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Am gleichen Morgen, dem zwanzigsten Mai, gebiert Lisa ein Mädchen.

Von Dr. Hagen aus, wo sie Beschäftigung gefunden, hat sie sich schon seit Wochen die Aufnahme für ihre schwere Stunde in der Staatsklinik gesichert. Mit zagem Herzen hat sie sich dazu entschlossen; denn hartnäckig hält unter den Frauen sich die Ansicht, daß die Entbindung dort vor einer ganzen Schar von jungen Studenten erfolge, und zu der Angst vor all dem Unbekannten tritt die entsetzliche Scham. Auch ein Mutterheim hat sich auf Dr. Hagens Verwendung hin gefunden, das sie für sechs Wochen nach der Entbindung mit ihrem Kinde aufnehmen wird.

Lisa sieht ihrer schweren Stunde mit Bangen und doch mit Ungeduld entgegen. In allem Leid freut sie sich auf das Kind, liebt es schon, kann es kaum erwarten.

Eines Tages findet sich eine Dame bei ihr ein: Sie komme von der Vormundschaft, der Lisa von der Staatsklinik aus gemeldet sei. Sie hinterläßt allerhand Papiere, bestellt Lisa zum Amt, im Zentrum der Stadt. Dort findet Lisa junge Damen, die einen riesigen Fragebogen ausfüllen. Dann darf sie wieder gehn.

Nach Wochen erhält sie ein Schreiben, laut dem ein Pastor Scholtz zum Berufsvormund für das Kind ernannt ist. Sie wandert hin. Wieder fragt der Pastor nach dem Vater des Kindes, wie er heiße, ob er es anerkennen würde. Sie weigert sich den Namen zu nennen. Er gerät in Eifer: Dann würde sie als Dirne verschrieen werden, die sich mit aller Welt abgegeben habe, den Vater eben nicht wisse; in heiligem Zorn zitiert er Hesekiel: Und man soll eure Unzucht auf euch legen, und sollt eurer Götzen Sünde tragen, auf daß ihr erfahret, daß ich der HErr bin. Erst als sie lügt, der Vater sei tot, beruhigt er sich einigermaßen. Seine Zeit ist bemessen, er hat an tausend Mündel.

Nie wieder hat sie von diesem Vormund etwas gehört.

Acht Tage vor der berechneten Zeit bekommt sie gegen elf Uhr nachts furchtbare Schmerzen. Im strömenden Regen macht sie sich auf den Weg zur Staatsklinik; sie findet zu so später Zeit nur unwillige Aufnahme. Die Schwestern, die in den Sälen die Aufsicht führen, dürfen diese nicht verlassen; so muß sich Lisa denn vor jungen Mädchen mit keckem Mundwerk, sie alle werdende Mütter, im Aufnahmezimmer entkleiden. Die Kleider, die eigene Wäsche und die für das Kind bestimmte werden ihr abgenommen, ihr blau und weiß gestreifte Anstaltswäsche, graue Strümpfe und derbe Halbschuhe gegeben, die sie mit Widerwillen anlegt. Wie eine Schuldige kommt sie sich vor, die in das Gefängnis eingeliefert wird.

Im Hemd und Kittel, Schuhen und Strümpfen steht sie in dem mit zwölf Betten belegten Entbindungssaal. Geburten sind im Gange, Stöhnen, Wimmern, Schreien gellt auf. Lisa steht das Herz fast vor Schrecken still. An einem Tisch unter der Lampe plaudern junge Ärzte mit Schwestern und mit Pflegerinnen; erhebt das Jammern der Gebärenden sich allzu laut, so werden sie zur Ruhe ermahnt. Lisa erhält die Weisung, sich zu bewegen, solange sie nur kann; wohl eine Stunde und länger wandert sie in entsetzlichen Schmerzen auf und ab, an den in ihren Wehen sich krümmenden Mädchen vorbei. Endlich, von Qual gebrochen, bittet sie um die Erlaubnis, sich hinzulegen; lachend gestattet es die Schwester: Sie solle sich nur beeilen, schon seien alle Frauen fleißig bei der Arbeit, man wolle doch auch seine Ruhe haben.

Und in der nächtlichen Stunde, in der sie hilflos hin und her getrieben wird, wie triumphierende Sieger den geschlagenen Feind bis zur Erschöpfung vor sich herhetzen, zerbricht der letzte Halt in Lisa, begräbt sie sich und ihre Jugend, ihre Hoffnung, ihre Kraft. Nicht in der Stunde ihres Falles, – in dieser Stunde erst sinkt alles, was ihr heilig war, in Asche, lernt sie die Welt verachten, zersplittert ihr der Stab, der in Versuchung und im Leid uns strauchelnde Menschen aufrecht hält. In diesem jungen Weibe, das da in plumper Kleidung, von heulenden Frauen umringt, bei kargem Licht schweißtriefend immer wieder sich vor Schmerzen biegt, von einer Wand zur anderen taumelt, lebt nur noch eins, ein unbeschreiblich Grauen vor sich selbst, vor ihrem Schicksal, vor der ganzen Welt.

Die jungen Ärzte dort, die abgestumpft in all dem Jammer mit den schmucken Schwestern scherzen, sind sie denn alles, was Kultur und Wissenschaft an Menschenliebe aufzubieten hat? Und sind die selbstbewußten Schwestern, mit ihrem Genfer Kreuz auf Stirn und Brust, das Einzige, was die Welt der Frauen, der glücklicheren, sorgenlosen und gehegten Frauen an Mitleid und Barmherzigkeit besitzt? Hier liegen sie, die ärmsten ihrer Schwestern, Tag für Tag, in endlos sich erneuernder Kette, verachtet und verstoßen, weil sie geliebt, geglaubt, vertraut haben. Ist ihre Sünde wirklich denn so schwer, verdienen sie so unerhörte Strafe? Gibt es auf Gottes Erde keinen Frauenmund, der tröstend, stärkend sich zu ihnen neigt, kein Frauenherz, das diesen Jammer des Verlassenseins mit ihnen teilt? Und keine Frauenhand, die ihnen hilfreich sich entgegenstreckt, die sich im Zorn erhebt, dem Manne in das satte Angesicht zu schlagen, der kalten Bluts ein reines, unschuldvolles Mädchen in diesem Elend sitzen ließ?

Der Arzt tritt an ihr Bett und untersucht; sie duldet es still, wehrlos vor Pein. Er spricht nur zu der Schwester die knappen Worte: »Zweite Lage«. Lisa versteht es nicht.

Gegen Morgen wachsen die Schmerzen. Die Schwester macht den Arzt auf Lisa aufmerksam. Die Oberschwester wird gerufen; sie zieht die Stirn kraus, prophezeit eine Verwicklung. Der Professor, der Leiter der Staatsklinik, erscheint. Ein Griff, Lisa schreit auf, die Diagnose steht fest. Nierenentzündung. Man bringt sie in ein kleineres Zimmer, zu nur zwei Frauen. Sie kann nichts essen; man verordnet ihr Fachinger, so viel sie will. Der Professor ist voll Güte, auch die Ärzte, nur die Pflegerinnen bleiben hart. Bittet Lisa allzu oft um Wasser, so murren sie lieblos; den Prießnitz-Umschlag, der allstündlich erneuert werden soll, schenken sie sich. Aber niemand wagt, über sie Klage zu führen; man ist tagsüber auf sie angewiesen, ihnen und ihren Launen preisgegeben.

Dann, eines Morgens, zehn Stunden nach Beginn der Wehen, hält sie ein kleines Mädchen in ihrem Arm. Es wird im Krankenhaus getauft; als Patin tritt die Oberschwester ein. Die junge Mutter nennt ihr Kind Martha, Hanna, Dora, nach ihrer Großmutter und Mutter, und nach Hans Berg, dem Vater.

 

Am sechsten Tage durfte Lisa aufstehn, zwei Tage darauf ging sie, ihr Kindchen auf dem Arm, ins Mutterheim.

Man gab sich dort rechtschaffen Mühe, den jungen Müttern Beschäftigung und Stellung zu verschaffen. Lisa bekam einige Häuser vom Mutterheim entfernt Näharbeit für die Reichswehr. Am Morgen um neun, ehe sie das Heim verließ, stillte sie ihr Kind, um zwei nach der Essenspause wiederum, dann um fünf Uhr, nach Arbeitsschluß. Sie hatte es nicht schlecht, nur kostete das Kind sie mehr, als sie durch ihre Näharbeit verdiente. Und doch gab gerade das Los der Kinder Grund zur Klage. Auch hier waren die Pflegerinnen junge, unerfahrene Mädchen; kaum, daß die Kinder jeden Tag gebadet wurden. Die für die Mütter bestimmte Milch verschwand; daß diesen so die Nahrung ausging, die Kinder ständig abmagerten, nahm niemand schwer. So reckte sich denn bald vor Lisa, wie vor ihnen allen, die bange Sorge auf: Wohin mit meinem Kind? Es gegen Kostgeld im Mutterheim lassen? Die Pflegekinder hatten es noch schlechter als die anderen; aus den unsauberen, zerrissenen Gummipfropfen lief die Milch vorbei; kalt, naß und hungrig lagen die Kinder da. Die teure, unersetzliche Kinderwäsche verschwand, war angeblich verlegt. Als Lisa eines Tages von der Arbeit heimkam und ihre kleine Dora leise wimmernd ohne Aufsicht am Boden fand, erregte sie sich so, daß sie ein leichtes Kindbettfieber bekam.

Was also tun? Das Waisenhaus? Schon Hedwig und Frau Schuppke hatten vor ihm gewarnt; und alles, was Lisa jetzt hörte, schreckte sie noch weit mehr ab. Wilde Gerüchte gingen umher: Dort seien die Kinder für ihre Pflegerinnen nichts als kleines, wehrloses Menschenvieh, gut genug zum Schelten und Prügeln. Kein Mensch konnte diese Schauermären kontrollieren; es war auch zweifellos, daß Phantasie und Klatsch und Haß an ihnen mitwirkten; aber ein jeder hörte sie gläubig an, und immer mehr verstärkte sich in Lisa die Furcht vor diesem Waisenhaus. Nein, dazu hatte sie ihr Dorchen viel zu lieb, das kleine Wesen war ihr Einzigstes auf der Welt; sie würde keine ruhige Minute haben, wenn sie das Kind im Waisenhause wüßte. Es blieb nur eins: Privatpflege.

Und Lisa horchte herum, ging unermüdlich, treppauf, treppab, auf der Suche nach einer Unterkunft für das Kind. Sie hatte keine Hoffnung, es bei sich zu behalten; in solchen Mutterheimen und Kliniken, wo es wohl möglich gewesen wäre, Arbeit zu finden, dauernd die Not, das Elend, die Verzweiflung vor sich zu haben, – sie brachte es nicht übers Herz. Auch gegen den Gedanken, sich als Amme zu vermieten, lehnte sich alles in ihr auf, im Schamgefühl des Mädchens, das seinen Fehltritt so rasch als möglich zu verbergen sucht. Als Arbeiterin mochte sie ebensowenig gehn. Gewiß, der Lohn war hoch; aber schon erhoben sich überall die Klagen, fanden Entlassungen statt, schlossen ganze Werke und Fabriken, hilflos gegen die nie erlöschenden Forderungen der notleidenden Arbeiter. Die Tochter des Offiziers, die so einseitig, so abgeschlossen erzogen war, scheute auch die Berührung mit dem Volke, mit all dem Schmutz, den sie in niederen Schichten fürchtete, vor dem ihr graute. Mit Schrecken dachte sie an eine Schlafstelle, an den Verkehr mit den Arbeitern, die Abhängigkeit von Werkmeistern, den Ton unter den Mädchen selbst, die Notwendigkeit, gegen alles das mitzukämpfen, was ihr bisher ein Heiligtum gewesen war.

Es blieb nur eins, ein neuer Dienst. Und da sie ja bei Franks erkannt hatte, wieviel ihr noch zu einer Stellung im herrschaftlichen Hause fehlte, wie schwer sie fremden Dienstboten gegenüber zu leiden hatte, beschloß sie, sich als Alleinmädchen bei einfacheren Leuten zu vermieten.

Aber das Kind, ihr Liebling, ihr Glück? Für die kleine Dora verlangte man hundert bis hundertfünfzig Mark. Vor den Pflegestellen mit hundert Mark wurde Lisa gewarnt; das seien Engelmacherinnen, oder die Kinder verkämen völlig. Die Milch allein koste ja fast die Hälfte.

In ihrer Not griff Lisa schließlich blind zu und gab ihr Kind einer Beamtenwitwe in der Steinmetzstraße für wöchentlich dreißig Mark in Pflege. Einige hundert Mark hatte sie ja noch; und so verschloß sie die Augen vor der Zukunft und nahm für den Juli auf dem Vermietungsamt die erste ihr zusagende Stelle an, bei einem Pferdehändler, weit draußen in Friedenau.

 

Der alte Mann mit den listigen Augen, den grauen Bartstoppeln und der langgedienten Mütze auf dem Kopf hatte Lisa neunzig Mark geboten; dafür sollte sie die Frau in allen Hausarbeiten unterstützen und das Kleinvieh, Ziegen und Hühner pflegen.

Sie hatte um höheres Gehalt gebeten, in ihrer Not schließlich gestanden, daß sie ein Kind habe, das über hundertzwanzig Mark im Monat koste.

»Das geht mich nichts an,« hatte er geantwortet. »Für fremde Göhren kann ich nicht bezahlen. Und eins bitt' ich mir aus: Das Kind, – 'n Junge, was? Also 'n Mädchen, dann erst recht nicht! – das Kind darf mir nicht in mein Haus. Sonst setzt Sie meine Frau 'raus. Wir haben vor langen Jahren eins verloren, überfahren, auch 'n Mädchen, unser Einziges. Da ist mir meine Frau fast hopps gegangen und kann seitdem kein Kind um sich sehn. Ich möchte nicht, daß sie mir noch einmal krank wird; für das Geld, was das Sanatorium geschluckt hat, kann ich sie zweimal begraben.«

Sieben Monate diente sie dort.

Die Alten waren reich, aber geizig. In guten Zeiten verkauften sie wöchentlich zehn bis zwölf Pferde aus dem Stalle, zu vier-, fünftausend Mark und mehr das Stück. Aber zulegen taten sie Lisa nichts. In schwerer Sorge tat diese vom grauenden Morgen bis in die Nacht ihre Pflicht; kaum, daß sie alle paar Wochen einmal nach ihrem Kinde sehen konnte.

Zu ihrer Freude gedieh es, trotz der Milchnot der Zeit. Aber ratlos sah Lisa in die Zukunft. Von ihrem Lohn blieben ihr bei größter Sparsamkeit etwa fünfzig Mark monatlich, und sie konnte den Tag berechnen, an dem sie das Kostgeld nicht mehr zu zahlen vermochte. Dabei wußte sie nicht, wie sie sich kleiden sollte; sie war stärker, frauenhafter geworden nach dem Kinde, und oft saß sie die Nächte hindurch in ihrer öden Kammer und suchte nach Möglichkeit zu weiten und zu flicken.

Sie hatte gehört, es gäbe Heime, in denen uneheliche Kinder kostenlos oder zu bescheidenen Sätzen Unterkunft fanden. Aber sie konnte nichts Gewisses erfahren; und sie traute sich nicht herumzufragen, um ihre Schande nicht selbst auf die Straße zu tragen. Sie wußte kaum noch ein und aus, beneidete oft ihre Mutter, die jedem Leid enthoben war. Nächtelang grübelte sie, ohne einen Ausweg zu finden.

Und eines Tages war es soweit, konnte sie nicht mehr zahlen. Eine Woche verging, eine Mahnkarte kam. Lisa wagte es nicht, ihre Herrschaft um Vorschuß anzugehn, sie wußte, es war zwecklos. Sie fürchtete zugleich, die Stelle zu verlieren, und sagte sich, daß diese Vorschüsse sie nur noch mehr in Not bringen mußten.

Gewiß, der Gedanke stieg in ihr auf, sich einen anderen, besser bezahlten Posten zu suchen. Aber sie war so mürbe geworden; ihr graute auch davor, wieder unter fremde Menschen zu gehn, neue Lieblosigkeiten zu erfahren. Und, was das Entscheidende war, sie konnte auch bei einem Wechsel nicht auf die Summe rechnen, die sie für das Kind und ihren eigenen kleinen Bedarf benötigte.

Sie schrieb an Frau Meta Frank. Diese sandte ihr hundert Mark; für kurze Zeit war sie gerettet. Ein Bittbrief an Hedwig kam als unbestellbar zurück.

Dann, nach drei Wochen, langte die zweite Mahnkarte an.

Sie kämpfte mit ihrem Stolz, dachte daran, sich an Berg zu wenden. Aber sie gab den Gedanken wieder auf; sie wußte ja auch garnicht, wo er sich befand.

Sie hatte schließlich doch den Mut, ihre Dienstherrin um Hilfe zu bitten. Ein schroffes Nein war die Antwort, und seitdem merkte sie, daß man alles vor ihr verschloß, sie wie eine Diebin mit Mißtrauen verfolgte.

Drei Leute waren noch im Stall, ein älterer Mann, der trank, zwei Burschen, die selbst keinen Pfennig besaßen. Sie tat das Letzte: Sie versuchte von dem Pferdeknecht etwas zu leihen; er grinste, griff nach ihr, er bot ihr zehn, dann fünfzehn Mark, wenn sie sich mit ihm abgeben wollte.

Empört, gedemütigt wandte sie sich ab. Er lachte hinter ihr her, rief ihr ein rüdes Schimpfwort nach.

Die Tage schlichen dahin, eintönig, grau. Und allmählich befiel sie eine grenzenlose Erschöpfung. Niemand fragte nach ihr, half ihr, dankte es ihr, wenn sie stark blieb. In jedes Menschen Auge war sie ja längst gerichtet, zum Kehricht geworfen; jeder stellte ihr nach, sah sie als Freiwild an, hielt sie für eine Heuchlerin, wenn sie sich ihm versagte. Sie kannte kaum Valentins Wort: »Du fingst mit einem heimlich an, bald kommen ihrer mehre dran«, aber sie fühlte dies Schicksal nahen, fühlte die Kraft langsam in sich versickern, die sich mit aller Gewalt gegen den Niedergang stemmte.

Auch ihr Dienstherr, der Pferdehändler, war hinter ihr her. Sie schüttelte sich vor Ekel, so oft sie seine Liebkosungen abwehrte. Doch eines Sonntags Abends, als er sie ganz allein im Stall traf und ihr Geld bot, gab sie sich hin, in einem plötzlichen Erlahmen ihrer Kraft. Der Gedanke, für ihr Kind sorgen zu müssen, mit allen Mitteln, selbst unter Preisgabe ihrer eigenen Person, hatte jetzt in fast krankhafter Weise von ihr Besitz genommen. Das Geld schickte sie der Pflegefrau.

Von diesem Tage sah er sie als sein Eigentum an, unter dem Vorgeben, daß seine Frau schon alt und krank und widerwärtig sei; aber die Hand hielt er fest auf der Tasche. Und jeden Widerstand beantwortete er mit der Drohung, Lisa zu kündigen.

Dann, Ende Januar, dämmerte ein Tag auf, in fahlem Sonnenlicht, in eisiger Kälte. Ein Tag, der bis in die Abendstunde in nichts sich von den vorigen unterschied, und der für Lisa doch das Verhängnis in sich barg.

Am Nachmittag langte eine Karte aus der Steinmetzstraße an; diesmal keine friedfertige Mahnung, sondern eine erzürnte Absage.

Lisa hatte die Karte selbst dem Briefträger abgenommen; hastig bat sie um einige Stunden Urlaub, zog sie sich an und fuhr zur Stadt.

Ratlos stand sie im Dunkel vor dem Haus. Immer wieder kehrte sie um, ging unschlüssig auf und ab. Sie wagte nicht mit leeren Händen hinaufzugehn, um Geduld zu bitten; sie konnte ja auch am Monatsende nur eine Abschlagszahlung leisten.

Der scharfe Wind ließ sie erstarren, lähmte ihr Denken, nahm ihr die Energie.

Ein Mann hatte sie schon längere Zeit beobachtet, ein hübscher, junger Mensch, braun, mit flottem, schwarzen Schnurrbart und lustigen Augen, im Gehpelz und runden Hut, den Stock mit silberner Krücke über den Arm, anscheinend ein Ausländer, ein Russe oder Rumäne. In seinem Schlips funkelte ein großer Brillant.

Als er jetzt hinter ihr herkam und sie ansprach, schreckte sie zusammen.

»Nun, kleines Fräulein,« sagte er keck. »Sie warten gewiß auf mich.«

Sie antwortete ihm nicht.

»Warum so scheu?« plauderte er weiter. »Sie sind allein, ich bin es auch; und es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Wollen wir uns nicht zu löblichem Tun vereinen?«

Sie strebte vorwärts, von ihm los, auf das Haus zu.

Er faßte sie unter, hielt sie eisenfest. »Höre mal zu, Kind,« sagte er, »und mach' kein Trara. Ich war auf ein paar Tage hier, fahre heut abend nach dem Balkan zurück. Wir sehn uns niemals wieder, kein Hahn kräht nach uns. Hundert Mark, willst du?«

Sie suchte sich vergeblich loszuringen. Sie wußte ja, was er von ihr wollte; kaum je hatte sie einen Gang in die Stadt gemacht, ohne daß sie ihr nachstiegen, sie einluden, ihr Geld boten. Doch jedesmal, wenn sie in Zorn geriet, verschwanden die Bedränger.

Nur dieser Mensch blieb eigensinnig. »Ich habe gute Geschäfte gemacht,« sagte er und ließ seine weißen Zähne blitzen. »Hier in Berlin ist noch was zu holen.« Er sah nach der Uhr. »Sieben, um zehn geht mein Zug. Ein halbes Stündchen, glattes Geschäft, hundertfünfzig Mark, – abgemacht? Ich weiß hier ganz in der Nähe ein nettes Hotel.«

Hundertfünfzig Mark! Die Rettung für ihr Dorchen!

Aber sie raffte sich zusammen. »Lassen Sie mich gehn,« sagte sie entschlossen.

»Ich bin nun mal in dich verliebt, Mäuschen,« antwortete er und suchte sie immer energischer mit sich zu ziehn. »Du bist mit deiner blonden Mähne genau mein Fall. Je connais une blonde, elle est blonde partout. Also sperr' dich nicht lange, – mein letztes Wort: Zweihundert Mark. Sollst einmal sehn, wie lieb ich zu dir bin. Einig, Schatz?«

Zweihundert Mark! Die Hilfe, die heißersehnte! Was sollte sie tun? Keiner half ihr ... kein Freund ... Wenn ihr Kind verkam, ihr liebes, kleines Dorchen ...?

Sie schwankte. Eine halbe Stunde ging bald vorbei, keiner würde es erfahren. Und ob heute dieser feine Herr, ob morgen ihr Hausherr in Hemdsärmeln und Pantinen, – war es nicht gleich? Sie lugte zur Seite: Er sah ehrlich und fröhlich aus; sie glaubte Vertrauen zu ihm haben zu dürfen, er würde nicht schlecht zu ihr sein. Und während sie noch stumm und abweisend, mit starren Augen vor sich hinblickte, sich von ihm freizumachen suchte, gab sie im Herzen ihm schon nach.

Sie überlegte. Um halb neun spätestens mußte sie in Friedenau zurück sein. Die Zeit drängte.

Die Zeit und die Not drängte. Die Not, der Hunger, der Frost, die nach ihrem obdachlosen Kind griffen.

»Also dreihundert Mark, Herzchen, weil du es bist,« sprach er auf sie ein. »Hab' Tausende verdient, kann solchem netten Mädel auch mal eine Freude machen. Aber rasch, eh' es mir wieder leid tut.«

Und Lisa brach zusammen, ging mit dem feschen jungen Mann, der im Dunkel der Nacht, unbekümmert um die Menschen auf der Straße, den Arm um sie legte, schwatzte, lachte, schmeichelte, bis sie in einem kleinen, engen, schmutzigen Hotel die knarrende Holztreppe hinaufstiegen. Lisa hätte meilenweit fliehen mögen, als ihnen der stämmige Hausknecht mürrisch ein schmales, unfreundliches, modriges Zimmer mit fettigen Tapeten, dürftigem, zerrissenen Läufer und aufgeschlagenem Bett anwies und sich von ihrem Begleiter die dreißig Mark Miete vorweg zahlen ließ.

Und während er sie küßte, hörte sie eine Stimme in sich jubeln: Dreihundert Mark ... Mehr als drei Monate Lohn ... Dreihundert Mark für Dorchen, mein Kind ...

Dann stand sie vor ihm, zum Gehn fertig. Mit aller Macht zog es sie zu dem Kinde hin.

Er nickte ihr abschiednehmend zu. »Servus, Kleine,« sagte er. »Nun geh nur immer, schau, daß du heimkommst.«

Sie sah ihn verblüfft an. Sie zögerte, wagte nicht zu fragen. Endlich, von der Not getrieben, flüsterte sie unsicher:

»Sie hatten mir etwas versprochen.«

Er kämmte sich gerade vor dem blinden, schiefhängenden Spiegel über dem wackligen Waschtisch. Jetzt fuhr er herum; sein sonniges Gesicht war wie in Eisen gegossen, der Unterkiefer vorgeschoben, die Augen glühten.

»Versprochen?« herrschte er sie an. »Blödsinn! Das sagt man so. Wer nimmt denn so was ernst? Das Zimmer hat genug gekostet.«

Ihre Augen feuchteten sich. In heller Bestürzung stammelte sie:

»Ich muß es aber haben.«

»Wenn du noch frech wirst,« schrie er drohend auf sie ein, »laß ich die Polizei holen. Dann kommst du unter die Sitte. Und« – er tastete nach der Westentasche – »meine Uhr, die fehlt mir auch. Die hast du einem zugesteckt. Ich dreh' dir den Hals ab, infame Diebin du!«

Mit geballter Faust trat er auf sie zu. Wie ein Tier sah er aus, zu jeder Untat fähig. Sie waren allein, das Haus totenstill, er konnte sie ungefährdet niederschlagen und sich flüchten.

Sinnlos vor Schrecken stürzte sie die Treppe hinab, auf die Straße, bis zu dem Hause, in dem Doras Pflegerin wohnte; an allen Gliedern zitternd, lehnte sie an der Wand des Flurs, rang sie nach Atem, trocknete ihre Tränen.

Dann, halb verstört, stieg sie die vier Treppen hinauf.

Sie weinte, bat, bettelte um Frist. Die Frau war gutmütig, aber selbst arm; sie konnte einfach nicht. Und sie gab Lisa den Rat, mit ihrem Kinde nach Friedenau zu fahren; die reichen Leute müßten ja doch auch ein Herz im Leibe haben.

Sie drängte Lisa mit der kleinen Dora und dem Bündel Kinderwäsche fast hinaus.

Und nun saß Lisa in der Straßenbahn, das Kind auf dem Arm, und fuhr ihrem Heim entgegen.

Nie hat sich Lisa Halm in späteren dunklen Tagen über die nächsten Stunden volle Rechenschaft geben können.

Nur für eine Nacht wollte sie das Kind behalten. Morgen ... Sie hatte nicht mehr die Kraft, über das Heute hinwegzudenken.

Denn dieses Heute erfüllte sie mit bitterer Sorge. Sie hatte bestimmt darauf gerechnet, ihr Dorchen bei der Pflegefrau lassen zu können. Wenn man sie daheim bei ihr entdeckte, setzte man sie beide in der Winterkälte auf die Straße. Und dann? Wie um Hilfe flehend, blickte sie der kleinen Dora ins Gesicht; das Kind sah sie ernsthaft an, mit seines Vaters grauen, schwarzumwimperten Augen, als ob es ebenso bekümmert auf einen Ausweg sänne.

Wie automatisch überlegte trotz Lisas Seelennot ihr Hirn, bedachte es die geringsten Kleinigkeiten. Milch mußte sie für Dora besorgen; wie gut, daß sie die Ziegen hatten! Doch immer wieder, wie im Wind die Blätter jagen, hasteten ihre Gedanken zu der großen Frage zurück: Was nun?, dieser beherrschenden Frage, die sie das böse Erlebnis des Nachmittags vergessen ließ.

Es war halb neun, als sie frostbebend vor ihrem Hause anlangte. Sie schleppte sich lautlos die Treppe hinauf, in ihre Bodenkammer, steckte die Gasflamme an. Es war kalt dort oben, der Wind pfiff eisig durch die beiden klapprigen Dachfenster. Sie legte das Kind in ihr Bett. Es fing zu wimmern an; es hatte Hunger. Bei jedem stärkeren Laut stand Lisa das Herz still.

Immer andauernder klagte das Kind.

Die Frau kam aus der Küche, rief nach ihr. Und mit dürren Worten kündigte sie ihr den Dienst. Der von Lisa abgewiesene Knecht hatte wohl doch etwas von ihr und dem Hausherrn gemerkt und es der Frau gesteckt; und diese, alt und krank, sah Lisa schon mit ihrem Bastard sich in die Wirtschaft setzen, ihr Erbe antreten.

Stumm, ohne ein Wort der Verteidigung, stieg Lisa wieder in ihre Kammer hinauf. Sie war völlig stumpf, ihr schien das alles gleichgültig.

Eine Weile lag sie erschöpft, im Halbschlummer neben dem Kinde auf dem Bett, dann hörte sie die Alten in die Schlafstube unter ihr gehn. Sie raffte sich auf, schlich sich auf Strümpfen in die Küche, füllte Milch in die Flasche und kehrte zurück.

Das Kind stieß die Flasche von sich und weinte weiter. Lisa sah hilflos vor sich hin; sie wußte ja mit ihren siebzehn Jahren nicht, was tun, verstand so gut wie nichts von Kinderpflege. Unten hörte sie die Eheleute heftig mit einander zanken; sicherlich ging der Streit um sie.

Und als das Kind auf einmal heftig aufwimmerte, erlosch ihr Mut. Sie sah keinen Ausweg. Sie hatte nicht die Kraft mehr, gegen ihr unerbittliches, grausames Schicksal sich zu wehren. Ihr graute vor der eigenen Zukunft, vor der des Kindes. Was hatte sie denn noch auf Gottes weiter Welt? Ein mühsames, bemakeltes Leben! Und das beständige langgezogene, schmerzhafte Klagen ihres Kindes raubte ihr die letzte klare Vernunft.

Wie heimlich ein Feuer lange schwelt, um jäh dann unter prasselnden Balken, dem Klirren der Scheiben hochzulodern, so brach in ihr jetzt plötzlich die Verzweiflung aus. Waren das Menschen? Waren es Tiere? Warum fluchte man ihr, die mit der Krone der Mutterschaft gesegnet war, ihr und ihrem schuldlosen Kind? Weshalb stießen die Menschen sie so erbarmungslos zurück? Hatte nicht der Erlöser einst gesagt: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid? Hatte er nicht gelehrt, als seiner Liebe köstlichstes Gebot: Nicht siebenmal, nein, siebzigmal sollt ihr verzeihen? Wie stand es in der Heiligen Schrift? »Und siehe, ein Weib war in der Stadt, die war eine Sünderin. Und Jesus sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben.« Warum verziehen ihr die Menschen nicht, statt ohne Gnade immer tiefer sie in Schmutz und Schande zu stoßen? Und wie in ihrer Mutter aus ihrem letzten Gange, so reckte es bezwingend sich nun auch in Lisa auf: Ein Ende! Nur ein Ende! Ein schnelles Ende mit mir und meinem Kind! Ein Ende, in Selbstvernichtung, den Fluch gegen die Menschheit auf den Lippen!

Ja, das Kind mußte mit ihr gehn! Ihren Liebling unter diesen lieblosen Menschen lassen, zu freudloser Jugend, dem gleichen Schicksal ausgesetzt wie sie, noch zehnmal mehr gefährdet? Niemals! Dazu hatte sie ihr Dorchen viel zu lieb. Sie wollte sterben. Aber das Kind ging mit ihr!

Ohne langes Erwägen sah sie ihren Weg vor sich. Vor Gewalt schreckte sie zurück; der Strick erschien ihr widerwärtig, das kalte Wasser, in dem ihre Mutter geendet, erfüllte sie mit Entsetzen. Aber das Gas, das so sanft, so schmerzlos, so mitleidig hinüberschlummern ließ, das war das Rechte. Da brauchte sie sich auch nicht an ihrem Kinde zu vergreifen.

Ihr Denken arbeitete mit voller Überlegung: Vor allem mußte sie der Luft den Eintritt wehren.

Sie legte dem Kinde ein leichtes Tuch über den Kopf, um sein Schreien zu dämpfen. Aus ihrem Koffer nahm sie das Zeitungspapier, in das sie ihre Sachen eingeschlagen hatte, feuchtete es in der Waschschüssel an und verstopfte mit Hilfe eines Messers sorgfältig jede Spalte der Fenster und der Tür. Sie flog vor Kälte; als sie mit ihrer Arbeit endlich fertig war, fror sie so furchtbar, daß sie aus diesem Grunde schon den Tod als Erlösung ansah. Die Uhr schlug halb zehn.

Sie schloß den Hahn der brennenden Flamme und drehte ihn wieder weit auf. Dann legte sie sich neben das Kind in das Bett.

In flüchtigen Bildern zog ihr junges Leben an ihr vorbei. Mit aller Gewalt suchte sie sich zum Schlafen zu zwingen; es gelang ihr nicht.

Allmählich aber fiel sie doch in ein Dämmern. Das Kind war still geworden. Einmal hörte sie auf der Straße johlen, dann überkam sie die Bewußtlosigkeit.

Plötzlich schreckte sie auf. Die Kirchenuhr schlug erst vier helle Schläge, dann einen tiefen. Eins. Sie taumelte hoch, sank in die Kissen zurück; das Bett drehte sich mit ihr, als ob sie berauscht wäre.

Allmählich vermochte sie wieder klarer zu denken.

Und jäh, mit Zentnerlast fiel es ihr auf die Seele: War sie denn wahnsinnig? Was hatte sie getan? Ihr Töchterchen morden, für ewig sich noch unglücklicher machen wollen, als sie schon war?

Sie tastete nach dem Kinde: Gott sei gedankt, es atmete noch, es schlief.

Mit einem Satz warf sie sich von dem Bett herab, suchte den Gasarm, schloß fest den Hahn.

Noch immer, trotz der mehr als drei Stunden, die vergangen waren, merkte sie von dem Gase nichts. Die dünnen, viertelzölligen Röhren gaben nicht viel her, und völlig war die Luft wohl auch nicht abgesperrt gewesen. In ihrer Benommenheit dachte sie nicht daran, Tür und Fenster zu öffnen; wie ein Stein fiel sie in ihr Bett zurück.

Als ein Stöhnen des Kindes sie zu sich zurückrief, schlug es gerade zwei. Und eine solche Hoffnungslosigkeit, solch grenzenloses Verzagen kam wieder über sie, solch glühender Drang, der Qual, der Sorge, dem Leben ein Ende zu machen, daß sie sich wankend, strauchelnd, auf den Knieen rutschend von neuem die wenigen Schritte durch die Kammer schleppte, am Tisch sich mühsam zu dem Gashahn hochzog und wiederum den Hahn weit öffnete.

Und endlich kam das leere Nichts, Vergessenheit, der Frieden.

Als sie die Augen wieder aufschlug, bleischwer der Kopf, die Glieder wie zerschlagen, blendete sie helles Tageslicht. Eine fremde Frau beugte sich über sie.

»Wo bin ich?« flüsterte Lisa kaum verständlich.

»Im Krankenhaus.«

Sie schwieg. Sie grübelte, sie wußte von nichts. Und dann, mit einem Schlage, stand ihr die Nacht vor Augen.

Sie bewegte ihre Lippen, bemühte sich zu sprechen. Endlich stammelte sie:

»Das Kind?«

»Dem Kind ist wohl,« antwortete die Wärterin in tiefem Ernst. »Sie dürfen jetzt nicht reden. Sie sollen schlafen.«

Und Lisa schloß gehorsam ihre Augen. Still, teilnahmslos lag sie im hellen Saal der Charité, in der Abteilung für Untersuchungsgefangene.

Das Kind war tot.

Inzwischen hatte auch Bergs Schicksal sich entschieden.

Frau Schuppke kannte Bergs Tageseinteilung aus der Zeit her, in der er noch im Hause wohnte. Bis drei war er auf dem Amt, gegen halb fünf kam er von Tisch. Dann schlief er bis fünf und setzte sich, wenn er nichts anderes vorhatte, wieder an die Akten. Seine Wohnung hatte er ihr angegeben.

Um halb sechs nachmittags am Donnerstag stieg sie die Treppe zu ihm hinauf. Die Wirtin öffnete.

»'n Tag. Assessor Berg?«

»Ist nicht zu sprechen. Arbeitet, 'n Tag auch.«

»Wetten, daß er für mich zu sprechen ist?«

»Wie ist Ihr werter Name?«

»Frau Schuppke. Frau Hulda Schuppke.«

Es dauerte sehr lange, ehe die Frau zurückkam.

»Herr Assessor läßt bitten.«

»Na also!« Und klar zum Gefecht schob sich Frau Schuppke hinein.

Berg saß in seiner Litewka am Tisch. Tolstois »Lebender Leichnam« lag vor ihm. Eben hatte er den Satz gelesen: »Denn, siehst du, du mußt wissen: Wir lieben die Menschen, um des Guten willen, das wir ihnen tun, und hassen sie um des Bösen willen, das wir ihnen antun.« Wie ein Schlag hatte ihn die Wahrheit dieses Wortes getroffen; Lisa stand vor ihm, die er gehaßt um des Bösen willen, das er ihr angetan. Und während der Gedanke in ihm auftauchte, daß es doch eine Vergeltung gebe, daß ihn seit seinem Treubruch das Glück bei Frauen ganz verlassen habe, bei Trude, Annie, daß auch bei Dolly sein Erfolg noch nicht entschieden war, wurde Frau Schuppke ihm gemeldet.

Bei ihrem Eintritt erhob er sich. Seine Augen hingen unsicher an ihr. Er sah blaß aus, sie stellte es mit Befriedigung fest.

»Nun, verehrte Frau,« sagte er mit einem Versuch zu scherzen, »wie kommt ein solcher Glanz in meine Hütte?«

Und plötzlich, als er der Frau in das verkniffene Antlitz sah, packte ein heißer Schrecken ihn. Wieder reckte sich der unglückselige Vorfall in seiner ganzen Gefahr vor ihm auf. Und jäh regte sich der Verdacht in ihm, daß er in eine ihm gestellte Falle gegangen war.

»Bitte, nehmen Sie Platz,« sagte er gepreßt.

Sie setzte sich in den roten Plüschsessel, breitbeinig, die rissigen Hände über den Schirmgriff gekreuzt. Sie wußte nicht, wie grotesk sie wirkte, in dem schwarzseidenen, zu kurzen Rock, den Frau Wagner abgelegt hatte, den wollenen Strümpfen und plumpen Stiefeln darunter, dem Hut mit den trübseligen Straußfedern auf dem dürftigen Haar.

Vor der Mensur. Sie maßen sich stumm. Die Uhr tickte aufdringlich.

»Na ... und?« sagte Frau Schuppke, ihres Erfolges gewiß.

»Sie meinen?« fragte er zögernd zurück. Er fühlte den Boden unter den Füßen fortgleiten.

»Was denn nun werden soll, frag' ich,« trumpfte sie laut auf.

»Bitte, Frau Schuppke, wollen Sie nicht leiser sprechen? Die Frau« – er wies auf die Tür zum Nebenzimmer – »hört jedes Wort.«

»Was ich rede, kann jeder hören,« antwortete sie derb. »Ich hab' 'n gutes Gewissen.«

Er fühlte den Mut der Verzweiflung. »Ich weiß noch immer nicht, was Sie zu mir herführt,« sagte er etwas schärfer.

»So, das wissen Sie nicht? Da haben Sie aber ein merkwürdig schlechtes Gedächtnis. Und die Annie?«

Er suchte aus ihr herauszulocken, wie weit sie eingeweiht war. »Herrgott, das ist doch nicht so schlimm,« heuchelte er Unbefangenheit. »Und jetzt wollen Sie mich wohl gehörig herunterputzen?« setzte er mit mühsamem Lächeln hinzu.

»Nee, das will ich nun absolut nicht,« antwortete sie breit. »Was geschehn ist, da beißt keine Maus einen Faden von weg. Da hat das Geschimpfe doch keinen Zweck.«

Ihm fiel ein Stein vom Herzen, wie einem Menschen, der sich im schweren Traum zur Richtstatt geschleppt sieht und jäh in hellem Sonnenschein erwacht.

»Sie wissen ja, meine verehrte Frau,« sagte er schmeichelnd, »wie das so ist. Ein Kuß in Ehren ... Jugend hat nun einmal keine Tugend.«

»Ein Kuß?« fragte Frau Schuppke. »Und weiter ist nichts passiert?«

»Nichts,« log er mit eiserner Stirn. Er war sich jetzt klar: Zweifellos hatte die Alte Annies Erregung oder das blutende Näschen gesehn und sich ein Märchen von einem etwas gewaltsamen Kuß erzählen lassen.

»Nun sieh mal an,« sagte Frau Schuppke, und stierte ihm beharrlich in das Gesicht. »Also sonst haben Sie nichts mit der Annie vorgehabt? Sie wissen doch, was ich meine?«

»Keine Spur,« erwiderte er in gutgespielter Entrüstung.

»So,« meinte sie gedehnt. »Das ist man gut.« Und wie zu sich selbst sprechend, noch einmal: »Das ist man gut.«

Berg reckte sich auf. Er hätte die Frau da vor ihm umarmen können. Ein Glück, daß er sich nicht im ersten Schreck verraten hatte!

Er griff in das Kästchen neben sich, zündete sich eine Zigarette an. Und behaglich den Rauch ausblasend, fragte er:

»Wie wär's mit einem Schnäpschen, Frau Schuppke? Alten Klaren, aus meiner Heimat Münsterland?«

»Nee, danke,« antwortete Frau Schuppke. »Den haben Sie wohl nötiger als ich. Denn das ist alles ja recht schön und gut, aber –« ihre Stimme wurde plötzlich messerscharf – »wenn nu so'n Wurm kommt?«

»Ein Wurm?« fragte Berg verblüfft.

»Ein Kind, Herr Assessor,« wiederholte sie sanft, fast elegisch.

»Aber ich sagte Ihnen doch –« stammelte er.

»Gewiß, das haben Sie getan. Ich meine ja auch nur, gesetzt den Fall –«

Er starrte sie verständnislos an. »Wo soll denn das herkommen?« fragte er endlich.

»Das kann man nie wissen, Herr Assessor, mit den Kindern,« sagte sie in lehrhaftem Ton. »Das dürfen Sie mir als Frau schon glauben.« Mit strengen Augen blickte sie zu ihm hinüber.

Er schwieg entsetzt.

»Die Doktors, die haben wohl da 'ne Liste aufgestellt, so an die dreihundert Tage, nicht wahr? Sie sind ja Rechtsmensch.«

Er wagte nicht länger zu streiten. Aber er sträubte sich auch dagegen, die Wahrheit zuzugeben. Er spielte also die Frage in das Unpersönliche hinüber.

»Was Sie da meinen, Frau Schuppke, das stimmt so annähernd. Aber erst muß in solchen Fällen die Existenz eines Kindes festgestellt sein.«

»Sehr richtig,« sagte Frau Schuppke gleichmütig. »Doch wenn Sie nun 'ne Tochter hätten, Herr Assessor, und irgend ein Windhund hat sich – meinetwegen am Sonntag – mit ihr eingelassen, das erste Mal für sie, da würden Sie wohl auch das Mädel zum Doktor bringen und sich ein kleines Attest geben lassen?«

Ihn fror plötzlich. »Das ist nicht nötig,« sagte er unsicher. »Dazu ist doch der Eid da.«

»Natürlich,« nickte die Alte. »Das ist mir ja klar wie Kloßbrühe. Aber es gibt doch auch besondere Fälle. Zum Beispiel, wenn die Mutter gleich hinterher nach Haus kommt und findet das Mädchen heulend und förmlich aufgelöst vor, das spricht wohl auch mit, was?«

Er schwieg. Er war wie gelähmt.

»Und nackt und blutend und halb abgewürgt?«

Er gab klein bei. »Frau Schuppke,« sagte er bittend, »es läßt sich doch alles gutmachen.«

»Sehn Sie,« erwiderte sie erfreut. »Ganz meine Ansicht. Und das werden Sie?«

»Gewiß,« erwiderte er eifrig. »Soweit es irgend in meinen Kräften steht.«

»Mit den Kräften scheint's ja heute mies zu sein,« bemerkte sie in unverhülltem Spott. »Wie weit wollen Sie denn gehn?«

Er zögerte. »Machen Sie mir einen vernünftigen Vorschlag, Frau Schuppke.«

»Nun,« antwortete sie, »wir sind bescheiden. Nur um die Ecke 'rum.«

»Wohin?« fragte er erstaunt.

»Um die Ecke 'rum,« wiederholte sie mit glitzernden Augen. »Zum Standesamt. Sonst gehn Sie eben allein um die Ecke, Herr Assessor.«

Er fuhr zurück. Sie regte sich nicht in ihrem Stuhl; aber sie hatte die Maske abgeworfen. Tückisch, in tierischer Lust lag ihr Blick auf ihm.

Eine lange Stille. Wieder hörte man die Uhr an der Wand deutlich ticken.

»Frau Schuppke,« sagte er endlich, wie vor den Kopf geschlagen. »Ich habe doch nichts als mein bißchen Gehalt. Jeder Schaffner steht sich besser als ich.«

»Das tut nichts,« antwortete sie selbstbewußt. »Wir sind bescheidene Leute, wir heiraten nicht nach Geld.«

Er hatte sich überrumpeln lassen. Er raffte die letzte Kraft zusammen.

»Seien Sie verständig, liebe Frau Schuppte,« sagte er. »Das ist doch unmöglich. Ihre Tochter und ich, wir kennen uns ja garnicht.«

»Sie kennen mehr von ihr, als mir lieb ist,« antwortete Frau Schuppke spitz.

Je selbstverständlicher sie jedoch von dieser Heirat sprach, desto heftiger lehnte sich alles in ihm dagegen auf.

»Ich bin ja auch so gut wie verlobt,« log er verzweifelt.

»Verlobungen gehn zurück,« antwortete die Alte kühl. »Wer das auch ist, – erst die Geschichte mit der Lisa Halm, und nun die Annie, da brauch' ich bloß ein Wort zu sagen, und Sie fliegen.«

Die Wut packte ihn. »Das werden Sie nicht tun,« herrschte er sie an.

»Aber nicht zu knapp,« erwiderte sie höhnend.

»Das wäre die größte Dummheit, die Sie machen können,« fuhr er erregt fort. »Wenn Annie wirklich etwas passiert ist – wenn, sage ich –, so kann ich ihr als Gatte einer reichen Frau weit besser helfen. Zur Ehe zwingen können Sie mich nie.«

»Das habe ich mir gestern morgen etwas anders erklären lassen,« sagte sie kalt.

»Dann hat man Sie falsch berichtet,« antwortete er geharnischt. »Ich bin seit Jahren Jurist, ich kenne das Gesetz.« Er zerstampfte die Zigarette im Aschbecher; alle Glieder flogen ihm.

»Das Gesetz,« erwiderte sie gedehnt. »Wer redet denn vom Ges –?«

»Und was kann mich sonst zwingen?« schnitt er ihr zornbebend das Wort ab.

»Das Gesetz nicht,« wiederholte sie langsam. »Mit dem kriegen Sie freilich die Annie nie, Herr Assessor.« Sie sprach ganz langsam, jede Silbe betonend. »Mit dem kriegen Sie man bloß bis fünfzehn Jahre Zuchthaus.«

Es ging ihm wie Eis über den Rücken. Er rang nach einer Antwort, er fand sie nicht.

Auch sie schwieg. Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt.

»Das kleine Doktorattest, von wegen Schmerzen und blauen Flecken und zerschlagener Nase, das haben wir nämlich schon,« setzte sie dann hinzu. »Darum hat's auch so lange gedauert, bis ich gekommen bin. Die haben Sie wüst zugerichtet, die arme Göhre. Das grenzt ja schon an Totschlag.«

Er war aufgestanden. Ruhelos ging er hinter ihrem Rücken hin und her. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Wenn Annie auch nicht intakt gewesen war, die Gewalt schaffte nichts aus der Welt. Nirgends sah er einen Ausweg. Attest und Eid standen gegen ihn. Er war verloren.

Auch Frau Schuppke hatte sich erhoben.

»Ich will Sie nicht drängen, Herr Berg,« sagte sie siegesbewußt. »Die Sache eilt ja nicht, – fünfzehn Jahre Verjährung, wie? Aber immerhin! Wenn bis – warten Sie mal, heute haben wir Donnerstag –, wenn bis nächsten Mittwoch früh die Anzeige nicht im Lokal-Anzeiger steht, hübsch groß, bitte, das Geld können Sie wiederhaben – herrschaftlicher Kutscher Anton Schuppke und Frau Gemahlin Hulda, geborene Schmittlawick, ich hab's hier aufgeschrieben –, wo geht man denn da hin, zum Staatsanwalt? Am einfachsten wohl aufs Revier, was? Nun muß ich aber nach Haus, sonst brennt mir noch die Suppe an.«

Ihm war jetzt alles gleich. »Also schön,« sagte er grimmig, »meinetwegen. Aber eins weiß ich schon heut: Was Nettes heirat' ich da.«

»Noch immer nicht so Nettes, wie Annie es tut,« antwortete Frau Schuppke schlagfertig. »Einen Assessor, Offizier und Zuchthauskandidaten.«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie ihn.

Als sie gegangen war, blieb er lange förmlich zerschmettert sitzen. Er stierte vor sich hin. Soweit war ja alles in Ordnung: Als Verlobte empfehlen sich ... herrschaftlicher Kutscher ... Schmittlawick ... Sein Kopf war wie ausgehöhlt, er war stumpf wie ein Wanderer im Wolkenbruch, dem alles gleich ist, weil er nicht mehr nasser werden kann. Er hatte zu furchtbar unter dem Kübel voll Unrat gelitten, den die alte Megäre über ihn ausgegossen, unter der nagenden Reue, sich durch rohe Gewalt, wie ein betrunkener Rowdy dem Gesetz ausgeliefert, für sein ganzes Leben in fremde Hände gegeben zu haben. Nur nicht denken! Nur Ruhe haben! Er zwang sich, in dem verzweifelten Optimismus, dem er sich hingab, hingeben mußte, um nicht zusammenzubrechen, an eine erträgliche Zukunft zu glauben, im schlichten Heim, fern von Berlin, als Rechtsanwalt in irgend einem verlorenen Nest. Aber wie vor entzündeten Augen im Dunkel bunte Lichter tanzen, so leuchtete immer wieder in seinem Elend alles auf, was er sich selbst verscherzt, Dollys Bild, und mit ihr Reichtum und Freude.

Dollys Bild und mit ihr der Gedanke an Rettung.

Er stand lange genug im Leben, um zu erkennen: Im Grunde ging die Geschichte auf eine verschleierte Erpressung aus. So empfindlich war das Ehrgefühl dieser Pförtnersleute doch nicht, daß sie nicht eine hübsche, runde Summe einer erzwungenen, aussichtslosen Heirat vorgezogen hätten. Geld sicherte ihnen einen sorgenlosen Lebensabend, Annie eine angemessene Partie; mit ihm als Schwiegersohn kam nichts als Mord und Totschlag, vielleicht die Not ins Haus. Dolly besaß jetzt Geld in Hülle und Fülle; sie hatte ihn geliebt, sich ihm hingegeben. Zuerst tauchte der Gedanke in ihm auf, sich sofort heimlich mit ihr zu verloben und dann zu beichten. Aber rasch verwarf er wieder diesen Plan. Wenn er mit dem Geheimnis auf dem Herzen, der Schmach auf seinem Namen um sie warb, um erst der Braut sich zu offenbaren, so mußte sie an seiner Liebe zweifeln, stand er in nacktem Egoismus vor ihr. Wie einen Hund würde sie ihn von sich jagen. Und dann, unmöglich konnte er jetzt Dolly zu dem Entschlusse einer neuen Ehe drängen, bis nächsten Dienstag Werbung und Geständnis auf einander folgen lassen. Nein, einen Weg nur gab es: Ehrlich beichten, sobald als möglich, sein Schicksal voll Vertrauen in ihre freien Hände legen. Es galt, sie zu dem unvermeidlichen Opfer zu bewegen, selbst auf die Gefahr hin, daß sich der Plan der Heirat mit ihr zerschlug; denn daß sie nicht so leicht über den üblen Vorfall mit Annie hinweggehn würde, lag auf der Hand. Die ganze Frage war, wie weit er sie von neuem in seinen Bann bringen, die Überlegung im Taumel ihrer Sinne zu ersticken vermochte. Und wenn ihm das gelang, wenn sie ihn aus seiner Not rettete, dann gab sie ihm damit zugleich den Beweis für ihre schrankenlose Liebe, dann war er auch sicher, sie über kurz oder lang zum Weibe zu gewinnen.

Er wollte die Einäscherung am Freitag abwarten; er hatte Dolly schriftlich, in kurzem Satz sein Beileid ausgesprochen, sein Fernbleiben von der Feier mit Dienstobliegenheiten entschuldigt. Er hoffte immer noch auf ein Wunder, ein Nachgeben von seiten der Schuppkes, schreckte vor der entscheidenden Rücksprache mit Dolly zurück. Doch in der schlaflosen Nacht zum Sonnabend schlug seine Stimmung um, schwand sein Bedenken. Er war sein Lebtag niemals feige gewesen, – sollte er nun, in der schwersten Stunde seines Lebens versagen?

Am Sonnabend früh läutete er Dolly an; er wollte sich auf der Straße mit ihr treffen, um bei seiner Beichte jedem dramatischen Auftritt vorzubeugen.

Sie stimmte nach einigem Zögern zu, erklärte jedoch, daß sie sich erst um neun Uhr abends in der Hardenbergstraße, an der Hochschule für Musik einfinden könne.

Um neun war es schon Nacht. Das war ihm lieb. Im Dunkel, wenn die Augen, die wir fürchten, nicht auf uns lasten, läßt es sich leichter reden. Ob sie diese Stunde gewählt hatte, um nicht mit ihm gesehn zu werden, das fragte er sich nicht.

Lange wanderte er auf und ab, ehe sie kam. Sie war in tiefer Trauer; unter dem Schleier leuchtete ihr blasses, süßes Gesicht. Es gab ihm doch einen Stich; er dachte daran, wie oft er dieses Antlitz in unvergeßlichen Stunden geküßt.

Sie wirkte anders als sonst auf ihn. Ihrem impulsiven Charme, ihren lebhaften Bewegungen widersprach das stumpfe Trauerkleid, das Ruhe und Würde heischt; und es befremdete noch mehr durch die Koketterie des Schnitts, den kurzen Rock zu dem langwallenden Schleier, den düsteren Hut zu den im Erstgefühl der Freiheit leuchtenden Augen.

Er war sich ungewiß: Wie sollte er sich verhalten? Sollte er gleich beichten, oder sie erst mit sich zu nehmen suchen, im Sturm der Leidenschaft sie bis zur Erschöpfung brechen?

Nein! Er wollte es vom Herzen herunter haben, je eher, desto besser.

»Ich habe dir etwas zu gestehen, Dolly,« begann er, die Augen in das Dunkel gerichtet, durch das wie Meteore die Autolichter schossen.

»Ich kann mir das denken,« antwortete sie schlecht gelaunt, »sonst trieben wir uns hier nicht auf der Straße herum. Ich irre wohl nicht, du willst dich verloben.«

»Ich will nicht, ich muß, Dolly,« sagte er entschlossen, »muß, wenn kein Wunder geschieht.«

Er hatte ein Gefühl: Nur vorwärts, vorwärts ... Lieber alles andere, als dieser Schrecken ohne Ende!

»Also,« sagte sie gereizt, »du mußt! Und redest dir wohl ein, daß ich dir Schwierigkeiten mache? Ich bin übrigens im Bilde; als du heut angeläutet hast, war gerade eine Dame zum Kondolieren bei mir, Frau Konsul Abel aus deinem früheren Haus. Und wie's der Zufall bringt, erzählte sie von dir und Fräulein Wagner. Ich gratuliere.«

Ihm schwirrte der Kopf; Dolly war ja auf ganz falscher Fährte. Und er suchte sogleich Vorteil hieraus zu ziehen.

»Glaubst du wirklich,« sagte er entrüstet, »daß ich um einer Trude Wagner willen dich aufgäbe?«

Sie warteten an der Uhlandstraße, bis sie den Damm kreuzen konnten. Dolly sah Berg leicht von der Seite an.

»Lieber Freund,« sagte sie, »ich kenne dich gründlich. Du würdest jedes Weib umsonst verführen, und jedes Weib um einen Silberling sitzen lassen. Das ist kein Vorwurf, nur die Feststellung einer Tatsache.«

Er war über ihre Schroffheit verblüfft. »Und wenn ich dir das Gegenteil bewiese?« fragte er zornig.

»Ich bin gespannt.«

»Wenn es sich um ein Mädchen ohne einen Groschen, kaum mit dem Hemd auf dem Leibe handelt?«

Sie sah ihn erstaunt an. Und als sie die Straße überquert hatten, erwiderte sie bestimmt:

»Dann tust du's, um keine Kugel zwischen die Rippen zu kriegen oder um dem Staatsanwalt zu entgehn.«

Er prallte zurück. Gekränkt entgegnete er:

»Das ist nicht hübsch von dir, Dolly. Sag' es doch lieber offen, daß du genau Bescheid weißt.«

»Ich weiß garnichts,« antwortete sie kurz. »Also zu welcher keuschen Mädchenblüte darf man dir Glück wünschen?«

Er blieb stehen. »Wenn du in meiner Lage mich als dankbares Objekt für deine Bosheiten betrachtest,« brauste er auf, »so mache ich kehrt und gehe heim.«

Sie lenkte ein. Sie war doch neugierig. »Ich glaube, Hans,« sagte sie etwas wärmer und schob den Arm leicht unter den seinen, »du bist reichlich nervös; man muß dir etwas zugute halten. Also fehlgegriffen?«

»Gründlich,« murmelte er, ein wenig besänftigt.

»Kein Geld?«

»Nichts.«

»Hübsch?«

»Nicht mein Typ.«

»Gute Familie?«

»Das weiß der liebe Himmel,« antwortete er, immer gedemütigter. »Dolly,« stieß er dann heiser hervor, »gib dir keine Mühe, – es ist und bleibt eine Katastrophe.«

»Aber wie kommst du nur dazu?« fragte sie verständnislos.

»Sie reden von Gewalt,« erwiderte er gepreßt.

Jetzt war sie es, die stehen blieb. Und sofort begriff ihr heller Verstand die Lage.

»Bestellte Arbeit?« fragte sie.

»Sicher,« entgegnete er.

Sie pfiff ganz leise durch die Zähne. Sie überlegte sichtlich; schmerzhaft, wie einen Schlag empfand er es, daß sie ihn bei dem bösen Wort »Gewalt« gleich losgelassen hatte.

»Und das ist nicht aus der Welt zu schaffen?« fragte sie.

Er zögerte. »Vielleicht mit Geld,« antwortete er dann. Und in dem Gefühl, versteckt zu betteln, überlief es ihn siedend heiß.

»Wie heißt sie denn?« fragte Dolly, ohne auf seine letzten Worte einzugehen.

»Annie.«

»Annie – wer?«

»Annie Schuppke.«

»Schuppke!« wiederholte sie gedehnt. »Und die Eltern?«

»Pförtner, Kutscher.«

»Allmächtiger Gott,« sagte Dolly.

Er streifte sie mit seinem Blick, wie sie unter den Lichtern des Ufapalastes dahingingen, in ihrer zierlichen Gestalt, von der er jede Linie kannte, auf der unzählige Male seine Küsse gebrannt hatten. Und ein ungeheures Weh, ein furchtbarer Schmerz stieg in ihm hoch. Mit aller Kraft rang er gegen die Weichheit, die ihn zu übermannen drohte.

Dolly schwieg. Sie wußte nichts mehr zu sagen. Das war schlimmer als Zuchthaus, schlimmer als der Tod.

Sie war gekommen, um sich von seiner Verlobung mit Trude Wagner erzählen zu lassen, ein wenig in ihrer Eitelkeit verletzt, daß er eine andere ihr vorzog, und doch unendlich froh, von ihm loszukommen. Und nun hörte sie ihn um Hilfe bitten, sah ihn in Schuld verstrickt, verfemt, für alle Zukunft erledigt. Sie kannte ihn, sie traute ihm die Gewalttat zu. Und wenn sie ihm auch gern das Geld gegeben hätte, um sich endgültig von ihm loszukaufen, so widerstand es ihr doch unbedingt, in diese ganze üble Geschichte verwickelt zu werden; in diese hinterlistigen Verhandlungen, deren Ergebnis nicht abzusehn, deren Abbruch bedenklicher war als die Ablehnung von vornherein, bei denen sie jeden Augenblick in Gefahr stand, daß ihr Name auftauchte, sie in den Schmutz hineingezogen, ihr Verhältnis zu Berg entdeckt, Erpressung an ihr selbst verübt wurde und alle ihre eigenen Pläne scheiterten. Ein Selbstfahrer tauchte vor ihr auf, mit schwirrenden Rädern, ein Harttraber, der den Asphalt stampfte, in nerviger Lederfaust eine hohe Bogenpeitsche ...

Sie standen sich gegenüber, die beiden Menschen, die sich so oft in brennender Gier alles gewesen waren. Er wartete auf ein erlösendes Wort. Sie fand es nicht. Und deutlich merkte er, mit der Witterung seiner sensiblen Natur: Es hatte sich etwas zwischen ihnen aufgerichtet, was ihn für immer von ihr schied, ihn deklassierte, entehrte. Mochte sie die Grenze überschritten haben, die Scham und Sitte einem Weibe zog, – wie sie so neben ihm dahinging, war sie ganz Dame, die vornehme, untadlige Frau. Er aber war jetzt der zukünftige Gatte der Pförtnerstochter, zum Lump geworden, fürs Zuchthaus reif. Wie nach dem heißen Sommertag die kühle Nacht den Menschen doppelt erschauern läßt, durchlief ein Beben seine Glieder; und ein einziger Wunsch flammte in ihm hoch, noch einmal wieder vor ihr stehn zu dürfen, in sieghaftem Trotz, mit blankem Schild.

Zu spät!

Nein, nicht zu spät! Er gab die Hoffnung nicht auf.

Nur Zeit mußte er gewinnen.

»Dolly,« sagte er, »eine letzte Bitte! Mir graut vor dem Alleinsein, der langen Nacht. Ehe ich dies Mädchen nehme, ehe wir für immer scheiden, – willst du mir heut einen letzten Abend schenken?«

»Ich kann nicht,« sagte sie, »in meiner Trauer. Wenn mich Bekannte sehen?«

»Dolly,« drängte er, »sei doch barmherzig. Komm mit zu mir.«

Sie prallte zurück. »Nein,« antwortete sie. »Unter keiner Bedingung.«

»Zu dir?«

»Unmöglich.«

Sie sah, wie seine Augen sich feuchteten. Sie zögerte.

»Gut,« sagte sie dann, »laß uns ein Restaurant aufsuchen.« Sie mochte ihn doch nicht brüskieren, wollte im Guten von ihm scheiden; es war das ein Gebot der Vorsicht, der Klugheit, seiner verzweifelten Stimmung gegenüber.

Berg hatte in der leisen Hoffnung, daß Dolly ihm seine Bitte um Hilfe erfüllen und dann den Abend mit ihm verbringen würde, alles was er zur Zeit besaß, zu sich gesteckt. Sie nahmen ein Auto. Er nannte dem Chauffeur eines der vornehmsten Restaurants, in dem sie vor jeder Neugier gesichert waren.

»Nur eine Bitte,« sagte Dolly, als sie in ihrer Nische hinter den Vorhängen saßen. »Laß uns von allem reden, nur nicht von dieser häßlichen Geschichte.« Und sie begann selbst hastig zu sprechen, von allem Möglichen, als wollte sie ihn und sich betäuben.

Er bestellte Sekt; er goß den Wein hinab, immer hastiger, gieriger. Und nach und nach wich der Druck, der auf seinem Hirn lastete. Er wollte nicht mehr daran denken, was ihm die Zukunft brachte, sah nur das Weib vor sich, das sich ihm einst geschenkt, von dem er Rettung erhoffte. Er merkte wohl, daß sie nichts trank; er sah es mit Genugtuung, hielt es für einen Beweis, daß sie ihn immer noch liebte, selbst in der Trauer ihrem Temperament nicht traute. Und er dachte daran, wie sie genau so bei einander gesessen hatten, damals auf Borkum, an jenem Abend, an dem sie sich zum ersten Male ihm ergeben. Kein Jahr war seit dem Tage vergangen.

Nach der dritten Flasche legte sie die Hand auf seinen Arm.

»Genug,« sagte sie. »Es wird geschlossen.«

Er zahlte die Rechnung. Sie brachen auf.

Er war in höchster Not. Auch ohne ihr Verbot hätte er kaum versucht, auf seine Lage zurückzukommen. Der schmale Raum mit seiner stillen Vornehmheit hätte das Gespenst seiner rohen Tat, die dürftige Pförtnerstube mit dem nackten, geschändeten, rasenden Mädchen darin nur noch abstoßender, noch unfaßlicher erscheinen lassen. Jetzt aber mußte er handeln, sollte nicht alles verloren sein. In wenig Augenblicken würden sie sich trennen. Und dennoch konnte er ihr nicht zwischen Tür und Angel seine Bitte aussprechen. Sein vom Wein verwirrtes Hirn suchte in fieberhafter Hast nach einem Ausweg.

Und plötzlich blitzte es in ihm auf, in verzweifeltem Entschluß.

»Dolly,« bat er, und sie bemerkte mit Unruhe das Zittern seiner Hände. »Eine letzte Gnade erbitte ich. Nimm mich für eine Stunde noch zu dir.«

Sie sah ihn erschreckt an. »Ich sagte dir es schon, das ist unmöglich,« wehrte sie ab. »Mein Mädchen wartet ja auf mich.«

Er packte ihren Arm so fest, daß es sie schmerzte. Seine verstörten, vom Trinken geröteten Augen bohrten sich in sie hinein.

»Dolly,« flehte er mit rauher Stimme, »sei nicht so hart. Schenke mir noch diese Stunde. Ich habe dir so viel zu sagen.«

»Niemals,« antwortete sie, entsetzt vor seiner Leidenschaft.

»Du mußt,« antwortete er schroff, von der Not gehetzt. »Du kannst nicht unbarmherzig sein. Ein letztes Mal.«

Der Kellner brachte die Mäntel, half ihnen hinein.

»Sei doch verständig, Hans,« bat sie, schon auf dem Gange. »Mein Mann liegt kaum unter der Erde.«

Er fühlte, wie sie sich ihm verschloß, ihm mehr und mehr entglitt.

»Ich will nichts,« antwortete er hartnäckig, »nur scheiden kann ich noch nicht von dir. Eine letzte Stunde mit dir, unter vier Augen ...«

Er las in ihrem Blick, daß sie ihm mißtraute, vielleicht sich selbst auch zu vergessen fürchtete.

»Unmöglich,« sagte sie zögernd, voller Bedenken, und doch schon schwankend. Sie fand seinen Wunsch empörend; aber sie sah die neugierigen Augen des Pförtners auf sie geheftet, sie zitterte vor einem Skandal. Sie wußte nicht, was tun.

»Noch einmal dir sagen,« hörte sie ihn flüstern, »wie ich dich lieb gehabt, noch einmal von seligen Tagen plaudern, ehe ich ins Elend gehe ... Dich sehn, in deiner ganzen Märchenschöne ... nur nicht allein sein, nur dich sehn ...« Seine Stimme erstickte.

Ein einziges Wort aus seinem wirren Gestammel schlug ihr ins Ohr, blieb in ihr haften: Sehn, nur sehn ... Und in den wenigen Sekunden, in denen er nach Erhörung lechzend ihr in das feine, durch die Trauer doppelt blasse Gesicht stierte, erwog sie nochmals alle Möglichkeiten, jedes Für und Wider. Ein Plan tauchte in ihr auf. Ein Plan, der sich gründete auf seine Leidenschaft für sie und zugleich auf das Gefühl der Ehre, von dem sie ihn trotz allem beherrscht wußte. Es galt, ihn für immer vor ihr unmöglich zu machen, ihn von sich abzuschütteln, das letzte Band zwischen ihnen zu zerschneiden. Sie hatte nicht vergessen, wie schwer es ihr schon einmal, nach der Borkumer Reise geworden war, ihn los zu werden.

Sie war entschlossen. »Hans,« sagte sie und sah ihm voll in die Augen, »ich komme nicht über die Geschichte weg, die du mir heut erzählt hast. Das muß erst gutgemacht sein.«

»Ich will dich sehn,« antwortete er mit dem Eigensinn des Berauschten. Auch er hatte ja nur ein einziges Ziel, diese Sache aus der Welt schaffen.

»Und dann,« setzte sie hinzu, jedes Wort wägend, »überleg' es dir einmal selbst, – wie soll ich Vertrauen zu dir haben? Du sagst, du hast mich lieb ... und zu gleicher Zeit fällst du über dieses Mädchen her? Kann ich dir noch ein Wort glauben?«

»Ich war verrückt, Dolly,« antwortete er. »Ich sah nur dich in jedem Weibe. So etwas tut man einmal und nicht wieder.«

»Das sagst du, Hans,« widersprach sie. »Und das meinst du wohl auch ehrlich. Aber gegen deinen Leichtsinn kannst du doch nicht an –«

»Das kann ich wohl,« unterbrach er sie störrisch. »Ich habe mir die Finger gründlich verbrannt, ich bin für immer kuriert. Ich liebe dich, Dolly, habe stets nur dich geliebt; das andere, das war ja nichts als die unsinnige Sehnsucht nach dir ... Stell' mich doch auf die Probe ...« Er würgte die Tränen hinab.

»Gut,« sagte sie langsam, überlegt, jedes Wort betonend. »Ich werde dich auf die Probe stellen. Versagst du, ist es endgültig zwischen uns aus. Endgültig. Hörst du mich?«

»Ja,« erwiderte er. Ihre Worte ließen die Hoffnung neu in ihm hochflackern. »Verlange, was du willst, ich tu's.«

»Ich nehme dich bei deinem eigenen Wort. Versprichst du mir, was du da eben selbst gesagt hast, daß du nichts willst, als mich noch eine Stunde sehn? Gibst du dein Wort?«

Nur sie nicht loslassen, schrie es in ihm, sie festhalten mit Fäusten und Zähnen! Wer Geld heischt, und wer Liebe heischt, der darf den anderen nicht zur Besinnung kommen lassen. Alles versprechen, alles schwören, nur festhalten, nur nicht loslassen!

»Mit tausend Freuden,« sagte er gierig.

»Ich muß zu Bette gehn, des Mädchens wegen. Du wirst mich trotzdem nicht berühren, auch nicht mit einem Finger?«

»Ich rühre dich nicht an,« antwortete er fest.

»Dein Ehrenwort?«

»Mein Ehrenwort.«

Er dachte in diesem Augenblick garnicht daran, es zu tun. Er dachte nur an eins, die Rettung vor dieser unwürdigen Ehe, vor der Schande. Er wollte sich ihr zu Füßen werfen, dort, wo sie ihm nicht entrinnen konnte, um ihr Erbarmen flehen, ihr eine Summe abzwingen, als ein Darlehn, das er ihr durch die Arbeit seines ganzen Lebens zurückzuzahlen gewillt war.

»Gut,« sagte sie kurz.

Sie nahmen ein Auto und fuhren nach der Villa in der Maaßenstraße. Am Nollendorfplatz ließ sie halten, ging die wenigen Schritte mit ihm zu Fuß. Sie gab ihm die Schlüssel, er schloß Gitter und Tür auf.

Drinnen auf der hohen Diele ließ sie ihn im Dunkel stehn. »Warte,« sagte sie, »bis das Mädchen gegangen ist.« Sie stieg die Treppe hinauf.

Fast eine halbe Stunde harrte er dort geduldig. Er stieß an einen Klubsessel, warf sich hinein. Aber während die Minuten rannen, ging eine Umwandlung in ihm vor. Jetzt stand sie dort oben, vom Licht umflossen, ließ Hülle um Hülle sinken; nur noch Minuten, und er würde sie so wiedersehn. Und das Tier erwachte in ihm, eine Stimme raunte ihm zu: Sei doch kein Narr, benutze die Gunst des Augenblicks, des Alleinseins mit ihr! Die Nächte auf Borkum loderten vor ihm auf, in denen sie sich erst versagt, um dann sich ihm bis zur Besinnungslosigkeit zu schenken; sie liebte es offenbar, mit ihrem anfänglichen Nein das sicher folgende Ja im Wert zu erhöhen.

Wie hatte er sich nur so täuschen lassen können! Dolly, mit ihrer Leidenschaft, die ihn mit zu sich nahm, bis in ihr Schlafgemach, und dann verzichtete? Nein, eine Dolly rettete ihn nur aus Egoismus, um ihrer eigenen Lust willen, niemals in Entsagung. Bei einer Frau wie ihr ging nur ein einziger Weg zum Herzen, der über ihre Sinne. Und plötzlich sah er wieder sie in der Finsternis aufleuchten, aus ihren Augenwinkeln lüstern nach ihm blicken, mit dem Sphinxlächeln der Mona Lisa ...

Das Blut sang ihm in den Schläfen, seine Kniee zitterten. Alles, Sorge und Schmach, war jäh in ihm erloschen; und von Trunk und Phantasie erhitzt, der Rettung gewiß, sah er Dollys Rückkehr fiebernd entgegen.

Sie kam lautlos. Ihre Hand faßte nach ihm.

»Vorsicht,« flüsterte sie.

Er folgte ihr, die Treppe hinauf, bis sie vor einer Tür haltmachte.

»Du weißt, was du versprochen?« fragte sie noch einmal.

»Ich weiß,« antwortete er unbedenklich.

»Mit deinem Ehrenwort?«

»Mit meinem Wort.«

Er fühlte ihre Nähe in leichten Nachtgewand, atmete den Fliederduft ihres Haares. Sein Herz ging in schweren Schlägen. Jetzt merkte er erst, wie unmäßig er getrunken hatte.

Er griff nach ihr, sie entzog sich ihm.

»Einen Augenblick,« sagte sie, »dann komm.«

Als er die Tür öffnete, blendete ihn zuerst die Flut des Lichts. Dann blickte er klarer. Ihr Schlafgemach; Wände, Möbel, Bett, alles in hellblauer Seide. Aber er sah nur eins: Dolly auf weißen, leuchtenden Kissen, Dolly, wie er sie hundertmal, sie eben noch in Sehnsucht sich ausgemalt, halbnackt, in ihrer ganzen traumhaften Schönheit.

Er schleuderte Hut und Mantel von sich. Kein Zweifel lebte mehr in ihm, – sie brannte darauf, sich ihm zu schenken.

Ihre Augen saugten sich an ihm fest, lockten, heischten stumm, boten sich ihm an. Sie rührte sich nicht.

Die Wände drehten sich um ihn. Und, ohne ein Wort, warf er sich über sie.

Aber im gleichen Augenblick richtete sie sich auf, entrang sich seinen Fäusten, spie ihm mitten in das Gesicht.

»Ich bin kein Pförtnermädchen,« stieß sie knirschend hervor.

Er taumelte zurück, mit zerknittertem Smoking, gebauschtem Hemd. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, während er sich das Antlitz trocknete. Dann krallten seine Hände sich um die Pfosten ihres Betts; schneeweiß traten die Knöchel hervor, so weiß wie die schmalen Füße des Weibes vor ihm, auf die er regungslos stierte. Und sein Blick glitt an ihr hinauf, über die Kniee, haftete an der blühenden Brust, tastete sich zu ihren Augen hin.

Zu den Augen mit den goldigen Pünktchen in den braunen Pupillen, die ihm nicht, wie er erwartet hatte, in Haß und Empörung entgegenlohten, sondern ihn starr, mit triumphierendem Lächeln anblickten.

Und in demselben Augenblick erkannte er, daß sie seinen Wortbruch erwartet, gewünscht, herbeigeführt hatte, um seiner ledig zu werden.

In jähem Impuls wollte er sich auf sie stürzen, sie erwürgen. Sie las in seinen Augen wie in einem offenen Buch; und erschreckt, wie in Abwehr schlug sie die Decke über sich.

Aber sofort wies er den Gedanken weit von sich. Es war ehrlich Spiel gewesen, Berechnung gegen Berechnung, List gegen List. Ob Karte, ob Weib, blieb sich gleich. Das Glück hatte für sie entschieden.

Er wandte sich. Aber erst ließ er noch einmal seinen Blick über sie hinweggleiten, als wollte er ihr Bild mit sich forttragen, in das Schwere hinein, das seiner wartete.

Sie saß noch immer aufrecht, wie eine Statue der Unschuld. Ihre Pupillen standen seltsam groß in den weiten Augen.

»Und dein Ehrenwort?« sagte sie mit unsäglichem Hohn in der Stimme.

Einen Moment blieben die vier Augen in Todesstille in einander verkettet. Und Dolly fühlte, wie etwas Schreckliches, Unfaßbares zwischen ihnen hochkroch, ein Schauriges, das Menschenschuld bedeutet und doch zugleich des Menschen Schuld sühnt, – fühlte, daß das ein Abschied war, für immer, in die Ewigkeit hinein.

In diesem einen Moment hatte der ehemalige Korpsstudent und Reserveoffizier, Assessor Hans Berg Schluß gemacht. Kaum, daß die Gründe zu diesem Entschluß über die Schwelle seines Bewußtseins traten. Ob seine Ehre, die sich so schweigsam verhalten hatte, als es das Schicksal eines reinen Mädchens galt, die Schmach dieser Stunde nicht ertrug; ob die Last seines gebrochenen Wortes ihm den Atem abschnürte, sein Mut zum Kampf um das tägliche Brot nicht ausreichte, – der eine Gedanke beherrschte ihn zwingend: Der letzte Schimmer von Hoffnung, der Ehe mit Annie zu entgehn, war nun erloschen. Doch ehe er in diesen Höllenpfuhl hinabstieg, beschmutzt, verachtet, unter dem Hohngelächter einer Frau Schuppke, zehntausendmal lieber die ehrliche Kugel, die alles ausbrannte, Sorge und Schande.

Mit demselben Stoizismus, dem Gefühl des Unabänderlichen, mit dem er einst in seines Königs Rock so viele Male vorwärtsgegangen war, gewaltsam die Frage nach dem Warum zurückdrängend, ins Feuer hinein, fand er auch jetzt sich in sein Schicksal.

Und seltsam, während er auf die Frau dort blickte, die ihn getäuscht, ihr Spiel mit ihm getrieben, ihm ins Antlitz gespieen hatte, – als ob ein zweites Hirn in ihm arbeitete, unabhängig, losgelöst von dem ersten, gingen seine Gedanken zugleich einen anderen Weg, fiel es ihm wie ein Schleier von den Augen.

Und klar sah er das Weib dort vor sich:

Nach außen die große Dame, im Herzen die geborene Dirne. Die Frau, die sündigen mußte, weil ohne diesen Reiz das Leben keinen Wert mehr für sie hatte, und die doch allzu feig war, um für ihr Handeln einzustehn. Die Frau, die haltlos zwischen Trieb und Hemmung schwankte, flach und eitel, launisch, unberechenbar, mit den aufgepeitschten Sinnen der ewig Unbefriedigten. Die jeden Mann so lange nur begehrte und an sich band, als ihre Leidenschaft es heischte, um ihn dann danklos fortzustoßen, sobald sie seiner satt geworden.

Ein Letztes noch erkannte er: Die Frau dort vor ihm war sein eigen Ich, ins Weibliche übertragen. Auch er hatte ein Doppelleben geführt, nach außen untadlig, im Innern verfault, zwischen Sehnsucht und Abscheu, Verlangen und Verschmähen, in rastlosem Wechsel der Sinne; auch er hatte ein Herz verraten, in der Not verlassen, um eigenen Vorteils willen, war über Leichen gegangen, wie diese Dolly nun über ihn wegschritt. Mit seinen eigenen Waffen sah er sich geschlagen; nur Recht war ihm geschehn, nach dem Gesetz der Vergeltung.

Noch immer waren ihre Blicke verkettet. Stumm ging eine Frage von ihr zu ihm hinüber. Stumm gab er die Antwort.

»Lebe wohl, Dolly,« sagte er dann fest.

Ein endlos langes Schweigen.

Und plötzlich sah er ihre Augen sich verschleiern. Dachte sie an all das jauchzende Glück, an sein junges, lechzendes, zertrümmertes Leben?

Der Trotz bäumte sich in ihm auf. Er wollte, brauchte kein Mitleid. Und in seiner jäh aufsteigenden, heißen Wut reckten die Geister des Weins von neuem sich in ihm hoch, trieben sie ihm das Blut ins Hirn, ließen in Trunkenheit ihn wanken. Er sank in einen Sessel am Tisch, fernab von ihr. Ein zorniger Wille erfüllte ihn: Sie sollte ihn nicht bemitleiden, sollte nicht wissen, daß er, den Tod im Herzen, wie ein geprügelter Hund von ihr ging, dem Selbstmord entgegen, während die Zukunft ihr sonnenhell lachte.

Er stützte die Arme auf den Tisch, klemmte umständlich das Einglas ein. Seine Zunge war schwer.

»Das war kein Heldenstück, Dolly,« sagte er grollend, aus blutgefüllten Augen zu ihr hinüberstierend. »Mit drei Flaschen im Leib wär's jedem so gegangen. Und mit dem Ehrenwort, da pfeif' ich drauf. Vor Weiberbetten gibt's kein Ehrenwort.« Er tastete nach seiner Dose, holte eine Zigarette heraus, steckte sie zwischen die Lippen, vergaß sie anzuzünden, ballte die Hände. »Mich kriegt ihr doch nicht unter, ihr verfluchten Weiber, du nicht und die rote Annie auch nicht.« Er grübelte laut. »Ins Ausland wandern, ist ausgeschlossen, ohne Paß. Aber nach Ostpreußen und über die Grenze, bei den Bolschewisten gegen Polen, das wird gemacht. Das hab' ich mir schon lange überlegt.« Er lachte schallend auf.

»Still, um Gottes willen,« sagte sie mit weißen Lippen. »Die Mädchen!« Er war ihr unheimlich. Mit zitternder Hand tastete sie nach dem Knopf der Klingel an der Wand, um Hilfe herbeizuläuten; sie wagte es nicht, aus Furcht vor dem Skandal.

Mit der Fügsamkeit, wie sie Berauschte mitten in der Wut zeigen, dämpfte er die Stimme. »Bolschewisten,« fuhr er fort, »das ist das Rechte! Da gibt es Geld und Weiber die Menge, und Brand und Plünderung nach Herzenslust. Die nehmen solchen Kerl wie mich mit Kußhand auf, da komme ich im Handumdrehen wieder hoch.« Schwer stützte er sich auf den Tisch, in seinen glasigen Augen flackerte es wie Irrsinn.

Er grinste vor sich hin. »Und über kurz oder lang marschieren wir in Berlin ein. Dann kommt meine Rache, Dolly, die Rache an dir! Das Haus wird besetzt, ich kommandiere: Los, ihr meine Wölfe! Dann kannst du ihnen nach Herzenslust ins Antlitz spucken.« Er stöhnte auf, wischte sich unwillkürlich über das Gesicht. »Ins Antlitz spucken,« wiederholte er noch einmal zähneknirschend, mit einem Schluchzen der Verzweiflung in der Stimme. »Mitten ins Antlitz, – Kanaille du!« Plötzlich verließ ihn die Kraft, gaben die Nerven nach. Klirrend fiel das Einglas auf die Marmorplatte des Tisches und zerbrach. Und er warf das Haupt auf beide Arme und weinte hilflos auf.

»Hans,« sagte sie leise, erschüttert. Sie bereute in diesem Augenblick ihr Tun.

Er stand auf, schüttelte sich. Mit einem Ruck hatte er sich wieder in der Hand, tastete nach Mantel und Hut.

»Du gehst?« fragte sie mit stockender Stimme.

Wie alle Menschen im Angesicht des gewaltsamen Todes sich an das Nebensächliche klammern, so dachte er nur daran, ob er die Schlüssel zu der Villa noch im Mantel habe. Er hörte sie in der Tasche klirren.

»Ich gehe,« antwortete er finster, in Scham über seine Schwäche, »endgültig. Die Schlüssel werfe ich über's Gitter, links, in die Sträucher. Leb wohl, Dolly. Und denke mein im Guten ...«

Die Tür fiel hinter ihm zu.

Sie legte sich zurück, die Arme unter dem Kopf verschränkt. Die flüchtige Regung des Mitleids war wieder überwunden. Ein wohliges Gefühl überrieselte sie: Sie war gerettet, ausgelöscht die Episode Berg, die sich so drohend vor ihr aufgereckt, ihren Ruf gefährdet hatte. Sie war die Siegerin geblieben. Niemals war sie so stolz auf sich gewesen. Deutlich sah sie ein lauschiges Coupé, mit geschlossenen Vorhängen, das elektrische Licht eingeschaltet, sah auf dem Wagenschlage die neunzackige Krone, die beiden goldenen Löwen als Schildhalter, den purpurnen, hermelingefütterten Wappenmantel, sah sich in den Arm des stolzen Aristokraten mit seiner riesigen Gardedukorpsfigur geschmiegt. Frau Assessor Berg ... Erlaucht Reichsgräfin Durlach ... Sie lachte girrend auf. Und sie sehnte den Morgen herbei, wie ein Kind, das sich auf den Geburtstag freut, lauschte in die Stille hinaus, als müsse sie den Schuß hören, der ihr Befreiung kündete.

Heimgekehrt schrieb der Assessor Dr. Berg zwei Briefe. Den einen an Willy, in ungeschminkter Wahrheit über Annie und seine Schuld an ihr; den zweiten an seinen Chef, daß er nach großen Geldverlusten nicht mehr ein noch aus wisse.

Dann nahm er die von Frankreichs Kreide noch bestaubte Waffe von der Wand.

Und in dieser letzten Stunde seines jungen Lebens erkannte er, der doch so viele Frauen sein genannt, daß nur ein einzig Mal die echte Liebe seine Stirn geküßt, die tiefe, unerschöpfliche Hingabe, die aus seligen, schuldlosen Augen leuchtet, mit keuschen Lippen stammelt: Ich habe dich je und je geliebt. Sie alle, denen er mit lügnerischen Lippen die Treue gelobt und die Reinheit genommen, zogen an ihm vorbei; und als nun Dolly vor ihm auftauchte, in ihrer schamlosen Nacktheit, Annie, blutend und geifernd, Lisa mit bangen Tränen in den Kinderaugen, drückte er los.

Es klang, als sei draußen auf dem Asphalt ein Autoreifen geplatzt. Er war sofort tot.

* * *


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