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Siebentes Kapitel. Jungens- und Mädchenliebe

Paul war während des Herbstes häufig nach dem Willeyhofe hinaufgegangen. Mit den beiden jüngeren Söhnen hatte er sich angefreundet. Edgar, der älteste, konnte sich zunächst nicht so weit herablassen. Und ebenso verweigerte Miriam jede Annäherung. Sie fürchtete sich davor, von ihm als Null angesehen zu werden, wie von ihren eigenen Brüdern. Das Mädchen war schwärmerisch veranlagt in ihrer Seele. Überall gab es Scottsche Heldinnen, die von Männern mit Helmen oder mit Federn auf den Mützen geliebt wurden. Sie selbst war in ihrer Einbildung so eine Art in eine Schweinehirtin verwandelte Prinzessin. Und sie fürchtete sich davor, daß dieser Junge, der immerhin etwas von einem Scottschen Helden an sich hatte, der malen und Französisch sprechen konnte, der wußte, was Algebra bedeutete und alle Tage mit dem Zuge nach Nottingham fuhr, sie einfach nur für das Schweinemädchen halten möchte und nicht imstande wäre, die Prinzessin darunter zu erkennen. Daher hielt sie sich abseits.

Ihre große Gefährtin war ihre Mutter. Sie waren beide blauäugig und allem Geheimnisvollen zugetan, Frauen, die Frömmigkeit in sich aufspeichern, sie mit jedem Atemzug einsaugen und das ganze Leben durch ihren Schleier wahrnehmen. So waren für Miriam Christus und Gott eine große Persönlichkeit, die sie zitternd und leidenschaftlich liebte, wenn ein gewaltiger Sonnenuntergang am Westhimmel flammte, und als Edith und Lucie und Rowena, Brian de Bois Guilbert, Rob Roy und Guy Mannering raschelte sie an sonnigen Morgen durch die Blätter oder saß allein oben in ihrer Schlafkammer, wenn es schneite. Das war Leben für sie. Im übrigen schrubbte sie im Hause herum, eine Arbeit, aus der sie sich noch nicht einmal viel gemacht hätte, wenn nicht ihr sauberer roter Fußboden sofort durch das Getrampel der Ackerstiefel ihrer Brüder wieder verschmutzt worden wäre. Wie wahnsinnig wünschte sie ihren kleinen vierjährigen Bruder einzuhüllen und mit ihrer Liebe zu ersticken; demütig ging sie mit gesenktem Haupt zur Kirche und schrak vor der Gemeinheit der anderen Chorsängerinnen und vor der gewöhnlich klingenden Stimme des Hilfspredigers zurück; sie kämpfte mit ihren Brüdern, die sie für rohe Rüpel hielt; und selbst ihren Vater würdigte sie keiner übermäßig hohen Achtung, weil er keine geheimen Ziele im Herzen hegte, sondern sein Leben nur so beharrlich wie möglich zu gestalten wünschte, und sein Essen haben wollte, wenn es Zeit war.

Ihre Schweinemädchenstellung haßte sie. Sie wollte Beachtung finden. Sie wollte etwas lernen und dachte, wenn sie nur, wie Paul, ›Colomba‹ lesen könnte oder die › Voyage autour de ma chambre‹, die Welt würde für sie ein ganz anderes Aussehen gewinnen und sie viel höher einschätzen. Durch Reichtum oder Stand konnte sie keine Prinzessin werden. Sie war verrückt nach Gelehrsamkeit, auf die sie hätte stolz sein können. Denn sie war anders als andere Leute und konnte nicht mit der gemeinen Masse über einen Leisten geschlagen werden. Gelehrsamkeit war die einzige Auszeichnung, die sie für erstrebenswert hielt.

Ihre Schönheit – die eines scheuen, wilden, vor Empfindlichkeit zitternden Wesens – galt ihr nichts. Selbst ihre Seele, die sich so nach Schwärmerei sehnte, war ihr nicht genügend. Sie mußte etwas haben, was ihren Stolz kräftigte, weil sie merkte, wie anders sie war als andere Leute. Paul betrachtete sie voller Nachdenken. Im ganzen verachtete sie das männliche Geschlecht. Aber hier erschien es in einem neuen Vertreter, der rasch, leicht, anmutig war, der sanft und traurig sein konnte, der klug war und eine Menge verstand, und der sogar einen Todesfall unter den Seinen aufzuweisen hatte. Des Jungen armselige Wissensbrocken hoben ihn in ihrer Wertschätzung fast in den Himmel. Und doch versuchte sie ihn mit aller Gewalt zu verachten, weil er in ihr nicht die Prinzessin, sondern nur das Schweinemädchen erkennen wollte. Und er beachtete sie kaum.

Dann wurde er so krank, und sie fühlte, er würde schwächlich bleiben. Dann würde sie stärker sein als er. Dann würde sie ihn lieben dürfen. Könnte sie Herrin über ihn werden bei seiner Schwäche, für ihn sorgen, könnte er abhängig von ihr werden, könnte sie ihn gegebenenfalls in die Arme nehmen, wie wollte sie ihn lieben.

Sobald der Himmel wieder heller wurde und die Pflaumenblüten hervorbrachen, fuhr Paul in dem schweren Wagen des Milchmanns nach dem Willeyhofe hinauf. Herr Leivers brüllte dem Jungen gutgemeint was vor und schnalzte dann dem Pferde zu, als sie in der Morgenfrische den Hügel langsam emporklommen. Weiße Wolken zogen ihres Weges und ballten sich hinter den Hügeln zusammen, die im Frühlingswetter lebendig wurden. Unten lag das Wasser des Nethersees, tiefblau gegen die kahlen Weiden und Dornbüsche.

Es war eine Fahrt von etwas über anderthalb Meilen. Winzige Knospen an den Hecken, leuchtend grün wie Grünspan, erschlossen sich zu kleinen Röschen; und Amseln riefen, und Drosseln schrien und schimpften. Es war eine neue, zauberhaft schöne Welt.

Mit einem Blick aus dem Küchenfenster sah Miriam das Pferd durch das große, weiße Tor auf den Hof schreiten, in dessen Rücken noch der kahle Eichenwald lag. Dann kletterte ein Junge in einem schweren Mantel herunter. Er streckte seine Hände nach der Peitsche und der Decke aus, die der hübsche, rotbackige Pächter ihm hinunterreichte.

Miriam erschien im Torweg. Sie war beinahe sechzehn, sehr schön mit ihren warmen Farben, ihrem Ernst, ihren sich plötzlich wie in Verzückung weitenden Augen.

»Sag mal,« sagte Paul, sich scheu zur Seite wendend, »eure Narzissen sind ja beinahe schon heraus. Ist das nicht sehr früh? Sehen sie nicht kalt aus?«

»Kalt!« sagte Miriam in ihrer wohlklingenden, liebkosenden Stimme.

»Das Grün an ihren Knospen ,...« und er stotterte sich in ein furchtsames Schweigen hinein.

»Laß mich die Decke nehmen,« sagte Miriam überzart.

»Ich kann sie ganz gut tragen,« sagte er, ein wenig verletzt.

Aber er gab sie ihr doch.

Dann erschien Frau Leivers.

»Du bist sicher müde und kalt,« sagte sie. »Laß mich deinen Mantel nehmen. Der ist aber auch schwer. In dem darfst du nicht weit gehen.«

Sie half ihm aus seinem Mantel heraus. So viel Aufmerksamkeit war er gar nicht gewöhnt. Sie wurde von seinem Gewicht fast erdrückt.

»Aber Mutter,« lachte der Pächter, als er, die großen Milchkannen schwingend, durch die Küche schritt, »da hast du dir wirklich fast mehr aufgepackt, als du tragen kannst.«

Sie schüttelte dem Jungen die Sofakissen zurecht.

Die Küche war sehr klein und unregelmäßig. Ursprünglich war der Hof ein Arbeitergrundstück gewesen. Und die Einrichtung war alt und abgenutzt. Aber Paul liebte sie – liebte den Sack, der die Herdmatte bildete, und den spaßhaften kleinen Winkel unter der Treppe, und das kleine Fenster hinten in der Ecke, durch das er, wenn er sich ein wenig vorbeugte, die Pflaumenbäume im Hintergarten und die reizenden runden Hügel sehen konnte.

»Willst du dich nicht etwas hinlegen?« fragte Frau Leivers.

»O nein; ich bin nicht müde,« sagte er. »Ist das nicht reizend, so herauszukommen, was meinen Sie? Einen Schlehenbusch in voller Blüte habe ich gesehen und Haufen von Schellkraut. Ich bin froh, es ist so sonnig.«

»Kann ich dir irgendwas zu essen oder zu trinken geben?«

»Nein, vielen Dank.«

»Wie gehts deiner Mutter?«

»Ich glaube, sie ist jetzt recht müde. Sie hatte wohl zu viel zu tun. Vielleicht wird sie bald etwas mit mir nach Skegneß gehen. Dann kann sie sich mal ausruhen. Ich würde mich so freuen, wenn sie das könnte.«

»Ja,« erwiderte Frau Leivers. »Es ist ein Wunder, daß sie nicht selbst krank geworden ist.«

Miriam ging bei den Vorbereitungen zum Essen ab und zu. Paul achtete auf alles, was vorging. Sein Gesicht war blaß und dünn, aber seine Augen rasch und hell vor Leben wie nur je. Er beobachtete die seltsame, fast schwungvolle Art, in der das Mädchen sich umherbewegte, während sie einen großen Kochtopf zum Ofen trug oder in die Bratpfanne schaute. Es war eine andere Luft wie die seines eigenen Heims, wo alles so gewöhnlich erschien. Wenn Herr Leivers draußen laut nach dem Pferde rief, das sich vorbeugte, um von den Rosenbüschen im Garten zu fressen, fuhr das Mädchen zusammen, sah sich mit dunklen Augen um, als bräche etwas über ihre Welt herein. Drinnen im Hause und draußen herrschte ein Gefühl des Schweigens. Miriam erschien ihm wie ein in Knechtschaft verkauftes Mädchen aus einem Traumspiel, dessen Geist sich in ein fernes Zauberland hinüberträumte. Und ihr mißfarbiger, alter blauer Rock und ihre zerrissenen Schuhe erschienen ihm völlig wie die abenteuerlichen Lumpen von König Cophetuas Bettlermädchen.

Plötzlich wurde sie sein scharfes blaues Auge gewahr, wie es auf ihr ruhte, sie ganz in sich aufnahm. Sofort schmerzten sie ihre zerrissenen Schuhe und ihr abgetragener alter Rock. Sie nahm es übel, daß er alles so bemerkte. Er wußte sogar, daß ihr Strumpf nicht in die Höhe gezogen war. Tief errötend ging sie in die Spülküche. Und nachher zitterten ihr die Hände ein wenig bei der Arbeit. Sie ließ fast alles fallen, was sie in die Hand nahm. Wurde ihr innerer Traum erschüttert, so geriet ihr Körper in Zittern. Sie nahm es übel, daß er so viel sah.

Frau Leivers setzte sich ein kleines Weilchen hin und sprach mit dem Jungen, obwohl sie bei ihrer Arbeit nötig war. Sie war zu höflich, ihn allein zu lassen. Aber dann entschuldigte sie sich plötzlich und stand auf. Nach einer Weile sah sie in die zinnerne Pfanne.

»Liebe Güte, Miriam,« rief sie, »die Kartoffeln haben ja kein Wasser mehr.«

Miriam fuhr zusammen wie gestochen.

»Wirklich, Mutter?« rief sie.

»Es wäre mir ja einerlei, Miriam,« sagte die Mutter, »wenn ich sie dir nicht besonders anvertraut hätte.« Sie sah in die Pfanne.

Das Mädchen reckte sich in die Höhe wie unter einem Schlag. Ihre Augen weiteten sich; still blieb sie auf dem Fleck stehen.

»Aber«, sagte sie, unter dem Griff beschämender Gewissensbisse, »ich habe ganz gewiß noch vor fünf Minuten nachgesehen.«

»Ja,« sagte die Mutter, »ich weiß, das geht leicht so.«

»Sie sind aber nicht sehr angebrannt,« sagte Paul; »das macht doch nichts, nicht?«

Frau Leivers sah den Jungen mit braunen, schmerzlichen Augen an.

»Es machte nichts, wenn die Jungens nicht wären,« sagte sie; »Miriam weiß nur zu gut, was für 'n Lärm sie machen, wenn die Kartoffeln angebrannt sind.«

›Dann sollten Sie sie nicht solchen Lärm machen lassen,‹ dachte Paul bei sich.

Nach einer Weile kam Edgar herein. Er trug Gamaschen, und seine Stiefel waren mit Erde bedeckt. Er war ziemlich klein, ziemlich förmlich für einen Bauern. Er sah Paul an, nickte ihm von weitem zu und sagte:

»Essen fertig?«

»Gleich, Edgar,« sagte die Mutter entschuldigend.

»Na, ich für meinen Teil bin fertig,« sagte der junge Mann, während er eine Zeitung aufnahm und zu lesen begann. Nach und nach trabte der Rest der Hausgenossen herein. Das Essen wurde aufgetragen. Die Mahlzeit vollzog sich ziemlich roh. Die Über-Sanftheit und der entschuldigende Ton der Mutter brachten die rohen Angewohnheiten in den Söhnen erst recht heraus. Edgar versuchte die Kartoffeln, bewegte den Mund rasch wie ein Kaninchen, sah seine Mutter ärgerlich an und sagte:

»Die Kartoffeln sind ja angebrannt, Mutter.«

»Ja, Edgar. Ich hatte sie einen Augenblick vergessen. Vielleicht nimmst du Brot, wenn du sie nicht essen kannst.«

Voller Ärger sah Edgar zu Miriam hinüber.

»Was hatte Miriam denn zu tun, daß die nicht drauf aufpassen konnte?« sagte er.

Miriam blickte auf. Ihr Mund öffnete sich, ihre dunkeln Augen funkelten und zuckten, aber sie sagte nichts. Sie schluckte ihren Arger und ihre Scham hinunter und senkte ihr dunkles Haupt.

»Sie hat sich sicher Mühe genug gegeben,« sagte die Mutter.

»Nicht mal zum Kartoffelnkochen hat sie Verstand genug,« sagte Edgar. »Wozu bleibt sie eigentlich zu Hause?«

»Bloß um alles aufzufuttern, was in der Speisekammer steht,« sagte Moritz.

»Den Kartoffelpudding vergessen sie unserer Miriam nicht,« lachte der Vater.

Sie war aufs äußerste gedemütigt. Die Mutter saß schweigend, leidend, wie eine Heilige, die an diesem rohen Tische durchaus nicht am Platze war.

Das verwirrte Paul. Eine unbestimmte Verwunderung überkam ihn, warum alles so hoch gespannt werden mußte wegen ein paar angebrannter Kartoffeln. Die Mutter hob alles – selbst ein bißchen Hausarbeit – auf den Standpunkt einer frommen Vertrauenssache. Das verdachten ihr die Söhne; sie fühlten sich den Boden unter den Füßen weggerissen und antworteten daher durch Roheiten und manchmal auch durch höhnische Hochnäsigkeit.

Paul erschloß sich grade aus der Kindheit zur Männlichkeit. Diese Luft, in der alles einen frommen Wert bekam, überwältigte ihn mit ihrem feinen Zauber. Es lag etwas in ihr. Seine Mutter war streng folgerichtig. Hier war etwas ganz anderes – etwas, das er liebte, das er aber zuweilen auch haßte.

Miriam stritt wild mit ihren Brüdern. Später, am Nachmittag, als sie wieder fort waren, sagte ihre Mutter:

»Du hast mich enttäuscht beim Essen, Miriam.«

Das Mädchen ließ den Kopf hängen.

»Sie sind solche Viecher!« rief sie plötzlich, mit blitzenden Augen aufsehend.

»Aber hattest du mir nicht versprochen, ihnen nicht zu antworten?« sagte die Mutter. »Und ich glaubte dir. Ich kann es nicht haben, wenn ihr euch zankt.«

»Sie sind aber so eklig!« rief Miriam, »und – und so niedrig.«

»Ja, Liebchen. Aber wie oft habe ich dich schon gebeten, Edgar keine Widerworte zu geben. Kannst du ihn nicht reden lassen, was er Lust hat?«

»Warum soll er aber reden dürfen, was er Lust hat?«

»Hast du nicht so viel Kraft, Miriam, das zu ertragen, wenn auch nur meinetwegen? Bist du so schwach, daß du dich mit ihnen zanken mußt?«

Unweigerlich hielt Frau Leivers sich an den Lehrsatz von der andern Backe. Den Jungens konnte sie ihn unmöglich beibringen. Bei den Mädchen ging es besser, und Miriam war ihr Herzenskind. Den Jungens war die andere Backe widerlich, wenn sie ihnen dargeboten wurde. Oft war Miriam hochgemut genug, sie ihnen hinzuhalten. Dann spuckten sie sie an und haßten sie. Sie aber ging in stolzer Demut von dannen, ihr Innenleben führend.

Immerfort lag dies Gefühl von Zank und Zwietracht im Leiversschen Hause. Nahmen auch die Jungens die ewige Berufung auf ihre tieferen Empfindungen von Nachgiebigkeit und stolzer Demut übel, so übte sie doch eine gewisse Wirkung auf sie aus. Sie konnten zwischen sich und einem Außenseiter nicht die gewöhnlichsten menschlichen Gefühle und eine unübertriebene Freundschaft herstellen; sie waren stets ruhelos auf der Suche nach etwas Tieferem. Gewöhnliche Menschen kamen ihnen flach, abgedroschen und nicht beachtenswert vor. Und daher war ihnen der einfachste gesellschaftliche Umgang zu ihrem eigenen Leidwesen ungewohnt, und sie benahmen sich dabei grob, sie litten und waren doch unverschämt im Gefühle ihrer eigenen Überlegenheit. Und dann lag unter diesem allem die Sehnsucht nach Seelenvertrautheit, zu der sie aber wegen ihrer eigenen Stumpfheit nicht gelangen konnten, und jeder Annäherungsversuch wurde vereitelt durch ihre törichte Verachtung der anderen. Sie sehnten sich nach unverfälschter Vertraulichkeit, konnten aber niemandem auch nur mal auf die gewöhnliche Art und Weise nahekommen, weil sie es verschmähten, den ersten Schritt zu tun, weil sie jede Abgedroschenheit verachteten, die doch nun mal im allgemeinen den menschlichen Umgang ausmacht.

Paul geriet unter Frau Leivers Bann. Alles bekam für ihn eine gottselige und verinnerlichte Bedeutung, sobald er bei ihr war. Seine Seele, leicht empfindlich, hochentwickelt, suchte hungrig nach ihr. Gemeinschaftlich schienen sie jede Erfahrung auf ihren lebendigen Inhalt durchzusieben.

Miriam war ihrer Mutter Tochter. Im Sonnenschein des Nachmittags gingen Mutter und Tochter mit ihm die Felder hinunter. Sie sahen nach Nestern aus. In der Hecke beim Obstgarten war ein Zaunkönigsnest.

»Das mußt du sehen,« sagte Frau Leivers.

Er beugte sich nieder und steckte vorsichtig den Finger durch die Dornen in die runde Öffnung des Nestes.

»Es ist fast, als fühlte man das lebendige Innere des Vogels,« sagte er, »so warm ist es. Es heißt, die Vögel machten ihre Nester so rund wie eine Tasse, indem sie ihre Brust dagegenpressen. Wie kriegt dieser dann aber auch die Decke so rund, möchte ich wissen?«

Das Nest schien den beiden Frauen Leben zu gewinnen. Von jetzt an kam Miriam jeden Tag, um es anzusehen. Es schien ihr so nahestehend. Wieder einmal, als er mit dem Mädchen an der Hecke entlang schritt, bemerkte er Schellkraut, muschelförmige Goldfunken, am Grabenbord.

»Ich hab es gern,« sagte er, »wenn seine Blütenblätter vom Sonnenschein so ganz flach werden. Sie scheinen sich der Sonne entgegenzudrängen.«

Und von da an zog Schellkraut sie immer wie mit winziger Zauberkraft an. Da sie nun mal allem menschliche Bedeutung unterlegen mußte, so stachelte sie ihn an, die Dinge derart einzuschätzen, und dann bekamen sie Leben für sie. Es schien, als müßten die Dinge sich erst in ihrer Einbildung oder ihrer Seele entzünden, ehe sie sie wirklich besäße. Und vom gewöhnlichen Leben war sie durch ihre hochgespannte Frömmigkeit abgeschnitten, die die Welt entweder zum Klostergarten oder zu einem Paradies machte, wo es keine Sünde noch Erkenntnis gab, oder wenn schon, dann als häßliche, grausame Dinge.

So also, in diesem Dunstkreis feinster Vertraulichkeit, in diesem Zusammentreffen ihrer gemeinschaftlichen Gefühle für alles und jedes in der Natur, begann ihre Liebe zu entstehen.

Bei ihm selbst dauerte es lange Zeit, bevor ihm dies klar wurde. Zehn Monate lang mußte er nach seiner Krankheit zu Hause bleiben. Eine Zeitlang ging er mit seiner Mutter nach Skegneß und war dort vollkommen glücklich. Aber selbst von der See schrieb er lange Briefe an Frau Leivers über die Küste und die See. Und er brachte seine geliebten Skizzen von der flachen Lincolnküste mit, ängstlich besorgt, daß sie sie sähen. Sie fesselten die Leivers fast mehr als seine Mutter. Seine Kunst war es nicht, woraus Frau Leivers sich etwas machte; es war er selbst und seine Leistungen. Aber Frau Leivers und ihre Kinder wurden fast seine Schüler. Sie entflammten ihn und brachten ihn bei seiner Arbeit zum Glühen, während seiner Mutter Einfluß ihn eher ruhig machte, entschlossen, geduldig, verbissen, unermüdlich.

Er wurde bald gut Freund mit den Jungens, deren Rauheit nur äußerlich war. Sie besaßen alle, sobald sie Vertrauen hatten, eine seltene Sanftmut und Liebenswürdigkeit.

»Willst du mit mir auf die Stoppeln kommen?« fragte Edgar ein wenig zaghaft.

Paul ging mit Freuden und verbrachte den Nachmittag, indem er seinem Freunde hacken oder Rüben aussuchen half. Er pflegte mit den drei Brüdern in dem Heuhaufen auf dem Boden zu liegen und ihnen von Nottingham und Jordan zu erzählen. Sie wiederum lehrten ihn melken und ließen ihn kleine Arbeiten verrichten – Heu harken oder Rüben quetschen – grade so viel wie er Lust hatte. Um Mittsommer arbeitete er die ganze Heuernte hindurch mit ihnen, und dann hatte er sie liebgewonnen. Die Hausgenossen waren tatsächlich so sehr von aller Welt abgeschlossen. Sie kamen ihm jedoch wie die ›derniers fils d'une race épuisée‹ vor. Obgleich die Jungens stark waren und gesund, besaßen sie doch alle jene Überempfindlichkeit und jene Zurückhaltung, die sie so einsam, aber gleichzeitig auch zu so nahen, vertrauten Freunden machten, sobald man erst einmal ihr Vertrauen gewonnen hatte. Paul liebte sie innig und sie ihn auch.

Miriam kam später. Aber er war in ihr Leben eingetreten, bevor sie ein Mal in dem seinen hinterlassen hatte. Eines trüben Nachmittags, als die Männer auf dem Felde waren und der Rest in der Schule, und nur Miriam und ihre Mutter zu Hause, sagte das Mädchen zu ihm, nachdem sie erst noch ein Weilchen gezögert hatte:

»Hast du schon die Schaukel gesehen?«

»Nein,« antwortete er, »wo?«

»Im Kuhstall,« antwortete sie.

Sie zögerte immer, ehe sie ihm etwas anbot oder zeigte. Männer besitzen einen so anderen Wertmesser als Frauen, und ihre Lieblingssachen – die, die für sie Wert besaßen – hatten ihre Brüder so oft verspottet oder herabgesetzt.

»Denn komm,« erwiderte er aufspringend.

Es waren zwei Kuhställe da, einer an jeder Seite der Scheune. In dem niedrigeren, dunkleren Stalle waren Stände für vier Kühe. Hühner flogen scheltend über die Krippenwand, als der Junge und das Mädchen auf das dicke Tau zuschritten, das von dem Balken über ihren Köpfen aus der Dunkelheit herabhing, und über einen Pflock in die Wand geschlagen war.

»Das ist noch mal ein Tau!« rief er mit allen Zeichen der Billigung; und dann setzte er sich drauf, geprickelt es zu versuchen. Aber sofort stand er wieder auf.

»Denn komm, du zuerst,« sagte er zu dem Mädchen.

»Sieh,« antwortete sie und ging in die Scheune hinüber, »wir legen immer ein paar Säcke als Sitz unter«; und dann machte sie ihm die Schaukel bequem. Das machte ihr Vergnügen. Er hielt das Tau.

»Na, nun komm,« sagte er zu ihr.

»Nein, ich will nicht zuerst,« antwortete sie.

Sie trat in ihrer stillen, hochmütigen Art zur Seite.

»Warum nicht?«

»Fang du an,« bat sie.

Fast zum ersten Male in ihrem Leben hatte sie das Vergnügen, einem Manne nachzugeben, ihn zu verziehen. Paul sah sie an. »Na schön,« sagte er und setzte sich. »Paß auf!«

Mit einem Satz legte er los und flog im Augenblick hoch durch die Luft, fast aus der Scheunentür hinaus, deren obere Hälfte offen stand und draußen den rieselnden Regen sehen ließ, den schmutzigen Hof, das trostlos gegen den schwarzen Wagenschuppen sich drängende Vieh, und als Hintergrund des Ganzen die graugrüne Wand des Waldes. Sie stand unten in ihrer roten Pudelmütze und beobachtete ihn. Er sah zu ihr nieder, und sie sah, wie seine blauen Augen strahlten. »Das ist ja 'ne großartige Schaukel,« sagte er.

»Ja.«

Er flog durch die Luft, jede Fiber in ihm schwingend, wie ein Vogel, der sich vor Lust an der Bewegung fallen läßt. Und er sah wieder zu ihr nieder. Ihre rote Mütze hing ihr über die dunklen Locken, ihr wunderschönes warmes Gesicht, so still in seiner Nachdenklichkeit, war zu ihm emporgehoben. Es war dunkel und ziemlich kalt im Kuhstall. Plötzlich kam eine Schwalbe hoch von der Decke herab und schoß aus der Tür.

»Ich wußte nicht, daß der Vogel uns zuguckte,« sagte er. Er schaukelte sich voller Nachlässigkeit. Sie konnte seinen Fall und sein Sich-durch-die-Luft-wieder-Emporheben mitfühlen, als ruhte er auf irgendeiner Kraft.

»Nun will ich sterben,« sagte er mit einer losgelösten, träumerischen Stimme, als wäre er die sterbende Bewegung der Schaukel selbst. Bezaubert sah sie ihm zu. Plötzlich bremste er und sprang heraus.

»Ich bin aber lange dran gewesen,« sagte er. »Aber es ist auch 'ne großartige Schaukel, wirklich 'ne großartige Schaukel!«

Miriam freute sich, daß er die Schaukel so ernst nahm und so warm für sie empfand.

»Nein; schaukle du man weiter,« sagte sie.

»Wieso? Willst du denn nicht?« fragte er erstaunt.

»Ach, nicht sehr gern. Ich will wohl ein bißchen.«

Sie setzte sich, während er die Säcke für sie an rechter Stelle hielt.

»Es geht so fein!« sagte er, sie in Bewegung setzend. »Halte die Hacken hoch, sonst saust du gegen die Krippenwand.«

Sie empfand die Genauigkeit, mit der er sie wieder auffing, genau im rechten Augenblick, und die scharf abgemessene Kraft seines Stoßes, und wurde bange. Eine heiße Woge der Furcht ging ihr bis in die Eingeweide. Sie war in seiner Hand. Wieder, fest und unvermeidlich kam sein Stoß im rechten Augenblick. Fast schwindelnd hielt sie sich an dem Tau.

»Ach!« lachte sie. »Nicht höher!«

»Du bist aber noch kein bißchen hoch,« wandte er ein.

»Höher aber nicht.«

Er hörte die Furcht aus ihrer Stimme heraus und hörte auf. Ihr Herz schmolz in heißer Pein dahin, wenn der Augenblick kam, in dem er sie wieder vorwärtsstoßen sollte. Aber er ließ sie zufrieden. Sie begann aufzuatmen.

»Möchtest du wirklich nicht höher?« fragte er. »Soll ich sie so halten?«

»Nein, laß mich mal allein,« antwortete sie.

Er trat beiseite und sah ihr zu.

»Wieso, du bewegst dich ja kaum,« sagte er.

Sie lachte leicht vor Scham und war im Augenblick herunter.

»Es heißt, wenn man schaukeln kann, wird man nicht seekrank,« sagte er, als er sich wieder hineinsetzte. »Ich glaube, ich würde nie seekrank.«

Los ging er. Für sie lag etwas Bezauberndes in ihm. Für den Augenblick war er nichts als ein wenig schwingender Stoff; kein Teilchen an ihm, das nicht schwang. Sie konnte sich nie so ganz gehen lassen, und ihre Brüder auch nicht. Es regte eine gewisse Wärme in ihr an. Es war fast, als wäre er eine Flamme, die ihre innere Wärme entzündet hatte, während er so mitten durch die Luft fuhr.

Und allmählich verdichtete sich die Vertraulichkeit mit den Hausgenossen für Paul auf drei Personen – der Mutter, Edgar und Miriam. An die Mutter wandte er sich wegen jenes Mitgefühls und jenes Flehens, das ihn zu ihr zu ziehen schien. Edgar wurde sein bester Freund. Und zu Miriam ließ er sich mehr oder weniger herab, weil sie so demütig schien.

Aber allmählich suchte das Mädchen ihn auf. Wenn er sein Skizzenbuch mitbrachte, war sie es, die am längsten über dem neuesten Bilde hing. Dann pflegte sie zu ihm aufzusehen. Plötzlich mit einem Licht in ihren dunklen Augen, wie ein Wasser, in dem im Dunklen ein Goldstrom aufschimmert, konnte sie dann sagen:

»Warum gefällt mir dies so?«

Etwas in seiner Brust schreckte immer vor ihren nahen, vertrauten, betäubten Blicken zurück.

»Wieso?« fragte er. »Ich weiß nicht. Es scheint so lebenswahr.«

»Das kommt – das kommt, weil fast gar kein Schatten drin ist; es ist glitzernder, als hätte ich den glitzernden Urstoff in den Blättern und überall sonst gemalt, und nicht die steife Form. Die scheint mir immer tot. Erst dies Glitzern ist wahres Leben. Die Form ist tote Kruste. Der Schimmer sitzt wirklich drinnen.«

Und dann mußte sie, den kleinen Finger im Munde, über diese Aussprüche nachdenken. Sie gaben ihr wieder ein Gefühl von Leben und belebten Dinge für sie, die ihr früher nichts bedeutet hatten. Sie brachte es auch fertig, aus seinen mühsamen, unübersinnlichen Reden eine gewisse Bedeutung herauszufinden. Und sie wurden das Mittel, durch das sie in enge Fühlung mit ihren Lieblingsdingen geriet.

Eines andern Tags saß sie bei Sonnenuntergang bei ihm, während er ein paar Kiefern malte, die die rote Glut des West auffingen. Er hatte geschwiegen.

»Da hast du's!« sagte er plötzlich. »Das wollte ich haben. Nun sieh sie dir mal an und sag, sind das Kiefernstämme oder rote Kohlen, aufrechtstehende Feuerbrände in der Dunkelheit. Da hast du Gottes brennenden Busch, der sich im Feuer nicht verzehrte.«

Miriam sah hin und erschrak. Aber die Kiefernstämme waren ihr wundervoll und so deutlich. Er packte seinen Malkasten zusammen und stand auf. Plötzlich sah er sie an.

»Warum bist du immer so traurig?« fragte er sie.

»Traurig!« rief sie, mit erschreckten, wundervollen braunen Augen zu ihm aufsehend.

»Ja,« erwiderte er; »du bist immer, immer traurig.«

»Das bin ich gar nicht – oh, kein bißchen!« rief sie.

»Aber selbst deine Freude ist wie eine Flamme, die aus Traurigkeit herrührt,« beharrte er. »Du bist niemals fröhlich oder auch nur grade wohlgestimmt.«

»Nein,« sagte sie nachdenklich. »Ich verstehe auch nicht – warum.«

»Weil du's nicht bist; weil du innerlich ganz anders bist, wie eine Kiefer, und dann aufflammst; aber du bist nicht wie ein gewöhnlicher Baum, mit zitterigen Blättern und netten ,...«

Er hatte sich in seiner Rede verheddert; sie aber dachte darüber nach, und so überkam ihn eine seltsame, aufregende Empfindung, als wäre sein Fühlen ganz neu. Sie kam ihm so nahe. Es war seltsam reizvoll.

Dann haßte er sie zuweilen. Ihr jüngster Bruder war erst fünf. Er war ein gebrechliches Kerlchen, mit riesigen braunen Augen in seinem sonderbaren zarten Gesicht – einer aus Reynolds Engelschor mit einem Stich ins Elfische. Miriam kniete oft vor dem Kinde nieder und zog es an sich.

»Ach, mein Hubert!« sang sie mit einer von Liebe schweren, überladenen Stimme. »Ach, mein Hubert!«

Und ihn in die Arme schließend, wiegte sie sich leise von einer Seite zur anderen vor Liebe, das Gesicht halb erhoben, die Augen halb geschlossen, ihre Stimme durchtränkt mit Liebe.

»Nicht doch!« sagte das Kind unbehaglich; »nicht doch, Miriam!«

»Doch; du hast mich doch lieb, nicht?« murmelte sie tief in der Kehle, fast als läge sie im Zauberschlaf, und sich wiegend, als würde sie ohnmächtig vor verzückter Liebe.

»Nicht doch!« wiederholte das Kind, ein Runzeln auf seiner klaren Stirn.

»Du hast mich doch lieb, nicht?« murmelte sie.

»Was stellst du solche Geschichten mit ihm an?« rief Paul, der sehr unter ihren so tiefgehenden Bewegungen litt. »Warum kannst du ihn nicht behandeln wie andere auch?«

Sie ließ das Kind fahren, stand auf und sagte nichts. Ihre Überspanntheit, die kein Gefühl in seinem Urzustande beharren ließ, reizte den Jungen bis zur Wut. Und diese ihre fürchterliche, nackte Anschmiegsamkeit bei jeder noch so kleinen Gelegenheit stieß ihn ab. Er war an seiner Mutter Zurückhaltung gewöhnt. Und bei solchen Gelegenheiten war er in Herz und Seele dankbar dafür, eine so gesunde und verständige Mutter zu haben.

Miriams ganzes körperliches Leben lag in ihren Augen, die ungewöhnlich dunkel waren, wie eine dunkle Kirche, die aber mit einem Licht wie eine Feuersbrunst leuchten konnten. Ihr Gesicht trug kaum je einen andern Ausdruck als den des Nachdenkens. Sie hätte eine jener Frauen sein können, die nach Jesus Tode Maria begleiteten. Ihr Körper war nicht schmiegsam und lebendig. Sie ging mit Schwung, aber eher mit einem zu schweren, den Kopf vornübergeneigt, nachdenklich. Ungeschickt war sie nicht, und doch erschien keine ihrer Bewegungen ganz richtig. Oft konnte sie beim Abtrocknen des Geschirrs voller Erstaunen und Kummer dastehen, wenn sie eine Tasse oder ein Glas entzweigebrochen hatte. Es war, als wende sie in ihrer Furcht und bei ihrem mangelnden Selbstvertrauen zu viel Kraft an jede Leistung. Sie hatte keine Schlaffheit und keine Nachlässigkeit in sich. Alles war straff gespannt, und jede Anstrengung lief vor Überanstrengung in sich selbst zurück.

Ihren schwingenden, gradeaus gerichteten, gespannten Gang änderte sie nur selten. Gelegentlich lief sie einmal mit Paul die Felder hinunter. Dann glühten ihre Augen in einer Art unverhohlener Verzückung, die ihn erschreckte. Aber sie war noch sehr furchtsam. Mußten sie über einen Übergang klettern, so packte sie seine Hand in einer harten, kleinlichen Angst, und begann ihre Geistesgegenwart zu verlieren. Und er konnte sie nicht dazu überreden, auch nur mal aus ganz geringer Höhe herunterzuspringen. Ihre weitaufgerissenen Augen begannen zu zittern.

»Nein!« rief sie, halb lachend in ihrer Angst – »nein!«

»Du sollst aber,« rief er einmal, und sie vorwärts reißend, brachte er sie dazu, daß sie von dem Zaune herunterfiel. Aber ihr wildes, schmerzliches ›Ach!‹, als verliere sie das Bewußtsein, tat ihm weh. Sie kam indessen sicher auf die Füße und besaß späterhin auch in dieser Hinsicht Mut genug.

Sie war mit ihrem Lose sehr unzufrieden.

»Bist du denn nicht gern zu Hause?« fragte Paul sie überrascht.

»Wer könnte das wohl?« antwortete sie leise und gespannt.

»Was ist es denn? Den ganzen Tag muß ich reinmachen, was die Jungens in fünf Minuten wieder verschmutzen. Ich will nicht zu Hause bleiben.«

»Was möchtest du denn?«

»Ich möchte irgend etwas anfangen. Ich möchte meine Gelegenheiten ausnutzen, wie jede andere auch. Warum soll ich, bloß weil ich ein Mädchen bin, zu Hause gehalten werden und nichts anfangen dürfen? Was für 'ne Gelegenheit habe ich denn?«

»Gelegenheit wozu?«

»Irgendwas verstehen zu lernen, etwas zu tun. Es ist nicht recht, bloß weil ich ein Mädchen bin.«

Sie schien sehr bitter. Paul wunderte sich. Annie war zu Hause fast froh darüber, daß sie ein Mädchen war. Sie hatte so nicht so viel Verantwortlichkeit; die Verhältnisse lagen für sie leichter. Sie wollte nie etwas anderes sein als ein Mädchen. Aber Miriam wünschte sich leidenschaftlich, ein Mann zu sein. Und doch haßte sie gleichzeitig alle Männer.

»Aber es ist doch ebensogut eine Frau zu sein, als ein Mann,« sagte er mit einem Stirnrunzeln.

»Ach! So? Die Männer haben doch alles.«

»Ich sollte meinen, eine Frau könnte gradeso froh sein, eine Frau zu sein, wie ein Mann, daß er ein Mann ist,« antwortete er.

»Nein!« sie schüttelte den Kopf – »nein! Alles haben die Männer.«

»Aber was willst du denn?« fragte er.

»Ich möchte was lernen. Warum ist es denn notwendig, daß ich nichts weiß?«

»Wieso! Etwa Mathematik oder Französisch?«

»Ja, warum soll ich keine Mathematik verstehen? Ja!« rief sie, während sich ihre Augen in einer Art Herausforderung weiteten.

»Na, soviel wie ich weiß, kannst du ja lernen,« sagte er; »ich will dirs beibringen, wenn du Lust hast.«

Ihre Augen weiteten sich. Sie mißtraute ihm als Lehrer.

»Hast du Lust?« fragte er.

Sie senkte den Kopf und lutschte nachdenklich an den Fingern.

»Ja,« sagte sie zögernd.

Er pflegte seiner Mutter alles dieses zu erzählen.

»Ich will Miriam Algebra beibringen,« sagte er.

»Schön,« sagte Frau Morel. »Ich hoffe, sie gedeiht dabei!«

Als er am Montag abend nach dem Hof hinausging, näherte es sich schon dem Zwielicht. Miriam war grade beim Ausfegen der Küche und kniete auf der Herdmatte, als er eintrat. Alle außer ihr waren aus. Sie sah sich nach ihm um, errötete mit glänzenden Augen, während ihr feines Haar ihr ins Gesicht fiel.

»Hallo!« sagte sie weich und wohlklingend. »Ich wußte, du wärst es.«

»Wie denn?«

»Ich erkannte deinen Schritt. Niemand geht so rasch und fest.«

Er setzte sich seufzend nieder.

»Fertig für ein bißchen Algebra?« fragte er, ein kleines Buch aus der Tasche ziehend.

»Aber ,...«

Er konnte fühlen, wie sie auszuweichen strebte.

»Du sagtest doch, du wolltest gern,« drängte er sie.

»Ja, aber heute abend?« stotterte sie.

»Ich bin eigens deswegen gekommen. Und wenn du lernen willst, mußt du einmal den Anfang machen.«

Sie nahm ihr Fegeblech mit der Asche und sah ihn halb zitternd, aber doch lachend an.

»Ja, aber heute abend! Du siehst doch, ich habe gar nicht dran gedacht.«

»Ach, du meine Güte! Nimm deine Asche und komm.«

Er ging und setzte sich auf die Steinbank im Hinterhofe, wo die großen Milchkannen umgekehrt dastanden, um auszulüften. Die Männer waren in den Kuhställen. Er konnte den leisen Singsang der in die Eimer spritzenden Milch vernehmen. Da kam sie auch schon wieder, mit zwei großen, grünlichen Äpfeln.

»Die magst du gern, weißt du,« sagte sie.

Er nahm einen Bissen.

»Setz dich,« sagte er mit vollem Munde.

Sie war kurzsichtig und sah ihm über die Schulter. Das erregte ihn. Rasch gab er ihr das Buch.

»Hier,« sagte er. »Es sind bloß Buchstaben an Stelle von Ziffern. Du setzt ein ›a‹ für ›2‹ oder ›6‹.«

Sie arbeiteten, er redend, sie mit dem Kopfe auf das Buch niedergesenkt. Er war rasch und hastig. Sie antwortete nie. Gelegentlich, wenn er sie fragte: »Begreifst du's?« sah sie zu ihm auf, die Augen weit offen von jenem aus Furcht herrührenden Halblachen. »Begreifst du's denn nicht?« rief er.

Er war zu rasch weitergegangen. Aber sie sagte nichts. Er fragte sie weiter und wurde hitzig. Es erregte sein Blut, sie hier so zu sehen, dem Anschein nach ganz in seiner Hand, den Mund offen, die Augen weit geöffnet vor Lachen, das nur Furcht war, sich entschuldigend, beschämt. Da kam Edgar mit zwei Milcheimern vorbei.

»Hallo!« sagte er. »Was treibt ihr denn da?«

»Algebra!« erwiderte Paul.

»Algebra!« wiederholte Edgar neugierig. Dann schritt er lachend weiter. Paul biß ein Stück von seinem vergessenen Apfel ab, sah auf den jämmerlichen Kohl im Garten, der von dem Federvieh ganz zu Spitzen zerfressen war, und wünschte, er dürfte ihn ausreißen. Dann blickte er auf Miriam. Sie brütete über dem Buch, schien ganz von ihm hingenommen und doch zu zittern, vor Furcht, sie würde nicht eindringen können. Das machte ihn ärgerlich. Sie war rötlich und wunderschön. Aber ihre Seele erschien ein gespanntes Flehen. Sie machte das Algebrabuch zu, zurückschreckend, weil sie wußte, er wäre ärgerlich; und er wurde gleichzeitig sanft, weil er sah, sie war verletzt, weil sie es nicht begreifen konnte.

Aber solche Sachen gingen ihr nur langsam ein. Und wenn sie sich so fest zusammennahm, erschien sie ihm so durchaus demütig, daß es sein Blut zum Kochen brachte. Er brauste auf sie los, fühlte sich beschämt, fuhr mit der Aufgabe fort, und wurde wieder wütend und schalt sie. Sie hörte ihn schweigend an. Gelegentlich, aber nur sehr selten, verteidigte sie sich. Dann glühten ihre dunklen Augen ihn an.

»Du läßt mir ja keine Zeit zum Lernen,« sagte sie.

»Na, schön,« sagte er, während er das Buch auf den Tisch warf und sich eine Zigarette anzündete. Nach einer Weile kam er dann als reumütiger Sünder wieder zu ihr. So ging der Unterricht weiter. Er war immer entweder in Wut oder sehr sanft.

»Warum braucht denn deine Seele davor zu zittern?« rief er.

»Du lernst doch Algebra nicht mit der Seele. Kannst du sie nicht einfach mit deinem gesunden Menschenverstande betrachten?«

Frau Leivers konnte ihn oft, wenn er wieder in die Küche kam, vorwurfsvoll ansehen und sagen:

»Paul, sei doch nicht so hart mit Miriam. Sie mag ja nicht sehr rasch auffassen, aber ich bin gewiß, sie versuchts.«

»Ich kanns nicht helfen,« sagte er recht jämmerlich. »Ich gehe dann eben so los.«

»Du bist mir doch nicht böse, Miriam, nicht wahr?« fragte er dann später das Mädchen.

»Nein,« versicherte sie ihn mit ihrem wunderschönen, tiefen Tonfall – »nein, ich bin dir nicht böse.«

»Sei mir nicht böse; es ist ja meine Schuld.«

Aber trotzdem begann sein Blut bei ihr zu kochen. Es war seltsam, daß niemand sonst ihn in solche Wut versetzen konnte. Er flammte gegen sie auf. Einmal warf er ihr den Bleistift ins Gesicht. Es trat Schweigen ein. Sie wandte ihr Gesicht leicht zur Seite.

»Ich wollte dich nicht ,...« begann er, aber kam nicht weiter, so schwach fühlte er sich in allen Knochen. Sie machte ihm nie Vorwürfe oder war ärgerlich gegen ihn. Er schämte sich oft grausam. Aber trotzdem barst sein Ärger wieder wie eine überspannte Blase, und wenn er dann so ihr eifriges, stummes, allem Anschein nach ganz blindes Gesicht sah, dann bekam er immer Lust, ihr den Bleistift hineinzuwerfen; sah er dann aber ihre Hand zittern und ihren Mund vor Kummer geöffnet, dann versengte es ihm das Herz vor Schmerz um sie. Und grade wegen der Spannung, in die sie ihn versetzte, suchte er sie.

Dann aber vermied er sie häufig und ging mit Edgar. Miriam und ihr Bruder waren von Haus aus Gegensätze. Edgar war Vernunftsmensch, der neugierig war und auf seine Art künstlerischen Anteil am Leben nahm. Für Miriam war die Bitterkeit sehr groß, sich von Paul um Edgars willen verlassen zu sehen, der ihr so viel tieferstehend vorkam. Aber der Junge war sehr glücklich mit ihrem älteren Bruder. Die beiden verbrachten ganze Nachmittage auf dem Lande oder auf dem Heuboden beim Zimmern, wenn es regnete. Und sie redeten miteinander, und Paul lehrte Edgar die Lieder, die er selbst von Annie am Klavier gelernt hatte. Und oft hatten die Männer auch, Herrn Leivers mit eingeschlossen, bittere Auseinandersetzungen über die Verstaatlichung von Grund und Boden oder ähnliche Streitfragen. Paul hatte immer bereits seiner Mutter Ansichten gehört, und da diese einstweilen noch die seinen waren, so redete er durch sie. Miriam hörte zu und nahm auch daran teil, aber sie wartete doch die ganze Zeit über nur darauf, daß es zu Ende gehen und eine persönliche Unterhaltung einsetzen möchte.

»Schließlich,« sagte sie sich innerlich, »wenn der Boden auch verstaatlicht würde, Edgar und Paul und ich blieben deshalb doch dieselben.« Und so wartete sie auf die Rückkehr des Jungen zu ihr.

Er arbeitete eifrig an seiner Malerei. Er liebte es, abends zu Hause zu sitzen, allein mit seiner Mutter, arbeitend und arbeitend. Sie nähte oder las. Sah er dann von seiner Arbeit auf, so ruhten seine Augen wohl einen Augenblick auf ihrem von Lebenswärme erhellten Gesicht, und dann kehrte er froh an seine Arbeit zurück.

»Meine besten Sachen kann ich immer machen, wenn du in deinem Schaukelstuhl sitzt, Mutter,« sagte er.

»Ganz sicher!« rief sie, mit geheucheltem Zweifel die Nase rümpfend. Aber sie fühlte doch, es war so, und ihr Herz zitterte vor Seligkeit. Viele Stunden lang saß sie ganz still nur oberflächlich bewußt, daß er dort drauflos arbeitete während sie handarbeitete oder ein Buch las. Und während seine Seelenspannung ihm den Pinsel führte, konnte er ihre Wärme wie eine Art innerer Kraft verspüren. Sie waren beide sehr glücklich so, ohne daß es ihnen bewußt geworden wäre. Diese Zeit, die für sie beide so viel bedeutete und die wirkliches Leben war, bemerkten sie beide nicht.

Er kam nur zum Bewußtsein, wenn er gereizt wurde. Sobald eine Skizze fertig war, wollte er sie immer gern zu Miriam bringen. Dann erst fühlte er sich zur Erkenntnis des Werkes angestachelt, das er unbewußt hervorgebracht hatte. In Berührung mit Miriam gewann er Einsicht; seine Erscheinungswelt vertiefte sich. Von seiner Mutter bekam er Lebenswärme, Schaffenskraft; Miriam fachte diese Kraft zur Weißgluthitze an.

Als er zu seiner Werkstätte zurückkehrte, waren die Arbeitsbedingungen dort besser geworden. Er hatte Mittwoch nachmittags frei, um zur Kunstschule gehen zu können – durch Fräulein Jordans Fürsorglichkeit – und kam dann abends wieder. Auch schloß die Werkstatt Donnerstag und Freitag abends um sechs statt um acht.

Eines Sommerabends gingen Miriam und er auf ihrem Heimwege von der Bücherei über die Felder beim Herodeshofe. So war es nur drei Meilen bis zum Willeyhofe. Eine gelbe Glut lag über dem schnittfähigen Gras, und der Sauerampfer brannte blutrot. Allmählich, wie sie über das hochliegende Land dahinschritten, sank das Gold im Westen zum Rot herab, das Rot zum Purpur, und dann kroch ein kaltes Blau gegen die Glut empor.

Sie kamen auf die zwischen dunkelnden Feldern dahinlaufende Landstraße nach Alfreton. Hier hielt Paul an. Für ihn waren es zwei Meilen nach Hause, für Miriam eine. Sie blickten beide die Straße hinauf, die im Schatten unmittelbar unter der Glut des Nordwesthimmels dahinlief. Auf dem Kamme des Hügels stand Selby mit seinen starren Häusern und stacheligen Fördertürmen wie ein winziger schwarzer Schattenriß gegen den Himmel.

Er sah nach der Uhr.

»Neun Uhr!« sagte er.

Unwillig, sich zu trennen, stand das Paar da, seine Bücher an sich drückend.

»Das Holz ist jetzt so entzückend,« sagte sie. »Ich möchte so gern, du hättest es gesehen.«

Langsam folgte er ihr über den Weg bis an das weiße Gatter.

»Sie brummen so, wenn ich zu spät komme,« sagte er.

»Aber du tust doch nichts Böses,« antwortete sie ungeduldig. Er folgte ihr in der Dämmerung über die abgefressene Weide. Im Holze herrschte Kühle, ein Duft von Blättern, von Jelängerjelieber, und Zwielicht. Die beiden schritten in Schweigen einher. Wundervoll brach die Nacht herein hier im Gedränge der dunklen Baumstämme. Voller Erwartung sah er sich um.

Sie wollte ihm einen wilden Rosenstrauch zeigen, den sie entdeckt hatte. Sie wußte, er war wunderschön. Und doch, ehe er ihn nicht gesehen hätte, fühlte sie, gelangte er nicht zu ihrer Seele. Nur er konnte ihn ihr zugehörig machen, unsterblich. Sie war unzufrieden.

Auf den Pfaden taute es bereits. In dem alten Eichenhain hoben sich Nebel vom Boden empor, und er zauderte, voller Verwunderung, ob ein weißer Streifen nur ein Nebelstreif sei oder ein Haufen Lichtnelken, gleich einer blassen Wolke.

Als sie schließlich zu den Kiefern kamen, wurde Miriam sehr eifrig und gespannt. Ihr Strauch möchte hin sein. Vielleicht wäre sie nicht imstande, ihn zu finden; und das wollte sie doch so gern. Fast leidenschaftlich wünschte sie dabei zu sein, wenn er vor den Blüten stände. Das würde ein gemeinschaftliches Abendmahl bedeuten – etwas Ergreifendes, Heiliges. Er schritt in Schweigen neben ihr her. Sie waren einander sehr nahe. Sie zitterte, und er lauschte in unbestimmter Furcht.

Als sie an den Rand des Gehölzes kamen, sahen sie vor sich den Himmel durch die Bäume wie Perlmutter, und die dunkler werdende Erde. Irgendwo an den äußersten Zweigen der Kiefernschonung strömte Jelängerjelieber seinen Duft aus.

»Wo?« fragte er.

»Den mittleren Pfad hinunter,« murmelte sie zitternd.

An einer Biegung des Pfades stand sie still. In dem weiten Raum zwischen den Kiefernstämmen konnte sie, voller Furcht umherblickend, zuerst ein paar Augenblicke nichts erkennen; das grauer werdende Licht beraubte die Gegenstände ihrer Farbe. Dann sah sie ihren Strauch.

»Ach!« rief sie, vorwärtseilend.

Es war sehr still. Der Strauch war hoch und weitausladend. Er hatte seine Ranken über einen Rotdornbusch geworfen, und seine langen Zweige schleiften dick durch das Gras, überall die Dunkelheit mit verstreuten Sternen von reinstem Weiß übersprenkelnd. In Buckeln von Elfenbein und großen, versprengten Sternen glühten die Rosen auf der Dunkelheit ihres Laubes und der Stiele und des Grases. Paul und Miriam standen dicht nebeneinander, schweigend, und betrachteten ihn. Stern auf Stern leuchteten die Rosen still zu ihnen empor und schienen etwas in ihren Seelen zu entzünden. Wie Rauch stieg die Dämmerung um sie her empor und löschte ihre Rosen doch noch nicht aus.

Paul sah Miriam in die Augen. Sie war blaß und erwartungsvoll vor Staunen, die Lippen geöffnet, und ihre dunklen Augen lagen offen vor ihm. Sein Blick schien sich in ihr Inneres zu senken. Ihre Seele bebte. Es war das ersehnte Abendmahl. Er wandte sich wie vor Schmerz zur Seite. Dann wieder zu dem Strauch.

»Sie scheinen sich wie Schmetterlinge zu bewegen und sich zu schütteln,« sagte er.

Sie blickte auf die Rosen. Sie waren weiß, einzelne erst halb geöffnet und heilig, andere in Verzückung erschlossen. Der Strauch selbst war dunkel wie ein Schatten. In innerlichem Antrieb hob sie die Hand zu den Blüten empor; sie trat auf sie zu und berührte sie voller Verehrung.

»Laß uns gehen,« sagte er.

Ein kühler Duft von Elfenbeinrosen herrschte – ein weißer, jungfräulicher Duft. Etwas machte ihn sich ängstlich und wie gefangen fühlen. Sie schritten beide in Schweigen dahin.

»Bis Sonntag,« sagte er ruhig und ließ sie allein; und sie ging langsam heimwärts, in ihrer Seele ein Gefühl des Befriedigtseins durch die Heiligkeit des Abends. Er stolperte den Pfad hinunter. Und sobald er aus dem Holze war, auf der freien, offenen Wiese, wo er wieder atmen konnte, da begann er zu laufen, was er nur konnte. Es war etwas wie eine köstliche Raserei in seinen Adern.

Immer wenn er mit Miriam ausgewesen war und es etwas spät wurde, dann wußte er, seine Mutter sorgte sich und würde ärgerlich mit ihm sein – warum, vermochte er nicht zu begreifen. Als er ins Haus trat und seine Mütze von sich warf, sah seine Mutter in die Höhe nach der Uhr. Sie hatte gesessen und nachgedacht, weil eine Augenerkältung sie am Lesen verhinderte. Sie konnte fühlen, wie Paul durch dieses Mädchen von ihr weggezogen wurde. Und sie machte sich nichts aus Miriam. »Sie ist eine von denen, die einem Manne die Seele aussaugen, bis nichts mehr davon über ist,« sagte sie zu sich selbst; »und er ist grade so'n Wickelkind, das sich aussaugen läßt. Sie wird ihn nie zum Manne werden lassen; niemals.« So arbeitete Frau Morel sich in Zorn, während er mit Miriam aus war.

Sie sah auf die Uhr und sagte kalt und ziemlich müde:

»Du bist heut abend ja wohl weit genug gewesen.«

Seine Seele, warm und ungeschützt durch die Berührung mit dem Mädchen, schrak zurück.

»Du mußt sie jawohl ganz nach Hause gebracht haben,« fuhr seine Mutter fort.

Er wollte nicht antworten. Frau Morel sah mit einem raschen Blick auf ihn, daß ihm das Haar auf der Stirn ganz naß war vor Eile, und wie er in seiner schweren Weise übelnehmerisch die Brauen zusammenzog.

»Sie muß ja wunderbar bezaubernd sein, daß du dich nicht von ihr losmachen kannst, sondern um diese Nachtzeit acht Meilen hinter ihr herrennst.«

Er fühlte sich nach dem eben vergangenen Zauber mit Miriam verletzt durch die Erkenntnis, daß seine Mutter sich sorgte. Er hatte vorgehabt, nichts zu sagen, jede Antwort zu verweigern. Aber er konnte sein Herz nicht so weit verhärten, seine Mutter zu übersehen.

»Ich spreche so gern mit ihr,« antwortete er gereizt.

»Hast du denn sonst niemand, mit dem du sprechen kannst?«

»Wenn ich mit Edgar ginge, würdest du doch nichts sagen.«

»Du weißt, daß ich das doch tun würde. Du weißt, ganz einerlei mit wem du gehst, ich würde immer sagen, es wäre zu weit für dich, so weit und so spät in der Nacht herumzuziehen, nachdem du in Nottingham gewesen bist. Außerdem« – ihre Stimme blitzte plötzlich in Ärger und Verachtung auf – »ist es ekelhaft – dies Liebeln zwischen solchen Bißchen von Jungens und Mädchen.«

»Wir liebeln doch gar nicht,« rief er.

»Ich weiß nicht, wie du es anders nennen willst.«

»Es ist es aber nicht! Glaubst du, wir machten uns lächerlich und so? Wir sprechen nur zusammen.«

»Bis weiß der Herrgott wieviel Uhr und wie weit,« war die Antwort.

Paul riß ärgerlich an seinen Stiefelschnüren.

»Was hast du dich eigentlich so wahnsinnig?« fragte er.

»Doch bloß, weil du sie nicht leiden magst.«

»Ich sage nicht, daß ich sie nicht leiden mag. Aber ich halte nichts davon, wenn Kinder so miteinander umgehen, und habe es nie getan.«

»Aber daß unsere Annie mit Jim Inger geht, daraus machst du dir nichts.«

»Die sind viel verständiger als ihr beiden.«

»Wieso?«

»Unsere Annie gehört nicht zu der tiefen Sorte.«

Den Sinn dieser letzten Bemerkung konnte er nicht begreifen. Aber seine Mutter sah etwas müde aus. Nach Williams Tode war sie nie mehr recht kräftig gewesen; und ihre Augen schmerzten sie.

»Ach,« sagte er, »es ist so schön auf dem Lande. Herr Sleath fragte nach dir. Er sagte, er vermißte dich. Gehts dir etwas besser?«

»Ich hätte längst im Bett liegen müssen,« erwiderte sie.

»Wieso, Mutter, vor ein Viertel nach zehn wärest du ja doch nicht zu Bett gegangen.«

»O doch, ganz gewiß!«

»Ach, kleine Frau, nun du wütend auf mich bist, sagst du auch alles und jedes, nicht?«

Er küßte ihre so wohlbekannte Stirn: die tiefen Male zwischen den Brauen, das aufsteigende, nun ergrauende feine Haar und den stolzen Schläfenansatz. Seine Hand blieb nach seinem Kusse zögernd auf ihrer Schulter liegen. Dann ging er langsam zu Bett. Er hatte Miriam vergessen; er sah nur noch, wie sich seiner Mutter Haar von der warmen, breiten Stirn abhob. Und sie war jedenfalls gekränkt.

Das nächstemal, als er Miriam dann sah, sagte er:

»Laß mich heute nicht zu spät gehen – nicht später als zehn. Meine Mutter regt sich so auf.«

Miriam ließ den Kopf sinken und brütete.

»Worüber regt sie sich denn auf?« fragte sie.

»Sie sagt, ich sollte nicht mehr so spät draußen sein, wenn ich so früh wieder aufstehen muß.«

»Na gut,« sagte Miriam, ziemlich ruhig, aber ein ganz klein wenig höhnisch.

Das nahm er übel. Und in der Regel verspätete er sich wieder.

Daß zwischen ihm und Miriam Liebe im Aufkeimen war, hätte keiner von beiden zugegeben. Er hielt sich für zu gesund für solche Gefühlsduseleien, und sie dachte, sie stände zu hoch darüber. Sie gelangten beide spät zur Reife, und ihre seelische Reife war noch weit hinter ihrer körperlichen zurück. Miriam war übermäßig empfindlich, wie ihre Mutter es stets gewesen war. Die geringste Plumpheit ließ sie sich ängstlich zurückziehen. Ihre Brüder waren grob, aber doch nicht gemein in ihren Reden. Alle Hofgeschäfte besprachen die Männer draußen. Aber Miriam war vielleicht grade wegen des ewigen Gebärens und Zeugens, das sich auf jedem Hofe zuträgt, besonders empfindlich gegen derartige Vorgänge, und ihr Blut war so weit verfeinert, daß auch die leiseste Andeutung einer solchen Unterhaltung sie mit Abscheu erfüllte. Paul nahm diese Gewohnheit von ihr an, und so verlief ihre Vertraulichkeit in äußerst reiner, keuscher Art. Es hätte gar nicht erwähnt werden können, daß die Stute ein Fohlen bekomme.

Als er neunzehn war, verdiente er erst ein Pfund die Woche, aber er war glücklich. Seine Malerei ging gut weiter, und sein Leben gut genug. Zum Karfreitag verabredete er einen Ausflug nach dem Hemlock-Steine. Drei Burschen seines Alters waren dabei, und ferner Annie und Arthur, Miriam und Gottfried. Arthur, jetzt Elektrikerlehrling in Nottingham, war für die Feiertage zu Hause. Morel war wie gewöhnlich früh auf den Beinen und pfiff und sägte draußen im Hofe. Um sieben Uhr hörten die Seinen ihn für drei Groschen Heißwecken kaufen; vergnügt redete er auf das Mädchen ein, das sie brachte, und nannte sie ›mein Liebchen‹. Ein paar Jungen, die auch noch mit Wecken kamen, jagte er von dannen und erzählte ihnen, sie wären von einem kleinen Mädel ›vorbeijeloofen‹. Dann stand Frau Morel auf, und die Hausgenossen kletterten nach unten. Es war für sie alle etwas riesig Üppiges, dies über die gewöhnliche Werkstattzeit hinaus Im-Bette-Liegen. Und Paul und Arthur lasen vor dem Frühstück und aßen ungewaschen in Hemdärmeln. Dies war eine andere Festtagsüppigkeit. Das Zimmer war warm. Alles fühlte sich von Sorge und Not befreit. Es herrschte ein Gefühl von Überfluß im Hause.

Während die Jungens noch lasen, ging Frau Morel in den Garten. Sie lebten jetzt in einem andern Hause, einem alten, dicht bei dem Scargill-Straßen-Hause, das bald nach Williams Tode verlassen worden war. Sofort ertönte ein erregter Ausruf vom Garten her:

»Paul! Paul! komm, sieh mal!«

Es war seiner Mutter Stimme. Er warf sein Buch hin und ging hinaus. Es war ein langer Garten, der auf ein Feld zulief. Ein grauer, kalter Tag wars, mit einem scharfen Wind aus Derbyshire herüber. Zwei Felder weiter fing Bestwood an, mit einem Wirrwarr roter Dächer und Giebelwände, aus denen sich der Kirchturm und der Dachreiter der freien Gemeinde hervorhoben. Und darüber hinaus lagen Wälder und Hügel, bis ganz an die blaßgrauen Höhen der Penninischen Kette hinan.

Paul sah den Garten hinunter nach seiner Mutter aus. Ihr Kopf erschien zwischen den jungen Johannisbeerbüschen.

»Komm hier!« rief sie.

»Wozu?« antwortete er.

»Komm und sieh!«

Sie hatte sich die Knospen der Johannisbeeren angesehen. Paul kam zu ihr.

»Sollte mans glauben,« sagte sie, »daß ich so was hier je zu sehen kriegen würde!«

Ihr Sohn trat ihr zur Seite. Auf einem kleinen Beet unten am Zaune stand ein Häufchen armseliger, grasartiger Blätter, wie sie aus schlecht ausgereiften Zwiebeln hervorsprießen, und drei Scylla in Blüte. Frau Morel wies auf die tiefblauen Blüten.

»Nun sieh doch nur!« rief sie. »Ich sah nach den Johannisbeerbüschen, und da denke ich mit einemmal bei mir, ›da ist ja etwas merkwürdig Blaues; ist das vielleicht ein Stück Zuckertüte?‹ Und da, sieh! Zuckertüte! Drei Schneeglanz, und so wunderschöne! Aber wo kommen die bloß her?«

»Ich weiß nicht,« sagte Paul.

»Na, das ist doch ein reines Wunder! Ich dachte, ich kennte jedes Kraut und jeden Halm hier im Garten. Aber sind sie nicht schön geworden? Siehst du, der Stachelbeerbusch schützt sie grade. Nicht angefroren, nicht abgepickt!«

Er kauerte sich nieder und kehrte die Glocken der kleinen blauen Blüten nach oben.

»Eine prachtvolle Farbe haben sie!« sagte er.

»Nicht wahr?« rief sie. »Ich vermute, sie kommen aus der Schweiz, wo sie ja wohl viele so reizende Sachen haben. Stell dir die mal gegen den Schnee vor! Aber wo sind sie bloß hergekommen? Sie können hier doch nicht hergeweht sein, nicht?«

Da erinnerte er sich, er habe hier einen Haufen kleiner Zwiebeln zum Ausreifen ausgesetzt.

»Und das hast du mir nie gesagt,« sagte sie.

»Nein; ich dachte, ich wollte sie so lassen, bis sie blühten.«

»Und nun, siehst du! Ich hätte sie doch auch verpassen können. Und ich habe noch nie in meinem Leben einen Schneeglanz in meinem Garten gehabt.«

Sie war voller Aufregung und Erhebung. Der Garten war ihr eine endlose Freude. Paul war ihretwegen dankbar, daß sie endlich in einem Hause mit einem langen Garten waren, der bis an ein Feld ging. Jeden Morgen nach dem Frühstück ging sie hinaus und war glücklich, in ihm herumzupüttjern. Und es war wahr, sie kannte jedes Kraut und jeden Halm.

Nun kam alles für den Ausflug zusammen. Essen wurde eingepackt, und sie zogen los, eine vergnügte, fröhliche Gesellschaft. Sie lehnten sich über die Brüstung beim Mühlenwehr, ließen Papierstückchen an einer Seite des Durchlasses ins Wasser fallen und paßten auf, wie es am andern Ende wieder hervorschoß. Sie blieben auf der Fußgängerbrücke über die Boothaus-Haltestelle stehen und blickten auf die kalt glitzernden Schienen hinunter.

»Solltet hier mal um halb sieben den ›Fliegenden Schotten‹ durchkommen sehen!« sagte Leonhart, dessen Vater Weichensteller war. »Jungens, saust der aber!« Und die kleine Gesellschaft sah die Strecke in der einen Richtung nach London hinauf und in der andern nach Schottland zu und fühlte die Berührung dieser beiden zauberischen Punkte.

In Ilkeston standen die Bergleute haufenweise auf die Öffnung der Wirtshäuser wartend da. Es war eine Stadt des Nichtstuns und Bummelns. Die Eisengießerei in Stanton-Gate glühte. Über alles gab es große Auseinandersetzungen. Bei Trowell kreuzten sie abermals aus Derbyshire nach Nottinghamshire hinüber. Um die Essenszeit kamen sie an den Hemlock-Stein. Seine Umgebung war gedrängt voller Menschen aus Nottingham und Ilkeston.

Sie hatten ein verehrungswürdiges, erhabenes Denkmal erwartet. Sie fanden einen kleinen, verwitterten, verknubbelten Felsstumpf, etwas wie einen verwesten Pilz, kummervoll an der Seite eines Feldes stehend. Leonhart und Dick gingen sofort daran, ihre Anfangsbuchstaben, ›L. W.‹ und ›R. P.‹, in den alten roten Sandstein hineinzuschneiden; Paul aber hielt sich zurück, denn er hatte in der Zeitung spöttische Bemerkungen über diese Buchstabenschneider gelesen, die keinen andern Weg zur Unsterblichkeit finden könnten. Dann kletterten die Jungens alle oben auf den Stein, um Ausschau zu halten.

Überall auf dem Felde drunten aßen Arbeiterjungens und -mädchen ihr Frühstück oder spielten umher. Jenseits lag der Garten eines alten Herrenhofes. Er hatte Eibenhecken und dicke Klumpen und Einfassungen von gelben Krokus um seine Rasenflächen.

»Sieh mal!« sagte Paul zu Miriam, »was für ein stiller Garten!«

Sie sah die dunklen Eiben und die goldenen Krokus und blickte dann dankbar zu ihm auf. Unter all den andern hatte er ihr gar nicht zu gehören geschienen; da war er ganz anders gewesen, nicht ihr Paul, der das leiseste Beben ihrer innersten Seele verstand, sondern ein anderer, der eine andere Sprache sprach als sie. Aber das tat ihr weh und ertötete ihr gesamtes Empfindungsvermögen. Erst wenn er wieder ganz zu ihr zurückkam und sein anderes Ich, das geringere, wie sie dachte, hinter sich ließ, dann fühlte sie sich wieder lebendig. Und nun bat er sie, sich diesen Garten anzusehen, und wünschte erneute Berührung mit ihr. Ungeduldig mit der Gesellschaft auf dem Felde wandte sie sich dem stillen, von Büscheln noch geschlossener Krokus eingefaßten Rasen zu. Ein Gefühl von Stille, fast von Verzückung kam über sie. Es war beinahe so, als wäre sie allein in diesem Garten mit ihm.

Dann verließ er sie wieder und trat zu den andern. Bald brachen sie nach Hause auf. Miriam kam als Nachzüglerin hinterher, allein. Sie paßte nicht zu den andern; sie konnte nur sehr selten mit jemand anders zu menschlichen Beziehungen gelangen: daher war ihr Freund, ihr Gefährte, ihr Liebhaber die Natur. Sie sah die Sonne bleich untergehen. In den dämmernden, kalten Hecken hingen einzelne rote Blätter. Sie blieb zurück, um sie zart, voller Leidenschaft zu sammeln. Die Liebe in ihren Fingerspitzen liebkoste die Blätter; die Leidenschaft ihres Herzens brach auf den Blättern in Glut aus.

Plötzlich merkte sie, daß sie auf einem ihr unbekannten Wege ganz allein war, und eilte vorwärts. Als sie um eine Ecke bog, stieß sie auf Paul, der über irgend etwas gebeugt dastand, seine ganze Aufmerksamkeit schien darauf gerichtet, und er arbeitete stetig, geduldig, ein wenig hoffnungslos darauflos. Sie zauderte in ihrer Annäherung, um ihn zu beobachten.

In tiefen Gedanken stand er mitten auf dem Wege. Ein reicher Goldstreifen an dem im übrigen farblosen grauen Himmel in seinem Rücken ließ ihn als dunkles, erhabenes Bild dastehen. Schlank und fest sah sie ihn dastehen, als schenke die scheidende Sonne ihn ihr. Ein tiefer Schmerz ergriff sie, und sie erkannte, sie müsse ihn lieben. Und sie hatte ihn entdeckt, hatte seine seltene Fähigkeit entdeckt, hatte seine Einsamkeit entdeckt. Bebend wie vor einer ›Verkündigung‹ schritt sie langsam vorwärts.

Endlich blickte er auf.

»Was?« rief er dankbar; »hast du auf mich gewartet?«

Sie sah einen tiefen Schatten in seinen Augen.

»Was ist denn?« fragte sie.

»Die Feder hier ist gebrochen,« und er zeigte ihr, wo sein Schirm zerbrochen war.

Sofort wußte sie mit einem gewissen Schamgefühl, nicht er hätte den Schaden angerichtet, sondern Gottfried wäre dafür verantwortlich.

»Es ist bloß ein alter Schirm, nicht wahr?« fragte sie.

Sie wunderte sich, warum er, der für gewöhnlich sich um Kleinigkeiten nicht kümmerte, aus diesem Maulwurfshügel einen solchen Berg machte.

»Aber er gehörte William, und meine Mutter muß es zu wissen kriegen,« sagte er ruhig, immer noch geduldig an dem Schirm weiterarbeitend.

Die Worte durchfuhren Miriam wie eine Schwertklinge. Dies war also die Bestätigung ihres Traumbildes von ihm. Sie sah ihn an. Aber es lag eine gewisse Zurückhaltung über ihm, und sie wagte nicht, ihn zu trösten oder auch nur selbst sanft zu ihm zu sprechen.

»Komm,« sagte er; »ich kanns nicht.« Und in Schweigen zogen sie ihres Weges weiter.

Denselben Abend gingen sie unter den Bäumen des Netherholzes entlang. Er redete verdrossen auf sie ein und schien nach Selbstüberzeugung zu ringen.

»Weißt du,« sagte er mit Anstrengung, »wenn der eine liebt, muß es der andere auch.«

»Ach!« antwortete sie. »Grade wie Mutter zu mir sagte, als ich noch klein war: ›Liebe erzeugt Gegenliebe‹.«

»Ja, ungefähr so muß es wohl sein, denke ich.«

»Ich hoffe, denn wenn es nicht so wäre, dann wäre die Liebe etwas Furchtbares,« sagte sie.

»Ja, aber das ist sie auch – wenigstens bei den meisten,« antwortete er.

Und Miriam, die nun glaubte, er habe sich vergewissert, fühlte sich sehr stark. Sie betrachtete immer dies plötzliche Auf-ihn-Stoßen in dem Feldwege wie eine Enthüllung. Und diese Unterhaltung blieb ihrem Geiste eingegraben wie der Buchstabe des Gesetzes.

Nun stand sie neben ihm und vor ihm. Wenn er um diese Zeit die Gefühle der Hausgenossen auf dem Willeyhofe durch eine anmaßende Beleidigung verletzte, so hielt sie zu ihm und glaubte ihn im Recht. Und zu dieser Zeit hatte sie lebhafte Träume von ihm, unvergeßliche. Diese Träume kamen später wieder, nachdem sie sich zu einer feineren, vergeistigteren Stufe entwickelt hatten.

Am Ostermontag unternahm dieselbe Gesellschaft einen Ausflug nach Wingfield Manor. Für Miriam war es eine große Aufregung, an der Sethleybrücke einen Zug zu besteigen, inmitten all des Getümmels einer Bankfeiertagsmenge. Sie verließen den Zug in Alfreton. Paul wurde durch die Straßen und die Bergleute mit ihren Hunden in Anspruch genommen. Hier gab es eine ihm ganz neue Art von Bergleuten. Miriam lebte gar nicht, bis sie an die Kirche kamen. Sie waren alle etwas bange davor, mit ihren Frühstückstüten einzutreten, aus Furcht, wieder hinausgewiesen zu werden. Leonhart, ein spaßhafter dünner Bursche, ging voran; Paul, der lieber gestorben wäre, als daß er sich hätte zurückschicken lassen, war der letzte. Der Raum war für Ostern geschmückt. Im Taufbecken schienen Hunderte von weißen Narzissen zu blühen. Die Luft war dämmerig und farbig von den Fenstern her und von einem leichten Lilien- und Narzissenduft durchzittert. In einem solchen Dunstkreis geriet Miriams Seele in Glut. Paul fürchtete sich, etwas zu tun, was er nicht dürfe, und er war sehr empfindsam für die Stimmung des Ortes. Miriam wandte sich zu ihm. Er antwortete. Sie waren zusammen. Er wollte die Altarschranken nicht überschreiten. Sie liebte ihn deswegen. Ihre Seele wurde in seiner Nähe ein Gebet. Er empfand den seltsamen Zauber schattiger Gotteshäuser. Der ganze in ihm ruhende Hang zum Geheimnisvollen lebte auf. Sie wurde zu ihm hingezogen. An ihrer Seite wurde er zum Gebet.

Miriam sprach sehr selten zu den andern Burschen. In der Unterhaltung mit ihr wurden sie sofort unbeholfen. Daher war sie meistens stumm.

Es war bereits über Mittag, als sie den steilen Pfad zum Herrenhause emporklommen. Alles bekam einen weichen Glanz in der wundervoll warmen und belebenden Sonne. Schellkraut und Veilchen waren heraus. Jedermann war bis zum Überlaufen voller Glück. Der Glanz des Efeus, das weiche Luftgrau der Schloßmauern, die Weichheit von allem in der Umgebung der Trümmer war vollkommen.

Das Herrenhaus besteht aus hartem, blaßgrauem Stein, und seine Außenmauern sind glatt und ruhig. Die jungen Leute waren ganz außer sich. In zitternder Aufregung gingen sie umher und fürchteten beinahe, die Freude der Erkundung dieser Trümmer möchte ihnen verwehrt werden. In dem ersten Hofe innerhalb der hohen, zerstörten Mauern standen Ackerwagen, die Deichseln lose zu Boden hängend, die Radreifen leuchtend von goldrotem Rost. Es war sehr still.

Alle bezahlten schleunigst ihre sechs Pence und durchschritten furchtsam den feinen reinen Bogen des inneren Hofes. Sie waren scheu. Hier, wo die Halle gestanden hatte, sproßte auf dem Pflaster ein alter Dornbusch. Alle möglichen Arten von seltsamen Öffnungen und zerbrochenen Räumen lagen im Schatten um sie her.

Nach dem Frühstück gingen sie abermals an die Erforschung der Trümmer. Diesmal gingen die Mädchen mit den jungen Burschen, die nun als Führer und Erklärer dienen konnten. Da stand ein hoher Turm in einer Ecke, ziemlich zerfallen, von dem es hieß, Maria, die Königin der Schotten, hätte in ihm gefangen gesessen.

»Stell dir mal vor, wie die Königin hier hinaufging!« sagte Miriam mit leiser Stimme, als sie die hohlgetretenen Stufen hinaufkletterten.

»Wenn sie das überhaupt konnte,« sagte Paul, »denn sie hatte das Reißen wie nichts Gutes. Ich glaube, sie behandelten sie schäbig.«

»Meinst du nicht, daß sie das verdient hatte?« fragte Miriam.

»Nein, ganz und gar nicht. Sie war nur etwas lebenslustig.«

Sie fuhren fort, die Wendeltreppe emporzusteigen. Ein kräftiger Wind, der durch die Schießscharten hereinblies, sauste das Treppenhaus empor und füllte die Röcke des Mädchens wie einen Ball, so daß sie sich schämte, bis er den Saum ihres Kleides faßte und niederhielt. Er tat das so einfach, als hätte er ihren Handschuh aufgehoben. Sie mußte immer daran denken.

Rund um den zerbrochenen oberen Rand des Turmes grünte Efeu, alt und schön. Auch ein paar dürftige Levkoien standen hier mit blassen, kalten Knospen. Miriam wollte sich überneigen, um sich etwas Efeu zu pflücken, aber das erlaubte er ihr nicht. Statt dessen hatte sie hinter ihm zu warten und von ihm jeden Efeuzweig einzeln hinzunehmen, wie er ihn abpflückte und ihr hinreichte in reinster Ritterlichkeit. Der Turm schien im Winde zu schwanken. Sie blickten über Meilen und Meilen bewaldeten Landes und Bodens mit einzelnen Weideflecken hin.

Die Burgkapelle unter dem Herrenhause war wunderschön und vollkommen erhalten. Paul machte eine Zeichnung; Miriam blieb bei ihm. Sie dachte an Maria, die Königin der Schotten, wie sie mit überanstrengten, hoffnungslosen Augen, die ihr eigenes Unglück nicht begreifen konnten, über die Hügel hinwegblickte, von wo ihr keine Hilfe kam, oder wie sie in dieser Kapelle saß und sich von einem Gott erzählen ließ, so kalt wie der Ort selbst.

Fröhlich zogen sie wieder von dannen und sahen sich noch einmal nach ihrem geliebten Herrenhause um, das so rein und groß auf seinem Hügel dastand.

»Denke mal, du könntest diesen Hof haben,« sagte Paul zu Miriam.

»Ja!«

»Würde das nicht entzückend sein, zu dir zu Besuch zu kommen!«

Sie waren jetzt in dem nackten kahlen Landstrich der Steinwälle, den er so liebte, und der, obgleich nur etwa zwei Meilen von ihrem Hause, Miriam so fremd vorkam. Die Gesellschaft verzettelte sich. Als sie eine weite Wiese überschritten, die sich von der Sonnenseite her abdachte, auf einem mit unzähligen winzigen glitzernden Punkten übersäten Pfade, da verstrickte Paul neben ihr hergehend seine Finger in dem Netz, das Miriam trug, und sofort fühlte sie Annie hinter sich, aufmerksam und eifersüchtig. Aber die Wiese lag in einem Meer von Sonnenschein gebadet da, der Pfad war juwelenüberstreut, und es war so selten, daß er ihr einmal ein Zeichen gab. Sie hielt ihre Finger sehr still zwischen den Fäden ihres Netzes, von den seinen berührt; und die Stelle war golden wie ein Traumbild.

Zuletzt kamen sie in das weit auseinandergezogene, graue Dorf Erich, das hochgelegen ist. Hinter dem Dorfe lag der berühmte Erich-Stand, den Paul vom Garten zu Hause aus sehen konnte. Die Gesellschaft zog weiter. Weit ausgedehnt lag das Land vor ihnen zu ihren Füßen. Die Burschen waren darauf erpicht, auf den Gipfel des Hügels zu gelangen. Er wurde von einer runden Kuppe gekrönt, deren eine Hälfte jetzt abgetragen war, und auf der obendrauf ein Denkmal stand, breitspurig und untersetzt; es diente in alten Zeiten zum Zeichengeben in das ebene Land von Nottinghamshire und Leicestershire hinab.

Hier oben auf dem freiliegenden Platze blies es so hart, daß die einzig mögliche Art festzustehen die war, sich vom Winde gegen die Turmwand festnageln zu lassen. Zu ihren Füßen ging der Abhang in einen Steinbruch über, in dem Kalkstein gebrochen wurde. Drunten lag ein Wirrwarr von Hügeln und kleinen Dörfern – Matlock, Ambergate, Stoney Middleton. Die Burschen versuchten eifrig den Turm von Bestwood zu erspähen, weit weg in der gedrängt vollen Landschaft zu ihrer Linken. Sie waren bitter enttäuscht, daß es in der Ebene zu liegen schien. Sie sahen die Hügel von Derbyshire in die Eintönigkeit des Mittellandes übergehen, das sich nach Süden hinzog.

Miriam war etwas bange vor dem Winde, die Burschen aber freuten sich über ihn. Meilen und Meilen gingen sie nun bis nach Whatstandwell. Alles Frühstück war aufgezehrt, jedermann war hungrig, und sie hatten nur wenig Geld zum Nachhausekommen. Aber sie brachten es fertig, sich ein Brot und einen Obstkuchen zu kaufen, die sie mit ihren Taschenmessern in Stücke teilten und auf einer Mauer neben einer Brücke sitzend aßen, von wo aus sie den Derwent vorüberschießen und die leichten Wagen von Matlock vor dem Wirtshaus vorfahren sehen konnten.

Paul war jetzt blaß vor Ermüdung. Er war für diesen Tagesausflug verantwortlich, und nun war er fertig. Miriam begriff das und blieb bei ihm, und er überließ sich ihren Händen.

Auf dem Bahnhof von Ambergate mußten sie eine Stunde warten. Züge kamen, gedrängt voll von aus Manchester, Birmingham und London zurückkehrenden Ausflüglern.

»Da könnten wir auch hin – die Leute könnten leicht denken, wir führen auch so weit,« sagte Paul.

Sie kamen recht spät zurück. Miriam, die mit Gottfried nach Hause ging, beobachtete den Mond, wie er groß und rot und nebelhaft emporstieg. Sie fühlte, es ging etwas in ihr in Erfüllung.

Sie hatte eine ältere Schwester, Agathe, die Lehrerin war. Zwischen den beiden Mädchen bestand Fehde. Miriam hielt Agathe für weltlich. Und sie wollte selbst auch Lehrerin werden. Eines Sonnabendnachmittags waren Agathe und Miriam oben beim Anziehen. Ihre Kammer lag über dem Stalle. Es war ein niedriger Raum, nicht sehr groß, und kahl. Miriam hatte eine Wiedergabe von Veroneses ›Heilige Katharina‹ an die Wand genagelt. Sie liebte dies träumende, in ihrem Fenster sitzende weibliche Wesen. Ihre eigenen Fenster waren zu klein, um darin zu sitzen. Aber das vordere war von wildem Wein und Jelängerjelieber übersponnen und sah über den Hof hinweg auf die Baumwipfel des Eichenwaldes, während das kleine Hinterfenster, nicht größer als ein Taschentuch, einen Ausguck nach Osten gewährte, wo die Dämmerung gegen ihre geliebten runden Hügelköpfe emporschlug.

Die beiden Schwestern sprachen nicht viel miteinander. Agathe, klein und hell und entschlossen, hatte sich gegen die Luft im Hause aufgelehnt, gegen die Lehre von der ›andern Backe‹. Sie stand jetzt draußen in der Welt, auf dem besten Wege zur Unabhängigkeit. Und sie hielt fest an den Werten der Welt, an äußerer Erscheinung, Benehmen, Stellung, die Miriam am liebsten ganz übersehen hätte.

Beide Mädchen waren gern oben, aus dem Wege, wenn Paul eintraf. Sie mochten lieber herunterlaufen, die Tür am Fuße der Treppe aufreißen und dann sehen, wie er auf sie wartete. Miriam stand und gab sich die größte Mühe, einen ihr von ihm geschenkten Rosenkranz über den Kopf zu streifen. Er verfing sich in den feinen Strähnen ihres Haares. Zuletzt aber hatte sie ihn an, und die rotbraunen Perlen sahen gut aus auf ihrem kühlen braunen Halse. Sie war ein gutentwickeltes Mädchen und sehr hübsch. Aber in dem kleinen, an die weißgetünchte Wand genagelten Spiegel konnte sie sich immer nur bruchstückweise sehen. Agathe hatte sich einen eigenen kleinen Spiegel gekauft, den sie hinstellte, wo es ihr paßte. Miriam stand am Fenster. Plötzlich hörte sie das wohlbekannte Klirren der Kette und sah Paul das Gatter aufstoßen und sein Rad auf den Hof schieben. Sie sah, wie er zum Hause emporblickte, und wich zurück. Er ging gänzlich unbekümmert, und sein Rad lief neben ihm her wie ein lebendes Wesen.

»Paul ist da!« rief sie.

»Nun freust du dich wohl?« sagte Agathe schneidend.

Miriam stand vor Verwunderung und Verwirrung ganz still.

»Wieso, du denn nicht?« fragte sie.

»Ja, aber ich lasse es ihn nicht sehen und denken, ich möchte ihn haben.«

Miriam war überrascht. Sie hörte, wie er sein Rad unten in den Stall stellte und zu Jimmy sprach, einem ehemaligen Grubenpferd, das nun abgebraucht war.

»Na, Jimmy, mein Junge, wie gehts d'r denn? Immer man jämmerlich und trübetimpelig? Ja, 's is 'ne Schande, mein alter Bursche.«

Sie hörte den Strick durch das Loch laufen, als das Pferd unter den Liebkosungen des Jungen den Kopf hob. Wie gern sie zuhörte, wenn er glaubte, nur das Pferd könne ihn hören. Aber in ihrem Eden war auch eine Schlange. Sie forschte ernstlich in ihrem Inneren, um zu sehen, ob sie Paul Morel haben wolle. Sie fühlte, es läge etwas Schändliches darin. Voll widerstreitender Gefühle fürchtete sie doch, sie möchte ihn gern haben. Selbstüberführt stand sie da. Dann kam die Qual neuer Scham. Sie krümmte sich unter Folterqualen zusammen. Wünschte sie sich Paul Morel, und wußte er, daß sie ihn sich wünschte? Welche niederträchtige Scham kam hier über sie! Sie kam sich vor, als wäre ihr ganzes Ich in einen Knoten verschlungen.

Agathe war zuerst angezogen und lief hinunter. Miriam hörte, wie sie den Jungen fröhlich begrüßte, sie wußte genau, wie ihre grauen Augen leuchten würden bei diesem Tonfall. Sie würde es als Kühnheit empfunden haben, ihn auf solche Weise zu begrüßen. Und doch stand sie unter ihrer Selbstanklage da, ihn haben zu wollen, gefesselt an diesen qualvollen Marterpfahl. In bitterer Verwirrung kniete sie nieder und betete:

»O Herr, laß mich Paul Morel nicht lieben. Halte mich fern davon, ihn zu lieben, wenn ich ihn nicht lieben darf.«

Etwas Widersinniges in diesem Gebet hielt sie zurück. Sie hob den Kopf und dachte nach. Wie konnte es unrecht sein, wenn sie ihn liebte. Liebe war doch eine Gottesgabe. Und doch konnte sie ihr Scham verursachen. Das war seinetwegen. Paul Morels wegen. Aber dann ging es doch ihn nichts an, sondern nur sie, es war eine Abmachung zwischen Gott und ihr. Sie sollte ein Opfer darstellen. Aber es war Gottes Opfer, nicht Paul Morels und ihres. Nach ein paar Minuten verbarg sie wieder ihr Gesicht in den Kissen und sagte:

»Aber Herr, ist es dein Wille, daß ich ihn lieben soll, so laß mich ihn lieben – wie Christus ihn geliebt hätte, der für die Seelen der Menschen starb. Laß mich ihn herrlich lieben, weil er ja doch dein Sohn ist.«

Sie blieb noch eine Zeitlang auf den Knien liegen, ganz still und tiefbewegt, ihr schwarzes Haar auf den roten Vierecken und den Feldern mit den Lavendelzweigen ihrer Bettdecke. Beten war für sie etwas sehr Wesentliches. Dann verfiel sie in eine Art Verzückung über ihre Selbstopferung, wobei sie sich an die Stelle eines geopferten Gottes setzte, etwas, was so vielen Menschenseelen tiefste Glückseligkeit verleiht.

Als sie herunterkam, lag Paul zurückgelehnt in einem Lehnstuhl und redete heftig auf Agathe ein, die sich über ein kleines Bildchen lustig machte, das er mitgebracht hatte, um es ihr zu zeigen. Miriam blickte die beiden an und ging ihrem leichten Tone aus dem Wege. Sie ging ins Wohnzimmer, um allein zu sein.

Es wurde Teezeit, bevor sie Gelegenheit fand, mit Paul zu sprechen, und dann war ihr Benehmen so zurückweisend, daß er glaubte, sie beleidigt zu haben.

Miriam hatte ihre Gewohnheit aufgegeben, jeden Donnerstagabend nach Bestwood in die Bücherei zu gehen. Nachdem sie Paul den ganzen Frühling über regelmäßig besucht hatte, war ihr durch einige geringfügige Zwischenfälle und kleine Nadelstiche von seiten seiner Angehörigen deren Stellungnahme gegen sie zum Bewußtsein gekommen, und sie hatte sich entschlossen, nicht mehr hinzugehen. So kündigte sie Paul eines Abends an, sie würde ihn Donnerstag nicht mehr in seinem Heim besuchen.

»Warum nicht?« fragte er sehr kurz.

»Wegen nichts. Aber ich möchte es lieber nicht mehr.«

»Na, schön.«

»Aber,« stotterte sie, »wenn du mich gern träfest, könnten wir ja immer noch zusammen spazierengehen.«

»Dich treffen, wo denn?«

»Irgendwo, wo du Lust hast.«

»Ich treffe dich nicht irgendwo. Ich sehe nicht ein, weshalb du mich nicht weiter besuchen willst. Aber wenn du das nicht willst, will ich dich auch nicht treffen.«

So wurden die Donnerstagabende, die für sie und für ihn auch so wertvoll gewesen waren, fallen gelassen. Er arbeitete statt dessen. Frau Morel zuckte mit der Nase vor Befriedigung über diese Abmachung.

Er wollte nicht zugeben, daß sie verliebt wären. Die Vertraulichkeit zwischen ihnen war so rein gedacht gewesen, eine so reine Seelenangelegenheit, ganz Gedanke und mühsames Ringen nach Bewußtsein, daß er sie nur für eine platonische Freundschaft ansah. Er leugnete stramm ab, daß irgend etwas zwischen ihnen bestände. Miriam war stumm oder stimmte doch wenigstens sehr ruhig zu. Er war ein solcher Narr, daß er gar nicht merkte, was mit ihm vorging. In stillschweigendem Übereinkommen übersahen sie alle Bemerkungen und Unterstellungen ihrer Bekannten.

»Wir sind nicht Verliebte, wir sind Freunde,« sagte er zu ihr. »Wir wissen es. Laß sie reden. Was liegt daran, was sie reden.«

Zuweilen, wenn sie miteinander gingen, legte sie furchtsam ihren Arm in den seinen. Aber das nahm er immer übel, und das wußte sie. Es erregte einen heftigen Zwiespalt in seinem Innern. Mit Miriam befand er sich immer auf der Höhe der Übersinnlichkeit, wo das natürliche Feuer seiner Liebe in den feinen Nebel der Gedanken übergeführt wurde. So wollte sie es haben. Wenn er fröhlich war oder, wie sie fand, vorlaut, dann wartete sie, bis er wieder zu ihr kam, bis jener bewußte Wechsel in ihm wieder stattgefunden hatte und er mit seiner eignen Seele rang, stirnrunzelnd, leidenschaftlich in seinem Bestreben nach Erkenntnis. Und in dieser Leidenschaft nach Erkenntnis lag ihre Seele dicht an seiner; hier hatte sie ihn ganz für sich. Aber erst mußte er übersinnlich werden.

Wenn sie dann ihren Arm in den seinen legte, verursachte es ihm fast Folterqualen. Sein Bewußtsein schien auseinanderzureißen. Die Stelle, wo sie ihn berührte, erschien ihm heiß vor Reibung. Er war dann tödlicher Kampf und wurde deswegen grausam gegen sie.

Eines Abends um die Mitte des Sommers sprach Miriam bei ihm zu Hause vor, ganz warm vom Steigen. Paul war allein in der Küche, seine Mutter konnte man oben gehen hören.

»Komm, sieh dir mal die Wicken an,« sagte er zu dem Mädchen.

Sie gingen in den Garten. Der Himmel hinter dem Städtchen und der Kirche war gelbrot; der Blumengarten war von einem seltsamen, warmen Licht überflutet, das jedes Blatt zu etwas Bedeutsamem erhob. Paul schritt eine schöne Reihe von Wicken entlang und pflückte hier und da eine Blüte ab, alle sahnegelb und blaßblau. Miriam ging hinter ihm her, den Duft einatmend. Blumen sprachen sie so stark an, daß sie fühlte, sie müsse sie sich ganz zu eigen machen. Wenn sie sich niederbeugte und an einer Blume roch, war es, als liebten sie und die Blume einander. Paul haßte sie deswegen. Ihm schien eine Art Bloßstellung in dieser Handlungsweise zu liegen, etwas zu Vertrauliches.

Als er einen hübschen Strauß zusammenhatte, kehrten sie ins Haus zurück. Er horchte einen Augenblick auf die ruhigen Bewegungen seiner Mutter oben und sagte dann:

»Komm hier, laß mich sie dir anstecken.« Er steckte sie ihr zu zweien und dreien vorn ins Kleid, hin und wieder zurücktretend, um die Wirkung zu prüfen. »Weißt du,« sagte er und nahm die Stecknadeln aus dem Munde, »eine Frau sollte sich Blumen immer nur vorm Spiegel anstecken.«

Miriam lachte. Sie dachte, Blumen müsse man sich ohne jede Sorgfalt ans Kleid stecken. Daß Paul sich die Mühe machen sollte, ihr die Blumen anzustecken, war ein sonderbarer Einfall von ihm.

Er fühlte sich durch ihr Lachen etwas beleidigt.

»Manche Frauen tun es – die, die anständig aussehen,« sagte er.

Miriam lachte wieder, aber ohne Fröhlichkeit, als sie sich von ihm in so allgemeiner Weise mit andern Frauen vermengen hörte. Bei den meisten Männern hätte sie das überhört. Aber von ihm tat es ihr weh.

Er war mit dem Blumenanstecken beinahe fertig, als er seiner Mutter Tritt auf der Treppe hörte. Eilig steckte er die letzte Nadel fest und wandte sich ab.

»Laß es Mutter nicht wissen,« sagte er.

Miriam nahm ihre Bücher und sah voller Kummer auf den wundervollen Sonnenuntergang. Sie wollte Paul nicht mehr aufsuchen, sagte sie.

»Guten Abend, Frau Morel,« sagte sie in unterwürfigem Ton. Es klang, als fühlte sie, sie habe kein Recht hier zu sein.

»Oh, du bists, Miriam?« erwiderte Frau Morel kühl.

Aber Paul bestand darauf, daß alle seine Freundschaft mit dem Mädchen anerkannten, und Frau Morel war zu weise, um es zum offenen Bruch kommen zu lassen.

Nicht ehe er zwanzig Jahre war, kam es so weit, daß die Seinen sich eine Erholungsreise gönnen konnten. Frau Morel war nie ihrer Erholung wegen fortgewesen, seitdem sie verheiratet war, ausgenommen zu einem Besuch bei ihrer Schwester. Nun hatte Paul endlich genügend gespart, und sie wollten alle weg. Es sollte eine ganze Gesellschaft werden: ein paar von Annies Freundinnen, ein Freund von Paul, ein junger Mann aus demselben Geschäft, in dem William früher gewesen war, und Miriam.

Die Aufregung, als sie um Zimmer schrieben, war groß. Paul und seine Mutter überlegten endlos hin und her. Sie wollten gern ein eingerichtetes Häuschen auf zwei Wochen haben. Sie meinte, eine Woche wäre genug, aber er bestand auf zweien.

Zuletzt bekamen sie eine Antwort aus Mablethorpe, ein Häuschen ganz nach ihren Wünschen für dreißig Schilling die Woche. Gewaltiger Jubel herrschte. Paul war wild vor Freude, seiner Mutter wegen. Nun sollte sie eine wirkliche Erholung genießen. Er und sie saßen abends und malten sich aus, wie es werden würde. Annie kam herein, und Leonhart, und Alice und Kitty. Wild war der Jubel und die Vorfreude. Paul erzählte Miriam alles. Voller Freude schien sie darüber nachzusinnen. Aber das Haus der Morels hallte wider von Aufregung.

Am Sonnabend morgen sollten sie mit dem Siebenuhr-Zug abreisen. Paul schlug vor, Miriam sollte bei ihnen schlafen, weil sie einen so weiten Weg hatte. Sie kam schon zum Abendessen herunter. Jedermann war so aufgeregt, daß selbst Miriam mit Wärme aufgenommen wurde. Aber fast mit ihrem Eintritt wurde die Stimmung der Seinen verschlossen und engherzig. Er hatte ein Gedicht von Jean Ingelow entdeckt, das Mablethorpe erwähnte, und das mußte er Miriam vorlesen. Nie wäre er in seiner Empfindsamkeit so weit vorgegangen, den Seinen ein Gedicht vorzulesen. Aber nun ließen sie sich herab, zuzuhören. Miriam saß auf dem Sofa, ganz in ihn versunken. Sie schien immer in ihn versunken und von ihm eingenommen, wenn er dabei war. Frau Morel saß eifersüchtig in ihrem Stuhl. Sie wollte auch zuhören. Und selbst Annie und der Vater hörten zu, Morel mit dem Kopf auf die Seite geneigt, wie jemand, der eine Predigt anhört und sich dessen bewußt ist. Paul beugte den Kopf über das Buch. Nun hatte er die ganze Zuhörerschaft um sich, an der ihm etwas lag. Und Frau Morel und Annie wetteiferten beinahe mit Miriam darum, wer am besten zuhörte und seine Gunst gewönne. Er war ganz stolz.

»Aber«, unterbrach ihn Frau Morel, »was ist denn eigentlich die ›Braut von Enderby‹, die die Glocken läuten sollen?« »Das ist eine alte Weise, die sie auf den Glocken zu spielen pflegten, als Warnung bei Wassersnot. Ich vermute, die ›Braut von Enderby‹ ertrank wohl bei einer Überschwemmung,« erwiderte er. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was es wirklich war, aber nie hätte er sich so weit erniedrigt, dies seinem Weibervolk einzugestehen. Sie lauschten und glaubten ihm. Er selbst glaubte es auch.

»Und die Leute wußten, was die Weise bedeutete?« sagte seine Mutter.

»Ja – genau wie die Schotten, wenn sie ›Die Blumen des Waldes‹ hörten – und wenn sie die Glocken rückwärts läuteten zur Warnung.«

»Wieso?« sagte Annie. »Eine Glocke klingt doch genau so, ob sie vorwärts oder rückwärts geläutet wird.«

»Aber«, sagte er, »wenn du mit der tiefsten Glocke anfängst und zur höchsten hinaufgehst -la-la-la-la-la-la-la-la.«

Er ging die Tonleiter hinauf. Das hielten sie alle für sehr klug. Er selbst auch. Dann, nach einer Minute Wartens, fuhr er mit dem Gedicht fort.

»Hm!« sagte Frau Morel neugierig, als er geendigt hatte. »Aber ich wollte, alles, was geschrieben wird, wäre nicht so traurig.«

»Ick kann nich einsehen, wozu die sich absaufen wollen,« sagte Morel.

Es entstand eine Pause. Annie stand auf, um den Tisch abzuräumen.

Miriam stand auf, um ihr mit den Töpfen zu helfen.

»Laß mich dir beim Aufwaschen helfen,« sagte sie.

»Sicher nicht,« rief Annie. »Du setzt dich wieder hin. Es sind nicht viele.«

Und Miriam, die nicht zutraulich zu werden verstand, setzte sich wieder hin und sah mit Paul in das Buch.

Er war der Leiter der Gesellschaft; sein Vater war zu nichts gut. Und er litt große Qualen, ob auch seine Zinnkiste nicht in Firsby, anstatt in Mablethorpe herausgesetzt würde. Und einen Wagen konnte er nicht besorgen. Das tat seine kühne kleine Mutter.

»Hier!« rief sie einem Manne zu. »Hier!«

Paul und Annie versteckten sich hinter den übrigen, krumm vor verschämtem Lachen.

»Wie viel macht das wohl, die Fahrt bis Brooks Haus?« sagte Frau Morel.

»Zwei Schilling.«

»Wieso, wie weit ist das denn?«

»Ein' tüchtigen Weg.«

»Das glaube ich nicht,« sagte sie.

Aber sie kletterte doch hinein. Sie waren zu acht in einem einzigen alten Badeortwagen.

»Seht ihr,« sagte Frau Morel, »das macht nur drei Pence für jeden, und wenn es 'ne Pferdebahn wäre ,...«

Sie fuhren weiter. Bei jedem Häuschen, an das sie kamen, rief Frau Morel:

»Ist es dies? Nun dies hier ists sicher!«

Alle saßen atemlos da. Sie fuhren dran vorbei. Ein allgemeiner Seufzer.

»Wie dankbar bin ich, daß es das Scheusal nicht war,« sagte Frau Morel. »Ich hatte schon Angst.« Sie fuhren weiter und weiter.

Schließlich stiegen sie vor einem Hause ab, das allein an der Landstraße über dem Sieltief lag. Eine wilde Aufregung entstand, weil sie erst eine kleine Brücke zu überschreiten hatten, um in den Vorgarten zu gelangen. Aber sie liebten dies Haus, das so einsam lag, mit einer Seewiese an der einen Seite und einer Riesenfläche von Land an der andern, mit Flecken von weißer Gerste, gelbem Hafer, rotem Weizen und grünen Hackfrüchten flach unter dem Himmel dahingestreckt. Paul führte Buch. Er und seine Mutter leiteten die Geschichte. Die Gesamtkosten – Wohnung, Nahrung, alles – waren sechzehn Schilling für den Kopf und die Woche. Er und Leonhart gingen morgens zum Baden. Morel wanderte schon ganz früh umher.

»Du, Paul,« rief seine Mutter aus der Kammer, »iß erst ein Butterbrot.«

»Schön,« antwortete er.

Und wenn er zurückkam, saß seine Mutter stattlich am Kopfe des Frühstückstisches. Die Frau des Hauses war noch jung. Ihr Mann war blind, und sie wusch für Lohn. Daher wusch Frau Morel immer in der Küche die Töpfe und machte die Betten.

»Aber du sagtest doch, du wolltest dir eine wirkliche Erholung gönnen,« sagte Paul, »und nun arbeitest du wieder.«

»Arbeiten!« rief sie. »Was du redest!«

Sehr gern ging er mit ihr über die Felder ins Dorf oder an die See. Sie fürchtete sich vor den hölzernen Stegen, und er schalt sie ein Wickelkind. Im ganzen hielt er sich an sie, als wäre er ihr Mann.

Miriam hatte nicht viel von ihm, ausgenommen vielleicht, wenn alle andern zu den Niggern gingen. Die Nigger kamen Miriam unerträglich albern vor, und deshalb glaubte er, sie wären es ihm ebenfalls, und predigte Annie ganz muckerhaft über die Einfältigkeit vor, sie sich anzuhören. Trotzdem kannte er ihre sämtlichen Lieder auch alle und sang sie möglichst laut auf der Landstraße. Und ertappte er sich beim Zuhören, dann machte ihm die Dummheit viel Spaß. Aber zu Annie sagte er doch:

»So'n Blödsinn! Da ist doch kein Funken von Verstand drin. Kein Wesen von höherem Geschmack als ein Grashüpper würde da hingehen und sich hinsetzen und zuhören.« Und zu Miriam sagte er mit großer Verachtung gegen Annie und die andern: »Ich glaube, sie sind bei den Niggern.«

Sonderbar war es, Miriam Niggerlieder singen zu sehen. Sie hatte ein grades Kinn, das in einer Lotrechten von der Unterlippe bis zur Biegung verlief. Sie erinnerte Paul immer an einen der traurigen Botticellischen Engel, wenn sie sang, selbst wenn es war:

»Komm herab den Liebesweg,
Zu 'nem Gang mit mir, Schwatz mit mir.«

Nur wenn er skizzierte oder abends, wenn die andern bei den Niggern waren, hatte sie ihn für sich. Er redete ihr endlos von seiner Liebe für die Wagerechte vor: wie sie, die großen ebenen Flächen von Himmel und Land in Lincolnshire, ihm die Ewigkeit des Willens darstellten, genau so wie der gekrümmte normannische Bogen an den Kirchen in seiner Wiederholung das verbissene Vorwärtsspringen der hartnäckigen Menschenseele wiedergebe, weiter und weiter, weiß niemand wohin; im Gegensatz zur Lotrechten und zum gotischen Bogen, der, wie er sagte, zum Himmel emporspränge und an die Verzückung rühre und sich im Göttlichen selbst verliere. Er, meinte er, wäre normannisch, sie, Miriam, gotisch. Sie beugte sich in Zustimmung selbst hiervor.

Eines Abends schritten sie beide über die große, flache Sandküste auf Teddlesthorpe zu. Die langen Brecher überstürzten sich und liefen in zischendem Schaum den Strand entlang. Es war ein warmer Abend. Keine Menschenseele war außer ihnen auf der weiten Sandfläche zu sehen, kein Ton zu hören, als das Geräusch der See. Paul sah sie zu gern aufs Land zu tosen. Er fühlte sich zu gern zwischen ihrem Getobe und der Stille der sandigen Küste. Miriam war bei ihm. Alles wurde so gespannt. Es wurde sehr dunkel, als sie umkehrten. Der Heimweg ging durch eine Scharte in den Dünen, und dann einen erhöht liegenden Grasstreifen zwischen zwei Sieltiefen entlang. Das Land war schwarz und still. Hinter den Dünen hervor tönte das Flüstern der See. Paul und Miriam gingen in Schweigen. Plötzlich fuhr er zusammen. Sein ganzes Blut schien in Flammen auszubrechen, und er vermochte kaum zu atmen. Ein riesiger, gelbroter Mond starrte sie über den Kamm der Dünen an. Er stand still und sah ihn an.

»Ach!« rief Miriam, als sie ihn sah.

Er blieb vollkommen still stehen, den riesigen rötlichen Mond anstarrend, das einzige Wesen in der weitreichenden Dunkelheit der Ebene. Sein Herz schlug schwer, die Muskeln seiner Arme spannten sich.

»Was ist?« murmelte Miriam, die auf ihn wartete.

Er wandte sich und sah sie an. Sie stand neben ihm, immer im Schatten. Ihr von der Dunkelheit ihres Hutes überschattetes Gesicht beobachtete ihn, ohne daß er es merkte. Aber sie wurde nachdenklich. Sie war ein wenig bange – tief bewegt und erhoben. Das war ihr bester Zustand. Dagegen war er ohnmächtig. Sein Blut war wie zu einer Flamme in seiner Brust zusammengefaßt. Aber er konnte nicht zu ihr hinübergelangen. Blitze durchzuckten sein Blut. Aber sie bemerkte sie nicht. Sie erwartete irgendeinen erhobenen Zustand in ihm. Und doch wurde sie in ihrer Sehnsucht seiner Leidenschaft halb gewahr und sah ihn beunruhigt an.

»Was ist denn?« murmelte sie wieder.

»Der Mond,« sagte er stirnrunzelnd.

»Ja,« stimmte sie bei. »Ist es nicht wunderschön?« Sie war neugierig auf ihn. Der Wendepunkt war überschritten.

Er wußte selbst nicht, was mit ihm los war. Er war noch so jung, und ihre Vertraulichkeit so übersinnlich, daß er gar nicht begriff, er wünschte sie an seine Brust zu pressen, um das Weh dort drinnen zu lindern. Er hatte Angst vor ihr. Die Tatsache, er könne sie haben wollen, wie ein Mann eine Frau haben will, wurde in seinem Inneren als etwas Schämenswürdiges unterdrückt. Ebenso wie sie krampfhaft, sich windend vor Qual, schon bei dem bloßen Gedanken an so etwas zurückschreckte, krümmte er sich in den tiefsten Tiefen seiner Seele. Und nun verhinderte seine ›Reinheit‹ sogar ihren ersten Liebeskuß. Es war, als könne sie die Erschütterung körperlicher Liebe kaum ertragen, selbst nicht die eines leidenschaftlichen Kusses, und dann war er auch zu zaghaft und empfindsam, ihn zu geben.

Während sie die dunkle Moorwiese entlang schritten, beobachtete er den Mond und sprach nicht. Sie stapfte neben ihm her. Er haßte sie, denn sie schien ihn in gewisser Weise sogar sich selbst verachten zu machen. Als er vorwärts blickte – sah er das einzige Licht in der Dunkelheit, das Fenster ihres lampenerleuchteten Häuschens.

Er dachte mit Vergnügen an seine Mutter und die andern vergnügten Menschen.

»Ja, alle andern sind schon lange da!« sagte seine Mutter, als sie eintraten.

»Was macht das!« rief er gereizt. »Ich kann doch wohl gehen, wie es mir Spaß macht, nicht wahr?«

»Und ich sollte meinen, ihr könntet doch wohl zum Abendessen mit den übrigen wieder da sein,« sagte Frau Morel.

»Das mache ich, wie es mir paßt,« wandte er ein. »Es ist nicht spät. Ich werde tun, was mir paßt.«

»Schön,« sagte seine Mutter schneidend, »dann tue, was dir paßt.« Und sie achtete weiter nicht mehr auf ihn diesen Abend. Er tat, als bemerkte er das nicht oder machte sich nichts daraus, sondern saß und las. Miriam las auch, sich dadurch verbergend. Frau Morel haßte sie, weil sie ihren Sohn so weit gebracht hatte. Sie merkte, wie Paul reizbar wurde, dünkelhaft und düster. Die Schuld an allem diesem schob sie Miriam zu. Annie und alle ihre Freunde vereinigten sich gegen das Mädchen. Miriam besaß keinen Freund außer Paul. Aber sie litt nicht sehr, weil sie die andern wegen ihrer Bedeutungslosigkeit verachtete.

Und Paul haßte sie, weil sie immerhin seine Leichtherzigkeit und Natürlichkeit zerstörte. Und er krümmte sich unter einem Gefühl der Erniedrigung.


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