

»Wieso – ich darf nicht mehr so oft hierherkommen – das ist alles. Warum sollte ich dich ganz in Beschlag nehmen, wenn ich doch nicht – siehst du, mir fehlt etwas dir gegenüber ,...«

Er fing an ihr zu erzählen, er liebe sie nicht, und müsse ihr deshalb die Möglichkeit zu einem anderen Mann freilassen. Wie närrisch und blind und beschämend ungeschickt er war! Was waren ihr denn andere Männer! Was waren ihr die Männer überhaupt! Aber er! ach, sie liebte seine Seele. Fehlte es ihm an etwas? Vielleicht.

»Aber ich verstehe nicht,« sagte sie leise. »Gestern ,...«

Die Nacht wurde für ihn mißtönig und häßlich, je mehr das Zwielicht hinschwand. Und sie beugte sich unter ihrem Leid.

»Ich weiß,« rief er, »das wirst du nie. Du wirst nie glauben, daß ich – daß ich körperlich nicht imstande bin, ebensowenig wie ich mich wie eine Lerche in die Höhe schwingen kann ,...«

»Was?« murmelte sie. Nun bekam sie Furcht.

»Dich zu lieben.«

Er haßte sie bitterlich in diesem Augenblick, weil er ihr dies Leid verursachte. Sie lieben! Sie wußte, er liebte sie. Er gehörte ihr wirklich an. Dies Sie-nicht-lieben-Können, körperlich, leiblich, war nur eine Verdrehtheit seinerseits, weil er wußte, sie liebte ihn. Er war töricht wie ein Kind. Er gehörte ihr. Seine Seele verlangte nach ihr. Sie ahnte, jemand habe ihn beeinflußt. Sie fühlte die Härte, die Fremdartigkeit eines anderen Einflusses in ihm.

»Was haben sie zu Hause zu dir gesagt?« fragte sie.

»Das ist es nicht,« antwortete er.

Und nun wußte sie, das war es. Sie verachtete sie wegen ihrer Gewöhnlichkeit, seine Angehörigen. Sie wußten gar nicht, was die Dinge wirklich wert waren.

Er und sie sprachen sehr wenig mehr an diesem Abend. Schließlich ließ er sie allein, um mit Edgar zu radeln.

Er war wieder zu seiner Mutter zurückgekommen. Das Band zwischen ihnen war das stärkste in seinem Leben. Sobald er sich alles überlegte, schwand Miriam hinweg. Nur ein unbestimmtes, unwirkliches Gefühl von ihr blieb übrig. Und auf niemand anders kam es an. Eine Stelle gab es in der Welt, die feststand und nie in Unwirklichkeit hinwegschmelzen konnte: die Stelle, wo seine Mutter war. Alle andern konnten zu Schatten werden, aber sie nicht. Es war, als wäre seine Mutter die Achse, der Pol seines Lebens, denen er nicht entrinnen könne.

Und genau so wartete sie auf ihn. In ihm beruhte nun ihr Leben. Schließlich bot das Leben im Jenseits Frau Morel nur recht wenig. Sie sah ein, die Möglichkeit, etwas zu vollbringen, läge hier, und nur Vollbringen zählte bei ihr. Paul sollte den Beweis liefern, daß sie recht gehabt habe; er sollte einen Mann darstellen, den nichts von seinem Standpunkt verdrängen konnte; er sollte das Angesicht der Erde in einer Weise umgestalten, die bleibenden Wert hatte. Wohin er ging, fühlte sie, dahin ging auch ihre Seele. Was er auch unternahm, sie fühlte ihre Seele neben ihm stehen, stets bereit, ihm sein Werkzeug zu reichen. Sie konnte es nicht ertragen, wenn er bei Miriam war. William war tot. Sie wollte um Pauls Besitz kämpfen.

Und er kam wieder zu ihr. Und in seiner Seele lag ein Gefühl der Befriedigung über seine Selbstaufopferung, darüber, daß er ihr treugeblieben war. Sie liebte ihn an erster Stelle; er sie gleichfalls. Und doch war dies noch nicht genug. Sein neues junges Leben, so stark und herrisch, wurde zu etwas anderem hingedrängt. Es machte ihn verrückt vor Ruhelosigkeit. Sie sah das und wünschte bitterlich, Miriam wäre ein Weib, das dies neue Leben hätte hinnehmen und ihr die Wurzeln lassen können. Er kämpfte gegen seine Mutter an, beinahe wie gegen Miriam.

Es dauerte eine Woche, ehe er wieder nach dem Willeyhofe ging. Miriam hatte viel gelitten und fürchtete sich vor einem Wiedersehen. Mußte sie nun die Schande auf sich nehmen, sich von ihm verlassen zu sehen? Es würde ja nur oberflächlich und zeitweilig sein. Er würde ja wiederkommen. Sie bewahrte die Schlüssel zu seiner Seele. Aber wie würde er sie in der Zwischenzeit mit seinen Kämpfen gegen sie quälen. Davor schreckte sie zurück.

Am Sonntag nach Ostern kam er jedoch zum Tee. Frau Leivers freute sich, ihn zu sehen. Sie merkte, es kränke ihn etwas, er fände etwas hart. Er schien zu ihr zu treiben, um Trost zu finden. Und sie war gut gegen ihn. Sie erwies ihm den großen Gefallen, ihn fast mit Ehrerbietung zu behandeln. Er fand sie mit den kleinen Kindern im Vorgarten.

»Ich freue mich, daß du gekommen bist,« sagte die Mutter und sah ihn mit ihren großen, flehenden braunen Augen an. »Es ist so ein sonniger Tag. Ich wollte grade nach dem Felde hinunter, zum erstenmal dies Jahr.«

Er fühlte, sie wünschte, er solle mitkommen. Das tat ihm wohl. Sie gingen unter einfachen Gesprächen, er sanft und demütig. Er hätte vor Dankbarkeit weinen mögen, daß sie so rücksichtsvoll gegen ihn war. Er fühlte sich erniedrigt. Auf dem Grunde der Wiese fanden sie ein Drosselnest.

»Soll ich Ihnen mal die Eier zeigen?« sagte er.

»Ach ja!« erwiderte Frau Leivers. »Sie sind so ein Wahrzeichen des Frühlings und sehen so hoffnungsvoll aus.«

Er drückte die Dornen zur Seite, nahm die Eier heraus und hielt sie auf der flachen Hand.

»Sie sind ganz heiß – ich glaube, wir haben die Mutter weggescheucht,« sagte er.

»Ach, das arme Ding!« sagte Frau Leivers.

Miriam konnte nicht unterlassen, die Eier zu berühren, und ebenso seine Hand, die, wie es ihr schien, sie wie eine Wiege hielt.

»Ist das nicht 'ne sonderbare Wärme!« murmelte sie, um ihm näherzukommen.

»Blutwärme,« antwortete er.

Sie sah zu, wie er sie wieder hinlegte, den Körper gegen die Hecke gepreßt, wie er den Arm langsam durch die Dornen streckte und dabei die Hand vorsichtig über den Eiern geschlossen hielt. Er war ganz bei der Sache. Wenn sie ihn so sah, liebte sie ihn; er schien so schlicht und selbstgenügsam. Und sie konnte ihm nicht nahekommen.

Nach dem Tee stand sie zögernd vor dem Bücherbort. Er nahm Tartarin de Tarascon heraus. Wieder saßen sie auf der Bank von Heu am Fuße des Schobers. Er las ein paar Seiten, ohne mit dem Herzen dabei zu sein. Wieder kam der Hund angerast, um den Scherz von neulich wieder zu beginnen. Er schob dem Manne seine Schnauze in die Brust. Paul befingerte einen Augenblick sein Ohr. Dann schob er ihn weg.

»Geh weg, Bill,« sagte er. »Ich will dich nicht.«

Bill schlich von dannen, und Miriam saß in Furcht und Verwunderung, was nun kommen würde. Es lag ein Schweigen über dem Jungen, das sie in Angst verstummen ließ. Nicht seine Wutanfälle, sondern seine ruhigen Entschlüsse fürchtete sie.

Sein Gesicht etwas zur Seite wendend, so daß sie ihn nicht ansehen konnte, begann er langsam und schmerzerfüllt:

»Meinst du nicht – wenn ich nicht mehr so oft heraufkäme – du könntest jemand anders gern haben – einen andern Mann?«

Also darauf spielte er immer noch herum.

»Aber ich kenne ja keine anderen Männer. Warum fragst du mich?« erwiderte sie so leise, daß es wie ein Vorwurf gegen ihn klang.

»Wieso,« fuhr es ihm heraus, »weil sie alle sagen, ich hätte kein Recht, hier so herzukommen – ohne daß wir uns heiraten wollen ,...«

Miriam war darüber aufgebracht, daß jemand anders ihnen dies Endergebnis aufzwingen wollte. Sie war schon wütend auf ihren eigenen Vater gewesen, weil er Paul lachend angedeutet hatte, er wisse wohl, weshalb er so oft zu ihnen käme.

»Wer sagt das?« fragte sie voller Verwunderung, ob ihre eigenen Angehörigen etwas mit der Sache zu tun haben könnten. Sie hatten es nicht.

»Mutter – und die andern. Sie behaupten, auf diese Weise würde mich jeder für verlobt halten, und ich müßte mich auch dafür betrachten, weil es sonst nicht recht gegen dich wäre. Und ich habe versucht herauszufinden – und ich meine, ich liebe dich nicht so, wie ein Mann seine Frau lieben sollte. Was meinst du davon?«

Miriam beugte düster ihren Kopf. Sie war böse darüber, daß sie diesen Kampf auszufechten hatte. Die Leute sollten sie und ihn doch zufrieden lassen.

»Ich weiß nicht,« murmelte sie.

»Glaubst du, wir lieben uns genügend, um uns zu heiraten?« fragte er endgültig. Es machte sie zittern.

»Nein,« antwortete sie ganz ehrlich. »Ich glaube nicht – wir sind noch zu jung.«

»Ich dachte,« fuhr er jämmerlich fort, »du hättest mir bei deiner Gründlichkeit in allen Dingen vielleicht mehr geben können – als ich dir hätte vergelten können. Und selbst jetzt noch – wenn du es für richtiger hältst – wollen wir uns verloben.«

Jetzt hätte Miriam am liebsten geweint. Und dabei war sie doch auch böse. Er war immer so ein Kind, daß alle Leute mit ihm machen konnten, was sie wollten.

»Nein, ich glaube besser nicht,« sagte sie fest.

Er überlegte eine Minute.

»Siehst du,« sagte er, »ich – ich glaube, ein und dasselbe Wesen könnte mich nie ganz in Beschlag nehmen – mir alles sein – ich glaube niemals.«

Darüber dachte sie gar nicht erst nach.

»Nein,« murmelte sie. Dann nach einer Pause sah sie ihn an, und ihre dunklen Augen blitzten.

»Das ist deine Mutter,« sagte sie, »ich weiß, sie hat mich nie leiden mögen.«

»Nein, nein, das nicht,« sagte er hastig. »Sie sprach diesmal in deinem Sinne. Sie sagte nur, wenn ich so fortführe, dann müßte ich mich als verlobt betrachten.« Es entstand Schweigen. »Und wenn ich dich gelegentlich einmal bitten sollte herunterzukommen, dann bleibst du doch nicht weg, nicht wahr?«

Sie antwortete nicht. Sie war allmählich sehr böse.

»Ja, was sollen wir machen?« sagte sie kurz. »Ich meine, mit meinem Französisch höre ich doch wohl besser auf. Ich fing grade an, etwas weiterzukommen. Aber ich glaube, ich kann wohl allein damit weiter.«

»Das sehe ich nicht ein, daß das nötig wäre,« sagte er; »französischen Unterricht kann ich dir sicher geben.«

»Ja – und dann die Sonntagabende. Ich werde nicht aufhören, zur Kirche zu gehen, denn das macht mir Freude, und es ist alles, was ich an gesellschaftlichem Leben habe. Aber du brauchst mich nicht mehr nach Hause zu bringen. Ich kann allein gehen.«

»Schön,« sagte er, ziemlich enttäuscht. »Aber wenn ich Edgar bitte, der kommt immer mit uns, und dann kann niemand was sagen.«

Sie schwiegen. Schließlich würde sie nicht viel verlieren. Trotz all ihrer Rederei da unten bei ihm zu Hause würde der Unterschied nicht so groß sein. Sie wünschte, sie kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten.

»Und du wirst nicht mehr dran denken und dich dadurch beunruhigen lassen, nicht wahr?« fragte er.

»O nein,« sagte Miriam, ohne ihn anzusehen.

Er war stumm. Sie hielt ihn für unbeständig. Er besaß keine Zielstrebigkeit, keinen Anker in seiner Rechtschaffenheit, der ihn gehalten hätte.

»Denn«, sagte er fortfahrend, »der Mann setzt sich einfach auf sein Rad und geht an seine Arbeit – und alles mögliche andere. Die Frau aber brütet.«

»Nein, ich will mich nicht drum quälen,« sagte Miriam. Und sie hatte es auch so vor.

Es war recht kühl geworden. Sie gingen hinein.

»Wie weiß Paul aussieht!« rief Frau Leivers. »Miriam, du hättest ihn sich nicht draußen hinsetzen lassen sollen. Meinst du, du hast dich erkältet, Paul?«

»O nein!« lachte er.

Aber er fühlte sich matt. Es rieb ihn auf, dieser innere Kampf. Er tat Miriam jetzt leid. Aber ganz früh, vor neun Uhr, stand er auf, um nach Hause zu gehen.

»Du willst doch nicht schon nach Hause?« fragte Frau Leivers ängstlich.

»Ja,« sagte er. »Ich sagte, ich wollte früh nach Hause kommen.« Er war sehr unbeholfen.

»Dies ist aber auch früh,« sagte Herr Leivers.

Miriam saß im Schaukelstuhl und sagte nichts. Er zögerte, weil er glaubte, sie würde aufstehen und wie gewöhnlich mit ihm in die Scheune zu seinem Rade gehen. Sie blieb, wo sie war. Er wußte nicht, was er machen sollte.

»Na – denn gute Nacht zusammen!« stotterte er.

Sie sagte ihr ›Gute Nacht‹ mit den übrigen zugleich. Aber als er am Fenster vorbeiging, blickte er hinein. Sie sah ihn blaß, die Brauen in einer Weise zusammengezogen, die jetzt bei ihm bleibend wurde, die Augen dunkel vor Schmerz.

Sie stand auf und ging an den Torweg, um ihm ein Lebewohl zuzuwinken, wenn er durch das Tor führe. Er fuhr langsam unter den Kiefern entlang, im Gefühl ein Schuft, ein jämmerlicher Lump zu sein. Sein Rad sauste die Hügel hinunter, wie es ihm paßte. Er meinte, es müsse eine Erlösung sein, sich den Hals zu brechen.

Zwei Tage später schickte er ihr ein Buch herauf und ein paar Zeilen, die sie drängten, zu lesen und fleißig zu sein.

Um diese Zeit schenkte er Edgar seine ganze Freundschaft. Er liebte die Leute so sehr, er liebte das Haus so sehr; es war ihm der liebste Aufenthalt auf Erden. Sein Heim war nicht so liebenswert. Das war seine Mutter. Aber dann, mit seiner Mutter wäre er überall genau so glücklich gewesen. Den Willeyhof dagegen liebte er leidenschaftlich. Er liebte die putzige kleine Küche, in der Männerschritte umhertrampelten und der Hund mit einem offenen Auge schlief, aus Furcht, getreten zu werden; wo die Lampe abends überm Tische hing und alles so still war. Er liebte Miriams langes, niedriges Wohnzimmer, mit seinem Duft nach Abenteuern, seinen Blumen, seinen Büchern, seinem hohen Klavier aus Rosenholz. Er liebte die Gärten und die Gebäude, die mit ihren scharlachnen Dächern unmittelbar am Rande der Felder standen und sich wie in Sehnsucht nach Behaglichkeit an den Wald drückten; er liebte das wilde Land, das sich ins Tal hinabsenkte und zu den unbebauten Hügeln an der andern Seite wieder emporstieg. Schon das bloße Dortsein heiterte ihn auf und erfreute ihn. Er liebte Frau Leivers mit ihrer Weltfremdheit und ihrer merkwürdigen Spottsucht; er liebte Herrn Leivers, so warm und jung und liebenswürdig; er liebte Edgar, der aufleuchtete, sobald er kam, und die Jungens und die Kinder und Bill – selbst die Sau Circe und den indischen Kampfhahn, Tippu genannt. Alles dieses außer Miriam. Das konnte er nicht aufgeben.

So ging er ebenso häufig hin, aber er war gewöhnlich mit Edgar. Nur abends kamen alle Hausgenossen, den Vater mit eingeschlossen, zu Rätselraten und Spielen zusammen. Und späterhin zog Miriam sie zusammen, und sie lasen Macbeth aus Penny-Büchern mit verteilten Rollen. Das gab eine große Aufregung. Miriam war froh, und Frau Leivers war froh, und auch Herr Leivers fand Vergnügen daran. Dann lernten sie alle Lieder vom Blatt singen, im Halbkreis ums Feuer herum. Aber nun war Paul sehr selten allein mit Miriam. Sie wartete. Wenn sie und Edgar und er zusammen von der Kirche oder von der Bestwood-Lesegesellschaft nach Hause gingen, dann wußte sie, seine Rede, nun so leidenschaftlich und freigläubig, galt ihr. Sie beneidete Edgar jedoch um seine Radfahrten mit Paul, seine Freitagabende, seine Arbeitstage auf dem Felde. Denn ihre Freitagabende und ihre französischen Stunden waren nun dahin. Sie war fast immer allein, ging nachdenklich im Walde spazieren, las, arbeitete, träumte, wartete. Und er schrieb ihr häufig.

Eines Sonntagabends gelangten sie wieder zu ihrem schönen, alten Zusammenklang. Edgar war zum Abendmahl dageblieben – er wunderte sich, wie das wohl sein würde – mit Frau Morel. Daher ging Paul allein mit Miriam nach seinem Hause. Er stand wieder mehr oder weniger unter ihrem Bann. Wie gewöhnlich unterhielten sie sich über die Predigt. Er segelte jetzt mit vollem Zeug in den Agnostizismus hinüber, aber einen derart frommen, daß Miriam nicht zu sehr darunter litt. Sie waren auf dem Standpunkt von Rénans › Vie de Jésus‹ angelangt. Miriam war die Tenne, auf der er all seine Glaubenssätze ausdrosch. Während er ihr seine Gedanken in die Seele trampelte, kam für ihn die Wahrheit dabei heraus. Sie ganz allein war seine Tenne. Sie allein half ihm zur Verwirklichung. Fast ohne jede Empfindung unterwarf sie sich seinen Begründungen und Erklärungen. Und doch wurde es ihm allmählich durch sie klar, wo er im Unrecht war. Und was ihm klar wurde, wurde auch ihr klar. Sie fühlte, er könne nicht ohne sie fertig werden.

Sie kamen an das schweigende Haus. Er holte den Schlüssel aus dem Spülküchenfenster, und sie traten ein. Die ganze Zeit über fuhren sie in ihrer Unterhaltung fort. Er steckte das Gas an, schürte das Feuer und holte ihr etwas Kuchen aus der Speisekammer. Sie saß auf dem Sofa, ruhig, mit einem Teller auf den Knien. Sie trug einen weißen Hut mit ein paar rosa Blumen. Es war ein billiger Hut, aber er mochte ihn gern. Ihr Gesicht darunter war still und nachdenklich, rötlich und goldbraun. Ihre Ohren waren immer unter ihren Locken versteckt. Sie beobachtete ihn.

Sie hatte ihn gern Sonntags. Dann trug er einen dunklen Anzug, der die gelenkigen Bewegungen seines Körpers erkennen ließ. Es lag etwas so Sauberes, Scharfgeschnittenes in seinem Aussehen. Er fuhr mit seinem Denken für sie fort. Plötzlich griff er nach der Bibel. Miriam hatte die Art gern, wie er danach griff – so scharf, genau gezielt. Rasch blätterte er die Seiten um und las ihr ein Kapitel aus Sankt Johannis vor. Wie er da so lesend im Lehnstuhl saß, gespannt, seine Stimme ganz Gedanke, kam sie sich vor, als benutze er sie ganz unbewußt, wie man bei irgendeiner Arbeit, zu der man sich sehr hingezogen fühlt, sein Werkzeug benutzt. Das liebte sie. Und das Sehnsüchtige in seiner Stimme war, als reiche er nach etwas, und sie wäre das, wonach er reichte. Sie saß in der ihm abgekehrten Ecke des Sofas und fühlte sich doch als das Werkzeug, nach dem seine Hand griff. Das verursachte ihr große Freude.

Dann fing er an zu stottern und sich seiner bewußt zu werden. Und als er an den Vers kam: ›Ein Weib, wenn sie gebiert, so hat sie Traurigkeit, denn ihre Stunde ist kommen‹, da ließ er ihn aus. Miriam hatte fühlen können, wie ihm unbehaglich wurde. Sie schreckte zurück, als die wohlbekannten Worte nicht folgten. Er fuhr fort zu lesen, aber sie hörte nicht mehr hin. Kummer und Scham ließen sie den Kopf senken. Vor einem halben Jahr hätte er das ohne weiteres gelesen. Aber nun lag in ihrer gemeinsamen Bahn ein Hindernis. Nun fühlte sie, es lag wirklich etwas Feindseliges zwischen ihnen, etwas, vor dem sie sich schämten.

Gedankenlos aß sie ihren Kuchen. Er versuchte mit seinen Begründungen fortzufahren, konnte aber den rechten Ton nicht wiederfinden. Bald darauf kam Edgar. Frau Morel war noch zu ihren Freunden gegangen. Die drei zogen nach dem Willeyhofe.

Miriam brütete über seinen Zwiespalt mit ihr. Da mußte noch etwas anderes sein, was er wollte. Er konnte nicht befriedigt sein; er konnte sie nicht befriedigen. Sie hatten jetzt immerfort Anlaß zu Zwistigkeiten. Sie wollte ihn auf die Probe stellen. Sie glaubte sein Hauptbedürfnis im Leben zu sein. Konnte sie das beweisen, ihm sowohl wie sich selbst, dann mochte der Rest hingehen, wohin er wollte; dann konnte sie sich einfach der Zukunft anvertrauen.

Also bat sie ihn im Mai, nach dem Willeyhofe zu kommen und Frau Dawes dort zu treffen. Er verlangte nach irgendwas. Sie hatte gemerkt, daß er jedesmal, sobald sie von Clara Dawes sprach, erregt und ein wenig ärgerlich wurde. Er behauptete, er möchte sie nicht leiden. Und doch wollte er gern alles über sie wissen. Schön, dann sollte er sich nun mal ausweisen. Sie glaubte, er fühle in sich den Drang nach höheren Dingen, und den Drang nach niederen ebenso, daß aber der Drang nach höheren obsiegen werde. Jedenfalls sollte er den Versuch machen. Sie übersah, daß ihr ›Höher‹ und ›Niedriger‹ recht willkürlich war.

Er war bei dem Gedanken, Clara auf dem Willeyhofe zu treffen, sehr aufgeregt. Frau Dawes kam für den ganzen Tag. Ihr schweres, dunkelbraunes Haar war oben auf dem Kopfe zusammengeknotet. Sie trug eine weiße Bluse und marineblauen Rock und schien irgendwie den Dingen, wo sie auch war, ein heruntergekommenes und unbedeutendes Aussehen zu verleihen. Sobald sie da war, erschien die Küche zu klein und einfach gemein; Miriams schönes, dämmeriges Wohnzimmer sah steif und dumm aus. Die Leivers wurden alle miteinander wie Kerzen von der Sonne verdunkelt. Sie fanden es nicht leicht, mit ihr fertig zu werden. Und doch war sie durchaus freundlich, aber gleichgültig, und ziemlich hart.

Paul kam erst nachmittags. Er kam früh. Als er sich vom Rade schwang, sah Miriam, wie er eifrig nach dem Hause herüberblickte. Er würde enttäuscht sein, wenn der Besuch nicht da wäre. Miriam ging ihm nach draußen entgegen, den Kopf wegen des Sonnenscheins senkend. Spanische Kresse kam blutrot unter dem kühlen, grünen Schatten ihrer Blätter hervor. Das Mädchen mit seinen dunklen Haaren stand da, froh, ihn zu sehen.

»Ist Clara nicht gekommen?« fragte er.

»Ja,« sagte Miriam in ihren wohlklingenden Tönen. »Sie liest.«

Er brachte sein Rad in die Scheune. Er hatte eine hübsche Halsbinde um, auf die er recht stolz war, und Socken von gleicher Farbe.

»Ist sie heute morgen schon gekommen?« fragte er.

»Ja,« antwortete Miriam, während sie neben ihm herschritt. »Du sagtest, du wolltest mir den Brief von dem Manne da bei Liberty mitbringen. Hast du dran gedacht?«

»O verflucht, nein!« sagte er. »Aber trietz mich, bis du ihn hast.«

»Ich mag dich nicht trietzen.«

»Tu's nur, ob du's magst oder nicht. Und ist sie etwas freundlicher?« fuhr er fort.

»Du weißt ja, ich finde sie immer ganz freundlich.«

Er schwieg. Augenscheinlich lag sein Eifer, heute früh da zu sein, an dem Ankömmling. Miriam begann bereits zu leiden. Sie schritten zusammen auf das Haus zu. Er machte die Spangen von den Hosen ab, war aber trotz seiner Halsbinde und Socken zu faul, sich den Staub von den Schuhen zu bürsten.

Clara saß in dem kühlen Wohnzimmer und las. Er sah ihren weißen Nacken, und wie das feine Haar sich davon abhob. Sie stand auf und sah ihn gleichgültig an. Um ihm die Hand zu geben, hob sie den Arm ganz steif, auf eine Art, die ihn gleichzeitig von ihr fernhalten sollte und doch ihm etwas entgegenzuschleudern schien. Er bemerkte ihre schwellenden Brüste in ihrer Bluse und die feine Rundung ihrer Schultern unter dem dünnen Musselin oben an den Armen.

»Sie haben sich einen schönen Tag ausgesucht,« sagte er.

»Wie das so trifft,« sagte sie.

»Ja,« sagte er; »das freut mich.«

Sie setzte sich wieder, ohne ihm für seine Höflichkeit zu danken.

»Was habt ihr den ganzen Morgen angefangen?« fragte Paul Miriam.

»Ja, siehst du,« sagte Miriam mit leisem Hüsteln, »Clara kam erst mit Vater – und deshalb – sie ist noch nicht lange hier.«

Clara saß da, auf den Tisch gelehnt, und hielt sich abseits. Er bemerkte, wie groß, aber wohlgepflegt ihre Hände waren. Und ihre Haut erschien doch fast grob, undurchsichtig und weiß, mit feinen goldenen Haaren. Sie beabsichtigte, ihm ihre Geringschätzung zu zeigen. Ihr schwerer Arm lag nachlässig auf dem Tische. Ihr Mund war geschlossen, als sei sie beleidigt, und sie hielt das Gesicht etwas abgekehrt.

»Sie waren neulich abends in Margaret Bonfords Vortrag,« sagte er zu ihr.

Miriam kannte diesen so höflichen Paul gar nicht wieder. Clara sah ihn flüchtig an.

»Ja,« sagte sie.

»Wieso?« fragte Miriam; »woher weißt du das?«

»Ich ging auf ein paar Minuten hinein, ehe der Zug da war,« antwortete er.

Clara wandte sich ziemlich mißfällig zur Seite.

»Ich finde, sie ist eine reizende kleine Frau,« sagte Paul.

»Margaret Bonford!« rief Clara, »die ist ein gut Teil klüger als die meisten Männer.«

»Ja, ich behaupte ja gar nicht, daß sie das nicht ist,« sagte er, wie sich entschuldigend. »Reizend ist sie aber trotzdem.«

»Und darauf kommts natürlich allein an,« sagte Clara vernichtend.

Er kraute sich ziemlich verlegen den Kopf, beinahe verärgert.

»Ich denke, darauf kommts mehr an als auf ihre Klugheit,« sagte er; »denn die würde sie schließlich doch nicht in den Himmel bringen.«

»In den Himmel will sie ja auch gar nicht – sie verlangt nur ihren gutgemessenen Anteil an der Erde,« wandte Clara ein. Sie sprach, als trüge er die Verantwortung für gewisse Entbehrungen, die Fräulein Bonford durchzumachen habe.

»Na ja,« sagte er. »Ich dachte, sie wäre warm gebettet, und furchtbar niedlich – nur zu gebrechlich. Ich wollte, sie säße zufrieden irgendwo in Behagen ,...«

»›Ihres Gatten Strümpfe stopfend‹,« sagte Clara beißend.

»Ich bin sicher, sie würde sich nicht mal was draus machen, meine Strümpfe zu stopfen,« sagte er. »Und ich bin ferner sicher, sie würde sie gut stopfen. Genau wie ich mir auch nichts draus machen würde, ihr die Schuhe zu putzen, wenn sie es wollte.«

Aber Clara weigerte sich, auf diesen Angriff einzugehen. Er sprach ein Weilchen zu Miriam. Die andere hielt sich abseits.

»Ja,« sagte er, »ich denke, ich gehe mal und sehe mich nach Edgar um. Ist er auf dem Felde?«

»Ich glaube«,« sagte Miriam, »er ist nach Kohlen gegangen. Er muß aber jeden Augenblick wieder hier sein.«

»Dann will ich ihm entgegengehen,« sagte er.

Miriam wagte nicht, für sie drei zusammen einen Vorschlag zu machen. Er stand auf und ließ sie allein.

Oben auf der Straße, wo der Ginster blühte, sah er Edgar lässig neben der Mähre herschreiten, die mit dem weißbesternten Kopf nickte, während sie die klappernde Kohlenladung entlangzog. Das Gesicht des jungen Landmanns hellte sich auf, als er seines Freundes ansichtig wurde. Edgar war gut aussehend, mit warmen, dunklen Augen. Sein Anzug war alt und ziemlich verboten, aber er ging sehr stolz einher.

»Hallo!« sagte er, Paul barhäuptig sehend, »wie gehts dir?«

»Wollte dir entgegengehen. Kann die ›Nimmermehr‹ nicht aushalten.«

Edgars Zähne blitzten in einem vergnügten Lachen auf.

»Wer ist die ›Nimmermehr‹?« fragte er.

»Die Dame – Frau Dawes – sie müßte Frau Rabe von Nimmermehr heißen!«

Edgar lachte vor Entzücken.

»Magst du sie nicht leiden?« fragte er.

»Nicht so übermäßig,« sagte Paul. »Wieso, magst du sie?«

»Nein!« Die Antwort fuhr im Tone tiefster Überzeugung heraus. »Nein!« Edgar kräuselte die Lippen. »Ich kann nicht sagen, daß sie mein Fall ist.« Er dachte ein wenig nach. Dann fragte er: »Aber warum nennst du sie ›Nimmermehr‹?«

»Ja,« sagte Paul, »wenn sie einen Mann ansieht, sagt sie hochmütig ›Nimmermehr‹, und wenn sie sich in den Spiegel sieht, sagt sie verächtlich ›Nimmermehr‹, und wenn sie an die Vergangenheit denkt, sagt sie's mit Ekel, und wenn sie in die Zukunft schaut, mit Hohn.«

Edgar überdachte diese Rede, konnte aber nicht viel draus machen und sagte lachend:

»Hältst du sie für 'ne Männerfeindin?«

»Sie glaubt, sie wär eine,« erwiderte Paul.

»Du hältst sie aber nicht dafür?«

»Nein,« erwiderte Paul.

»War sie denn nicht nett gegen dich?«

»Kannst du sie dir nett gegen irgend jemand vorstellen?« fragte der junge Mann.

Edgar lachte. Sie luden zusammen die Kohlen im Hofe ab. Paul war recht selbstbewußt, weil er wußte, Clara könnte sie bemerken, wenn sie aus dem Fenster sah. Sie sah aber nicht heraus.

Sonnabendnachmittags wurden die Pferde geputzt und gestriegelt. Paul und Edgar machten sich zusammen an die Arbeit und niesten infolge des aus Jimmys und Blumes Pelzen hervordringenden Staubes.

»Kannst du mir nicht ein neues Lied beibringen?« sagte Edgar.

Die ganze Zeit über fuhr er mit seiner Arbeit fort. Sein Nacken war hinten ganz rotbraun von der Sonne, wenn er sich vornüberbeugte, und seine Finger, in denen er die Bürste hielt, waren dick. Paul beobachtete ihn zuweilen.

»›Mary Morrison‹?« schlug der Jüngere vor.

Edgar stimmte bei. Er hatte einen guten Tenor und lernte gern alle die Lieder, die sein Freund ihm beibringen konnte, so daß er selbst sie beim Lastenfahren singen konnte. Paul hatte einen ziemlich nichtssagenden Bariton, aber gutes Gehör. Er sang jedoch nur leise aus Angst vor Clara. Edgar wiederholte die Verse in seinem klaren Tenor. Zuweilen mußten sie niesen, und dann schimpfte erst der eine, dann der andere auf seinen Gaul.

Miriam hatte keine Geduld mit Männern. Es bedurfte so wenig, sie zu unterhalten – selbst bei Paul. Sie hielt es für einen inneren Widerspruch bei ihm, daß er sich so ganz von Kleinigkeiten fesseln lassen konnte.

Es war Teezeit, als sie fertig waren.

»Was war das für ein Lied?« fragte Miriam.

Edgar sagte es ihr. Die Unterhaltung wandte sich dem Singen zu.

»Wir haben so viel Vergnügen dran,« sagte Miriam zu Clara.

Frau Dawes verzehrte ihr Mahl in langsamer, gemessener Weise. Sobald Männer anwesend waren, wurde sie abweisend.

»Haben Sie Gesang gern?« fragte Miriam sie.

»Wenn er gut ist,« sagte sie.

Paul verfärbte sich natürlich.

»Sie meinen, wenn er hochstehend und gut ausgebildet ist?« sagte er.

»Ich meine, jede Stimme hat Unterricht nötig, ehe ihr Gesang etwas wert ist,« sagte sie.

»Sie könnten grade so gut drauf bestehen, daß die Leute ihre Stimmen ausbilden lassen, ehe sie sprechen dürften,« erwiderte er. »Tatsächlich singen die Leute doch in der Regel zu ihrem eigenen Vergnügen.«

»Und vielleicht zu anderer Leute Unbehagen.«

»Dann sollten die anderen Leute sich Ohrenklappen machen lassen,« erwiderte er.

Die Jungens lachten. Es trat Schweigen ein. Er wurde dunkelrot und aß schweigend.

Nach dem Tee, als alle Männer mit Ausnahme Pauls nach draußen gegangen waren, sagte Frau Leivers zu Clara:

»Und du findest dein Leben jetzt glücklicher?«

»Unendlich viel.«

»Und bist zufrieden?«

»Solange ich frei und unabhängig sein kann.«

»Und du entbehrst gar nichts in deinem Leben?« fragte Frau Leivers sanft.

»Das habe ich alles hinter mir gelassen.«

Paul fühlte sich während dieser Unterhaltung höchst unbehaglich. Er stand auf.

»Sie werden finden, Sie stolpern fortwährend über die Dinge, die Sie hinter sich gelassen haben,« sagte er. Dann verabschiedete er sich, um nach den Kuhställen zu gehen. Er fühlte, er war witzig gewesen, und sein Mannesstolz war auf der Höhe. Er pfiff, während er den Backsteinpfad hinunterschritt.

Etwas später kam Miriam, um zu hören, ob er mit Clara und ihr einen kleinen Gang unternehmen wolle. Sie zogen in der Richtung auf den Strelley-Mühlenhof los. Als sie auf der Willeywaterseite neben dem Bache herschritten und durch das Dornengestrüpp nach dem Waldrande hinübersahen, wo rosa Feuernelken unter ein paar verstreuten Sonnenstrahlen glühten, da sahen sie jenseits der Baumstämme und der dünnen Haselsträucher einen Mann ein großes braunes Pferd durch die Rinnsale führen. Das große rotbraune Tier schien abenteuerlich durch die grüne Dämmerung des Haselgesträuches zu tanzen, weit weg, wo die Luft schattenhaft wurde, als stände es bereits in der Vergangenheit unter den welkenden Glockenblumen, die dort für Deidre oder Isolde hätten blühen können.

Die drei standen wie verzaubert.

»Wie herrlich, ein Ritter zu sein«, sagte er, »und hier ein Zelt zu haben.«

»Und uns irgendwo sicher eingeschlossen?« erwiderte Clara.

»Ja,« antwortete er, »wo Sie dann bei ihrer Stickerei mit den Mägden singen könnten. Ich würde Ihr weiß und grünes und heliotropfarbenes Banner tragen. Auf meinem Schild würde ich ›F. W. R. V.‹ eingraben lassen, unter einer springenden Frau.«

»Ich habe nicht den geringsten Zweifel,« sagte Clara, »Sie würden viel lieber für eine Frau kämpfen, als sie für sich selbst kämpfen lassen.«

»Gewiß. Wenn sie für sich selbst kämpft, kommt sie mir vor wie ein Hund vor einem Spiegel, der wahnsinnig wird aus Wut über sein eigenes Bild.«

»Und Sie sind der Spiegel?« fragte sie, die Lippen kräuselnd.

»Oder das Bild,« sagte er.

»Ich bin bange,« sagte sie, »Sie sind zu klug.«

»Na, dann will ich Ihnen das Gutsein überlassen,« gab er ihr lachend zurück. »Sei gut, süße Maid, und laß mich klug sein.«

Aber Clara hatte seinen leichten Ton über. Bei einem plötzlichen Seitenblick auf sie merkte er, das Emporheben ihres Gesichts war Elend und keine Verachtung. Sein Herz wurde zärtlich gegen jedermann. Er wandte sich und wurde sanft gegen Miriam, die er bis dahin vernachlässigt hatte.

Am Waldesrande trafen sie Limb, einen dünnen schwärzlichen Mann von Vierzig, den Pächter des Strelley-Mühlenhofes, auf dem er Viehzucht trieb. Er hielt die Trense des gewaltigen Hengstes nachlässig, als wäre er müde. Die drei blieben stehen, um ihn über die Schrittsteine des ersten Baches hinüberzulassen. Paul sah mit Bewunderung, wie ein so mächtiges Geschöpf auf so federnden Zehen gehen könne, bei einem so riesigen Kräfteüberfluß. Limb hielt vor ihnen an.

»Sagen Sie doch Ihrem Vater, Fräulein Leivers,« sagte er mit einer sonderbar pfeifenden Stimme, »daß sein Jungvieh den Zaun im Grunde drei Tage nacheinander kaputt gemacht hat.«

»Welchen?« fragte Miriam zitternd.

Das große Pferd atmete schwer, während es sich nach seinen Flanken umdrehte und mit den wundervollen großen Augen argwöhnisch unter der ihm über den gesenkten Kopf fallenden Mähne hervorschaute.

»Kommen Sie ein bißchen mit,« erwiderte Limb, »dann zeige ich es Ihnen.«

Der Mann und der Hengst gingen voran. Er tanzte seitwärts, schüttelte seine weißen Fesseln und verriet Furcht, als er sich in dem Bache sah.

»Keinen Hokuspokus,« sagte der Mann liebevoll zu dem Tier.

In kleinen Sprüngen lief es die Böschung hinan und platschte dann auch durch einen zweiten Bach. Clara, die in einer Art verdrossenen Hingegebenheit weiterging, beobachtete ihn halb bezaubert, halb verächtlich. Limb hielt an und zeigte nach dem Zaun unter ein paar Weiden.

»Da, Sie sehen woll, wo sie durchkommen,« sagte er. »Mein Knecht hat se schon dreimal weggejagt.«

»Ja,« antwortete Miriam errötend, als wäre es ihre Schuld.

»Kommen Sie mit?« fragte der Mann.

»Nein, danke; aber wir möchten gern am Teiche entlang gehen.«

»Schön, ganz wie es Ihnen paßt,« sagte er.

Das Pferd wieherte leise vor Vergnügen, so nahe bei Hause zu sein.

»Er freut sich, daß er wieder da ist,« sagte Clara, durch das Tier gefesselt.

»Ja, er hat heute früh raus müssen.«

Sie gingen durch das Gatter und sahen vom Haupthause ein kleines dunkles, aufgeregt aussehendes Frauenzimmer von etwa Dreißig auf sie zukommen. Ihr Haar war schon mit Grau durchzogen, ihre dunklen Augen blickten wild. Sie ging mit den Händen auf dem Rücken. Ihr Bruder schritt vorwärts. Als er sie sah, wieherte der große Hengst wieder. Sie kam aufgeregt herbei.

»Bist du wieder da, mein Junge!« sagte sie zärtlich zu dem Pferde, nicht zu dem Manne. Das große Tier ging um sie herum, den Kopf gesenkt. Sie schmuggelte ihm den verschrumpelten gelben Apfel ins Maul, den sie hinterm Rücken verborgen gehalten hatte, und küßte ihn dann dicht neben die Augen. Er stieß vor Vergnügen einen tiefen Seufzer aus. Sie drückte feinen Kopf mit den Armen gegen ihre Brust.

»Ist er nicht prachtvoll!« sagte Miriam zu ihr.

Fräulein Limb sah auf. Ihre dunklen Augen blickten scharf auf Paul.

»Oh, guten Abend, Fräulein Leivers,« sagte sie. »Es ist ja 'ne Ewigkeit her, daß Sie mal hier unten gewesen sind.«

Miriam stellte ihre Freunde vor.

»Ihr Pferd ist ein prachtvoller Bursche!« sagte Clara.

»Nicht wahr!« Sie küßte ihn wieder. »Und liebevoll wie ein Mann.«

»Liebevoller als die meisten Männer, sollte ich meinen,« erwiderte Clara.

»Er ist ein lieber Junge!« rief die Frau, das Pferd wieder umhalsend.

Clara, ganz bezaubert von dem mächtigen Geschöpf, trat heran, um ihm den Hals zu streicheln.

»Er ist ganz sanft,« sagte Fräulein Limb. »Meinen Sie nicht auch, große Burschen sind das immer.«

»Er ist 'ne Schönheit!« erwiderte Clara.

Sie wollte ihm gern in die Augen sehen. Sie wünschte, er hätte sie angesehen.

»Zu schade, daß er nicht sprechen kann,« sagte sie.

»Oh, das kann er aber – beinahe,« erwiderte die andere.

Da ging ihr Bruder mit dem Pferde weiter.

»Kommen Sie mit herein? Kommen Sie doch, Herr – ich habe nicht verstanden.«

»Morel,« sagte Miriam. »Nein, wir können nicht, aber wir möchten gern am Mühlenteich entlang gehen.«

»Ja – ja, gewiß. Fischen Sie, Herr Morel?«

»Nein,« sagte Paul.

»Wenn Sie's nämlich täten, könnten Sie nur jederzeit kommen und fischen,« sagte Fräulein Limb. »Wir sehen kaum eine Menschenseele von einem Wochenende bis zum andern. Ich wäre Ihnen dankbar.«

»Was für Fische sind in dem Teich?« fragte er.

Sie gingen durch den Vordergarten, über das Wehr, und das steile Ufer des Teiches hinan, der im Schatten dalag, mit seinen zwei bewaldeten Inselchen. Paul ging mit Fräulein Limb.

»Schwimmen möchte ich hier wohl mal,« sagte er.

»Gewiß,« erwiderte sie. »Kommen Sie nur, sobald Sie Lust haben. Mein Bruder wird furchtbar froh sein, mit Ihnen zu reden. Er ist so still, weil hier kein Mensch ist, mit dem er reden könnte. Kommen Sie doch zum Schwimmen.«

Clara trat zu ihnen.

»Schön tief ist er,« sagte sie, »und so klar.«

»Ja,« sagte Fräulein Limb.

»Schwimmen Sie?« fragte Paul. »Fräulein Limb sagte grade, wir könnten kommen, wann wir Lust hätten.«

»Natürlich sind da die Hofleute,« sagte Fräulein Limb. Sie sprachen noch ein paar Augenblicke und gingen dann den wilden Hügel hinauf und ließen das einsame, verstört aussehende Frauenzimmer am Ufer.

Der Hügelhang war reif vor Sonnenschein. Er war wild und uneben, ganz den Kaninchen überlassen. Die drei schritten in Schweigen dahin. Dann sagte Paul:

»Die bringt mir ein unbehagliches Gefühl bei.«

»Du meinst Fräulein Limb?« fragte Miriam.

»Ja.«

»Was ist mit ihr los? Wird sie duddelig, weil sie so allein ist?«

»Ja,« sagte Miriam. »Das ist nicht die richtige Lebensart für sie. Ich finde, es ist grausam, sie hier so zu vergraben. Ich müßte wirklich öfter hingehen und sie besuchen. Aber – sie schmeißt mich so um.«

»Ich müßte Mitleid mit ihr haben – ja, und sie ödet mich an,« sagte er.

»Ich vermute,« platzte Clara plötzlich heraus, »sie möchte gern einen Mann haben.«

Die beiden andern waren ein paar Augenblicke stumm.

»Aber die Einsamkeit hier hat ihr 'nen Knacks beigebracht,« sagte Paul.

Clara antwortete nicht, sondern kämpfte sich aufwärts. Sie ging mit vornüberhängendem Kopfe, die Beine schwingend, während sie durch die toten Disteln und die Grasbüschel vorwärtsstrebte, und ließ die Arme lose herabhängen. Ihr hübscher Körper schien eher den Hügel hinauf zu stolpern, denn zu gehen. Eine heiße Woge überflutete Paul. Er war neugierig. Vielleicht war das Leben grausam gegen sie gewesen. Er vergaß Miriam, die redend neben ihm herging. Sie sah ihn plötzlich an, da sie merkte, er antwortete ihr nicht mehr. Seine Augen waren auf die voranschreitende Clara geheftet.

»Findest du sie noch immer eklig?« fragte sie. Es fiel ihm nicht auf, daß diese Frage ganz unvermittelt kam. Sie lief denselben Weg wie seine Gedanken.

»Irgendwas ist mit ihr los,« sagte er.

»Ja,« antwortete Miriam.

Oben auf dem Hügel fanden sie ein verborgenes wildes Feld, das an zwei Seiten vom Walde geschützt wurde und an den beiden andern durch hohe, lose Hecken von Rotdorn und Erlenbüschen. Zwischen diesen hochgewachsenen Büschen waren Lücken, so daß das Vieh hindurchgekonnt hätte, wäre jetzt noch welches draußen gewesen. Hier war der Rasen eben wie Samt, aber zerfressen und mit Löchern durchsetzt durch die Kaninchen. Das Feld selbst war grob und mit hohen, dicken Schlüsselblumen bestanden, die nie geschnitten waren. Haufen kräftiger Blumen hoben sich überall über struppige Büschel von Heide hinaus. Es war wie eine Reede voller hochbordiger Feenschiffe.

»Ach,« rief Miriam mit einem Blick auf Paul, ihre dunklen Augen sich weitend. Er lächelte. Sie genossen zusammen dies Blumenfeld. Clara, die ein wenig weiter war, sah mißvergnügt auf die Schlüsselblumen nieder. Paul und Miriam standen dicht nebeneinander, sich in gedämpften Tönen unterhaltend. Er fiel auf ein Knie nieder und pflückte rasch die schönsten Blumen, sich geschwind von Busch zu Busch bewegend, die ganze Zeit über leise redend. Miriam pflückte die Blumen liebkosend, über sie geneigt. Er kam ihr immer zu rasch und beinahe wissenschaftlich vor. Und doch besaßen seine Sträuße mehr natürliche Schönheit als die ihren. Er liebte sie, aber als gehörten sie ihm und als hätte er ein Recht über sie. Sie besaß mehr Verehrung für sie: sie hatten etwas, was ihr abging.

Frisch und süß waren die Blumen. Er hätte sie zu gern getrunken. Während er sie pflückte, aß er ein paar der kleinen gelben Trompeten. Clara ging immer noch mißvergnügt umher. Auf sie zutretend, sagte er:

»Warum pflücken Sie sich nicht auch ein paar?«

»Das liegt mir nicht. Sie sehen besser aus, wo sie da wachsen.«

»Aber möchten Sie nicht ein paar?«

»Sie bleiben doch lieber, wo sie sind.«

»Ich glaube nicht.«

»Ich mag keine Blumenleichen um mich haben,« sagte sie.

»Das ist 'ne steife, künstliche Redensart,« sagte er. »Sie sterben im Wasser nicht rascher als auf ihren Wurzeln. Und außerdem sehen sie so nett aus, in einem Kruge – sie sehen so fröhlich aus. Und Sie nennen ein Ding nur 'ne Leiche, weil es totengleich aussieht.«

»Einerlei, ob es das ist oder nicht?« wandte sie ein.

»Das ist mir gar nicht einerlei. Eine tote Blume ist für mich keine Blumenleiche.«

Clara überhörte ihn.

»Und selbst wenn auch – welches Recht haben Sie, sie abzupflücken?« fragte sie.

»Weil ich sie gern leiden mag und sie haben möchte – und weil so viele da sind.«

»Und das genügt?«

»Ja. Warum nicht? Ich glaube sicher, sie würden in Ihrem Zimmer in Nottingham schön duften.«

»Und ich hätte das Vergnügen, sie sterben zu sehen.«

»Aber dann – es ist doch einerlei, ob sie sterben.«

Woraufhin er sie allein ließ und sich weiter nach den Haufen dichtverzweigter Blumen bückte, die das Feld wie blasse, leuchtende Schaumflocken übersäten. Miriam war ihm wieder nähergekommen. Clara lag auf den Knien und atmete den Duft von ein paar Himmelsschlüsseln ein.

»Ich finde,« sagte Miriam, »wenn man sie nur voller Ehrerbietung behandelt, dann tut man ihnen nicht weh. Es ist der Geist, in dem man sie pflückt, auf den es ankommt.«

»Ja,« sagte er. »Aber nein, man pflückt sie, weil man sie haben will, und das ist alles.« Er hielt ihr seinen Strauß hin. Miriam war still. Er pflückte noch ein paar.

»Sieh mal diese!« fuhr er fort; »kräftig und lustig wie kleine Bäumchen und wie Jungens mit dicken Beinen.«

Claras Hut lag im Gras nicht weit von ihnen. Sie kniete, immer noch vorübergebeugt, um die Blumen zu riechen. Ihr Nacken gab ihm einen scharfen Stich, so schön war er, und doch nicht stolz in sich im Augenblick. Ihre Brüste bebten leise in ihrer Bluse. Die geschwungene Linie ihres Rückens war schön und kräftig; sie trug kein Leibchen. Plötzlich, ohne es zu wissen, streute er ihr eine Handvoll Himmelsschlüssel über Haar und Nacken und sagte dabei:

»Asche zu Asche und Erde zu Erde,
Verwirft dich der Herr, des Teufels werde.«

Die kühlen Blumen fielen ihr auf den Nacken. Sie sah zu ihm auf, mit beinahe jammervollen, erschreckten grauen Augen, voller Verwunderung, was er da mache. Blumen fielen ihr ins Gesicht, und sie schloß die Augen.

Plötzlich kam er sich unbeholfen vor, wie er da so über ihr stand.

»Ich glaubte, Sie hätten ein Begräbnis nötig,« sagte er mit schlechtem Gewissen.

Clara lachte seltsam und stand auf, sich die Himmelsschlüssel aus den Haaren suchend. Sie nahm ihren Hut auf und steckte ihn fest. Eine Blume war ihr im Haar hängengeblieben. Er sah es, wollte es ihr aber nicht sagen. Er sammelte die Blumen auf, die er über sie geschüttet hatte.

Am Waldrande waren die Glockenblumen auf das Feld hinübergetreten und standen da wie eine Wasserflut. Aber sie waren im Verwelken. Clara ging langsam zu ihnen hinüber. Er kam hinter ihr her. Die Glockenblumen gefielen ihm.

»Sehen Sie mal, wie die aus dem Walde gekommen sind!« sagte er.

Da wandte sie sich mit aufblitzender Dankbarkeit und Wärme zu ihm um.

»Ja,« lächelte sie.

Sein Blut schlug empor.

»Sie gemahnen mich an die wilden Männer vom Walde, wie erschrocken die gewesen sein mögen, wenn sie Brust an Brust mit dem freien Raum gelangten.«

»Glauben Sie, sie waren das?« fragte sie.

»Ich wundere mich, wer von den alten Stämmen wohl erschrockener war – die, die zuerst aus dem Waldesdunkel in den lichten Raum hinausbarsten, oder die sich auf den Zehenspitzen in den Wald hineinwagten.«

»Ich möchte glauben, die zweiten,« antwortete sie.

»Ja, Sie kommen sich sicher wie einer der Freien-Raum-Art vor, die sich ins Dunkel hineinzudrängen suchten, nicht wahr?«

»Wie kann ich das wissen?« antwortete sie sonderbar.

Damit endete die Unterhaltung.

Der Abend sank tiefer auf die Erde. Schon war das Tal von Schatten erfüllt. Ein winziges Helles Viereck stand drüben auf dem Crossley Bank-Hofe. Über den Gipfeln der Hügel flutete noch Helligkeit. Miriam kam langsam herbei, das Gesicht in ihrem großen, losen Blumenstrauß, bis an die Enkel durch den losen Schaum der Himmelsschlüssel watend. Hinter ihr traten die Bäume einzeln hervor, ganz Schatten.

»Sollen wir gehen?« fragte sie.

Und die drei kehrten um. Sie schwiegen. Als sie den Pfad hinuntergingen, konnten sie ihr heimatliches Licht genau vor sich erkennen, und auf dem Kamme des Hügels einen dünnen, dunklen Schattenriß mit kleinen Lichtern drin, wo das Bergmannsdorf den Himmel berührte.

»Es war doch hübsch, nicht?« fragte er.

Miriam murmelte zustimmend. Clara war stumm.

»Finden Sie nicht auch?« beharrte er.

Aber sie ging erhobenen Hauptes weiter und antwortete immer noch nicht. Aus der Art ihrer Bewegung, als wäre ihr alles gleichgültig, konnte er erkennen, daß sie litt.

*

Um diese Zeit nahm Paul seine Mutter mit nach Lincoln. Sie war frisch und begeistert wie nur je, aber als er ihr gegenüber im Eisenbahnwagen saß, erschien sie ihm recht gebrechlich. Er hatte eine rasch vorübergehende Empfindung, als entgleite sie ihm. Da wünschte er sie zu halten, sie zu fesseln, fast wie mit Ketten. Ihm war, als müsse er sie mit den Händen festhalten.

Sie näherten sich der Stadt. Sie standen beide am Fenster und sahen nach dem Dome aus.

»Da ist er, Mutter!« rief er.

Sie sahen den großen Dom ruhig über die Ebene gelagert.

»Ach!« rief sie. »Ja, da ist er!«

Er sah seine Mutter an. Ihre blauen Augen beobachteten den Dom ruhig. Sie schien ihm ferngerückt. Etwas der ewigen Ruhe des hochstrebenden Domes, so blau und edel gegen den Himmel, spiegelte sich in ihr wider, etwas von seiner Schicksalhaftigkeit. Was einmal war, war. Das konnte er mit seinem ganzen jungen Willen nicht ändern. Er sah ihr Gesicht, die Haut immer noch frisch und rosig und weich, aber mit Krähenfüßen in den Augenwinkeln, die Lider noch stetig, aber etwas eingesunken, der Mund stets geschlossen vor Enttäuschung; und da lag auf ihr derselbe ewige Blick, als erkenne sie zu guter Letzt ihr Schicksal. Mit allen Kräften seiner Seele kämpfte er dagegen an.

»Sieh, Mutter, wie mächtig er über der Stadt liegt! Denk mal an die Straßen und aber Straßen zu seinen Füßen! Er sieht größer aus als die ganze Stadt.«

»Ja, wahrhaftig!« rief seine Mutter aus und gelangte damit wieder zu ihrer alten Lebensfrische. Aber er hatte sie doch dasitzen sehen, beständig den Blick durchs Fenster auf den Dom gerichtet, Augen und Gesicht ganz fest, die Erbarmungslosigkeit des Lebens überdenkend. Und die Krähenfüße neben ihren Augen und ihr hart verschlossener Mund ließen ihn sich fühlen, als müsse er verrückt werden.

Sie hatten ein Mahl, ihrer Ansicht nach viel zu üppig.

»Bilde dir bloß nicht ein, ich möchte so was gerne,« sagte sie, während sie ihr Rippenstück aß. »Ich mag es gar nicht, wirklich nicht! Denk doch bloß, wie du da dein Geld vergeudest!«

»Kümmer du dich nicht um mein Geld,« sagte er. »Du vergißt immer, ich bin ein junger Mann, der sein Mädchen ausführt.«

Und er kaufte ihr ein paar blaue Veilchen.

»Sofort hörst du auf damit, Bengel!« befahl sie. »Wie kann ich so was mitmachen?«

»Du hast gar nichts zu machen. Steh still!«

Und mitten auf der Hochstraße steckte er ihr die Blumen an die Jacke.

»So'n altes Ding wie ich!« sagte sie die Nase rümpfend.

»Siehst du,« sagte er, »ich möchte gern, daß die Leute uns für was furchtbar Vornehmes halten. Also zeig dich mal.«

»Um die Ohren kannst du welche kriegen,« lachte sie.

»Stapf mal los!« befahl er. »Sei mal mein Fächertäubchen.«

Es kostete ihn eine Stunde, sie durch die Straßen hindurchzukriegen. Sie blieb beim Glory Hole stehen, sie blieb vor dem Steinernen Bogen stehen, sie blieb überall stehen, unter lauten Ausrufen.

Ein Mann trat auf sie zu, nahm den Hut ab und verbeugte sich vor ihr.

»Kann ich Ihnen die Stadt zeigen, meine Dame?«

»Nein, danke,« antwortete sie, »ich habe meinen Sohn bei mir.«

Paul war böse mit ihr, daß sie nicht mit mehr Würde geantwortet habe.

»Mach, daß du wegkommst!« rief sie. »Ach, da ist das Judenhaus. Nun, erinnerst du dich noch des Vortrags, Paul ,...«

Aber den Domhügel konnte sie kaum hinaufkommen. Er merkte es erst gar nicht. Plötzlich aber fand er sie unfähig zu sprechen.

Er brachte sie in ein kleines Wirtshaus, wo sie sich ausruhte.

»Es ist nichts,« sagte sie. »Mein Herz wird nur ein bißchen alt; darauf muß man gefaßt sein.«

Er antwortete nicht, sondern sah sie nur an. Wieder wurde sein Herz von heißen Klammern zusammengeschnürt. Er hätte am liebsten geheult, in seiner Wut etwas zerschlagen.

Sie zogen wieder los. Schritt für Schritt, ganz langsam. Und jeder Schritt schien ihm eine Last auf der Brust. Er fühlte sich, als solle ihm das Herz bersten. Schließlich kamen sie oben an. Sie stand wie verzaubert, das Schloßtor anstaunend, dann die Vorderseite des Domes. Sie vergaß sich vollständig.

»Nein, dies ist wirklich schöner, als ich gedacht hatte!« rief sie.

Aber er haßte es. Überall ging er in schwerem Brüten hinter ihr her. Sie saßen im Dom nebeneinander. Sie wohnten einem kleinen Gottesdienst im Chore bei. Sie fürchtete sich.

»Ich glaube, er ist doch wohl offen für alle?« fragte sie ihn.

»Ja,« antwortete er. »Glaubst du, sie würden so verdammt unverschämt sein, uns rauszuwerfen?«

»Na, ganz sicher,« rief sie, »wenn sie dich reden hörten.«

Ihr Gesicht schien während des Gottesdienstes wieder vor Freude und Frieden zu leuchten. Und er hätte die ganze Zeit über am liebsten getobt und etwas kaputt gemacht und geheult.

Nachher, als sie sich über die Mauer lehnten und auf die Stadt niedersahen, platzte er plötzlich heraus:

»Warum kann man auch nicht 'ne junge Mutter haben? Warum muß sie alt sein?«

»Ja,« lachte seine Mutter, »das kann sie doch kaum helfen.«

»Und warum war ich nicht der Älteste? Sieh – es heißt, die Jüngeren wären im Vorteil – aber sieh, sie hatten doch die junge Mutter. Du hättest mich zum ältesten Sohn haben müssen.«

»Ich habe das ja nicht so eingerichtet,« widersprach sie; »wenn mans sich überlegt, bist du genau so sehr zu tadeln wie ich.«

Er wandte sich zu ihr, weiß, die Augen voller Wut.

»Wozu bist du alt?« sagte er, wahnsinnig wegen seiner Ohnmacht. »Warum kannst du nicht gehen? Warum kannst du nicht mit mir herumlaufen?«

»Zu meiner Zeit«, erwiderte sie, »hätte ich den Hügel ein gut Teil besser herauflaufen können als du.«

»Was nützt mir das?« rief er, mit der Faust gegen die Mauer schlagend. Dann begann er zu klagen. »Es ist zu gemein von dir, daß du so krank bist. Kleines, es ist ,...«

»Krank!« rief sie. »Ein bißchen alt bin ich, und damit mußt du dich abfinden, das ist alles.«

Sie schwiegen. Aber sie waren auch am Ende ihrer Kräfte. Beim Tee wurden sie wieder fröhlich. Als sie in Brayford saßen und die Boote beobachteten, erzählte er ihr von Clara. Die Mutter stellte ihm unzählige Fragen.

»Mit wem lebt sie denn?«

»Bei ihrer Mutter auf Bluebell Hill.«

»Und haben sie genug zum Leben?«

»Ich glaube kaum. Ich glaube, sie machen Spitzen.«

»Und worin liegt ihr Zauber, mein Junge?«

»Ich weiß gar nicht, ob sie so bezaubernd ist, Mutter. Aber sie ist nett. Und sie ist anscheinend so gradeaus – kein bißchen tief, kein bißchen.«

»Aber sie ist doch ein gut Teil älter als du.«

»Sie ist dreißig, und ich werde doch dreiundzwanzig.«

»Du hast mir noch nicht gesagt, weshalb du sie so gern leiden magst.«

»Ich weiß auch nicht, weswegen – so 'ne Art Trotz, die sie hat – so was Mutwilliges.«

Frau Morel dachte nach. Sie hätte sich gefreut, wenn ihr Sohn sich jetzt in ein weibliches Wesen verliebt hätte, das – sie wußte nicht was. Aber er grämte sich so, wurde plötzlich so wütend, und dann wieder traurig. Sie wünschte, er kennte ein nettes weibliches Wesen – sie wußte nicht, was sie eigentlich wünschte, das ließ sie im unklaren. Jedenfalls stand sie dem Gedanken an Clara nicht feindlich gegenüber.

Annie sollte auch heiraten. Leonhart war in Birmingham in Stellung getreten. Als er mal über Wochenschluß zu Hause war, hatte sie zu ihm gesagt:

»Du siehst nicht recht wohl aus, mein Junge.«

»Ick weeß nich,« sagte er; »ick fühl mir bloß so lala, Ma.«

Er nannte sie in seiner jungenshaften Weise schon ›Ma‹.

»Bist du auch sicher, deine Wohnung ist gesund?« fragte sie.

»Ja – ja. Bloß – det is 'n Dalschlag, wenn man sich so selbst den Tee einschenken muß – un kein Mensch schimpft, wenn man 'n sich in de Untertasse jießt zum Abkühlen, und denn so trinkt. Einerlei, denn schmeckt er eben nich.«

Frau Morel lachte.

»Es schmeißt dich also ganz um?« sagte sie.

»Ick weeß nich. Ick möchte heiraten,« platzte er heraus, sich die Finger reibend und auf die Stiefel niedersehend. Es herrschte Schweigen.

»Aber,« rief sie, »ich dachte, du hättest gesagt, du wolltest noch ein Jahr warten?«

»Ja, das habe ich auch,« sagte er beharrlich.

Wieder überlegte sie.

»Und weißt du,« sagte sie, »Annie ist ein bißchen verschwenderisch. Sie hat sich noch nicht mehr als elf Pfund gespart. Und ich weiß, mein Junge, du hast auch noch nicht recht dazu kommen können.«

Er wurde rot bis über die Ohren.

»Ich hab dreiunddreißig,« sagte er.

»Das reicht nicht weit,« antwortete sie.

Er sagte nichts, aber rieb sich die Finger.

»Und weißt du, ich habe nichts ,...«

»Das wollt ich auch nicht, Ma!« rief er, sehr rot vor Kummer und Drang nach Entgegnung.

»Nein, mein Junge, ich weiß wohl. Ich wünschte nur, ich hätte was. Und wenn du fünf Pfund für die Hochzeit und so abrechnest – dann bleiben neunundzwanzig. Da werdet ihr nicht weit mit reichen.«

Er verdrehte sich immer noch die Finger, ohnmächtig, hartnäckig, ohne aufzusehen.

»Aber heiraten möchtest du wirklich?« fragte sie. »Hast du das Gefühl, du mußt es wirklich?«

Er gab ihr einen graden Blick aus seinen blauen Augen.

»Ja,« sagte er.

»Dann,« sagte sie, »dann müssen wir alle unser Bestes dafür einsetzen.«

Als er dann wieder aufsah, standen ihm Tränen in den Augen.

»Annie soll sich aber nicht durch mich übervorteilt fühlen,« sagte er mit Anstrengung.

»Mein Junge,« sagte sie, »du besitzt Beständigkeit – du hast eine ordentliche Stellung. Hätte mich ein Mann nötig gehabt, ich hätte ihn auf seinen letzten Wochenlohn hin geheiratet. Es mag ihr wohl hart ankommen, so ganz klein anzufangen. Junge Mädchen sind nun mal so. Sie sehen in der Zukunft nur das hübsche Heim, das sie sich ausgedacht haben. Ich habe aber eine teure Einrichtung gehabt. Die bedeutet nicht alles.«

So fand die Hochzeit beinahe sofort statt. Arthur kam nach Hause und sah prächtig aus in seinem Waffenrock. Annie sah hübsch aus in ihrem taubengrauen Kleid, das sie für Sonntags gebrauchen konnte. Morel schalt sie eine Närrin wegen ihrer Heirat und war kühl gegen seinen Schwiegersohn. Frau Morel hatte weiße Spitzen an ihrem Hut und etwas Weiß an ihrer Bluse und wurde von ihren beiden Söhnen verspottet, daß sie sich so großmächtig vorkäme. Leonhart war herzlich und fröhlich und kam sich fürchterlich närrisch vor. Paul konnte nicht recht einsehen, weswegen Annie heiraten wollte. Er hatte sie gern und sie ihn. Immerhin hatte er aber die schwache Hoffnung, es möchte alles zum Guten ausschlagen. Arthur sah erstaunlich gut aus in seinem Scharlach und Gelb und wußte das auch, aber insgeheim schämte er sich des Waffenrocks doch. Annie weinte sich die Augen aus in der kleinen Küche, als sie ihre Mutter verlassen sollte. Frau Morel weinte auch ein wenig, klopfte ihr dann den Rücken und sagte:

»Aber weine man nicht, mein Kind, er ist sicher gut gegen dich.«

Morel stampfte mit dem Fuß auf und behauptete, sie wäre eine Närrin, loszuziehen und sich so zu binden. Leonhart sah weiß und überarbeitet aus. Frau Morel sagte zu ihm:

»Ich vertraue sie dir an, mein Junge, und halte dich für sie verantwortlich.«

»Das kannst du,« sagte er, halbtot unter dieser Feuerprobe.

Und dann war alles vorüber.

Als Morel und Arthur im Bett waren, saß Paul wie öfters noch mit seiner Mutter zusammen und sprach mit ihr.

»Es tut dir doch nicht leid, Mutter, daß sie geheiratet hat?« fragte er sie.

»Es tut mir nicht leid, daß sie geheiratet hat – aber – es kommt mir so seltsam vor, daß sie nun von mir gehen soll. Es erscheint mir sogar hart, daß sie lieber mit ihrem Leonhart geht, als bei mir bleibt. So sind wir Mütter nun mal – ich weiß wohl, es ist albern.«

»Und wirst du dich um sie grämen?«

»Wenn ich an meinen eigenen Hochzeitstag denke,« antwortete die Mutter, »dann kann ich nur hoffen, daß ihr Leben anders sein möge.«

»Aber kannst du ihm vertrauen, daß er gut gegen sie sein wird?«

»Ja, ja. Sie sagen, er wäre nicht gut genug für sie. Aber ich sage, wenn ein Mann nur echt ist, so wie er, und ein Mädchen hat ihn lieb – dann – sollte alles gut gehen. Er ist ebensogut wie sie.«

»Dann ists dir also recht?«

»Ich hätte niemals meine eigene Tochter einen Mann heiraten lassen, von dem ich nicht das Gefühl gehabt hätte, er wäre durch und durch echt. Und doch, nun sie weg ist, fühle ich eine Lücke.«

Sie waren beide elend und hätten sie gern wiedergehabt. Es kam Paul vor, seine Mutter sähe so verlassen aus in ihrer neuen Seidenbluse mit dem bißchen weißen Besatz.

»Jedenfalls, Mutter, ich heirate nie,« sagte er.

»Ach, das sagen alle, mein Junge. Du hast die Eine noch nicht getroffen. Warte bloß noch ein oder zwei Jahre.«

»Aber ich heirate nicht, Mutter. Ich will mit dir leben, und wir wollen ein Dienstmädchen nehmen.«

»Ach, mein Junge, das sagt sich so leicht. Wir wollen sehen, wenn die Zeit herankommt.«

»Was für 'ne Zeit? Ich bin beinahe dreiundzwanzig.«

»Ja, du gehörst nicht zu denen, die jung heiraten. Aber in drei Jahren etwa ,...«

»Bin ich noch genau so bei dir.«

»Wir wollen sehen, mein Junge, wir wollen sehen.«

»Aber du möchtest nicht, daß ich heirate?«

»Ich möchte dich mir nicht gern allein durchs Leben gehend vorstellen, ohne irgend jemand, der für dich sorgte und so – nein.«

»Und du meinst, ich sollte heiraten?«

»Früher oder später sollte das jeder Mann.«

»Aber du möchtest lieber, später.«

»Es würde hart für mich sein – und sehr hart. Es ist schon so wie es heißt:

›Mein Sohn bleibt mein Sohn, bis ein Weib er sich nimmt,
Meine Tochter mir Tochter durchs Leben bestimmt.‹«

»Und du glaubst, ich würde mich durch eine Frau von dir abziehen lassen?«

»Ja, du könntest sie doch nicht bitten, deine Mutter gleich mit zu heiraten,« lächelte Frau Morel.

»Das könnte sie halten wie sie wollte; jedenfalls würde sie sich nicht zwischen uns zu stecken haben.«

»Das würde sie auch nicht – bis sie dich hätte – und dann würdest du schon sehen.«

»Ich wills aber nie sehen. Ich will niemals heiraten, solange ich dich habe – niemals.«

»Ich möchte dich aber nicht allein, ohne irgend jemand zurücklassen, mein Junge!« rief sie.

»Du sollst mich ja gar nicht zurücklassen. Wie alt bist du denn? Dreiundfünfzig! Ich gebe dir fünfundsiebzig. So, dann bin ich fett und vierundvierzig. Dann heirate ich eine Geruhige. Siehst du!«

Seine Mutter saß und lachte.

»Geh zu Bett,« sagte sie, »geh zu Bett.«

»Und ein niedliches Haus wollen wir haben, du und ich, und ein Dienstmädchen, und alles wird in Ordnung sein. Vielleicht bin ich dann auch schon reich durch meine Malerei.«

»Willst du nun ins Bett!«

»Und dann kriegst du 'nen Ponywagen. Stell dir dich mal vor – wie so 'ne kleine Königin Viktoria trabst du dann umher.«

»Ich sag dir, geh zu Bett,« lachte sie.

Er küßte sie und ging. Seine Zukunftspläne blieben immer die gleichen.

Frau Morel saß und brütete – über ihre Tochter, über Paul, über Arthur. Sie grämte sich über Annies Verlust. Die Hausgenossen hingen sehr fest zusammen. Und sie fühlte, nun müsse sie leben, ihrer Kinder wegen. Das Leben war reich für sie. Paul verlangte nach ihr, und Arthur auch. Arthur begriff nie, wie tief er sie liebte. Er war ein Augenblicksgeschöpf. Noch nie hatte er sich gezwungen gesehen, sich über sich selbst klar zu werden. Der Heeresdienst hatte seinen Körper in Zucht genommen, aber nicht seinen Geist. Er besaß eine vollkommene Gesundheit und war sehr hübsch. Sein dunkles, kräftiges Haar lag dem etwas kleinen Kopfe glatt an. Um die Nase herum hatte er einen etwas kindlichen Zug, um die dunkelblauen Augen etwas Mädchenhaftes. Aber unter seinem braunen Schnurrbart besaß er den Mund eines Mannes, und sein Kinn war stark. Es war seines Vaters Mund; es waren Nase und Augen der Angehörigen seiner Mutter – gut aussehender Leute von schwachen Grundsätzen. Frau Morel war seinetwegen besorgt. Enterte er erst einmal richtig auf, dann war er sicher. Aber wie weit würde er kommen?

Der Heeresdienst hatte ihm nicht wirklich genützt. Er empfand die Herrschaft der Unteroffiziere bitter. Er haßte es, wie ein Tier gehorchen zu müssen. Aber er besaß zu viel Verstand, um sich aufzulehnen. So wandte er seine Aufmerksamkeit darauf, so gut wie möglich durchzukommen. Er konnte singen und war ein fideler Bruder. Oft geriet er in eine Klemme, aber immer nur in eine mannhafte, die leicht vergeben werden konnte. So verlebte er seine Zeit so gut es ging, während seine Selbstachtung doch daniederlag. Er verließ sich auf sein hübsches Aussehen und seinen guten Wuchs, seine Bildung, seine anständige Erziehung, wenn er etwas erreichen wollte, und wurde darin nicht enttäuscht. Und doch war er ruhelos. Es schien etwas an seinem Inneren zu nagen. Er war nie still, er war nie allein. Gegen seine Mutter war er recht demütig. Paul liebte und bewunderte er und verachtete ihn ein wenig. Und Paul liebte und bewunderte ihn und verachtete ihn auch ein wenig.

Frau Morel besaß ein paar Pfunde als Hinterlassenschaft ihres Vaters, und sie beschloß, ihren Sohn mit diesem Gelde aus dem Heeresdienst loszukaufen. Er war wild vor Freude. Nun war er wie ein Junge, wenn die Schule vorbei ist.

Er hatte Beatrice Wyld immer sehr gern gehabt, und während seines Urlaubs fing er nun wieder mit ihr an. Sie war jetzt kräftiger und gesunder. Oft machten die zwei lange Spaziergänge miteinander, wobei Arthur auf Soldatenweise recht steif ihren Arm nahm. Und sie kam zum Klavierspielen, wozu er sang. Dann pflegte Arthur sich den Rockkragen aufzuhaken. Er bekam Farbe, seine Augen glänzten, er sang mit einem männlichen Tenor. Später saßen sie dann zusammen auf dem Sofa. Er schien auf seine gute Figur stolz zu sein: so wenigstens kam es ihr vor – die starke Brust, die Hüften, die Oberschenkel in den enganliegenden Hosen.

Er fiel gern ins Mundartliche, wenn er mit ihr sprach. Zuweilen rauchten sie zusammen; gelegentlich nahm sie auch nur mal ein paar Züge aus seiner Zigarette.

»Ne,« sagte er eines Abends, als sie nach seiner Zigarette griff, »ne, du kriegst se nich. Ick will dich 'n Rauchkuß jeben, wennst'n magst.«

»Einen Zug wollte ich, und überhaupt keinen Kuß,« antwortete sie.

»Scheen, denn sollste 'nen Zug und 'nen Kuß zugleich haben.«

»Ich will auf deinem Prügel ziehen,« rief sie und griff nach der Zigarette zwischen seinen Lippen.

Er saß so, daß seine Schulter sie berührte. Sie war klein und schnell wie der Blitz. Er entkam ihr grade noch.

»Ick will dich 'n Rauchkuß jeben,« sagte er.

»Du bist 'n frecher Tunichtgut, Arthie Morel,« sagte sie und rückte von ihm ab.

»Willste 'nen Rauchkuß?«

Lächelnd lehnte der Soldat sich vor. Sein Gesicht war ganz nahe dem ihren.

»Du sollst nich!« erwiderte sie, ihr Gesicht wegwendend.

Er nahm einen Zug aus seiner Zigarette, spitzte den Mund und brachte seine Lippen ganz nahe den ihren. Sein dunkelbrauner, kurzgeschnittener Schnurrbart stand wie eine Bürste vor. Sie blickte auf die gespitzten, blutroten Lippen, riß ihm dann plötzlich die Zigarette aus den Fingern und flog damit von bannen. Er sprang hinter ihr her und riß ihr den Kamm aus den Haaren am Hinterkopf. Sie wandte sich und warf die Zigarette nach ihm. Er hob sie auf, steckte sie wieder in den Mund und setzte sich.

»Ekel!« rief sie. »Gib mir den Kamm!«

Sie war bange, ihr Haar, das sie ganz besonders für ihn gemacht hatte, könne herunterfallen. Sie stand da, die Hände an den Kopf gelegt. Er versteckte den Kamm zwischen seinen Knien.

»Ick hab 'n nich,« sagte er.

Die Zigarette zitterte ihm vor Lachen zwischen den Lippen, als er sprach.

»Lügner!« sagte sie.

»So wahr ick hier sitze!« lachte er, ihr die Hände zeigend.

»Du frecher Kobold!« rief sie aus, indem sie sich vorwärts stürzte und mit ihm um den Kamm rang, den er zwischen den Knien hatte. Während sie mit ihm rang und an seinen glatten, engbehosten Knien zerrte, lachte er, bis er, sich vor Lachen schüttelnd, hintenüber auf dem Sofa lag. Die Zigarette fiel ihm aus dem Munde und versengte ihm beinahe den Hals. Unter seiner zarten Haut stieg das Blut empor, und er lachte, bis seine blauen Augen fast blind wurden und die Kehle ihm beinahe bis zum Bersten anschwoll. Dann setzte er sich aufrecht. Beatrice steckte sich ihren Kamm wieder an.

»Du hast mir jekitzelt, Beat,« sagte er undeutlich.

Wie der Blitz fuhr ihre kleine Hand vor und haute ihm ins Gesicht. Er fuhr auf und sah sie starr an. Sie stierten einander an. Langsam stieg ihr die Röte in die Backen, sie senkte die Augen, dann den Kopf. Er saß mürrisch da. Sie ging in die Spülküche, um ihr Haar wieder zurecht zu machen. Insgeheim vergoß sie dort ein paar Tränen, weswegen wußte sie nicht.

Als sie wieder zurückkam, war sie eng verschlossen. Aber es war doch nur eine dünne Decke über ihrem Feuer. Mit zerzaustem Haar saß er auf dem Sofa und brummte. Sie setzte sich ihm gegenüber, in den Lehnstuhl, und keiner sprach. Das Ticken der Uhr klang in dem Schweigen wie Schläge.

»'ne kleene Katze biste, Beat,« sagte er endlich, halb um Verzeihung bittend.

»Ja, du hättest nicht so frech sein sollen,« erwiderte sie.

Wieder entstand ein langes Schweigen. Er pfiff vor sich hin, wie jemand, der sehr aufgeregt, aber auch sehr trotzig ist. Plötzlich trat sie auf ihn zu und küßte ihn.

»Hatt's denn weh detan, armes Ding?« spottete sie.

Er hob den Kopf und lächelte neugierig.

»Kuß?« lud er sie ein.

»Darf ichs denn?« fragte sie.

»Man los!« forderte er sie auf, ihr seinen Mund entgegenhebend.

Voller Überlegung, und mit einem sonderbar zitternden Lächeln, das sich über ihren ganzen Körper auszubreiten schien, preßte sie ihren Mund auf den seinen. Sofort schlangen sich seine Arme um sie. Sobald der lange Kuß vorbei war, bog sie ihren Kopf von dem seinen zurück und legte ihre zarten Finger auf seinen Hals unter dem offenen Kragen. Dann schloß sie die Augen und überließ sich ganz einem neuen Kuß.

Sie handelte ganz aus freiem Antrieb. Was sie tun wollte, tat sie, und machte niemand dafür verantwortlich.

*

Paul fühlte, wie das Leben um ihn her anders wurde. Die Verhältnisse seiner Jugend waren fort. Nun war es ein Heim mit Erwachsenen. Annie war eine verheiratete Frau, Arthur lief hinter seinem Vergnügen her auf eine den Seinen unbekannte Weise. Bis jetzt hatten sie alle zu Hause gelebt und waren nur zum Zeitvertreib mal ausgegangen. Nun aber lag für Annie und Arthur das Leben außerhalb ihrer Mutter Haus. Sie kamen mal für einen Feiertag und um sich auszuruhen. So lag also jenes seltsame Gefühl halber Leere über dem Hause, als wären die Vögel ausgeflogen. Paul wurde immer haltloser. Annie und Arthur waren fort. Er hatte keine Ruhe mehr, bis er ihnen folgte. Und doch lag die Heimat für ihn an der Seite seiner Mutter. Aber trotzdem gab es noch etwas anderes, etwas dort draußen, etwas, wonach er sich sehnte.

Er wurde ruheloser und ruheloser. Miriam befriedigte ihn nicht. Seine alte, wahnsinnige Sucht nach dem Zusammensein mit ihr wurde schwächer. Zuweilen traf er Clara in Nottingham, zuweilen verabredete er sich mit ihr, zuweilen traf er sie auf dem Willeyhofe. Aber bei diesen letzten Gelegenheiten kam eine Spannung in die Lage. Zwischen Paul und Miriam und Clara bestand ein wechselseitiger Kampfzustand im Dreieck. Mit Clara schlug er einen frischen, weltlichen, spöttischen Ton an, der Miriam sehr zuwider war. Mochte vorhergegangen sein, was da wollte. Mochte sie vertraulich zu ihm gewesen sein oder traurig. Sobald Clara erschien, war alles aus, und er spielte nur noch vor dem Neuankömmling.

Einen wunderschönen Abend hatte Miriam mit ihm im Heu. Er war draußen gewesen auf dem Pferderechen, und nachdem er damit fertig war, kam er zu ihr, um ihr zu helfen, das Heu in Haufen zu setzen. Da hatte er zu ihr von seinen Hoffnungen und seiner Verzweiflung gesprochen, und seine ganze Seele hatte anscheinend nackt vor ihr gelegen. Ihr war gewesen, als sähe sie jede Fiber seines Lebens in ihm erbeben. Der Mond war aufgegangen; sie waren zusammen nach Hause gegangen; es war ihr vorgekommen, als käme er zu ihr aus bitterster Not, und sie hatte ihn angehört, hatte ihm ihre ganze Liebe, ihren ganzen Glauben geschenkt. Er hatte ihr anscheinend sein Bestes gebracht, um es aufzubewahren, damit sie es ihr ganzes Leben lang hüte. Nein, der Himmel konnte die Sterne nicht sicherer und ewiger betreuen, als sie das Gute in Paul Morels Seele bewahren wollte. Ganz erhoben war sie allein nach Hause gegangen, froh im Glauben.

Und dann war am nächsten Tage Clara gekommen. Sie hatten ihren Tee auf dem Heufelde trinken sollen. Miriam sah, wie der Abend sich golden und schattig niedersenkte. Und die ganze Zeit über hatte Paul mit Clara getollt. Immer höher und höher hatte er die Heuhaufen gemacht, über die sie springen mußten. Miriam machte sich nichts aus dem Spiel und stand abseits. Edgar und Gottfried und Moritz und Clara und Paul sprangen. Paul gewann, weil er leicht war. Claras Blut war in Wallung. Sie konnte rennen wie eine Amazone. Paul hatte die entschlossene Weise gern, in der sie auf den Heuhaufen zustürzte und hinübersprang, auf der andern Seite wieder herunterkam, wobei ihre Brüste zitterten und ihr dichtes Haar allmählich locker wurde.

»Sie haben gestreift!« rief er. »Sie haben gestreift!«

»Nein!« blitzte sie, sich an Edgar wendend. »Ich habe nicht gestreift, nicht wahr? Bin ich nicht freigekommen?«

»Das könnte ich nicht sagen,« lachte Edgar.

Keiner konnte das sagen.

»Aber Sie haben gestreift,« sagte Paul. »Sie haben verloren.«

»Ich habe nicht gestreift!« rief sie.

»So klar wie man was,« sagte Paul.

»Hauen Sie ihn doch für mich um die Ohren!« bat sie Edgar.

»Ne!« lachte Edgar. »Das wage ich nicht. Das müssen Sie selber tun.«

»Und nichts kann die Tatsache ändern, daß Sie gestreift haben,« lachte Paul.

Sie war wütend auf ihn. Ihr kleiner Sieg über diese Burschen und Männer war dahin. Sie hatte sich über dem Spiel vergessen. Nun sollte er sie erniedrigen.

»Ich finde Sie verächtlich!« sagte sie.

Und wieder lachte er auf eine Art, die Miriam Folterqualen bereitete.

»Und ich wußte, Sie kämen über diesen Haufen nicht herüber,« reizte er sie.

Sie kehrte ihm den Rücken. Und doch konnte jeder merken, daß das einzige Wesen, auf das sie hinhörte oder das sie gewahr wurde, er war, und sie für ihn. Es machte den Männern Vergnügen, diesem Kampfe zwischen ihnen zuzusehen. Aber Miriam lag auf der Folter.

Sie sah, daß Paul das Niedrigere an Stelle des Höheren wählen konnte. Er konnte sich selbst untreu werden, untreu gegen den wirklichen, tiefen Paul Morel. Die Gefahr lag nahe, daß er leichtsinnig würde, daß er seiner Befriedigung nachliefe wie Arthur oder wie sein Vater. Der Gedanke, er könne seine Seele um die Torheit dieses nichtssagenden Umgangs mit Clara wegwerfen, verbitterte Miriam. In Bitterkeit und Schweigen ging sie einher, während die beiden andern sich neckten und Paul sich austobte.

Und nachher hatte er es nicht zugeben wollen, sondern hatte sich recht geschämt und zu Miriams Füßen niedergestreckt. Dann war er wieder aufsässig geworden.

»Es ist nicht fromm, fromm zu sein,« sagte er. »Ich finde, eine Krähe ist fromm, wenn sie durch den Himmel segelt. Aber sie tuts doch nur, weil sie fühlt, sie wird dahin getragen, wohin sie will, nicht, weil sie glaubt, es wäre die Ewigkeit.«

Miriam wußte, man müsse in allem fromm sein, einerlei was Gott wäre, ihn sich in allem vor Augen halten.

»Ich glaube gar nicht, daß Gott so viel über sich selbst weiß,« rief er. »Gott weiß gar nichts über die Dinge, er ist das Ding. Und ich bin sicher, er hat keine Seele.«

Und dann schien es ihr, Paul versuche Gott auf seine Seite hinüberzuziehen, weil er seinen eigenen Weg gehen und seinem Vergnügen nachlaufen wollte. Es gab einen langen Kampf zwischen ihnen. Selbst in ihrer Gegenwart war er höchst treulos gegen sie; dann schämte er sich und bereute; dann haßte er sie und ging wieder fort. Das war der ewige Kreislauf der Ereignisse.

Sie erzürnte ihn bis auf den Grund seiner Seele. Da blieb sie liegen – traurig, nachdenklich, eine Betende. Und er verursachte ihr Schmerz. Die Hälfte der Zeit grämte er sich um sie, die andere Hälfte haßte er sie. Sie war sein Gewissen; und ihm war, als habe er ein Gewissen, das für ihn zu groß sei! Verlassen konnte er sie nicht, weil sie in gewisser Hinsicht sein Bestes bewahrte. Bei ihr bleiben konnte er nicht, weil sie den Rest nicht auch hinnahm, der drei Viertel ausmachte. So rieb er sich die Seele wund um sie.

Als sie Einundzwanzig wurde, schrieb er ihr einen Brief, der nur an sie hätte gerichtet werden können.

»Darf ich noch dies eine letzte Mal von unserer alten, abgelebten Liebe sprechen. Auch sie verändert sich, nicht wahr? Sag, ist der Leib dieser Liebe nicht schon lange tot, und hat er Dir nicht seine unverwundbare Seele hinterlassen? Siehst Du, geistige Liebe kann ich Dir geben, und habe sie Dir auch diese ganze, ganze Zeit hindurch gegeben; aber keine verkörperte Leidenschaft. Sieh, Du bist eine Nonne. Ich habe Dir gegeben, was ich einer heiligen Nonne geben würde – wie ein rätselhafter Mönch einer rätselhaften Nonne. Sicherlich hältst Du das für das Wertvollste. Und doch sehnst Du Dich – nein, hast Du Dich nach dem andern gesehnt. In all unsere Beziehungen hat nichts Körperliches Einlaß. Ich spreche gar nicht zu Dir mit den Sinnen – nur mit dem Geiste. Deswegen können wir uns auch nicht im gewöhnlichen Sinne lieben. Unsere Zuneigung ist keine alltägliche. Aber wir sind doch sterblich, und Seite an Seite miteinander zu leben würde schrecklich sein, denn jedenfalls kann ich mit Dir nicht lange gleichgültig sein, und wie Du weißt, immer außerhalb dieses Zustandes Sterblicher zu stehen, würde nur bedeuten, daß wir ihn verlören. Wenn die Leute heiraten, müssen sie als sich liebende Wesen miteinander leben, die auch Gemeinplätze vertragen können, ohne sich ungeschickt dabei vorzukommen – nicht wie zwei Seelen. So empfinde ich.

Soll ich diesen Brief absenden – ich zweifle fast. Aber – es ist immer am besten, man versteht sich, Au revoir

*

Miriam las diesen Brief zweimal, worauf sie ihn versiegelte. Ein Jahr später brach sie das Siegel, um ihrer Mutter den Brief zu zeigen.

»Du bist eine Nonne – Du bist eine Nonne.« Die Worte drangen ihr wieder und wieder ins Herz. Nichts, was er bisher gesagt hatte, war ihr so tief ins Innere gedrungen, so fest, so einer Todeswunde gleich.

Zwei Tage nach dem Zusammensein antwortete sie ihm.

»›Unsere Vertrautheit wäre ganz vollkommen gewesen, ohne den einen kleinen Fehler,‹« schrieb sie unter Bezug auf seinen Brief. »War der Fehler mein?«

Fast unmittelbar antwortete er ihr aus Nottingham durch einen Brief und gleichzeitige Übersendung eines Omar Khayyam.

»Ich freue mich, daß Du mir geantwortet hast; Du bist so ruhig und natürlich, daß ich mich schämen muß. Was für ein Prahlhans ich bin. Wir stimmen oft nicht miteinander überein. Aber in den Grundsätzen könnten wir doch stets zusammengehen, dächte ich.

Ich muß Dir für Deine Anteilnahme an meinem Malen und Zeichnen danken. Manche der Skizzen ist Dir gewidmet. Ich sehe Deinem Urteil entgegen, das zu meiner Schande und meinem Ruhm fast immer eine große Lobeserhebung ist. Ein prächtiger Spaß das. Au revoir

*

Dies war die erste Entwicklungsstufe von Pauls Liebesangelegenheiten. Er war jetzt ungefähr dreiundzwanzig Jahre alt, und wenn auch immer noch jungfräulich, so trat doch nun das Geschlechtliche in ihm, das Miriam solange verfeinert hatte, besonders stark hervor. Oft geriet, wenn er zu Clara Dawes sprach, sein Blut nun in jenes Dickerwerden und Rascherfließen, es trat jenes sonderbare Zusammenziehen der Brust auf, als würde dort etwas lebendig, ein neues Ich oder ein neuer Mittelpunkt des Bewußtseins, und warnte ihn, früher oder später müsse er eine oder die andere fragen. Aber er gehörte Miriam an. Dessen war er sich so unbedingt sicher, daß er ihr alle Rechte einräumte.


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