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Es war der dritte Juli.

Berg hatte seit seiner Rückkehr nicht bei Wagners vorgesprochen. Die Verabredung mit Trude war ihm jetzt unwillkommen, wo alles in ihm nach Dolly schrie; er hoffte, Trude würde nicht Wort halten.

Trotzdem bereitete er sich auf sie vor; Halms gegenüber sprach er von dem Besuch einer verwandten Dame.

Punkt fünf huschte Trude zu ihm hinein. Frau Halm war in die Fürsorge gegangen, Lisa auf seine Bitte mit einem absichtlich von ihm am Morgen zurückgelassenen Aktenstück zum Amt gefahren.

Sie saßen beim Tee. Das Sofa mit dem ovalen Tisch und den beiden typischen Plüschsesseln nahm fast die ganze Fensterhälfte ein. An der Wand hingen Kriegsbeutestücke, Stahlhelme, Säbel und Bajonette, darüber auf einem Bort Granatsplitter und Ausbläser. Der Tisch war von Lisa gefällig hergerichtet worden, Kaffeedecke, Silbergerät, Kuchen und Backwerk, Blumen und Zigaretten.

Trude war mit der Sicherheit durch das Schlafzimmer eingetreten, die so häufig ein inneres Zagen verdeckt. Jackett, Hut und Schleier legte sie erst nach einigem Widerstand ab, ein sicheres Zeichen für ihn, daß sie sich auf längeres Bleiben eingerichtet hatte. In ihrer weißseidenen Bluse und dem kurzen, knappsitzenden blauen Rock sah sie verführerisch aus.

Und nun saß sie aus dem altehrwürdigen Sofa, spielte die Hausfrau und hörte Bergs Geplauder zu. Er hielt sich völlig korrekt. Es war für ihn eine alte Fechtregel: In solchem ersten Zusammensein, bei dem das junge Mädchen auf einen Überfall gefaßt und gegen ihn gewappnet war, ließ er so lange es zappeln, bis es die Nerven verlor und selbst die Führung ergriff. Das sparte ihm für alle Zukunft einen Vorwurf.

»Ist es nicht unrecht, daß ich gekommen bin?« fragte sie, über ihr Haar streichend.

»Wenn Sie es bedauern, ja,« antwortete er, »sonst nicht. – Zucker? Milch gibt es leider nach unserem glorreichen Frieden nicht.«

»Bis jetzt finde ich es ganz gemütlich,« sagte sie mit etwas gequältem Humor.

»Also sind Sie bis jetzt im Recht.«

»Eine bequeme Moral,« spottete sie.

»Warum soll man das Unbequeme wählen? Man bereut doch nichts im Leben, als die Gelegenheiten, die man nicht ausgenutzt hat.«

»Der Mann – mag sein,« erwiderte sie. »Beim Mädchen stimmt das wohl doch nicht ganz.«

»Der Mann sucht nur die Freude an sich, das Weib berechnet seinen Vorteil,« entgegnete er. »Und Berechnungen mißglücken manchmal.«

»Bei unangebrachtem Vertrauen,« sagte sie.

Er zuckte die Achseln. »Menschenkenntnis ist alles.«

»Und wer sagt mir, daß ich diese Menschenkenntnis besitze?«

Er lachte. »Die Tatsache, daß Sie hier bei mir sind.«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Ihnen sollte man gehörig mißtrauen. Sie wissen doch, die junge Dame, von der Sie mir erzählt haben?«

Er wartete schon lange auf diese junge Dame. Auch das war programmäßig. »Was wünschen Sie von ihr zu wissen?« fragte er mit leiser Ironie.

»Sie war wirklich verlobt?«

»Mit einem Hauptmann.«

»Und sie hat ihn geheiratet?«

»Sie ist heute Frau und Mutter.«

»Und die hat auch so bei Ihnen gesessen?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete er keck. »Der ersten Minuten ihres Hierseins entsinne ich mich nicht genau.«

Trude Wagner war nicht dumm. Sie merkte, daß sie immer gegen dieselbe Wand anlief, und zog es vor, das Gespräch abzulenken.

»Sie sind so eigen,« sagte sie vorwurfsvoll.

Er bot ihr Zigaretten an, gab ihr Feuer. Sie rauchte nervös. Sie wollte den gordischen Knoten zerhauen. »Und warum haben Sie mich eigentlich hergebeten?« fragte sie geradeaus.

»Ich sagte es Ihnen,« antwortete er ohne Besinnen. »Damit wir uns kennen lernen.«

Die Nerven gingen ihr durch. »Sie nehmen sich Zeit dazu,« höhnte sie.

»Gut Ding will Weile haben,« erwiderte er ruhig.

»Und wann wollen Sie um mich anhalten?«

»Sobald wir uns einig sind.«

»Sie meinen, sobald Sie sich einig sind,« entgegnete sie heftig. »Sie wissen eins nicht: Herr Goldstein aus Köln will mich haben.«

Er blickte überrascht hoch. Herr Goldstein aus Köln? Richtig, das war der Mann, der Trude damals, bei Wagners um ein Lied gebeten hatte. »Seit wann das?« fragte er.

»Seit gestern. Er war bei uns.«

»Und hat um Sie angehalten?«

»Nein. Aber plötzlich recht deutlich angetippt.«

»Dann haben wir ja noch drei Wochen Zeit.«

»Wieso?« fragte sie erstaunt.

»So lange dauert eine ausführliche Auskunft,« antwortete er gelassen.

Sie sah ihn lange an. Der Zorn stieg in ihr hoch. Sie hatte bestimmt gehofft, darauf gerechnet, daß diese Stunde ihr die Erfüllung ihres Wunsches bringen und Berg sich mit ihr verloben würde.

Und nun fühlte sie deutlich, er spielte nur mit ihr. Sie brach plötzlich in Weinen aus.

Er hatte sie so weit, wie er es gewollt. Die selbstbewußte, unbekümmerte Trude war klein geworden.

Er nahm ihre Hand und küßte sie stumm. Er wußte, jedes Wort konnte den Sieg in Niederlage verwandeln. Er wartete.

»Ich möchte gehn,« sagte sie. »Sie sind schlecht. Und Sie haben mich nicht lieb.«

Er stand langsam von seinem Sessel auf, setzte sich neben sie auf das Sofa, legte leicht den Arm um sie. Sie duldete es ohne Widerstand.

»Ich habe Sie sehr lieb, Trude,« sagte er. »Und weil ich Sie so liebe, bin ich, wie Sie es nennen, so eigen. Ich könnte die Situation mißbrauchen, ich hätte vielleicht ein Recht darauf –«

Er nahm ihre Hände, küßte ihren Mund. Und während sie mit feuchtem Blick vor sich hinstarrte, zog er sie dicht zu sich heran. Seine grauen, schönen Augen suchten die ihren, hielten sie fest.

Er wußte, er konnte jetzt von ihr verlangen, was er wollte.

Nur daß er keinen Wert mehr darauf legte.

Damals, im Mai, hatte er sie an sich gelockt, in der Erwartung, sie durch gemeinsame Schuld unwiderruflich an sich zu fesseln.

Aber lag das jetzt wirklich noch in seinem Interesse?

Inzwischen war ja Dolly in sein Leben getreten, Dolly mit ihrem betörenden Reiz, ihrem unendlichen Reichtum.

Hätte er also seinem Herzen folgen dürfen, er hätte Trude ohne weiteres, rücksichtslos fallen lassen.

Doch sein Verstand hielt ihn davon zurück. Dolly war vorläufig nur eine Hoffnung, keine Gewißheit; in dieser Rechnung stand eine unbekannte Größe, der Todestag des Gatten.

Wie, wenn nach all den unerwartet hohen Kosten seiner Reise das Wasser ihm schon früher an die Kehle stieg, noch ehe der Geheimrat starb?

Dann schied Dolly für ihn aus, mußte er notgedrungen auf Trude zurückgreifen.

Das war mithin seine Aufgabe: Einerseits sich nicht endgültig an Trude binden, die Freiheit des Entschlusses sich bewahren, andererseits unter keinen Umständen Trude verlieren.

Und hierfür gab es nur einen Weg:

Sie hinhalten, der Erfüllung entgegen, bis sein eigenes Schicksal sich entschieden hatte. Das mußte sie um so fester an ihn knüpfen, je mehr sie ihn liebte, mit aufgepeitschten Sinnen. Warum das uralte Rezept, mit dem die Weiber den Mann seit Ewigkeiten ködern, nicht auch einmal gegen sie selbst anwenden? Denn eine Trude Wagner, die sich ihm hingegeben, verlor entweder die Geduld, zwang ihn zur Ehe, bevor noch Dolly frei war, oder sie ließ trotz allem, was geschehen – gerade weil es geschehen, weil sie gesättigt war –, nur den Verstand sprechen, wenn dieser Goldstein wirklich um sie warb.

Er setzte bedächtig sein Einglas wieder ein. »Also ehrlich, Trude,« sagte er, »was haben Sie eigentlich heute erwartet?«

Die schroffe Frage wirkte wie ein Schlag ins Gesicht auf sie. Die Scham bäumte sich in ihr hoch. Ihr war, als sänke sie ins Bodenlose. Aber schon hatte sie sich gefaßt. »Ich wollte sehen,« antwortete sie, »wie weit Sie Ihre Keckheit treiben.«

Ein Lächeln glitt über sein hübsches Mädchengesicht. »Und war das nicht ein wenig hinterhältig?« fragte er.

»Sind Sie es nicht zehnmal mehr?« fragte sie zurück.

Er sah, sie hatte ihn durchschaut. »An Ihnen ist ein Rechtsanwalt verloren gegangen,« sagte er.

»Ihnen ist doch die Hauptsache,« antwortete sie mit unverhülltem Hohn, »daß kein Assessor an mir verloren geht.« Erregt zerdrückte sie die Zigarette im Aschbecher, mit einer leichten Schulterbewegung machte sie sich frei. Die Stimmung sank sichtlich, als ob zu heißem Wasser dauernd kaltes hinzugegossen wird.

Er rückte in einer ihm sonst fremden Verlegenheit von ihr ab und betrachtete seinen Lackschuh so interessiert, als ob er das ehrsame Schusterhandwerk erlernen wollte. Dann warf er einen Blick auf sie: Ihre Augen funkelten in sichtlicher Empörung.

Denn alles verzeiht ein Weib, nur nicht das niederschmetternde Gefühl, sich verschmäht zu sehen, wenn es bereits zur Tat entschlossen ist. Sie hatte ihn lieb, sie wünschte ihn sich zum Gatten; sie hatte mit sich gerungen, in ihrer brüchigen Großstadtmoral das letzte Bedenken in sich erstickt. Und nun kehrte sie verschmäht, verworfen heim. Wie Haß gärte es in ihr auf gegen den Mann, der so mit ihr gespielt.

Aber, trotz allem, sie wollte ihn nicht verlieren. Und innerlich imponierte ihr seine Ruhe doch, die es verstanden hatte, sie so tief vor ihm zu beugen. Das Weib hat nun einmal den unüberwindlichen Drang, zu dem Manne aufsehen zu müssen, zu seiner Kraft, seiner Beherrschung.

Und deshalb, während sie stumm neben einander saßen, suchten sie beide den Weg zur Versöhnung.

Noch immer rollten ihr die Tränen die Wangen hinab.

»Du zürnst mir, Trude?« fragte er.

»Warum sollte ich das?« fragte sie verstockt.

Er machte eine Handbewegung, die ihren Einwand zurückwies. »Als ob der Mensch Gründe brauchte, um einem anderen zu grollen.«

»Ich grolle nicht,« antwortete sie. »Aber ich glaube dir nicht, daß du mich liebst.«

Er nahm wieder ihre Hand, küßte jeden einzelnen Finger. Dann sagte er:

»Kleine Trude, laß uns einmal nüchtern überlegen. Entweder wolltest du dich mir nicht schenken, dann ist doch nur dein Wille geschehen; denn mit Wort oder Tat dich überrumpeln und zwingen, das tut kein Gentleman. Oder aber du warst entschlossen; dann hätte nur ein Schurke sich die Gelegenheit zunutze gemacht, aus einer flüchtigen Stimmung heraus – denn was wissen wir im Grunde von einander? – dich, das wohlhabende, hübsche Mädchen, für immer durch gemeinsame Schuld an sich zu ketten. Zwei solche Menschen hält nur eins zusammen, des Mädchens Angst vor des Mannes Verrat; die Angst vor ihm, der ihr bewiesen hat, wie selbstsüchtig zu denken und zu handeln er versteht. Und dieser Angst hält keine Liebe stand.«

»Es gibt auch Ehrenmänner,« sagte sie.

»Gewiß,« erwiderte er, »es soll auch solche geben. Ob sie sich aber gerade unter denen in Fülle finden, die eines jungen Mädchens Zutrauen mißbrauchen, ist mir recht zweifelhaft. Und wenn die Menschen erst auseinandergehn, zerfetzen sie sich um so leidenschaftlicher, je lieber sie sich gehabt. Das zeigt uns Juristen jeder Scheidungsprozeß. Man tut also im allgemeinen gut, nicht allzu stark auf anderer Menschen Untadligkeit zu rechnen.«

»Ich denke höher von der Menschheit,« antwortete sie.

»Das ist das Vorrecht deiner unerfahrenen Jugend,« erwiderte er freundlich. »Du sagtest selbst vorhin, daß es mit deiner Menschenkenntnis schlecht bestellt ist. Ich frage dich: Woran willst du erkennen, daß dich ein Mann aus ganzer Seele liebt? Daran, daß er im Taumel seiner Sinne dich mit sich fortreißt, dir für dein ganzes Leben listig das Selbstbestimmungsrecht stiehlt? Oder daran, daß er dich schont, dir Freiheit läßt, nach eigener Wahl dereinst den Lebensbund zu schließen, ohne die Furcht vor dem Verrat, ohne die Sorge, daß er dich kompromittiert, ohne daß er als Mitgiftjäger sich entpuppt oder als Erpresser einen Druck ausübt?«

»Du bist ein Meister der Rede,« sagte sie trüb. »Du machst aus Schwarz Weiß, aus Nein ein Ja. Ich bin dir nicht gewachsen.« Sie strich sich wie benommen über die Stirn.

Er sah auf sie, wie sie so traurig neben ihm saß, jung, hübsch, begehrlich. Und der alte Leichtsinn schlug in ihm hoch. Fest schlang er den Arm um sie, küßte ihr Augen und Mund. In seine grauen, kühlen Augen stieg eine Flamme. Alles was er so klug erwogen hatte, verflog.

»Denn ohne dir zu schmeicheln, kleine Trude,« flüsterte er mit heißem Atem, »daß es nicht so leicht ist, solch Glück an sich vorbei flattern zu lassen, – brauch' ich das noch zu sagen?« Das zweite Ich in ihm erwachte, die Nähe dieses jungen, frischen Mädchenleibes ließ ihn erzittern. Er bedeckte sie mit immer glühenderen Liebkosungen, weckte das Weib in ihr, goß ihr sein eigenes Feuer in die Adern. Und schon sank sie zurück, überließ sie sich ihm, als jäh, in ihrer ganzen Qual die eben durchlebte Stunde wieder vor ihr auftauchte.

Mit einem Ruck richtete sie sich auf.

»Nein,« sagte sie herb. »Du hast mich überzeugt. Ich will nicht.«

Er fuhr zurück. »Hast du mich denn nicht lieb, Trude?«

»Ja,« sagte sie. »Ich hab' dich lieb. Und eben darum will ich dich nicht zum Lumpen werden sehn.«

Er war wie erstarrt. »Gut,« sagte er eisig. »Du bist verständiger als ich. Lisa muß jeden Augenblick zurückkommen.«

Sie war trotz allem über den raschen Wechsel in ihm erschreckt. »Sei vernünftig, Hans,« sagte sie und bot ihm die Lippen. »Laß mich heut nach Haus. Wenn wir erst von der Reise zurück sind, dann findet sich alles andere.«

Er küßte sie schweigend. In seinem Innern dankte er jetzt dem Schicksal, das ihn vor einer grenzenlosen Torheit bewahrt hatte. Aber bei aller Zufriedenheit mit dem Verlauf des Tages blieb doch ein bitteres Gefühl in ihm zurück.

Sie war erst wenige Stufen die Treppe hinabgestiegen, als Lisa ihr entgegenkam,

Trude erschrak. Dann, rasch gefaßt, sagte sie flüchtig: »Nun, Lisa, wie geht's?«

»Danke, Trude,« sagte die kleine Lisa. »Warst du bei der Mutter?«

»Nein,« antwortete Trude. »Ich war auf dem Boden, Pelzsachen nachsehn.«

Und harmlos verabschiedete sich Lisa von ihr.

Es war gerade keine geschickte Ausrede, aber auch nicht als Lüge zu erkennen; denn Frau Wagner hatte als Wirtin sich wirklich einen zweiten Boden im Gartenhaus vorbehalten. Und obwohl Trude keine Gefahr fürchtete, dem kleinen Dummchen gegenüber, hielt sie es doch für klüger, sofort, ehe die Mutter von ihrer Ausfahrt zurückkam, sich den Bodenschlüssel vom Mädchen geben zu lassen.

»Mama,« sagte sie eine Stunde später zu Frau Hildegard. »Ich habe meine Pelzsachen für die Reise ausgepackt und Motten auf dem Boden entdeckt. Wir müssen klopfen.«

Und so hatte denn das Hausmädchen der Teestunde Trudes bei Berg einen Nachmittag voll Arbeit zu verdanken.

 

Seit vierzehn Tagen war Berg wieder daheim.

Von Frau Dora sah er so gut wie nichts. Morgens um acht, wenn er sein Schlafzimmer verließ, stand der Kaffee schon im Wohnzimmer auf dem Tisch. Kam er vom Amt und Mittagessen gegen halb fünf heim, so war sie fortgegangen, in ein Kinderheim oder andere Stätten der sozialen Fürsorge. Sie hatte das beim Bataillon gelernt; sie hielt es für ihre Pflicht, auch jetzt, trotz ihrer eigenen bedrängten Lage, daran festzuhalten. Und es tat ihr wohl, in diesen Kreisen, ihrer einzigen Berührung mit der Außenwelt, als Offizierdame betrachtet und geschätzt zu werden.

Berg mochte sie nicht. Traf er sie auf der Treppe, so zog er höflich den Hut, ging wortlos vorüber. Abends, wenn sie heimkehrte, hatte er, soweit ihn die Akten nicht festhielten, fast immer eine Verabredung und kam erst spät zurück. Was sie in seinen Zimmern zu besorgen hatte, tat sie grundsätzlich in seiner Abwesenheit; ihr Stolz schien es nicht zu dulden, daß sie vor seinen Augen als Zimmerwirtin wirkte.

Um so rührender bemühte sich die kleine Lisa um ihn. Er brauchte nur zu klingeln oder an die Wand zu klopfen, um sie erscheinen zu sehn. Noch immer stand in ihren blauen Kinderaugen die scheue Verehrung, mit der sie ihn am ersten Tage empfangen hatte; aber zugleich zeigte sie sich unermüdlich, empfand sie sichtlich Freude, sich hausmütterlich betätigen, für seine Bequemlichkeit sorgen zu dürfen.

Und so hatte er trotz der Zurückhaltung der Mutter seine Ordnung und fühlte sich vortrefflich aufgehoben.

Allmählich bildete sich eine ehrliche Freundschaft zwischen ihm und Lisa aus, eine gute Kameradschaft, in der sie sich auch geistig ihm zu erschließen begann. Sie war lernbegierig; er lieh ihr Bücher, die sie heimlich las, gab ihr auf ihre Fragen Auskunft, hielt ihr in müßigen Stunden bisweilen förmliche Vorträge. Es machte ihm Vergnügen, in diese unberührte Seele zu blicken, sie sichtlich aufblühen zu sehn, ihr helles Kinderlachen zu hören, den Dank für sein Bemühen in ihren Augen zu lesen.

Denn Lisa war ein Einzelkind, die Tochter einer vergrämten Mutter, ohne Halt an ihr, ohne Sonnenschein. Sie waren beide so ganz verschieden an Charakter und Gemüt. Zwei Wesen eines Blutes, und doch sich fern wie Antipoden; zwei Menschen, aneinandergeschmiedet, und doch verschiedene Wege suchend; zwei Herzen, die sich das Beste wünschten und sich dennoch zum Verhängnis werden sollten.

Die Mutter hatte längst die Jahre der Entwicklung vergessen, in der die knospende Seele sich zagend öffnet, die Sinne sich durch das Dunkel zu tasten beginnen; die Zeit, in der der Mensch die erste Schale abwirft und nackt und wehrlos jedem Angriff preisgegeben ist; die Zeit, in der bereits die Unschuld eine Last, die Schuld noch ein Geheimnis ist.

Frau Dora verwehrte sich dem Leben, ohne zu ahnen, daß das Leben über sie hinwegging. Angstvoll hatte sie jede Freundin von Lisa ferngehalten; wer konnte wissen, wie viel Verderbtes sich hinter solcher glatten Mädchenstirn versteckte? Hätte Lisa die Mutter nach den Rätseln des menschlichen Werdens gefragt, so hätte jene mit der Hartnäckigkeit der prüden Frau ihr die Wahrheit verhehlt, wie man mit einer Gebärde des Ekels über Verirrungen hinweggeht. Es gab für sie der Tochter gegenüber nur eins, den Storch; und auch seine Wirksamkeit hätte sie am liebsten als bedenkliche Unsitte verurteilt, wie sie mit eisigem Schweigen über die Erscheinungen hinweggegangen war, die ihres Kindes Reifen kündeten; erst wenn klein Lisa schlief, ließ sie die Blusen und Röcke aus, so oft sie wieder einmal sich über dem knospenden Busen, den wachsenden Hüften zu spannen begannen.

Frau Halm konnte von Glück sagen, daß ihr Zimmerherr sich so gar nicht bewußt war, ein junges, sechzehnjähriges Mädchen vor sich zu haben. Denn so mißtrauisch sie sich den Freundinnen ihrer Tochter, wie aller Welt gegenüber zeigte, so blind blieb sie, soweit es sich um Lisa selbst handelte. Für diese bürgte Frau Dora ihr eigenes Vorbild; das, was sie selbst niemals getan, niemals zu tun vermocht hätte, das konnte ihre Lisa auch nicht tun. Frau Dora war die Gattin eines Offiziers gewesen, sie und mit ihr die Tochter standen hoch über allem Schmutz des Lebens.

Einmal, in der gärenden Unsicherheit ihrer Backfischjahre, hatte Lisa aufgeweint: »Ich bin so allein, Mutter, ohne Freund auf der Welt.«

Die Mutter sah sie verständnislos an.

»Eine solche Unruhe habe ich,« schluchzte Lisa, »und weiß nicht warum; solche Sehnsucht, und weiß nicht wonach. Heut weine ich in die Nacht hinein, ohne Grund, morgen möchte ich alle Welt umarmen, ohne Sinn und Verstand. Was ist das nur?«

»Du hast dich sicher erkältet,« sagte die Mutter mit vorwurfsvollem Tadel. »Soll ich dir Tee machen, Fliedertee?«

»Fliedertee!« wiederholte Lisa mit finsteren Augen.

Frau Halm richtete sich verletzt auf. »Es geht dir doch gut, Lisa. Keine Sorgen, keine Not. Und du hast deine Mutter –«

Ja, ihre Mutter hatte sie. Eine Mutter, die nur zu oft an ihr nörgelte, ihren Einfluß auf sie in Kleinlichkeiten verzettelte; die nichts ahnte von ihres Kindes heißem Drang, im Sonnenlicht unter frohen Menschen zu atmen, nicht erkannte, wie Lisa sich mehr und mehr ihr verschloß. Und war doch alles nur der nagende Schmerz, ihrem Kinde das Leben nicht leichter machen zu können, die zitternde Liebe, aus Welthaß und Verbitterung geboren. Ein Zwiespalt klaffte in Frau Dora: Sie suchte ihr Kind für den Kampf des Lebens zu stählen und entzog es ihm zugleich; sie bangte in dem Gedanken an Lisas Zukunft und scheuchte doch die Sorge um sie gewaltsam von sich fort; sie wollte ihr ein Stab sein, und war doch selbst gebrochen. Sie litt, wenn das Kind nicht fröhlich war, und raubte ihm trotzdem den Frohsinn, den sie ihm mißgönnte, wollte die Tochter jung erhalten und haßte die Jugend, der noch das Leben lachte. Sie sah ihr Kind sich entwickeln, in der Besorgnis, mit der der müde Wanderer die dunkle Wolkenwand am Himmel aufziehen sieht; als sie entdeckte, daß Lisa zum Weibe herangereift war, hatte sie geweint, wie eine Mutter, deren einziger Sohn in das Feld hinauszieht.

So war es denn verständlich, wenn Lisa sich nur allzu willig Berg anschloß. Ohne daß sie sich dessen bewußt wurde, verkörperte sich all das heimlich heiße, der Mutter notgedrungen verhehlte Sehnen ihres reinen Mädchenherzens in dem Bilde des hübschen, eleganten, selbstsicheren Assessors, des im Kriege bewährten Offiziers.

Sie ahnte nicht, weshalb Berg so viel Zeit für sie übrighatte: Er, der noch immer auf Dolly hoffte, wagte es jetzt kaum, außerhalb der Dienststunden das Haus zu verlassen, um keinen Brief, kein Telegramm von ihr zu versäumen. Wie oft hatte er in seinem Bureau den Fernsprecher in der Hand, um sie anzurufen; aber jedesmal, wenn sich das Amt meldete, verlor er den Mut, gab irgendeine Nummer, hängte den Hörer an. Ein Rest von Scham hielt ihn zurück, sich wegzuwerfen, ihr nachzulaufen, um ihre Liebe zu betteln; sie war sein gewesen in sündiger Liebe, sie hatte kein Recht, auf ihn herabzusehen, ihn zu verleugnen.

Er konnte es nicht fassen; und doch, im tiefsten Herzen, empfand er mit quälender Sicherheit, daß alles, was ihm als Lebensschicksal erschienen, zu Ende war, ein kurzer Rausch, ein nie wiederkehrender Traum. Und zugleich erwachten wilde, ungezügelte Erinnerungen in ihm, brachten sein Blut zum Sieden, nahmen ihm wie ein Faustschlag auf die Brust den Atem.

Er gab sich Mühe, sich diese Frau zu verleiden. Er kritisierte ihre Züge, fand ihre Stirn zu niedrig, die Nase zu kurz. Er sah ihren Körper vor sich, trotz aller Weiblichkeit zu eisern fest, mit knabenhaften Hüften. Er rief sich vor Augen, wie dieser Hut sie entstellt, jenes Kleid ihr nicht gestanden, bald ein verwegenes Wort in trauter Stunde ihm mißfallen, bald eine kecke Bewegung ihn verletzt hatte. Er erinnerte sich ihres Wesens, wenn sie trunken war, wie sie ihr Glas zerbrach, ihm die Zigarette aus dem Munde riß und weiterrauchte. Er ließ kein gutes Haar an ihr; und während er sie so vor sich entwertete, schrie sein Herz nach ihr und ihrem Zauber, nach ihr und ihrer Liebe, hätte er zu ihr hinstürmen mögen, um ihre Kniee zu umschlingen, in Anbetung ihre Füße zu küssen.

Tag für Tag wartete er daheim auf einen Brief von ihr, auf sie selbst, räumte er auf, stellte er die Nippes um, zog die Gardinen vor. Nie hatte solche Ordnung bei ihm geherrscht; kein Kleidungsstück über den Stühlen, kein Papierschnitzel, keine Asche auf dem Teppich.

Und eines Tages, als er schon jede Hoffnung ausgegeben hatte, stand sie vor ihm, unerwartet, unruhig, auf dem Sprung.

»Mein Mann ist heute in die Klinik gebracht worden. Ich hatte Sehnsucht nach dir. Oder hast du mich schon vergessen?«

Sie durchlebten eine Stunde des Rasens. Er war wie im Fieber, er jauchzte und klagte in einem Atem. Und immer wieder fragte er wie ein Irrer:

»Hast du mich lieb?«

Sie lachte. »Wäre ich sonst gekommen?«

»Sag' es doch, Dolly,« flehte er. »Hast du mich lieb?«

»Ein wenig, hin und wieder.«

»Wahnsinnig lieb?«

In ihrer überlegenen Art fuhr sie ihm durch das Haar. »So fragt man Leute aus.«

»Ich denke stets an dich,« stammelte er. »Ich bange mich so nach dir.«

»Ich doch auch,« antwortete sie.

Sie log, tat es mit vollem Bewußtsein. Sie liebte keinen, konnte garnicht lieben. Sie hatte sich gesehnt, jetzt, wo sie ohne Aussicht war, wieder einmal die Leidenschaft des Mannes, die Lust bis zur Erschöpfung auszukosten; und nun, wo sie gesättigt war, war auch der Mann für sie erledigt.

Sie setzte den Hut auf.

»Gehst du schon?« fragte er enttäuscht.

»Wir müssen vorsichtig sein,« erwiderte sie. »Berlin ist ein Dorf.«

Er küßte ihren Nacken. »Ich habe so wenig von dir gehabt.«

»Kennst du einen Grafen Durlach?« fragte sie plötzlich, die Hutnadel zwischen den Lippen.

»Ich glaube,« antwortete er überrascht. »Ein Rennstallbesitzer. Warum?«

»Ein alter Bekannter,« sagte sie flüchtig. »Ist meine Taille gut zu?«

Und als er immer gieriger die Lippen auf ihre kühle Haut preßte, wurde sie ungeduldig:

»Laß das! Ich komme wieder.«

»Wann?« drängte er.

»Das weiß ich nicht. Ich schreibe.«

»Aber wirklich bald?« bettelte er.

Sie blickte ihn mit verstohlenem Lächeln an; die dunklen Schatten unter ihren Augen erzählten von dem Sturm der letzten Stunde. Dann sagte sie kurz, fast hart:

»Leb' wohl!«

»Auf Wiedersehn,« antwortete er dankbar.

Durch die Gardine spähend, sah er sie lässig, wie gebrochen von der Stunde der Liebe und doch ganz Dame den Gartenweg kreuzen. Von ihrem Manne hatte sie mit keinem Wort mehr gesprochen.

Und während er ihr nachblickte, überkam ihn das peinigende Empfinden: Nie hatte sie ihm restlos Glück geschenkt, nie er sie ganz besessen. Im Abklingen ihrer zitternden Begierden entschlüpfte sie ihm unter den Händen, wie Schaum zwischen den Fingern zerrinnt, und immer wieder mußte er sie sich neu gewinnen. Er dachte an so manche andere, die nach gesättigter Leidenschaft ein köstliches, wunschloses Glück des Einsseins in ihm zurückgelassen hatte. Und aus diesem quälenden Druck, sich Dolly nie ganz unterworfen zu haben, sie nicht bis in die letzten Falten ihrer Seele entschleiern zu können, erwachte doppelt die Sehnsucht nach ihr.

Am nächsten Morgen lag auf seinem Frühstückstisch ein Brief, ein schmaler, lila, nach Flieder duftender Brief. Er riß den Umschlag auf, überflog die wenigen Zeilen.

Seine Kniee gaben nach, er fiel fast auf das Sofa. Der Brief kam von Dolly, enthielt den Abschied.

Das alte Lied: Vorsicht ... tausend Augen ... vielleicht, wenn möglich, in Zukunft ...

Er wußte nicht, was er tat. Er vergaß alles, seine Pflichten, das Amt, er nahm ein Auto, fuhr zu ihr hin.

Er läutete.

Dasselbe hübsche Hausmädchen öffnete ihm.

»Die Herrschaften zu sprechen?«

Sie zögerte. »Der Herr Geheimrat ist in der Klinik. Gnädige Frau ... ich werde fragen ...«

»Bitte, sagen Sie der gnädigen Frau, ich bäte um eine Minute, in wichtiger Angelegenheit.« Er sprach so dringend, mit so heiserer Stimme, daß sie erstaunt aufblickte.

Er wartete, wartete endlos, blickte auf die Bilder, Bronzen, ohne Empfindung von dem, was er sah; dann schritt er ruhelos über den Teppich, immer das Randmuster entlang, immer hastiger.

Mit einmal stand sie vor ihm.

Die Luft versagte ihm. Er trat auf sie zu.

»Dolly,« flehte er, »um Gottes willen, Dolly, was tat ich dir?«

Ihre Lippen blieben eigensinnig geschlossen. Und als sie endlich antwortete, sprach aus ihren zornigen Augen der ungezügelte Groll, daß er ihr seinen Willen entgegensetzte, nicht einmal den Burgfrieden ihres Heims achtete.

»Was du mir tust? Das Schlimmste, was ein Kavalier einer Frau antun kann. Du kompromittierst mich.«

»Wodurch, Dolly?«

»Wodurch?« wiederholte sie und lachte verächtlich auf. »Dein Hiersein genügt. Meine Ruhe will ich mir wahren.«

»Ich nehme sie dir nicht.«

»Das tust du doch. Eine einzige Unvorsichtigkeit, und ich liege auf der Straße.«

Er wollte ihr antworten, daß er sie nie verlassen würde; doch vor dem Reichtum um ihn her verstummte er, der Assessor mit einem jährlichen Einkommen, das sie in einem Monat für sich persönlich ausgab.

»Und alles das auf Borkum, alles das gestern?«

»Vergißt ein Gentleman, sobald es zu Ende ist.«

Er wurde blaß. Es lag ihm auf der Zunge: »So rasch vergessen kann nur eine Dirne.« Er sprach es nicht aus, er fragte nur: »Muß es denn sein?«

Sie sah, wie seine Lippen zitterten.

»Zunächst wenigstens,« sagte sie mit einem Flimmern in ihren Augen. Sie dachte daran, wie unberechenbar ihr Temperament war.

»Dolly,« sagte er leise, durch die Zähne, »ich hab' dich doch so lieb ...«

»Beweise es mir.«

Er erstarrte vor dem herzlosen Ton ihrer Stimme. Mit einem Ruck straffte er sich auf. »Das werde ich. Ich bitte dich nur noch um eins: Behalte mich in gutem Andenken.«

Sie reichte ihm die Hand, die er küßte. »Das will ich, Hans,« flüsterte sie. »Es war ja so unsagbar schön. Aber es ist das Beste für uns, auch für dich. Vielleicht, hoffentlich bald: Aus Wiedersehn.«

Noch eine Sekunde zögerte er, wollte er aufschreien, sich ihr zu Füßen werfen. Dann wandte er sich ohne ein Wort.

Aber nun hielt sie ihn zurück. »Sei verständig,« bat sie, ihm in die Augen sehend, und legte beide Hände auf seine Schultern.

Er sah sie hilflos an. Er war nicht fähig, ein Wort zu erwidern.

»Und denk nicht schlecht von mir,« sagte sie schmeichlerisch, »weil ich mich dir geschenkt. Ich konnte ihm nicht treu sein, ich hatte dich zu lieb. Mein Mann sorgt ja für mich, er überschüttet mich mit allem, was Geld verschaffen kann, – mit allem, bis auf die Liebe. Und solche Lücke im Glanz des Lebens, solch eine Herzenslücke, das ist das Schrecklichste. Aber mich an dich hängen, dir dein Leben zerstören und meines dazu, das kann ich dennoch nicht. Reichtum ohne Liebe ist entsetzlich; aber noch furchtbarer muß Liebe ohne Reichtum sein, für eine Frau wie mich. Und über kurz oder lang ertappt man uns; Verliebte sind ja immer unbesonnen.«

Sie zog ihn in die Mitte des Zimmers zurück. Und leise, während sie in Verlegenheit ihre blitzenden Ringe drehte, fuhr sie fort: »Es ist im Grunde ja auch so fad, seinen Mann zu betrügen. Umständlich ... und abstoßend. Diese postlagernden Briefe, das mühsame Sich-Stehlen einer freien Stunde, die Furcht hinter dichtem Schleier, der jedem auf hundert Meter die Eheirrung verrät, auf fremder Treppe, durch die schon längst geöffnete Tür, die alles sagt. Daß ich das einmal für dich gewagt, zeigt doch, wie gut ich dir bin. Mein Gatte ist krank,« klagte sie auf, »ich bin eines lebenden Mannes Witwe. Aber dieser halbe Leichnam hat eine Waffe, die dauernd über mir schwebt, sein Testament. Für eine Stunde flüchtigen Glücks droht mir ein Leben voll Entbehrung. Das lohnt sich nicht, Hans. Für mich arbeitet die Zeit.«

Ihn stieß die kühle Überlegung ab, die zwischen Vor- und Nachteil, Liebe und Gold abwog. Aber er schwieg; er wollte es nicht mit ihr verderben; und schließlich rechnete ja auch er trotz seiner Liebe mit der Zukunft und ihren Möglichkeiten.

Sie trat auf ihn zu, küßte ihn.

»Ich hab' dich lieb,« wiederholte sie, »vergiß das nicht. Er ist sehr krank, gedulde dich. Willst du das, Hans?«

»Ich will.«

Er war sich noch immer nicht klar, ob er ihr glauben durfte, oder ob sie ihn nur beschwichtigen, loswerden wollte. Und während er die Treppe hinabstieg, brannte es ihm wie ätzendes Gift in der Brust, wie Haß, gemischt aus Eifersucht und gedemütigtem Stolz.

Und nun begann eine furchtbare Zeit für ihn. Jede Nacht, wenn endlich ihm der Schlaf zu nahen schien, erhoffte er Erlösung von dem nächsten Tage; an jedem neuen Morgen verwünschte er den Tag, der ihn zu gleichem unerträglichen Weh weckte. Er spielte mit dem Gedanken an Tod, und nur die Hoffnung ihrer letzten Abschiedsworte, die Möglichkeit, daß sie ihn doch noch liebte, auf ihn harrte, ließ ihn die Folter des Verzichts ertragen.

Dann, eines Morgens, erwachte er mit einem festen Entschluß. Er mußte Dolly zu vergessen suchen. Er konnte es nur im Verkehr mit einem anderen Weibe. Er dachte nicht an eine Liebelei, dazu war seine Wunde noch zu frisch; aber er wollte sich betäuben, zerstreuen, wie man in Herzensnot sich gewaltsam von seinen Sorgen ablenkt, wie der Verurteilte noch auf dem Wege zum Schafott mit Nichtigkeiten sich beschäftigt.

Und darum mußte es etwas sein, das ihn in nichts, auch nicht im kleinsten Zuge, weder körperlich noch seelisch an sie erinnerte.

Er suchte lange, er fand es nicht; aber schon dieses Suchen brachte ihm Erleichterung.

Und eines Tages fand er. Fand es so greifbar nah, so dicht vor seinen tastenden Händen, daß er es nicht begriff, wo er bisher die Augen gehabt hatte.

Ein Zufall machte ihn aufmerksam. Als er sich seine Morgenzigarette ansteckte, glitt eine Streichholzschachtel ihm aus der Hand und verstreute ihren Inhalt auf den Teppich. Er hatte es eilig, seine Akten zusammenzupacken, und achtete nicht darauf, auch nicht, daß Lisa anklopfte und in das Zimmer trat, das Kaffeegeschirr zu holen.

Plötzlich, als er von seiner Arbeit aufschaute, sah er sie am Boden knieen und die Streichhölzer aufsammeln. Sie mußte seinen Blick gefühlt haben; sie hob die Augen zu ihm auf, erglühte.

Und dieses mädchenhafte Erglühen, dies scheue Lächeln, das Lisa einen eigenen Reiz verlieh, entschied über ihr ganzes Lebensschicksal.

 

Von diesem Tage an begann er von neuem, mit doppeltem Eifer dieses unbeschriebene Blatt, dieses Schäfchen zu erziehen, aufzuklären, ihr in ihrer unglaublichen Unerfahrenheit die Augen zu öffnen. Er hoffte sich mit dieser neuen Aufgabe – denn die Frauen, die er bisher kennengelernt, hatten wahrhaftig keines Unterrichts bedurft – zu zerstreuen und die Erinnerung an Dolly zu überwinden. Ob ihm im tiefsten Grunde nicht doch ein anderes Ziel vorschwebte, die Frage legte er sich garnicht vor; und wenn ihn Lisas unerhörte, geradezu unmögliche Weltfremdheit reizte, so ahnte er nicht, daß in dem Reiz zugleich eine Gereiztheit gegen ihre reine, sieghafte Unschuld mitschwang.

Lisa hatte während seines fast vierwöchentlichen Fernseins darauf gehofft, daß er der Mutter eine Nachricht senden und vielleicht, vielleicht auch ihrer mit einem kurzen Gruß gedenken würde. Denn diese Trennungszeit hatte noch dazu beigetragen, sein Bild zu verklären. Ihre Bewunderung für ihn war um so schrankenloser, als er der erste Mann war, mit dem sie näher in Berührung kam. Aber kein Hauch von Sinnlichkeit trübte dieses Bild; sie empfand für ihn – soweit sie sich dieses Empfindens bewußt wurde – nichts als treue Schwesterliebe, blickte mit unschuldigem Herzen zu ihm auf.

So war sie denn bei seiner Rückkehr von der Gleichgültigkeit, mit der er die Mutter und sie begrüßt hatte, schmerzlich betroffen worden; und eine unsägliche Freude erfüllte sie, als er wieder mit ihr zu reden begann, mit freundlichem Blick ihr in die Augen sah, in diese Kinderaugen, die so selig zu lachen, so traurig-vorwurfsvoll ihn anzusehen vermochten, – Augen, die ohne Worte ihm alles sagten.

Immer mehr gewann er ihr Vertrauen, in schlichtem, törichten Geplauder, das nur den einen Zweck hatte, sie an sich zu gewöhnen, sie zutraulich zu machen.

Und er sah mit Genugtuung, wie sie an solchen Nichtigkeiten sich freute, von Tag zu Tag auftaute.

Sie mußte ja auch dankbar sein. Sie hatte so wenig Fröhlichkeit im Leben gehabt, kaum je von ihrer Mutter Lippen einen Scherz gehört. Sie glich einem Kinde, dem sich aus florverhangenem Alltag zum ersten Mal die leuchtende Welt des Märchens erschließt.

Auch ihm bot seine selbstgewählte Aufgabe wachsendes Vergnügen. Aber allmählich wurde er doch des trockenen Tones satt, suchte er immer mehr die Binde von ihren Augen zu lösen, lockte es ihn, sie zu beobachten, wie sie mit klopfendem Herzen das festverschlossene Tor der Leidenschaften sich öffnen sah, mit scheuen Blicken in das Reich der Liebe starrte.

Nicht die brutale Tat, – das Wort verführt, das weiche, schmeichelnde, berauschende Wort. Dem harten Schlag der Tat wehrt sich der Stein; dem stetig fallenden Tropfen schmiegsamer Worte widersteht er nicht.

Zunächst ließ Berg vorsichtig andere für sich sprechen. Er gab ihr Bücher, die in unanfechtbarer Form, von anerkannten Lyrikern und Romanciers geschrieben, in brennenden Farben die alles überwältigende Liebe malten. Er las ihr, wenn die Mutter fern war, selbst aus ihnen vor, um mit dem Klang seiner Stimme Lisa einzulullen. Sie nahm es ohne Mißtrauen hin; es war ja gedruckt, und in ihrer Harmlosigkeit galt es ihr daher als unanfechtbar.

Und ahnungslos sog sie das süße Gift ein, das ihr in goldener Schale geboten wurde, das Daseinsfreude und selige Stunden pries, die Abgründe des Lebens unter den lachenden Rosen der Poesie verbarg, das Weib verherrlichte, das sich dem Mann in schrankenloser Liebe schenkte.

Immer weiter tastete er sich vor.

»Ich möchte Ihnen ein kleines Gedicht vorlesen,« sagte er. »Soll ich? Sagen Sie einmal: Bitte, bitte.«

»Bitte, ja,« antwortete die kleine Lisa erfreut.

Und wieder las er, mit seiner klingend weichen, immer wärmer werdenden, zuletzt in Erregung bebenden Stimme:

Komm, Sünde, schöne Sünde, zu uns her!
Gieß jauchzend deiner heißen Küsse Glut
Wie roten Feuerwein, wie Flammenmeer
In unsrer Nächte ungestüme Wut.
Die Stirnen, feucht von wildem Liebesringen,
Krön' mit der Sehnsucht ewig frischem Kranz,
Laß, Göttin, deiner Laute Saiten klingen,
Spiel' rauschend auf zum zügellosen Tanz!
Komm, Sünde, Schänderin, die Märchenpfade
Der Wollust führe uns, die letzten Bande
Verfemter Scham zerreiß in uns und bade
Uns in dem tiefsten Schlamm der süßen Schande ...

»Nun?« fragte er lässig.

Sie war eingeschüchtert und zugleich empört; aber sie merkte wohl, daß ihr Widerspruch ihm nicht willkommen gewesen wäre. Und obwohl sie das Gefühl hatte, daß diese Verse etwas Häßliches schilderten, wagte sie ihrem Empfinden doch nicht Ausdruck zu geben, um ihn nicht zu kränken. Er hatte auch so leidenschaftlich, so hinreißend gelesen, daß allem Widerstreben zum Trotz doch etwas in ihr mitgeklungen hatte, etwas ihr noch Verschleiertes, Ungewecktes, Verbotenes. Und so sagte sie nur befangen:

»Es war sehr schön.«

»Ihr Glück,« lachte er auf. »Es ist nämlich die Umdichtung eines indischen Poeten, von Rabindranath Tagore uns übermittelt.«

Nach und nach begann er aus sich heraus zu reden, an das Gelesene anzuknüpfen, die Philosophie des Genußlebens vor ihr auszurollen. Nicht als seine eigene Meinung – o nein, es ließ sich immerhin darüber streiten! –, aber als das Dogma aller der Menschen, die wirklich aus ihrem Leben einen Sonnentag zu machen wußten, als die Lehre jener Forscher, denen sicher Wohl die Zukunft gehörte.

Das Dasein habe zu viel Trübes, um auch nur einem freundlichen Strahl den Eintritt verwehren zu dürfen. Aber das Glück erringen, heiße nicht warten, bis es an einem vorüberflattere, um es zu greifen; das sei nicht schwer, dann würde es weit mehr glückliche Menschen geben. Nein, erzwingen müsse man das Glück, mit festem, unbeirrten Willen, aus eigener Tat; aus tiefstem Morast der Vorurteile es zu sich retten, aus sprödem Felsen heuchlerischer Sitte es herausmeißeln, aus heißem Blute es emporquellen lassen.

Kein Leid sei so groß, wie die Reue um ein Glück, das uns durch eigene Schuld entglitten, um den Augenblick, den wir nicht genossen, ohne Schranken, skrupellos, das Leben meisternd. Und höchstes Glück des Menschenkindes sei die Liebe, die nicht fragt, nicht rechnet, nicht fürchtet, die im Glückbereiten das eigene Glück findet.

Des Mannes Liebe sei Begehren; der Frauenliebe Krönung das Gewähren. Nur an die Liebe der Frau dürfe ein Mann glauben, von der er wisse, daß sie ihm nichts verweigern könne. Er brauche nichts zu heischen; nur fühlen müsse er, daß er jederzeit der Liebe Lohn verlangen dürfe.

Sie mißverstand ihn, sie dachte an ein Leben voll Hingebung, ein selbstloses sich Weihen, in unermüdlicher Sorge des Gatten Wünsche erfüllend. »Und woher weiß das der Mann, daß er geliebt wird, wenn er nichts verlangt?«

Er blickte sie überrascht an. »Sieh einmal, die kleine Lisa! Eine Gegenfrage: Wissen Sie nicht, obwohl Sie es noch nicht erprobt haben, daß Ihre Mutter alles für Sie tun würde?«

Sie hob die Augen. »Ja,« sagte sie, »alles würde meine Mutter für mich tun.«

Er legte sich befriedigt im Sessel zurück. »Nun also,« sagte er überlegen.

Sie war nicht schlagfertig genug, um solche Anschauungen zu bekämpfen. Genau so konnte ja der Fuchs zum Hühnchen sprechen, ehe er es zerriß; und auch den Trugschluß, daß des einen Glück zugleich auch das des anderen bedeuten müsse, erfaßte sie nicht. Nur unbewußt, stumm lehnte sie sich gegen diese Lehre auf.

Allmählich flocht er kühnere Worte, keckere Bilder und Scherze ein. Sie begriff zwar den Sinn nicht; aber sie lachte mit, nur um nicht allzu töricht zu erscheinen. Ging ihr wirklich einmal das Verständnis auf – und nichts lernt ein Weib rascher –, so wollte sie böse werden; aber es gelang ihr nicht recht, seiner völlig selbstverständlichen Sicherheit gegenüber. Und so schlichen sich bald Worte und Anschauungen in ihre Seele hinein und wurden ihr vertraut, die sie vor kurzem noch voll Scham zurückgewiesen hätte.

Und nun, wo sie an dem Worte nicht mehr den gleichen Anstoß nahm, begann er sie weiterzuführen, in fließender Rede, ohne zu unterstreichen, als ob er niemals mit jungen Mädchen etwas anderes zu erörtern gewohnt gewesen wäre, als ob er selbst in Ehrfurcht vor den Wundern der Natur und Kunst stände.

Er zeigte ihr Photographieen. »Ist das schön? Es ist die Danae des Tizian im Nationalmuseum zu Neapel. Und dies die Io von Correggio, im Berliner Museum.«

Sie schämte sich, aber sie wagte es nicht zu sagen, den stolzen Namen der Künstler gegenüber.

»Hier etwas Modernes, die Eva aus Stucks ›Versuchung‹,« plauderte er weiter. »So denke ich Sie mir in einigen Jahren. Sie haben dieselben Augen, dasselbe Haar, und ich glaube – ich weiß es ja nicht – denselben Bau. Stimmt es?« Es war kein Wort davon wahr, aber er kannte genau die Gedankenflucht, die er in ihr auslöste.

»So etwas dürfen Sie nicht sagen,« widersprach sie verletzt.

»Verzeihung, es war rein künstlerisch gemeint. Machen Sie mich darauf aufmerksam, wenn ich etwas Falsches tue. Wollen Sie?«

»Ja,« antwortete sie dankbar. Sie dachte nicht daran, daß sie mit solchen Winken ihm ihr ganzes Innenleben preisgab.

Und während er in Worten vorsichtiger wurde, einen Schritt zurückwich, oft scherzhaft fragte: »Darf ich das sagen?«, legte er wie unabsichtlich, im lebhaften Geplauder die Hand auf die ihre, nahm er sie beim Arm, glitt er die Linie entlang, die er am Kunstwerk rühmte.

Aber als er sie eines Tages allzu fest an sich zog, geriet sie außer sich. »Ich mag nicht,« stammelte sie mit erschreckten Augen. »Das ist schlecht.«

»Ach was, kleine Lisa,« antwortete er barsch.

Ihr unerwarteter Widerstand ließ sie ihm plötzlich in anderem Lichte erscheinen. Es ist ein altes Gesetz: Das, was den Menschen wertlos dünkt, was er nie entbehrt, sich nie erträumt hat, erweckt im gleichen Augenblick sein Begehren, in dem es ihm verwehrt, ihm unerreichbar wird. So kann ein Mann ein Weib nur aus dem Grund ersehnen, weil ihre herbe Sprödigkeit sie unüberwindlich erscheinen läßt.

Was? Diese kleine Lisa wollte auftrotzen? Dieses Schäfchen wagte es, sich ihm zu widersetzen?

Die Wut stieg in ihm hoch. Er vergaß jede Vorsicht, er wurde rüde.

»Komm her, sei nicht albern!« stieß er heraus.

Sie merkte es garnicht, daß er sie duzte. Scheu wich sie zurück. »Fassen Sie mich nicht an, ich sag's der Mutter.«

Er war mit einem Schlage die Ruhe selbst.

»Der Mutter?« sagte er. »Schön! Und was ist die Folge? Johanna geht, und die Zimmer stehen leer. Bestenfalls löst mich ein anderer ab, irgend ein Rauhbein, der wirklich frech wird. Denn solche Behandlung läßt sich kein Mann gefallen.«

Sie brach in Weinen aus.

»Dummchen,« sagte er freundlicher. Und nun legte er doch leicht den Arm um sie. »Was habe ich dir denn getan?«

Sie wehrte sich nur schwach. »Bis jetzt nichts,« antwortete sie schluchzend.

Er lachte auf. »Du scheinst ja auf schöne Dinge gefaßt zu sein. Also, Kind, dies Aufbegehren, das hasse ich wie die Sünde. Jetzt gehst du und erscheinst erst wieder, wenn du auch wirklich artig sein willst. Vorher nicht.«

Am nächsten Tage trat sie verlegen bei ihm ein, um ihm die Post zu bringen.

»Nun?« fragte er und blickte ihr in die Augen.

Sie errötete. Aber vor seiner ersten Bewegung wich sie noch scheuer zurück.

Und nun erwachte sein Trotz, seine Eitelkeit. Jetzt wurde es zur Ehrensache für ihn, den Widerstand zu brechen. Ohne es sich zu gestehen, begehrte er sie; nicht ungestraft hatte er sich so lange, so angelegentlich mit ihr beschäftigt, dem Zauber ihrer Unschuld hingegeben. Denn je brutaler ein Mann, desto unwiderstehlicher zieht ihn des unberührten Weibes Weichheit an.

Er überlegte: Mit deinem brüsken Paschatum hast du sie ängstlich gemacht, sie vor den Kopf gestoßen. Du hast sie eben für noch dummer gehalten, als sie ist. Gut Ding will Weile haben. Mithin mußt du sie erst ganz dumm machen; was aber der Alkohol beim Manne, das ist beim Weib die Schmeichelei. Also schmeichle, heuchle den Troubadour. Und dann, wenn deine Stunde gekommen, zahl' es ihr heim!

Sofort stellte er sich um, spielte den Minnesänger, mit Meisterschaft, im Herzen den Groll. Alle Register, bis zur Demütigung herab zog er, in einer ihm bisher fremd gebliebenen Erregung, mit einer Stimme, deren brüchiger Ton ihm durch das Ohr schnitt, ihn gegen sich selbst erbitterte.

»Lisa, kleine Lisa,« sagte er. »Ich habe dich doch so lieb. Weißt du das nicht? So unsäglich lieb, daß ich mich selbst nicht begreife.«

Und mit verhaltener Stimme sang er den alten, urewigen Sang der Liebe, der wie Haschisch des Weibes Hirn betört.

Lisa hatte ihr Widerstreben schon längst bereut. War sie nicht doch zu schroff gewesen? Hatte er sie wirklich kränken wollen? Wenn er sie liebte, war ihm sein Ungestüm nicht zu verzeihen? Und dann, – sollte das nun zu Ende sein, all der Sonnenschein, die Freude, die er in ihr Leben getragen? Wieder der graue Alltag, Woche für Woche, Jahr für Jahr? Und wenn er wirklich Ernst machte, von ihnen fortzog? Sie hatte es ja gelesen, in heimlichen Büchern, wie sich des Mannes Liebe nach der Geliebten sehnt, wie Herz an Herz in heißem Jubel schlägt. War er denn nicht im Recht, hatte sie nicht in törichtem Vorurteil, in Undankbarkeit sich selbst das Himmelreich verscherzt? Und sie sehnte die Stunde herbei, in der sie alles wieder gutmachen konnte.

Leicht gerührt, ist leicht verführt. Ihr junges, zages Herz stand fast still, als seine kosenden Worte ihr ins Ohr klangen. Er, ihr Glück, ihr Gott, hatte sie wirklich lieb! »Du mein Herzblatt,« hörte sie ihn schmeichelnd fragen, »bist du mir nicht ein ganz klein wenig gut?«

Und sie hob die Arme und legte sie ihm gefaltet auf die Brust. Sie sagte nichts, doch ihre überseligen Augen waren Antwort genug.

Als er nun aber ihre Lippen suchte, riß sie von neuem sich los. »Ich kann das nicht,« flüsterte sie bang, »ich habe das noch nie getan.«

Wieder fiel er aus seiner Rolle, schlug er ergrimmt auf den Tisch. »Nun schön! Du hast noch vieles nicht getan, was das Leben, die Liebe von dir heischt. Was willst du denn? Das erste Mal kommt dir das schrecklich vor, das zweite Mal erträgst du es, das dritte Mal fieberst du schon danach. Komm, laß dich küssen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Versprechen Sie mir, daß Sie das nie von mir verlangen.«

Er sprang auf. »Wenn es dein Wunsch ist, zwingen tue ich dich nicht. Also gut, – niemals!«

Sie trat in heißem Schrecken an ihn heran. Sie liebte ihn, und doch erzürnte sie ihn immer wieder. Er kannte ja die Welt, und wenn er böse war, so mußte er doch Grund dazu haben. »Jetzt bist du ärgerlich auf mich,« sagte sie verzagt.

Zum ersten Mal hörte er das Du von ihren Lippen, die weiße Flagge der Übergabe. Und sofort vergaß er seinen Grimm.

»Ärgerlich?« antwortete er. »Aber Kind, wie kommst du nur darauf?«

»Du bist so anders,« sagte sie zögernd, »du siehst mich nicht mehr an.« In ihrer Stimme war ein Schwanken, ein leises, unsicheres Nachgeben.

»Liebling,« erwiderte er, und es klang wie die Aufrichtigkeit selbst. »Wie kann ich dir böse sein? Weil das dir keine Freude macht, was ich ersehne? Ich hab' ja nur den einen Wunsch, dich glücklich zu sehn, selbst unter eigenem Verzicht. Nur traurig bin ich, – das ist gewiß doch menschlich! Aber lieb hab' ich dich immer, Lisa. Das darfst du nie vergessen.«

Vor seiner Güte wurde sie gleich wieder zutraulich. »Weißt du,« sagte sie schüchtern, »du warst die letzte Zeit so unendlich gut zu mir. Aber wenn du so wild bist, wie gestern und heut, und so hart sprichst, möcht' ich mich förmlich verkriechen.«

»Wie ein Vöglein,« scherzte er, »das sich aus seinem offenen Käfig nicht hinauswagt?«

»Ja,« antwortete sie schlicht. »Wenn draußen, der Frost knirscht und der Schnee treibt –«

»Dann wird es bald Lenz,« unterbrach er sie lachend, »und die Knospen springen im Maienglanz.« Er warf den Rest seiner Zigarette fort, steckte sich eine neue an.

Sie sah ihm nachdenklich zu. »Schmeckt dir denn das, so den ganzen Tag?« fragte sie.

»Nein,« erwiderte er, »ich merke es garnicht mehr.«

»Aber warum rauchst du, wenn du nichts davon hast?«

»Warum bist du so tugendhaft,« fragte er zurück, »wenn du nichts davon hast?«

»Ich bin rein,« antwortete sie schlicht, »und will es sein.«

»Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein,« spottete er ihr nach. Immer wieder ging sein Temperament mit ihm durch, ließ ihn seine Vorsätze vergessen. »Nur hübsch an sich selbst denken,« zürnte er, »alles andere ist Nebensache.«

»Ich meine,« widersprach sie, »ein jeder hat zunächst die Pflicht, für sich zu sorgen.«

»Auch eine Auffassung, die nicht durch Altruismus getrübt ist,« antwortete er höhnisch.

Sie verstand das Fremdwort nicht. »Ich bin zu dumm,« erwiderte sie, »bin dir nicht gewachsen.«

Er schwieg.

»Du sagst ja garnichts?« fragte sie schließlich gedrückt.

Er zuckte die Achseln. »Was soll ich reden? Böses will ich nicht, und Gutes hab' ich dir nicht zu sagen.«

»Sei lieb zu mir,« bat sie innig. »Nimm mich doch, wie ich nun einmal bin,« setzte sie wie um Entschuldigung bittend hinzu.

Er verzog die Lippen. »Du willst ja garnicht genommen sein,« erwiderte er, ohne sie anzusehn. »Machen wir Schluß. Die Sache ist für mich erledigt. Ich habe zu arbeiten.«

Aber trotz der Arbeit saß er lange noch im Nachdenken auf seinem Sofa.

Es war nicht zu leugnen: Er hatte eine Schlappe erlitten. Er fühlte, er würde sie Lisa nie verzeihen, und doch war er ihr zugleich dankbar.

Denn sie selbst hatte ihm nun den Krieg erklärt; sie wollte den Kampf, sie sollte ihn haben. Jetzt war das Spiel zum bitteren Ernst geworden, wie sich zwei Knaben im Scherz raufen, bis plötzlich ein unbeabsichtigter schwerer Schlag den einen trifft, im Augenblick die Leidenschaft hochflammen läßt. Von nun an hatte er das Gefühl, wie einst, so oft er auf Mensur stand, fest entschlossen, so lange durchzuhalten, bis drüben, auf Gegenseite, Abfuhr erklärt wurde.

Acht Tage kümmerte er sich nicht um sie. Das Notwendigste sagte er ruhig, in kühlem Gleichmaß. Sonst nichts.

Sie litt darunter. Unzählige Male wollte sie sich ihm nähern, beherrschte sie sich mühsam, in heißer Scham. Dann, eines Morgens, als er sie wieder so ansprach, stieg es heiß in ihr auf, rollten die Tränen ihr die Wangen hinab.

Er nahm ihre Hand und küßte sie.

»Ich dachte, du hättest mich nicht mehr lieb,« flüsterte sie, von Glück erfüllt.

»Ich?« lehnte er sich auf. »Ich durfte ja doch nicht. Das wäre eine schöne Liebe, die in Tagen vergeht.« Er legte den Arm um sie. »Ich war der Meinung, du wolltest nichts mehr von mir wissen.«

»Ich nichts mehr von dir wissen!« wiederholte sie. Aus ihrer Stimme klang die ganze Unsinnigkeit eines solchen Glaubens. Und überselig, daß die böse Zeit vorbei, wehrte sie ihm nicht, als er sie mit Liebkosungen überschüttete, bot sie ihm selbst die roten Lippen, duldete sie, daß seine Hände über sie irrten, der Druck seiner Arme ihr fast den Atem raubte.

»Du tust mir weh,« stammelte sie. »Ich habe Angst.«

»Weh?« stieß er heiser hervor. Er setzte sich, zwang sie auf seine Kniee. Dann gab er sie wieder frei. »Verzeih! ich will das doch nicht, ich bin ja halb von Sinnen. Du mußt mir Zeit lassen, Geduld mit mir haben; es ist zu rasch über mich gekommen, aus der Hölle zum Himmel. Soll ich denn wirklich immer ganz vernünftig sein?«

Und vor dem leidenschaftlich, haltlos Erregten fand sie die Ruhe, das Gleichgewicht wieder.

»Ganz nicht,« antwortete sie und blickte mit verzeihendem Lächeln zu ihm auf. »Aber ein bißchen doch.«

Und nun, langsam, unaufhörlich goß er Tropfen um Tropfen das Öl in das glimmende Feuer. Er überlegte jedes Wort, jede Wendung, jede Bewegung vorher, in langem Grübeln; er ersann, gestaltete aus, ordnete und verwarf, dämpfte und steigerte, bis er in vorsichtigem Aufstieg zu dem Zielpunkt gelangt war, den er für dieses nächste Zusammensein sich gesetzt hatte. Und trotz seiner Wünsche drängte er nicht blindlings vorwärts; wußte er doch, daß dieses Umschmeicheln, Betören und Umgarnen vor dem Siege der Mannesliebe schönste Zeit ist.

»Du weißt nicht, wie ich leide,« sagte er ihr eines Abends, in abgebrochenen Sätzen. »Es schadet ja auch nichts, ist mir ganz recht. Warum habe ich dich so lieb, so unfaßlich lieb? Aber Tag und Nacht an nichts anderes denken, immer die Unruhe, diese Sehnsucht, diese Höllenfolter im Herzen, dein Bild vor Augen ... Das Beste, Kind,« – er ballte die Faust – »das Klügste ist, ich bummle einmal durch. Hier sticke ich, hier gehe ich zugrunde.« Er warf die Zigarette fort. »So,« sagte er, plötzlich ganz ruhig, »nun bin ich wieder normal. Ich habe schon einmal ein blondes Mädel so geliebt,« fuhr er scheinbar absichtslos fort. »Es war mir heilig. Nach Jahren hab' ich sie wiedergesehn; sie war verheiratet, in Not, sie hungerte. Da habe ich ihr geholfen und ihr erzählt, wie mein Herz einst nach ihr schrie und wie ich dennoch mich bezwungen habe. Und weißt du, was sie mir geantwortet? Ich sei ein Tor gewesen. Gejammert habe sie nach mir, geschluchzt und mich verflucht ... Wie man es macht, der Trottel bleibt!« brach er von neuem aus. »Der Henker hole ... Ich sag' überhaupt nichts mehr. Ich ziehe ganz einfach los und trinke mich voll. Du aber leg' dich inzwischen in dein keusches Bettchen und falte die Hände und danke dem Herrn, der dich beschützt und behütet. Und eh' du einschläfst, tu' dir selber leid.«

Wie schuldbewußt schmiegte sie sich an ihn an. Sie hätte ihr Herzblut hingegeben, ihm helfen zu können, in der Lust der Ergebung, der Unterwerfung im Widerstand, die das Weib beherrscht; und doch vermochte sie es nicht. Aber zugleich regte sich zum ersten Mal unter der Last seines Unmuts der Gedanke in ihr, daß Mannesrecht über Frauenrecht geht, daß lieben für das Weib verzichten, sich fügen, sich opfern heißt, – jener Gedanke, mit dem das Herrentum des Mannes so leicht und oft des Weibes widerstrebende Keuschheit erstickt. Und dieses Empfinden der Zerrissenheit, der Unsicherheit und Unzulänglichkeit schloß ihr den Mund. Sie fühlte in heißem Schmerz, daß sie Berg verlor, und zitterte zugleich davor, ihn sich durch Nachgeben zu erhalten.

Und unbeirrt, wie ein Schachspieler langsam, beherrscht Zug um Zug tut, die Königin einzukreisen, verfolgte er seinen Weg, ließ er das Ziel nicht einen Augenblick aus den Augen.

»Wie denkst du darüber,« fragte er ernsthaft. »Ganz objektiv: Kann ein Weib einen Mann lieben, wirklich lieben, aus tiefstem Herzensgrund, ohne ihn zu begehren?«

»Ja,« antwortete sie bestimmt. »Das andere ist keine echte Liebe.«

»So?« erwiderte er. »Es heißt doch aber in der Bibel: Die Liebe duldet alles?«

»Gewiß,« entgegnete sie lebhaft. »Aber sie begehrt nicht alles.«

Er schwieg einen Augenblick. Er fühlte sich geschlagen. Dann sagte er lächelnd: »Nun, das genügt. Vergiß es nicht: Die Liebe duldet alles.«

Vor allem suchte er ihre Eitelkeit zu reizen.

»Hat euch der liebe Gott, wie ihr so schön sagt, denn all die Pracht eures Leibes gegeben, damit ihr sie verhüllt, sie ungeliebt und ungenossen verblühen laßt? Mit tausend Zungen wird seiner Schöpfung Herrlichkeit gepriesen, und überall darf sich das Auge an Wald und Flur, an See und Meer, des Tieres Kraft und Schönheit berauschen; nur an dem Weibe, seinem Meisterwerk, wird jeder Reiz versteckt, verfemt, zu sündiger Lust gestempelt. Das nennt ihr Puritaner sittlich, gottgefällig, das rechnet ihr Zeloten als Verdienst euch an, rühmt eurer selbstgeschmiedeten Ketten euch als Zier, anstatt, wie es die Bibel lehrt, mit eurem Pfund zu wuchern.«

»Nur bis zur Ehe,« antwortete ihm Lisa.

»Ehe!« lachte er auf. »Wo steht die Ehe geschrieben? Dieses Produkt aus Selbstsucht des Mannes und Berechnung des Weibes, das beiderseitige Dorado der betrogenen Betrüger, die Gott nicht zusammengefügt hat, und die der Mensch scheidet. Auf die Ehe warten, – das ist genau so blöd, wie auf das Himmelreich. – Herrgott,« fuhr er entrüstet fort und stürmte mit großen Schritten umher, »sitzt du denn immer noch im Kinderteich? Das ist doch ein Verbrechen, ein Mädchen so weltfremd herumlaufen zu lassen. Ich werde dir einmal ein vernünftiges Buch geben. Nur laß dich nicht von der alten Dame überraschen.«

Er gab ihr ein leichtverständliches physiologisches Werk. Sie brachte es am nächsten Tag zurück. »Ich mag das nicht,« sagte sie einfach. »Und ich will so etwas auch nicht wissen. Das ist Schmutz.«

Er fühlte sich getroffen. »Das ist der rechte Philisterstandpunkt. Immer die famose Logik: Was man nicht sieht, das gibt es nicht. Nur stets die Augen fest zugemacht, und die Welt ist wunderschön! Dann könnt ihr getrost Hosianna singen. Und seid doch selbst« – Er brach ab. »Nun, was du bist, das kannst du dir allein sagen.«

»Ich glaube, Lisa,« sagte er am nächsten Tage, »du bist so schrecklich zimperlich, nur weil du irgend einen leiblichen Schaden an dir hast.«

»Das ist nicht wahr,« schrie sie auf.

»Wirklich nicht?« fragte er scheinbar erstaunt. »Dann hast du ja überhaupt keinen Grund, dich so zu sperren. Scham ist doch weiter nichts, als das Bewußtsein körperlicher Unzulänglichkeit.«

Dann wieder griff er zum Spott, tat er, als ob er nicht an ihre Tugend glaube. »Wenn du meinst,« sagte er, »daß du Baby mit deinem glatten Gesicht mich täuschst, so irrst du dich. All das Altjüngferliche, was von der Mutter, dem ganzen Plunder hier auf dich abgefärbt hat, ist doch nur äußerlich. Im Innern bist du ein kleines, unruhiges Mädel, das nach Liebe schreit. Es mag gefährlich sein, den Schrei hören zu lassen, – gefährlicher ist es, ihn zu ersticken; es tut nicht gut, wenn ein Leiden nach innen schlägt. Hättest du nicht Respekt vor mir, wüßtest du nicht, daß ich auf Anstand und Sitte halte, – wir würden schöne Dinge erleben.«

Und nach und nach suggerierte er ihr hundert Dinge, die sie angeblich plante, gewöhnte er sie an den sündigen Gedanken, die sündige Tat; mit heiteren Worten, witzigen Bildern schilderte er sie, malte er sie in allerhand gewagten Lagen aus, stumpfte ihr Schamgefühl ab, vergiftete ihre Phantasie. »Ach, warst du diese Nacht lieb und dumm und ungeschickt ... Du bist doch gestern abend noch zu mir gekommen, du weißt, Wünsche verkörpern sich ... Und halbtot hab' ich dich geküßt, die ganze lange, heiße Nacht. Schämst du dich denn garnicht, du verderbter Racker?«

Dann sagte sie wohl zürnend: »Du bist zu schlecht!« Aber verstohlen lachten doch schon ihre Augen ein wenig über seine unglaubliche Frechheit.

Eines Tages war sie erkältet und wurde von der Mutter in das Bett gesteckt; und als diese die Wohnung verließ, um Medizin zu holen, trat er herein.

»Baby,« sagte er, ohne auf ihren Aufschrei zu achten, als sei sein Eindringen die natürlichste Sache von der Welt, »wo hast du bloß meinen Schuhknöpfer gelassen?«

Sie hatte die Decke bis über das Kinn gezogen. »Bitte, Hans, geh hinaus,« flehte sie.

Er ärgerte sich über sie. »Was schreist du denn? Ich habe doch keinen Röntgenapparat in den Augen. Weniger sehen zu lassen ist doch nicht möglich. Im Mittelalter empfingen die Edeldamen nur im Bett. Ihr seid eine merkwürdige Gesellschaft: Wenn ihr die Decke bis über die Ohren habt, dann schämt ihr euch; aber die Kleider, die oben ebenso spät anfangen als sie unten früh aufhören, die sollte euch einer mal verbieten.« Dann aber wirkte ihr Anblick doch auf ihn. Er kam durch das Zimmer, setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. »Nein, siehst du lieb aus, kleine Lisa,« sagte er, »in deiner blütenweißen Unschuld, mit deinen blonden Gretchenzöpfen.« Jäh glimmte es in seinen grauen Augen auf; und schon kniete er neben ihr, preßte er die Lippen wild auf ihren Mund.

Ein Schrei: »Mutter, Mutter!« durchschnitt die Luft. Mit einer Kraft, die er ihr nicht zugetraut hatte, stemmte sie beide Fäuste gegen seine Brust. »Hans, ich bitte dich, die Mutter kommt. Mach mich nicht unglücklich ...« Jammernd schluchzte sie auf.

Und in diesem Augenblick, in dem sie mit verweinten Augen so hilflos, demütig in ihren Kissen vor ihm lag, ging es wie ein Ruck durch ihn. Aus unbekannten Tiefen der Erinnerung tauchte ein längst vergessenes Bild aus seinem Vaterhause vor ihm auf: Im kleinen Leutnantsheim in Lyck, dort an der russischen Grenze ein junges, blühendes Weib, das ihren Buben jauchzend aus dem Bette hebt, mit heißen Küssen ihn bedeckt. Und diese Frau, die seine Mutter ist, trägt Lisas Züge; er hatte sie nur im Bilde gekannt, sie hatte ein Jahr nach seiner Geburt den zweiten, totgeborenen Sohn mit ihrem Leben bezahlt.

Und plötzlich erwachte in ihm das Gute, wie es ja selbst in dem verworfensten Herzen schlummert, erkannte er die grenzenlose Schlechtigkeit, die ihn mehr und mehr beherrscht hatte, fühlte er sich im Banne des Köstlichsten, das Gott dem Weibe schenkte, des Zaubers, der wie ein Diadem das Haupt der reinen Frau umkränzt.

Schweratmend ließ er von ihr ab.

Nein, er wollte nicht. Es war ein ungleicher, unwürdiger Kampf. Wie einst Dolly ihn, so mußte er jetzt Lisa aus seinem Leben ausschalten.

Er machte einen Strich durch die Vergangenheit. Er suchte mit Gewalt zu vergessen, bummelte mehrere Nächte hindurch, kam erst in der Frühe, wenn ihn der Dienst rief, heim.

Als er so eines Morgens zurückkehrte, fand er Lisa, wieder genesen, wie sie sein Zimmer aufräumte.

»Guten Morgen, Kleine,« sagte er mit erzwungener Gleichgültigkeit. Er suchte Streit mit ihr, zu ihrem Besten, um Schluß zu machen. »Kann ich Kaffee haben?«

Sie sah ihn erschreckt an, wie er vor ihr stand, übernächtigt, mit roten Augen und wirrem Haar.

»Wo warst du?« fragte sie beklommen.

Er merkte ihr an, daß sie Pein litt. Und ihm kam der Gedanke, sich doch ein wenig an ihr zu rächen; sie sollte nicht glauben, daß er aus Schwäche, im Gefühl der Niederlage auf sie verzichtet hatte.

»Weiberbetrieb,« antwortete er spöttisch.

Sie schwieg. »Warum wirfst du dich so fort?« fragte sie dann außer sich.

Und vor ihrem schroffen Tadel, ihrer Verachtung erblaßten seine guten Vorsätze. Er hatte auf sie verzichtet, als Ehrenmann an ihr gehandelt, und dann noch Vorwürfe? Der Zorn kochte in ihm hoch.

»Ich bin weder Toggenburg, noch päpstlicher Sänger,« erwidert er schroff.

Sie war empört, und doch schnürte sich ihr das Herz zusammen.

»Und du willst mich lieb haben?« sagte sie erbittert.

»Was hat denn das mit unserer platonischen Liebe zu tun?« entgegnete er barsch. »Das steht auf einem ganz anderen Brett.«

Sie verstand ihn nicht ganz, und das schloß ihr den Mund.

»Du hast es ja nicht besser gewollt,« fuhr er fort, »und bist mir sicher dankbar, daß ich deinen Wunsch so achte. Mit mir könntest du dich jetzt vierundzwanzig Stunden einsperren, ich krümmte dir kein Haar; aber wo ich meine Nächte zubringe, das geht dich nichts mehr an. Sei froh, wenn ich mir keine mitbringe.«

»Mitbringe?« fragte sie entsetzt.

»Was denn sonst?« fragte er zurück. »Anderwärts kochen die Wirtinnen solch kleinem Mädchen Kaffee und putzen ihr die Stiefel und haken ihr die Bluse zu. Ich bin eben ein Narr gewesen, als ich die Zimmer nahm. Hätt' ich mich nicht von vornherein in dich verliebt, als ich zum ersten Male herkam, nie wäre ich auf diesen Keuschheitstempel 'reingefallen.«

Sie begriff ihn nicht. Aber zugleich empfand sie unbestimmt, daß sie das Leben nicht kannte, daß er der Meinung war, ihr irgend ein Opfer gebracht zu haben. Und mit verzagendem Herzen trocknete sie sich die Augen, ging sie still hinaus.

Sie ertrug seine Gleichgültigkeit, seinen versteckten Hohn nicht; und schon am selben Tage kam sie zu ihm herein und bat ihn scheu:

»Hans, sei doch gut. Geh' nicht die Nächte aus.«

Er hatte das erhebende Gefühl des Ringers, der plötzlich merkt, wie seines Gegners Muskeln im letzten Widerstande nachgeben. Und jäh stand ihm das Bild wieder vor Augen, das seine guten Vorsätze hervorgerufen, dieses Bild des jungen, unschuldigen Mädchens in ihren weißen Kissen, mit ihren langen, maisblonden Zöpfen. Jetzt aber erregte es kein Mitleid in ihm, jagte es ihm das Blut in das Hirn. Bot sie sich ihm nicht an, freiwillig, aus eigenem Wunsch? Zeigte sich hier nicht wieder einmal, daß letzten Endes stets die Frau es ist, die sich den Mann erobert? Wie es auch kam, von nun an durfte er seine Hände in Unschuld waschen.

Er trat zu ihr, legte den Arm um ihren Nacken. Sie duldete es ohne Widerstreben.

»Ich muß es dir sagen,« flüsterte er, »ich habe dich betrogen, diese Nächte, und dich doch nicht betrogen. Ich fand ein Weib, dir sprechend ähnlich; mit dem bin ich gegangen, habe die Lampe gelöscht. Und dann hab' ich dich, Lisa, in meinen Armen gehalten, dich geherzt, dich wie ein Unsinniger geliebt. Nun ist mir und dir geholfen. Und immer wieder möchte ich zu ihr gehn, Nacht für Nacht, zu ihr ... zu dir ...«

Er fühlte sie in seinem Arme zittern. Fester umfaßte er sie.

»Schlank ist sie wie du, und zierlich und biegsam wie du. Deine Märchenaugen hat sie, dein blondes, goldiges Haar. Alles nicht ganz so hold wie du, – Ersatz, verstehst du? Aber was soll ich tun? Ich liebe dich, kleine Lisa, liebe dich doch nun mal bis zur Verzweiflung. Sieh mich nicht an mit deinen blauen Sternen, sonst gibt's ein Unglück.« Er sprach leise, die Zigarette im Munde; aber hin und wieder klang seine Stimme auf, in lodernder Glut, daß es in Schauern sie überrieselte. Wenn er so zu ihr redete, dann konnte er sagen, was er wollte, dann glaubte sie ihm alles, alles, in unerschütterlichem Vertrauen unschuldiger Liebe.

Und willenlos ließ sie sich von ihm auf die Kniee ziehen, sich küssen, wagte sie keine Gegenwehr, nur um ihn nicht hinauszujagen, zu der anderen da draußen, die sie nicht kannte, aber die sie haßte, aus ganzem Herzen. Wie ein Rausch überfiel sie dieser Wunsch, ihn sich zu erhalten, ein Rausch, der ihr die Glieder lähmte, der Dunkel um sie breitete, sie unempfindlich machte gegen alles um sie her, in dem sie sich gleiten und fallen fühlte, tief, tief hinab.

In der Liebe unterliegt, wer den Geliebten zu verlieren fürchtet. Er wußte jetzt: Sie war es, die ihn begehrte. Und während sie hingebend den Kopf an seine Schulter lehnte, gingen seine Gedanken ihren eigenen, kühlen Weg.

Er wunderte sich nicht, daß sie ihm nachgab, er begriff nur das Eine nicht, daß sie sich solange gesträubt hatte. Es sagte sich so leicht: Anständig bleiben! Da hatte so ein Mädel Tag für Tag vor ihrem kleinen Spiegel gestanden und sich erblühen sehn, die Sehnsucht nach dem Wunderbaren in sich gespürt, nachdem Natur sie selbst in ersten Weibesschmerzen mündig gemacht. Dann lag sie Nacht um Nacht mit ihrem keuschen, brennenden Leibe, den keiner bewunderte, keiner küßte, kaum einer ahnte, und der doch so viel Glück bereiten, so viel Liebe spenden konnte, – lag Jahr für Jahr und spähte in fruchtlosen Schauern, in verzweifeltem Bangen in eine ungewisse, dunkle Zukunft, sah langsam Linie um Linie sich verschieben, Blüten welken, Enttäuschung wachsen. Und immer verbitterter fragte sie sich, ob eine Namenszeichnung auf dem Standesamt, ob eines fremden Mannes Rede vor dem Altar denn wirklich Schande zu Sittlichkeit, Sünde zu Pflicht wandelte, bis eines Tages es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Nur ein Recht gab es: Das, was Natur uns schenkte, zu genießen, nur eine Schande, sich dem jauchzenden Leben zu versagen, – kam die Stunde, in der das Hohelied der Lust in ihr emporrauschte, die Sinne mit glühenden Fackeln Feuer in die Türme der Zucht und Sitte warfen, die Sturmflut ihres tosenden Blutes die Dämme der Vernunft zerriß. Dann nahm sie sich ihr Recht, vergänglichem Gesetz und Vorurteilen der Moral zum Trotz, kraft jenes ewigen Gesetzes der Natur, der Liebe.

Und in dem einen irrte Berg nicht: Die kleine Lisa, die jetzt auf seinen Knieen sich an ihn schmiegte, mit starren Augen vor sich hinblickte, war nicht die Lisa mehr, die ihm vor wenig Monaten die Tür geöffnet, nicht jene Lisa, die sich noch vor kurzem wie verzweifelt gegen ihn gewehrt. Soweit hatte er sie nun doch schon gebracht, daß sie den Dingen der Welt nicht völlig fremd gegenüber stand, über Mann und Weib, das Schaffen der Natur sich eine unklare Vorstellung gebildet hatte; wer aber einmal hineingeblickt hat in dieses geheimnisvolle, der Jugend so ängstlich verschlossene Reich, der will auch alles wissen. Früher war er es, der sie vorwärtsgetrieben; jetzt begann er sich zurückzuhalten, gleichwie ein Schiff auf hoher See mit voller Kraft die Wogen teilt und angesichts der ersehnten Küste seine Fahrt verringert.

* * *


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