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Herbst. Durch die engen Straßen der Hafenstadt an der Nordsee pfeift der Sturm. In dem kleinen, gemütlichen Hotel am Bollwerk sitzen die Gäste, die der Berliner Bäderzug heut abend gebracht hat. Der Anschlußdampfer nach den Inseln fährt erst am nächsten Morgen.

Die Damen und die älteren Reisenden sind bereits zur Ruhe gegangen; unter den zurückgebliebenen jüngeren Gästen, Studenten und ehemaligen Offizieren, die sich beim Wein in lebhaftem Geplauder anfreunden, sitzt an dem langen Tisch ein blonder Recke mit großen blauen Augen: Willy Wagner.

Nach zwei Heidelberger Semestern hat er sich auf der Durchreise einige Tage in Berlin aufgehalten. Schuppkes sind längst fort. Von Annie hat er nichts mehr gehört; nur einmal, drei Monate, nachdem er Bergs letzten Brief erhalten, traf eine flüchtige Karte von ihr ein: »Es geht mir gut; acht Tage war ich kürzlich krank. Doch das ist wieder vergessen. Was sagst Du zu Berg? Toll, was? Wir sind gekündigt und gehen nach Ostpreußen auf ein Gut. Schreib' mir doch, wie's dir geht.«

Die Uhr schlägt zwei. Um sieben Uhr in der Frühe soll der Dampfer fahren.

»Um halb sechs heißt es aufstehn,« sagt einer aus der Jugend. »Das lohnt das Ausziehen nicht. Wer stimmt für einen Hafenbummel?«

Keiner schließt sich aus.

Der Regen hat aufgehört, hell strahlen die Sterne.

Von Kneipe zu Kneipe ziehen sie im wehenden Wind, sitzen unter erregt politisierenden Hafenarbeitern und angetrunkenen Matrosen. Auch die jungen Herren haben fast alle schon ihr Schwergewicht; nur Willy, wohl der Älteste von ihnen, hat sich ganz nüchtern gehalten.

»Waren die Herren schon einmal in einem Hafenbordell?«

Ein vielstimmiges: »Nein.«

»Also auf!«

Ein Haus, bis auf die große Laterne allen anderen gleich, die Fensterläden festgeschlossen; rechts das kleine Zimmer der Wirte, in dem die junge, hübsche Frau mit ihrem Mann den Betrieb leitet, links das geräumige Gastzimmer. Blendendes Licht, von Rauchschwaden umzogen, Batterieen von Flaschen auf allen Tischen. Wieherndes Gelächter, heiseres Brüllen, wilde Flüche in allen Sprachen. Junge, fast nackte Dirnen, gefärbt, geschminkt, wandern kreischend von Hand zu Hand, krümmen sich unter derben Liebkosungen auf den Knieen der Bezechten und schlingen verliebt die weißgepuderten Arme um braune Seemannsnacken. Hin und wieder verschwindet ein Paar unter dem brausenden Hallo der Gäste.

Am Klavier sitzt ein schlanker Leichtmatrose, die Zigarette zwischen den Lippen, und singt und spielt in bunter Folge, wie es ihm in den Sinn kommt. Er scheint einst bessere Tage gesehn zu haben; vielleicht ist er dem Elternhaus, aus glänzenden Verhältnissen entlaufen. Die See lockt. So oft er mit dem Spiel abbrechen will, wehren ihm die alten Seebären; sie alle lieben ihn, der am gelbweißen Bande die Rettungsmedaille und den Kronenorden trägt, zweimal den über Bord gegangenen Kameraden den Wellen entrissen hat. Er singt, mit weicher, traumerfüllter Stimme, als ob im Tau des Maienmorgens ein junger, frischer Wanderer mit frohem Lied die Welt grüßt. Dann wieder schallt ein frecher Sang auf, durch den vom Rauch verschleierten, vom Dunst des Alkohols erfüllten Saal, über das glitzernde Elend der geschminkten Dirnen hin; und jubelnd, grölend, lallend stimmen sie alle ein:

»Ob auch die Rosen stechen
Am dornbewehrten Strauch,
Die Rosen sind zum Brechen,
Die Weiber sind es auch.«

Jäh bricht der Spieler ab. Dicht neben ihm gellt schrill ein Schrei.

Im dunkelsten Winkel kauert einsam ein blutjunges Weib. Schamlos ist sie anzusehn, in ihrem Kleid aus roten Schnüren, mit weiten Maschen, die sich den Körperlinien anschmiegen. Ihr Antlitz ist totenblaß; entsetzt, im Hasse funkelnd, stieren die blauen Augen unter dem goldgefärbten Haar.

Ein Neger, hochgewachsen, mit gewaltigen Muskeln und stierem Hals, hat sie gepackt, mit frechem, gemeinen Griff berührt. Im schwarzen Antlitz mit der platten Nase und den wulstigen Lippen glühen unter dem Wollhaar die gierigen Augen des Trunkenen wie Kohlen auf sie nieder.

Sie schlägt ihm mitten in das Gesicht.

Und immer wieder, stoßweis, aus überquellendem Herzen, ein Schluchzen, ein Schreien, als wenn das Weib auf der Folter läge. In Bächen schießen die Tränen über die Schminke, die roten Schnüre, die nackten Brüste.

Neugierig drängen die Matrosen sich heran. Rüde Witze, Zoten schwirren durcheinander. Ein kleiner Teil nimmt für das junge Weib Partei; die anderen hetzen den Neger auf, der taumelnd über den Tisch kriecht, sich zu ihr hinunterbeugt, sie an sich reißt, mit seinen aufgeworfenen, feuchten Lippen küßt. Sie greift nach einer Flasche neben sich, zersplittert sie in schwerem Hieb auf seinem Schädel, daß Wein und Blut an ihm herabrieseln. Der Wirt, die Wirtin, Gäste stürzen im Haufen über sie her; an ihren Armen festgehalten, gestoßen und geschlagen, das goldene Haar zerzaust, die Schnüre über ihren Achseln durchgerissen, kreischt sie in heißen Tränen wimmernd auf:

»Hunde verfluchte!«

Plötzlich wirft ein starker Arm die dichte Menge zur Seite, befreit die Dirne, stellt sich schützend vor sie hin.

»Zurück!« herrscht der blonde Riese erregt, mit blassen Lippen, einen Stuhl umklammernd. »Mein ist das Mädel.« Er wendet sich zu ihr: »Komm mit!«

Sie horcht auf seiner Stimme Klang, wie auf ein Fernes, Unbekanntes und doch Vertrautes. Sie hebt die großen, blauen Augen zu ihm auf und fährt erschreckt zurück. Dann folgt sie willenlos ihm durch die verstummten, zur Seite weichenden Matrosen, die schmale, steile, dunkle Treppe hinauf.

Willy und Lisa Halm.

Bei diesem Weib, der Dirne hat er gesessen, die lange Nacht, still und ernst, ein Mensch mit dem anderen, Bruder und Schwester. Und stumpf, mit erloschenen Augen und stockender Stimme, dann wieder in neuem, haltlosem Weinen, schamvoll in ihrer Schamlosigkeit hat Lisa Halm ihr Schicksal ihm berichtet.

 

Das Schwurgericht. Ein hoher, feierlicher Raum. Ein Mädchen, fast ein Kind noch, auf der Bank der Sünder. Überall gleichgültige Mienen; sie ist ja noch nicht achtzehn Jahr, es kann nur auf Gefängnis erkannt werden. Aber gerade deshalb sucht nun der Staatsanwalt zu retten, was noch zu retten ist.

Die Angeklagte selbst hat ihm ja förmlich in die Hände gearbeitet.

»Haben Sie die Tat gewollt? Sie überlegt, in allen Einzelheiten?« hat sie der Vorsitzende gefragt.

»Ja,« erwidert Lisa schüchtern.

»Und in der Zwischenzeit, ehe Sie zum zweiten Mal den Hahn aufdrehten, auch nicht geschwankt?«

»Nein,« antwortet Lisa.

Der Verteidiger ringt die Hände. Die Geschworenen blicken verblüfft auf die Angeklagte. Der Mord, der vorsätzliche, überlegte Mord reckt sich im Saale auf und schreitet auf das blasse Mädchen zu, das regungslos, tief unter die Schranke gebückt, dort vor sich hinstarrt.

»Aber Angeklagte,« sagt der Vorsitzende ernst, »haben Sie Ihr Kind denn garnicht lieb gehabt?«

Lisa hebt das Haupt. Und leise sagt sie:

»Ich hab' es allzu lieb gehabt.«

Der Staatsanwalt hat leichtes Spiel:

Wenn je der Schulfall eines Mordes mit vollem Vorsatz, mit klarer Überlegung ihm begegnete, so sei es hier. Die Angeklagte Lisa Halm öffnet den Hahn, will sich und ihre Tochter töten. Nach Stunden, in einem Augenblick der Reue, schließt sie den Gasarm. Noch lebt, noch atmet ihr Opfer. Und wieder betritt sie ohne Schwanken, in unerhörter Herzensroheit den Weg des Verbrechens; wieder begnügt sie sich nicht damit, sich selbst zu töten, hartnäckig will sie mit sich ein zweites Menschenleben vernichten, ihr unschuldiges, wehrloses Kind. Von neuem öffnet sie den Hahn: und jetzt gelingt der Mord, tötet sie die Tochter. Wenn diese Freveltat nicht ihre Sühne finde, sei jedes Kind einer entmenschten Mutter vogelfrei. Die Angeklagte Halm sei noch nicht achtzehn Jahre; es komme also nur Gefängnisstrafe in Betracht. Er beantrage mit Rücksicht auf die sittliche Verderbnis der Angeklagten die höchste gesetzlich zulässige Strafe von fünfzehn Jahren Gefängnis.

»Der Herr Verteidiger,« sagt gleichmütig der Vorsitzende.

Der Offizialverteidiger erhebt sich. Ein junger, unerprobter Referendar, blond, peinlich, fast geckenhaft gepflegt. Aber ein ganzer Mann.

Die Staatsanwaltschaft habe ihm den besten Teil seiner Rede vorweggenommen, habe selbst den Weg zur Entlastung seiner Klientin gewiesen. Nur habe sie eins, das Wichtigste, Entscheidende übersehn. Gewiß, als Lisa Halm zum erstenmal, um halb zehn abends, den Hahn geöffnet, da war – soweit in dieser Notlage, vor solchem Entschluß das überhaupt möglich war – ihr Kopf klar, ihr Vorsatz ein fester, die Überlegung, mit der sie alles zur Tat vorbereitete, vorhanden. Dann aber habe sie den Hahn geschlossen; und wer die Folgen einer geplanten und begonnenen Tat selbst verhindere, sei straffrei. Was also sich bis ein Uhr nachts ereignete, das scheide hier vor den Geschworenen völlig aus. Dann, wohl gegen zwei, hat sie den Hahn erneut geöffnet. Aber war da die Angeklagte noch dieselbe, wie vor mehr als vier Stunden? Glaube wirklich auch nur einer in diesem Saale – die Staatsanwaltschaft ausgenommen –, daß solch ein junges Weib, fast noch ein Kind, das stundenlang im ausströmenden Gas gelegen, noch seines Verstandes Herr war, noch Vorsatz und Überlegung besaß? Als sie den Hahn zum zweiten Mal geöffnet, tat sie es in Betäubung, nicht ihrer Sinne mächtig, und das muß ihr den Freispruch sichern.

»Meine Herren Geschworenen,« schließt der Verteidiger, »hier hat ein Drama sich vor Ihnen aufgerollt, eine Gretchentragödie, das Schicksal selbst, schauriger als jede Dichtung. Mitten darin drei Opfer dieses unerbittlichen Lebens: Die Großmutter, die im Selbstmord endet, die angeklagte Mutter mit ihrem Selbstmordversuch, das Kind, das der Verzweiflungstat erliegt. Um sie herum die Menschen, lieblos, ohne Erbarmen, die wir in langer Reihe hier auftreten sahen und aus den Aussagen der Zeugen kennen lernten, von denen keiner der Verlassenen, Verführten half, der Strauchelnden die rettende Hand bot. Doch wozu große Worte? Hier, wenn je, gilt Shakespeares Mahnung: ‹O richtet nicht, denn wir sind alle Sünder,› hier Lessings herzergreifendes Geständnis: ‹Was Gewalt heißt, ist nichts; Verführung ist die wahre Gewalt› Und darum, meine Herren Geschworenen, darf und wird Ihr Spruch nur lauten: Ich finde keine Schuld an ihr!«

Dann steht sie draußen, freigesprochen, vor der schmalen Tür des Kriminalgerichts, mutterseelenallein in der Nacht, im kalten Märzregen.

Ein altes Weib, das sichtlich auf sie gewartet hat, nähert sich ihr. Süßlich fragt sie:

»Sie wissen nicht, wohin, mein Kind?«

Lisa weicht im Scheine der Laterne vor ihren glitzernden Augen zurück.

»Nein,« antwortet sie kurz, abweisend.

»Ich nehme Sie auf,« sagt das Weib mit kriechender Freundlichkeit. »Ich bin Vermieterin und suche gerade ein junges, gebildetes Mädchen, ohne Anhang. Eine Stellung finden Sie ja nicht so leicht, nach dem Prozeß, nicht wahr?«

Lisa sieht auf die dunkle Straße, naßkalt, schmutzig, sieht ihr zerstörtes Leben, das dieser Straße gleicht. Sie ahnt, wohin die Frau sie bringen will, liest in dem Antlitz der Megäre ihre Zukunft, noch dunkler, kälter, hoffnungsloser als die Vergangenheit. Aber dies Weib da ist der einzige Mensch, der nach ihr fragt. Und apathisch, abgestumpft, wehrlos in Sünde verstrickt, antwortet sie:

»Ja.«

Es kommt, wie es kommen mußte. Roheit, Gewalt und Schläge. Die Straße, die Hingabe, um nicht zu verhungern. Die Polizei, die ganze Hatz der staatlichen Moral. Dann, wie eine rettende Zuflucht, das Freudenhaus. Schulden, der Überdruß der Gäste an stets denselben Weibern, der Tausch mit anderen Häusern, das rastlose Wandern. Immer ein wenig mehr hinab, bis in die Tiefe, bis an das Haus am Hafen.

Sie geht mit wunder Seele durch all den Schmutz, mit einem ungeheuren Staunen, mit dumpfem Schrecken. In ihre Kinderaugen steigt etwas Fremdes auf, aus bodenlosen Abgründen das heiße Grauen.

Sie hat es nicht gut. Zu oft weist sie die Männer ab, vor denen sie zurückbebt, bis sie der rasende Wirt mit Hieben zwingt. Gar viele wählen sie einmal und nicht wieder; sie versteht ihren Beruf nicht, ist ihnen nicht frech genug; zu oft hängen ihre Augen in unverständlicher Furcht, in stummer Bitte, in sichtlichem Entsetzen an dem Gast, ohne Entgegenkommen, ohne Lächeln, ohne Lust. Aber die anderen, die diese seltene Blume im Sumpfe reizt, mit ihrer Unschuld im Laster, ihrer Keuschheit in der Hingabe, die halten an ihr fest, umwerben sie, zwingen die Wirte immer wieder, ihre Ausbrüche zu ertragen.

Manchmal, in stiller Stunde, denkt sie sich aus, ihr Dorchen lebe noch. Anderthalb Jahre wäre es jetzt alt. Ein Mädchen, rosig, zappelnd, mit kleinem Näschen und Beißerchen und großen, grauen, schwarzumwimperten Augen. Und ihr Herz schreit nach ihrem Kind. An solchen Tagen trinkt sie, bis zur Erschöpfung, und heult wie eine Verzweifelte und weigert sich, in den Gastraum hinunterzugehn; dann stehn Wirt und Wirtin um sie herum und bieten ihr immer wieder zu trinken an. Sie wissen, ist sie erst fast besinnungslos, so ist ihr alles gleich, so lacht und tobt sie und hält zehn Männer bis in den hellen Morgen hinter der Flasche fest, die über die verrückte Lisa sich vor Lachen schütteln, zeitlebens an die lustige Nacht zurückdenken. Und dann schläft sie bis in den Abend und kauert wie heut im Winkel, störrisch, verbissen, den Männerhaß in den geröteten Augen, und lauert auf den ersten, der ihr zu nahe tritt, um auf ihn einzuschlagen.

Sie ist zu Ende. Sie hat gebeichtet, mit erstickter Stimme, in weher Scham.

Von unten her knallen die Pfropfen, klingt girrendes, fröhliches Mädchenlachen. Eine tiefe Stimme brüllt unverständliche Worte.

Sie steht auf, löscht das Licht, zieht den Vorhang zurück. Der Morgen scheint grau in das Gemach.

»Und kann ich nichts für dich tun? Dich hier herausnehmen, dich in geordnete Verhältnisse bringen?« fragt Willy. Er denkt mit Schmerz daran, daß er Lisa mit Berg zusammengeführt hat, durch den Hinweis auf die Halmschen Zimmer die unschuldige Ursache ihres Niederbruchs geworden ist.

Sie schweigt, wie verstockt.

»Nichts, Lisa, – nichts, liebe, kleine Lisa?« fragt er noch einmal erschüttert.

Und während sie den Kopf schüttelt, schallt es von neuem zu ihnen hinauf, im wüsten Toben, im Gläserklirren und Mädchengekreisch:

»Ob auch die Rosen stechen
Am dornbewehrten Strauch,
Die Rosen sind zum Brechen,
Die Weiber sind es auch.«

»Ich danke dir, Willy,« sagt sie heiser, in gewaltsamer Beherrschung. »Du kannst mir alles geben, den Mut zum Leben nicht. Und keine Selbstachtung mehr. Ich lebe, liebe, trinke bis zum Ende.« Sie ballt die Hände, würgt mit aller Kraft die Erregung hinab, die ihr die Kehle zuschnürt. »Man fällt so furchtbar rasch, und niemals steht man wieder auf. Sie dulden's nicht, die Menschen da draußen. Und inzwischen feiern sie Weihnacht und Ostern und Bußtag, tanzen und verführen und brechen die Ehe, – – Kanaillen ...«


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