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Trude hatte ihr Lied beendet. Man überschüttete sie mit Schmeicheleien.

Kaum, daß sie sich befreit sah, trat sie auf Berg zu.

Sie standen sich gegenüber, ganz allein unter dem Kronleuchter, beide wie geschaffen für einander. Er ein wenig müde in seiner Haltung, die doch beherrschte Kraft verriet; sie rassig, von Leben sprühend, aber mit einem unsicheren Flimmern in ihren Augen.

Er wartete. Er wußte, was kam; nur hatte er es nicht so rasch erhofft.

Aber er war klug genug, keinen Triumph zu verraten. Das war Gesetz für ihn: Nie ein Weib den Erfolg empfinden lassen, den man über sie errungen, immer ihr Nachgeben als selbstverständlich hinnehmen, damit sie nicht stutzig wurde, sich nicht gedemütigt fühlte, wie ja die ganze Kunst in der Behandlung einer Frau nur Schwingungsfrage war, das instinktive Herausfühlen, ob und wieweit die Nerven drüben mitvibrierten, vorausschwangen, nachließen. Auch das verliebteste Weib hat Kurven; wer sich in ihnen täuscht, ist eben ein Stümper. Nur mit der Welle, nicht gegen sie, überwindet der Schwimmer die Brandung.

Trude rang nach Worten. Dann sagte sie: »Die Geschichte mit der erdichteten Erna, die Sie der jungen Braut erzählten, – war das nur für das eine Mal eine Einladung, oder ist es das stets?«

»Eine Gegenfrage,« antwortete er. »Wenn diese Geschichte auch heut eine Einladung wäre, was würden Sie tun?«

Sie schwankte. Dann sagte sie trotzig:

»Ablehnen.«

»Schön,« erwiderte er, ohne mit der Wimper zu zucken. »Donnerstag, den dritten Juli, heut über fünf Wochen?«

»Einfach unglaublich,« sagte sie halb bewundernd, halb empört.

»Ich bin von vier bis sechs zu Haus. Drei Tage werde ich warten.«

»Ich komme nicht.«

»Sie werden am Donnerstag vielleicht nicht kommen, am Freitag möglicherweise vor meiner Tür kehrt machen, – für Sonnabend sind Sie mir gut. Aber ich rechne auf Donnerstag. Man soll nichts aufschieben, was man gleich erledigen kann.«

Sie wich seinen Augen aus. »Lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden,« sagte sie in schlecht gespielter Entrüstung.

»O nein,« lächelte er. »Wir werden in allen Ehren meinen selbstgekochten Kaffee trinken und plaudern und lachen.«

Sie sah ihm gerade in die Augen. »Ich werde fortbleiben und mich über Sie totlachen.«

»Ich stelle anheim,« antwortete er kühl. »Wenn Sie nicht kommen, so haben Sie eben böse Gedanken, die mir fern liegen.«

»Die bösen Gedanken lagen Ihnen bei jener Braut doch wohl nicht allzu fern?«

»Vollkommen,« erwiderte er. »Wir waren uns ja einig. Wir liebten uns. Wir standen, wie Stauffacher sagt, als Mensch dem Menschen gegenüber, und holten uns unsere ew'gen Rechte aus dem Himmel.«

Er blickte seltsam ernst, mit geweiteten Augen über sie hinweg, als sähe er ein fernes, unvergessenes Bild. Und plötzlich erlag sie dem Bann, den dieser hübsche, rücksichtslose Mensch auf sie ausübte, dieser Leidenschaft, die sie selbst nicht begriff, die jeden Widerstand brach.

Fast flüsternd sagte sie:

»Sie äußerten bei Ihrem ersten Besuch, Sie wollten nicht heiraten.«

»Ich lasse mich gern bekehren,« antwortete er.

»Von mir?«

»Das liegt in Ihrer Hand.«

Sie sah ihn forschend an. Er hielt ihren Blick fest aus. Ohne ein Wort ergab sie sich ihm.

Und keiner im Saale ahnte, daß hier zwei Willen sich entschieden, in einander geflossen waren, ein Mann ein Weib begehrt, ein Weib sich ihm gebeugt hatte.

»Wann kommen Sie von Urlaub?« fragte sie.

»Am dreißigsten Juni.«

»Was ist das für ein Tag?«

»Montag.«

»Und Donnerstag der dritte Juli?«

»Ganz recht.«

»Um vier?« fragte sie leichthin, wie ein Hauch.

»Ich bitte,« antwortete er, ohne ein Zeichen der Überraschung.

»Aber die Tante?«

»Ist ausgeschaltet, Fürsorge.«

»Und Lisa?«

»Schicke ich weg.«

»Am achten Juli fahren wir fort,« sagte sie überlegend. »Auf lange Zeit. Wahrscheinlich sechs Wochen Schweiz, vier Wochen See. Und ... Sie haben mich lieb?«

Er stutzte doch vor der Lüge.

»Wirklich lieb?« wiederholte sie angstvoll.

Er lächelte. »Das, Fräulein Trude, behalte ich mir für den dritten Juli vor.« Und er verabschiedete sich. Er war mit sich zufrieden, jedes weitere Wort hätte nur geschadet.

 

Am gleichen Abend, zwei Treppen höher, im Gartenhaus, brennt in dem schmalen, mit Möbeln vollgestellten Zimmer die Tischlampe. Ihr Schein fällt auf einen dunkelblonden, schon mit Silberfäden durchzogenen Scheitel, auf das maisgelbe Haargewirr zweier breiter, um einen Mädchenkopf gelegter Zöpfe. Er gleitet spärlich bis in die vier Ecken, hier zu dem grünen Sofa mit gleichen Sesseln, dort zu dem alten Mahagoni-Schreibtisch, spiegelt sich in der dritten auf dem bunten Ofen, läßt in der vierten zwei neben einander stehende Betten erkennen.

Es ist totenstill im Zimmer. Die Uhr schlägt neun, mit langsamen, widerwilligen Schlägen, als hoffte sie durch ihr Zögern rascher über die neue, endlose Stunde hinwegzukommen.

Lange hatte Frau Halm gekämpft, ehe sie von Frau Schuppke, der Pförtnersfrau, den Zettel hatte an der Tür des Hauses hinaushängen lassen: Zwei möblierte Zimmer zu vermieten. Das hätte jemand Frau Dora prophezeien sollen, in der glückerfüllten Stunde, als sie in Kranz und Schleier den breiten Mittelgang der Gedächtniskirche hinausschritt, ihr zur Seite der schmucke Garde-Pionier im Paradeanzug, das ganze Schiff der Kirche gefüllt von silberbestickten Uniformen und heller Seide.

Damals, und auch noch zu jener Zeit, als sie sich scheiden ließ und ihr Eingebrachtes, fünfundsiebzigtausend Mark, ihr ganzes Erbteil herausbekam. Freilich, dreieinhalbtausend Mark Zinsen, für sie und die Tochter, – viel war es nicht. Und darum hatte sie denn auch, mit der Unbekümmertheit der in Geldsachen bis zum Leichtsinn unerfahrenen Frau, durch lange Jahre hier und da immer ein wenig vom Kapital gezehrt, bis nur noch sechzigtausend übrig waren. Da hatte sie einen Schreck bekommen. Geschämt hatte sie sich und nicht gewagt, Robert Wagner oder einen anderen erfahrenen Mann um Rat zu fragen. Und weil die fünf Prozent sie reizten, hatte sie das Kapital auf zweite Hypothek gegeben.

Und dann ging das Haus in Subhasta. Sie fühlte sich völlig hilflos. Was sollte sie mit einem Haus auf dem Halse? Und die achttausend Mark Übernahmekosten hatte sie doch auch nicht zur Verfügung?

Da erschien ein biederer Mann und schlug ihr einen Tausch vor. Land bei Ahrensdorf, zwischen Berlin und Trebbin, gegen die Hypothek. Für das Land hatte er einen Pächter mit fünf Prozent so gut wie fest. Sie sollte keine Scherereien, keine Sorgen, kein Risiko haben und konnte später, beim Verkauf des Landes, noch einmal ein Vermögen verdienen.

Sie ließ sich überreden.

Und nun kam das Unglück. Der Landkauf wurde vorläufig ohne Notar abgeschlossen, nur ihre Unterschriften vom Bezirksvorsteher beglaubigt. Die Zession der Hypothek dagegen erfolgte vor dem Notar, weil das, wie ihr der Mann klar machte, für die geplante Übernahme des Hauses nötig war.

Seine Spekulation war die: Es standen noch zehntausend Mark Zwangshypothek an dritter Stelle. Wurde also die zweite Hypothek ausgeboten, so bekam er seine sechzigtausend Mark und ließ das Land, das dreißigtausend wert war, an Frau Halm auf. Fiel er jedoch mit der Hypothek aus, so war der Landkauf ungültig und das Geschäft zu Wasser geworden, ein Verlust aber nur für Dora Halm, nicht für ihn entstanden.

Von der Subhasta hatte sie nichts mehr gehört. Die zweite Hypothek wurde nicht ausgeboten, die sechzigtausend Mark gingen verloren. Damals erst hatte sie ihren Stolz besiegt und war zu Robert Wagner gegangen. Der hatte ihr, vier Wochen vor seinem jähen Tode, die leerstehende Gartenwohnung eingeräumt und ihr einen Zuschuß bewilligt.

Das war die Rettung. Aber es wurde Frau Dora um so schwerer, nach Wagners Tode diese Hilfe von ihrer Cousine anzunehmen, als sie sich bei jenen Verhandlungen, empfindlich und gereizt, wie sie war, ganz mit Frau Hildegard überworfen und seitdem die Wagnersche Wohnung nicht mehr betreten hatte.

Der leichtergraute Scheitel beugt sich über die Stopfarbeit, ein Paar schwarze Strümpfe. Die Augen unter dem blonden Mädchenscheitel lesen im Heine, den ihr die Mutter erst nach langen Kämpfen gestattet hat: »Wenn zwei von einander scheiden, so geben sie sich die Händ' ...« Unhörbar flüstern es die roten Lippen der eben Sechzehnjährigen mit. Und dann starren die blauen Augen nachdenklich in die Lampe.

»Mutter,« sagt sie plötzlich, »wann ist doch der Vater von uns gegangen?«

Die Frau fährt hoch. Erschreckt blickt sie auf das Mädchen.

»Warum?« fragt sie zögernd. »Wie kommst du darauf?«

»Es ist doch mein Vater,« antwortet Lisa leise.

»Bald vierzehn Jahre,« sagt die Mutter widerwillig.

»Und wann ist er gefallen?«

»Am ersten März 16. Vor Verdun.«

»Als Hauptmann?«

»Und Bataillonskommandeur.«

»1916,« wiederholt das Mädchen sinnend. »Weißt du, wie?«

»Ja,« antwortet die Mutter gepreßt. Die grauen Augen verschleiern sich. »Volltreffer, im Unterstand bei Bezonvaux, in das Genick. Gleich tot.«

»Und warum war er vorher nie bei uns?«

Die Lippen der Mutter schließen sich fester. Von den schmalen Nasenflügeln gehen zwei tiefe Falten hinab. »Er wollte nichts von uns wissen,« erwiderte sie herb.

»Von mir auch nicht?« Es liegt Erstaunen und Zweifel in des Mädchens Frage.

»Nein,« antwortet die Mutter barsch. Sie sagt nicht, daß er drüben in Amerika gewesen, sich eine neue Existenz als Ingenieur aufgebaut und erst bei Ausbruch des Krieges mit Not und Mühe zurückgekehrt ist. »Lies lieber,« mahnt sie verstimmt.

Die Zöpfe beugen sich gehorsam über das Buch. Die Augen lesen mechanisch: »Wenn zwei von einander scheiden, so geben sie sich die Händ', und fangen an zu weinen und seufzen ohne End'.« Aber die Gedanken weilen in einem fernen Unterstand. Ein Offizier in Feldgrau, wohl am Tisch sitzend, die Granate mitten in das Genick. Rauch, Blut, ein zerfetzter Körper ... Ihr Vater, ihr armer Vater, der nichts von ihr wissen wollte ...

Ob andere Väter wohl auch nichts von ihrem Kinde wissen wollen?

Die Mutter drüben stopft ebenso schwere Erinnerungen in den langen Strumpf hinein.

Beide denken sie an denselben Mann, Gatten und Vater. Aber während die Tochter sich das erschütternde Bersten der Todesgranate ausmalt, hört die Frau hallende Hochzeitsklänge und leisen Orgelton, und eine feierliche Stimme spricht den Trauspruch: »Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.«

War es ein Segen gewesen, für sie und ihn?

Das Auge der vergrämten Frau gleitet scheu hinüber zu dem Bilde, das halbversteckt dort hinten im Schatten hängt. Ein junges Paar. Die Braut dort auf dem Bilde ist hübsch, jung, mit leuchtenden Augen; die Frau, die jetzt hinüberschaut, ist vor der Zeit gealtert, blaß, mit welken Zügen und erloschenem Blick. Und der schmucke Offizier, der dort so stattlich, Arm in Arm mit ihr sich aufreckt, der schläft nun auf dem kahlen Friedhof von Bezonvaux unter dem schlichten Holzkreuz, das seiner Pioniere Liebe ihm geschnitzt, in dem von Birkenholz umzäunten Grabe, dessen Bild man ihr sandte. Seite an Seite mit all den Kameraden, die es gleich ihm getroffen. Dasselbe wirre, blonde Haar, wie ihre Lisa da drüben, dieselben unwahrscheinlich blauen Augen, nur daß sie bei dem Mädel eine Welt von Unschuld bergen, derselbe weiche, mädchenhafte Mund – –

Die Frau beißt die Zähne zusammen. Gespenster! Schatten, die nicht weichen wollen, Gift, das ihr das Herz zerfrißt ...

Die Uhr schleift ihren Pendel in mißmutigem Ticktack hin und her, her und hin. Wie Kohlendunst senkt die Erinnerung sich auf die Frau, und aus vergessenen Tiefen huschen Bilder hoch, Tage seligen Rausches, herben Verzichts.

Ihre ganze Ehe wird in ihr lebendig.

Das erste Jahr der goldenen Leutnantszeit, das zweite, bittere des Erwachens, all ihren Träumen gegenüber. Ihre Nerven, sein Zorn. Und dann, jäh, an jenem Maienabend, der furchtbare Schlag, der anonyme Brief. Sie sieht sich durch die Straßen eilen, im Dunkel, bis zu dem Gärtnerhäuschen weit draußen in der Vorstadt, sieht ihn in Zivil dort warten, sieht das kleine, frische braune Mädchen im weißen Fähnchen aus der Zauntür treten, ihm strahlend entgegenstürzen, sich in seine Arme bergen. Sieht sich heimstürmen, die Koffer packen, am gleichen Abend zu den Eltern fahren, trotz aller Abmahnungen Hals über Kopf die Scheidung einleiten. Sie hat ihn zu lieb gehabt, sie konnte nicht anders; wäre er ihr gleichgültiger gewesen, vielleicht, daß sie darüber hinweggekommen wäre.

Zwei dumpfe, hoffnungslose Jahre, allein in der kleinen Wohnung. Die Eltern sind tot. Er ist nach Afrika gegangen, nach Kamerun, zur Schutztruppe. Sie weiß nichts, hört nichts mehr von ihm. Aber Tag und Nacht sind ihre Gedanken bei ihm, dort über der endlosen See. Und wenn sich endlich nachts der Schlummer ihrer erbarmt, kommt er zu ihr, im Traume, lachend und stolz, zärtlich und stürmisch, wie einst in seliger Zeit. Und Tag um Tag verrinnt im wehen Gleichmaß ihres Leides.

Dann, ein Abend, der fünfundzwanzigste November, gegen neun. Nie wird sie das Datum vergessen. Draußen fallen die ersten, noch mit Regen untermischten Flocken, heult der Wind gegen die unaufhörlich klirrenden Scheiben. Sie sitzt, einsam wie immer, beim Tee.

Horch, – es läutet. Wer mag das sein? Wer denkt noch so spät an sie, kümmert sich um die Verlassene? Sie lauscht. Wieder das herrische Läuten! Sie schleicht zur Tür, späht durch die kleine runde Scheibe. Im Halbdunkel ein Mann, ein fremder, hoher Mann. Sie zögert, sie fürchtet sich. Und plötzlich, als sie unversehens die Kette streift, eine klingende, unvergessene Stimme:

»Dora!«

Ihr Herz setzt aus. Er ... er ... ihr Mann ... Der kleine Korridor drehte sich um sie; alles, was sie so lange erstorben geglaubt, in hellen Flammen schlägt es in ihr hoch, Liebe und Gram, Sehnsucht und Verachtung.

Sie öffnet. Er steht im Zimmer, braun, aufrecht, etwas hagerer, sonst ganz wie einst.

Lachend schüttelt er die Tropfen ab. »Wirfst du mich hinaus, Dora, oder gönnst du mir eine heiße Tasse Tee?«

Sie steht noch immer wie gelähmt. Und plötzlich wendet er sich, ernst geworden, erfaßt ihre beiden Hände und sagt mit seiner bezwingenden Stimme, die ihr zwei lange, schwere Jahre im Ohr geklungen:

»Dora, ich bin auf Urlaub ... Ich konnte nicht an dir vorübergehn. Und wie hübsch bist du geworden, rank und fein!«

Mechanisch gießt sie ihm Tee ein, bietet ihm Zucker und Milch. Und wie im Traum, wie fernes Glockenläuten hört sie ihn erzählen, von seinem einsamen Posten in Kamerun, von endlosen Ritten bis zur nächsten Station, zum nächsten Weißen, von dreitägigem Gewaltmarsch durch die Fieberzone bis zur Küste. Hört diese Stimme, dieses frohe Soldatenlachen. Ein ungeheures Weh, der Schmerz, das alles entbehrt zu haben, zwei schaurige Jahre lang, steigt in ihr auf, preßt ihr das Herz zusammen; und zugleich regt sich ein Haß in ihr gegen den Mann, der sie so schwer gequält, sie ewig quälen wird, auch fern von ihr, in ihrer Gruft der geschiedenen Frau.

Still sitzt sie da, die Hände gefaltet. Und immer wieder folgt ihr Auge dem Muster der Decke, zählt sie die Farben, die Stiche.

Er ist aufgestanden, geht lebhaft hin und her. Alles an ihm ist Leben, Wagemut, federnde Kraft. Wieder erzählt er in frohem Stolz von Strapazen, verzweifelten Kämpfen, gefallenen Kameraden, von seinen braven Dualas.

Dann plötzlich bleibt er stehn, wirft sich in einen Sessel.

»Nun komm einmal her, kleine Dora,« sagt er. »Wenn wir auch rechtskräftig geschieden sind, alte Liebe rostet nicht. Komm, Schatz, wie einst im Mai.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Soll ich verschwinden, Dora?« fragt er. »Bin ich dir unwillkommen?«

Aus trockner Kehle: »Nein.«

»Liebling –« Seine Stimme wirbt, wie damals, als er, zum ersten Mal mit ihr allein, die Zagende fest im Arme hielt, ihr kosend die Augen küßte.

Sie setzte sich fern von ihm an das Fenster.

»Liebling, so komm doch her!«

Und unter unwiderstehlichem Zwange erhebt sie sich, nähert sie sich ihm, setzt sich auf das Sofa. Aber sie hält sich aufrecht, abwehrend, wie feindselig.

Er nimmt ihre Hand, spielt mit ihren Fingern, dreht an dem glatten Ring, den sie noch immer trägt. Sie zuckt zurück, entzieht sich ihm.

»Wie ging es dir?« fragt er.

Sie blickt in dem hübschen, von der Lampe traulich erhellten Zimmer umher.

»Das ist meine Welt,« sagt sie bitter.

»Nun,« antwortet er, »gegen Urwaldsumpf und Malaria immerhin recht erträglich.«

Sie schweigen. Dann steht er auf, setzt sich zu ihr, legt den Arm um sie. »Dora, sag mir die Wahrheit, offen: Hast du mich ganz vergessen?«

Sie richtet sich noch steifer auf. »Wozu das, Ernst?«

»Wozu?« fragt er zurück. »Ist es denn so ganz gleichgültig für mich, dort drüben in Sonne und Regen, wie du über mich denkst? Die Frau, die ich tausendmal geküßt –«

»Und hundertmal betrogen.«

»Wir wollen das doch heute ruhen lassen,« sagt er versöhnend. »Ich bin ja auch verdammt einsam gewesen, da draußen. Laß uns für eine Stunde vergessen, für einen Abend träumen, wir hätten wieder ein Heim, zu zweien, friedlich, ohne Groll. Du glaubst nicht, wie mich das alles vertraut anmutet, die Möbel da, die Teppiche, jedes Stück. Und du mitten darin ... Verzeihen ist schwer, vergessen noch mehr!« Seine Stimme ist heiser geworden.

Sie neigt das Haupt. Unaufhaltsam rinnen ihre Tränen.

Stärker umschlingt sie sein Arm. »Hast du mich sehr gehaßt?« fragt er leise.

Sie nickt.

»Und tust es noch?«

Sie antwortet nicht, mit keinem Wort, keiner Bewegung.

»Gott, Dora,« sagt er endlich, »ich kann dich ja verstehn. Der verdammte Leichtsinn – weiter war es im Grunde doch nichts –, und dann die Mädel, wie wild hinter dem bunten Kragen her. Aber wozu sich entschuldigen? Geschehn ist geschehn.«

Beide sehen still vor sich hin, in das dunkle Leid ihres Lebens hinein.

Er strafft sich. »Ob du mich noch immer haßt, magst du mir nicht sagen, Dora. Dann will ich anders fragen: Hast du mich noch ein wenig lieb?«

Sie schlägt im Schluchzen die Hände vor das Gesicht. Ihr ganzer Körper bebt. Er zieht sie zu sich heran. Sie gibt nach, ihr Kopf sinkt auf seine Schulter. Ein Zucken durchläuft ihre Glieder.

Er streicht mit der Hand über ihr Haar. »Dora,« flüstert er, schwer atmend. »Laß uns an all das Gute denken, in dieser stillen Stunde. Wie ich zum ersten Mal dich küßte, unter den Buchen, – weißt du das noch? Wie wir vor dem Altar uns Liebe schworen, bis daß der Tod uns scheidet? Wie du mein wurdest, in jauchzendem Glück, – weißt du das noch, kleine Dora? Vergißt sich das, durch eine einzige, unbesonnene Tat? Dora, liebe, arme Dora, sieh mich an, – hast du mich wirklich nicht mehr lieb?«

Er umklammert sie fest, bis zur Atemlosigkeit. Und leiser und leiser wird seine Stimme. »Ich hatte es ja auch nicht leicht, wenn du so zornig zu mir warst, in deiner Eifersucht. Und wenn ich dich betrog, tat ich es aus gekränkter Liebe, aus Liebe zu dir. Denn ich habe dich immer geliebt, kleine Dora, auch in Sünde und Schuld. Bin über das Meer gegangen, aus Trotz, um nicht um Verzeihung zu betteln. Und konnte mich doch nicht vor dir retten. Warum wär' ich sonst hier? Es gibt so viele Frauen, nicht wahr? Und dennoch hat es mich hergetrieben, auf die Gefahr hin, von dir zurückgestoßen zu werden. Denn in Kamerun da unten, da ist kein Tag, keine Nacht vergangen, in Hunger und Durst, in Kampf und Not, in der mein Herz nicht nach dir bangte, dein Bild nicht vor mir stand, Zug um Zug, alles, was ich an dir geliebt ... Immer wieder habe ich das in Qualen durchlebt, die Stunden der Seligkeit. Und meine Seele hat geschrieen nach dir.«

Er zwingt ihr die Hände vom Gesicht, blickt ihr in die verweinten Augen. Und langsam neigt er sich zu ihr hinab, preßt Mund auf Mund, ohne Widerstand, im endlosen Kuß.

Die Augen der grübelnden, gealterten Frau dort unter der Lampe, die Faden um Faden durch den Strumpf zieht, werden schwarz. Warum hatte sie das getan? Warum sich übertölpeln lassen? Warum geduldet, daß er bei ihr blieb, eine lange, sündhafte Nacht hindurch, die ihr das Kind, die Lisa schenkte? Warum noch einmal, in zweiter Ehe, seinem Treuschwur geglaubt, nachdem er die Wiedereinstellung in die Armee durchgesetzt? Bis sich von neuem der Himmel trübte, wieder das Elend begann, Wein, Weib, Spiel ihn von ihrer Seite lockte. Bis eines Tages ein verlassenes Mädchen ihr das Kind brachte, dessen Vater er war, bis sie von neuem mit ihrer Lisa von ihm ging, der Scheidung ebenso müde wie des Zusammenseins, eine einsame, getäuschte, verbitterte Frau.

War seine Rückkehr damals nur eine Laune gewesen, ein Selbstbetrug? Frau Dora hat es nie erfahren, weiß es noch heute nicht. Nur das weiß sie, daß ihr ganzes Leben an ihrem Gatten gescheitert ist.

Er freilich, er hatte damals gesagt, in seiner unbekümmerten Freimütigkeit: »Ich seh' es selbst nun ein, als ehrlicher Mann, ich kann dir nicht treu sein. Ich betrüge dich doch wieder, und komme auch wieder zu den Fleischtöpfen zurück. Aber wenn du dich nicht damit abfinden kannst – und ich begreife das –, dann lieber reinen Tisch. Ich bin nun einmal, wie ich bin.«

»Du bist ein Elender,« hatte die Frau mit harter Stimme erwidert.

Es war ihr letztes Wort im Leben an den Gatten gewesen.

Nie war sie ihm wieder begegnet. Er ging nach Amerika, kehrte im August 1914 heim. Und dann kam jener Abend, an dem sie ahnungslos das Telegramm öffnete, die Todesnachricht vom Regiment: »Den Heldentod starb unser lieber, hochverehrter Kamerad ...« Keine Träne hatte sie geweint; und als ihr Lisa gute Nacht wünschte, hatte sie ruhig gesagt: »Dein Vater ist tot.«

Das junge, zwölfjährige Mädchen, das ihren Vater nie gekannt, hatte sie unsicher angeblickt; doch vor der eisigen Haltung der Mutter erstarb jede Frage, jede Klage, jedes Beileid.

Und dennoch hatte die Erinnerung an den Gefallenen Frau Dora nie verlassen, hatte in schweren Anfällen von Migräne ihre Nerven unterhöhlt, sie vor der Zeit verblühen lassen. Und aus der eigenen Qual, dem eigenen Verzicht hatte ein glühender Neid sich ihrer bemächtigt, der allen anderen Frauen ihren Besitz, allen Mädchen, selbst der eigenen Tochter, ihre Zukunft mißgönnte.

Leise summt Lisa Heines Lied vor sich hin: Lehn' deine Wang' an meine Wang' ...

Die Mutter rafft sich hoch. »Sing' nicht das dumme Zeug,« sagt sie herb. »Und nimm die Ellbogen herab.«

Erschreckt abbrechend blickt die kleine Lisa auf, sieht sie auf den ergrauten Scheitel der Mutter, die blanke Stopfnadel, die den Wollfaden hinter sich herzieht. Und gehorsam läßt sie die aufgestützten Arme sinken.

Stumm sitzen sie sich gegenüber, zwei Menschen, die sich alles in der Welt sind, und die doch eine Welt von einander trennt.

Die Frau wirft einen Blick auf die Uhr und rollt den Strumpf zusammen.

»Geh zu Bett, Lisa,« sagt sie kurz.

Und ohne Widerspruch erhebt sich die Tochter, klappt langsam, mit heimlichem Bedauern das Buch zu und küßt die Mutter.

»Gute Nacht, Mama.«

»Gute Nacht.«

Allein, mit schlaffen Schultern sitzt Frau Dora noch an dem Tisch. Und wieder kommen die Sorgen, die verlorene Hypothek, die ewige Frage: Was nun?

 

Berg war in Urlaub gegangen. Er hatte ihn früh antreten müssen, denn sein Chef, ein mit Kindern gesegneter Oberregierungsrat, nahm die Zeit der Schulferien für sich in Anspruch.

Berg fuhr nach Borkum, einem Bade, von dem er gehört hatte, daß es die Industriemagnaten des Rheinlandes und Westfalens mit ihren Familien bevorzugten. Er wollte dem Glück die Hand bieten.

Aber das erste weibliche Wesen, mit dem er Bekanntschaft anknüpfte, war eine verheiratete Frau.

Frau Dolly war ihm sofort aufgefallen, denn das Bad war noch schwach besucht. Sie wohnte im gleichen Hotel, Wand an Wand mit ihm, dort, wo der kurze Seitenflügel sich rechtwinklig an die Mittelfront ansetzte und seine Türen der Beobachtung entzog.

Dann sah er sie im Restaurant, im »Roten Teppich«, in dem sie mit einem ihr bekannten Ehepaar saß. Berg forderte sie zum Tanz auf. Er war stets ein leidenschaftlicher Freund dieser Kunst gewesen; er hielt sie für das beste Mittel, ein Weib zu gewinnen. Und auch sie tanzte vollendet. Sie konnten kein Ende finden.

Als sie gemeinsam aufbrachen und Dolly sich auf dem Heimweg von dem Ehepaar trennte, schloß er sich ihr an. Lange noch wanderten sie in der lauen Juninacht auf und ab. Beim Abschied sagte sie ihm:

»Ich gehe morgen um acht zur Meierei, meine Milch trinken. Wollen Sie mit?«

Am nächsten Tage auf dem Wege zur Meierei erzählte sie von sich. Ihr Gatte war hoher Staatsbeamter, der wegen Krankheit, kurz vor der Exzellenz, seine Entlassung genommen hatte und sich jetzt seit zwei Monaten in Partenkirchen in einem Sanatorium befand. Er litt schwer am Magen. Sie erzählte es rein sachlich, ohne Teilnahme zu verraten.

»Wie alt ist Ihr Gatte?« fragte er.

»Mein Mann?« antwortete sie zögernd. »Achtundfünfzig.« Und wie unter einem Zwange fügte sie hinzu: »Er ist schon schneeweiß.«

Sie fing einen Blick von ihm auf.

»Ja,« sagte sie, als gestehe sie einen Makel an sich. »Dreiunddreißig Jahre älter als ich.«

Jeden Tag langten neue Gäste auf der Insel an, das Hotel begann sich zu füllen. Man konnte bald nicht mehr jeder für sich an den Tischen der Glasveranda essen, die um den Speisesaal herumlaufend den Blick auf die See freigab. Und eines Tages, beim Vormittagskonzert, sagte sie ihm:

»Ich habe zwei scheußliche alte Jungfern an meinem Tisch. Wollen wir uns zusammentun?«

Er stimmte begeistert zu. Sie war elegant, heiter, und vermutlich nicht prüde. Ihr schmales, farbloses Gemmengesicht mit den kirschroten Lippen und lebhaften dunklen Augen fesselte unwillkürlich. Aus ihren Zügen sprach etwas unbekümmert Zutrauliches, hilflos Süßes, ihr Lächeln war keusch, kindlich, wie unberührt von allem Häßlichen des Lebens, während ihre oft kecken Worte, ihr leidenschaftliches Wesen, ihre wissenden Augen dem widersprachen. Vielleicht, daß dieser Gegensatz der größte Reiz an ihr war. Und über allem lag ein Hauch von Reichtum und Luxus, dem Berg sich widerstandslos unterwarf.

Sie wurden, wie es im Bade so leicht sich fügt, bald unzertrennlich, gute Kameraden.

Eines Abends, als der Regen die Strandpromenade peitschte, kam sie erst später zu Tisch.

»Entschuldigen Sie,« sagte sie. »Ich habe geschrieben.«

»Dem teuren Gatten?« fragte er.

Sie lachte auf. »Ich schreibe meinem Manne nie.«

In diesem Augenblick wußte er Bescheid. Sie hatte ihm die Bresche verraten.

Er fragte nach ihm. Es ging ein wenig besser.

Und allmählich taute sie auf, beichtete sie. Der Vater mit dem Charakter als Oberstleutnant verabschiedet, ohne nennenswertes Vermögen. Die große, hoffnungslose Leutnantsliebe. Dann, vor drei Jahren, der angesehene Freier, dem neben seinem Gehalt die Aktien des einstigen väterlichen Eisenwerkes ein fürstliches Einkommen abwarfen. Das Drängen der Eltern, die Furcht vor der Abhängigkeit, dem fremden Brot, dem einsamen Alter, der Entschluß zur Heirat. Ihr Mann war gut zu ihr, wenn auch recht eifersüchtig und durch die Krankheit verdüstert. Nur mit Mühe hatte sie es verhindert, daß er sie mit sich in das Sanatorium einsperrte.

Und während sie erzählte, fühlte er, wie ihre Augen auf ihm brannten.

Aber er hielt sich mit aller Gewalt zurück. Um Himmels willen, nur keine verheiratete Frau! Am allerwenigsten in seiner Lage!

Sie gab sich immer freier, in raffinierter Unbefangenheit, ohne doch sich etwas Entscheidendes zu vergeben. Wenn sie beide durch die Dünen streiften und Dolly vom Wandern müde wurde, setzten sie sich an einsamer, verborgener Stelle, vom Wind geschützt. Wie weltverloren waren sie dann, rings von den hohen, weißen Hügeln umgeben, auf deren Kuppen der Sturm den Strandhafer peitschte. Dann legte sie wohl in ihrer herausfordernden Zwanglosigkeit den Kopf auf seine Kniee, um ihr Haar vor dem feinen Triebsand zu schützen. Stundenlang saß er geduldig so da; und während er bald die im Liegen gestraffte Brust, bald die kleinen Schuhe und seidenen Strümpfe unter dem kurzen Rock bewunderte, zürnte er mit sich selbst, daß er die Kraft nicht besaß, sich von ihr frei zu machen, den jungen Mädchen zu widmen, die wie ein bunter Kranz bei Konzert und Reunion das Auge entzückten.

Er merkte, sie ärgerte sich über seine Zurückhaltung; sie war sichtlich gewohnt, von aller Welt umworben zu werden. »Herrgott,« sagte sie manchmal, halb im Scherz, halb wirklich erzürnt, »seien Sie doch nicht immer so schrecklich korrekt, so fürchterlich steif.« Aber er ließ sich nicht beirren, gerade weil er sich selbst nicht mehr traute.

Denn, ohne daß er sich klar darüber wurde, kämpften jetzt schon zwei Seelen in seiner Brust, wehrte er sich nur noch mühsam gegen sie, wuchs und wuchs allen seinen Vorsätzen zum Trotz das Begehren nach ihr in ihm. Sie kannten sich kaum vierzehn Tage, als sie bereits wußten, daß keiner sich dem anderen verweigern würde; aber beide wagten es nicht, das entscheidende Wort zu sprechen, das sich ihnen über die Lippen drängen wollte.

Immer nervöser, launischer, ungeduldiger wurde sie, immer mehr fühlte er seinen Widerstand erlöschen.

Dann, eines Abends, als er sich vor ihrer Zimmertür von ihr verabschiedet hatte, rief sie ihn noch einmal zurück.

»Was lesen Sie augenblicklich?«

»Garnichts, gnädige Frau,« antwortete er. »Ich gehe auf Urlaub allem Gedruckten ängstlich aus dem Wege.«

»Das ist unrecht,« sagte sie. »Ich habe auf meinem Zimmer ein Reclambändchen gefunden, das jemand wohl da liegen gelassen hat. Hamlet. Wollen Sie es haben?« Sie sah ihm mit ihren flimmernden Augen gerade ins Gesicht.

»Hamlet?« wehrte er entsetzt ab. »Nicht zu machen, gnädige Frau.«

Sie blieb ganz ernst. »Den sollten Sie ruhig wieder einmal lesen, recht bald ...«

Es lag etwas in ihrem Blick, das ihm das Herz rascher schlagen ließ, etwas heimlich Gespanntes, Heischendes, Gewährendes.

Er begriff ihre Laune nicht, wurde seiner Heiterkeit nicht Herr. »Wenn gnädige Frau befehlen, lerne ich den ganzen Dänenprinzen bis morgen auswendig.«

Sie trat in ihr Zimmer, kam mit dem Heftchen zurück.

»Sie sind ein Barbar. Lesen Sie wenigstens den dritten Akt. Er ist entschieden der schönste.«

»Abgemacht.«

»Vers um Vers? Punkt für Punkt?«

»Mit Begeisterung.«

Sie gab ihm das Buch. »Ich glaube,« setzte sie lässig hinzu, »bei Shakespeare muß man zwischen den Zeilen lesen können.«

Er war neugierig. Kaum auf seinem Zimmer angelangt, schlug er das Drama auf. Er glaubte einen Zettel oder sonst etwas Geschriebenes von ihr zu finden. Nichts. Er begann den dritten Akt zu lesen, und schon gleich im Anfang, am Schluß des ersten Auftritts, dort, wo Polonius zum König über Hamlets geplante Englandreise spricht, fiel ihm eine Stelle auf, bei der unter einzelnen Wörtern Bleistiftpunkte standen:

Es wird ihm wohl tun; aber dennoch glaub' ich
Der Ursprung und Beginn von seinem Gram
Sei unerhörte Liebe ... Gnäd'ger Herr,
Tut nach Gefallen; aber dünkt's euch gut,
So laßt doch seine königliche Mutter
Ihn nach dem Schauspiel ganz allein ersuchen,
Sein Leid ihr kund zu tun.

Er stutzte. War es Zufall? Unmöglich. Punkt für Punkt hatte sie gesagt; und Punkt für Punkt die gezeichneten Worte zusammengestellt, ergab: Ich liebe euch ganz allein.

Er war seiner Sache gewiß. Dieser Weg, gefahrlos Verbotenes zu sagen – denn niemand konnte feststellen, von wem die Zeichen stammten –, entsprach ganz Dollys Art.

Er las weiter, suchte und fand in der vierten Szene desselben Aktes eine Stelle, die seinen Wünschen entsprach; dort, wo Hamlet den Polonius getötet hat. Und auch Berg setzte Punkt um Punkt:

Hamlet:

Ich will ihn schon besorgen, und den Tod,
Den ich ihm gab, vertreten. Schlaft denn wohl!
Zur Grausamkeit zwingt bloße Liebe mich;
Schlimm fängt es an und Schlimmres nahet sich.
Ein Wort noch, gute Mutter!

Königin:

Was soll ich tun?

Hamlet:

Durchaus nicht das, wie ich euch heiße tun ...
Bringt diesen ganzen Handel an den Tag,
Daß ich in keiner wahren Tollheit bin,
Nur toll aus List.

Ich liebe euch toll, war seine Antwort. Es war zwar reichlich aufgetragen, aber er fand nichts Geeigneteres, und er wußte, die Frauen lieben die Übertreibung.

Am nächsten Morgen gab er ihr das Buch zurück.

»Sie haben recht, gnädige Frau,« sagte er. »Der dritte Akt ist meisterhaft; am besten gefiel mir neben der ersten die vierte Szene.«

»Die vierte?« fragte sie aufmerksam.

»Ja,« erwiderte er. »Der Tod des Polonius.«

Am Abend dieses Tages waren sie wieder auf der Reunion.

Dolly verriet nicht, ob sie seine Antwort gefunden hatte. Aber es lag wie Sonnenschein, wie verhaltener Jubel über ihr. Sie sah in ihrem Kleide von stumpfer, weißer Seide verwirrend schön aus; noch niemals hatten sie so leidenschaftlich, so weltvergessen, bis zur Erschöpfung mit einander getanzt.

Und plötzlich kam wieder der alte Leichtsinn über ihn, dieser impulsive Rausch, der schon so oft jede Berechnung in ihm über den Haufen geworfen hatte.

»Gnädige Frau, ein Glas Sekt?«

»Gern.«

Sie leerten die erste, die zweite Flasche. Es war schon spät, sie saßen ganz allein in der rosig beleuchteten Nische. Und allmählich veränderte der Wein die junge Frau in überraschender Weise, schien er jede Hemmung in ihr aufzuheben. Ihre Augen glänzten, ihre Lippen schimmerten feucht; schwer hob und senkte sich im Ausschnitt ihre von Sonne und Luft braungebrannte Brust. Sie trank hastig, lachte ihm zu, lehnte sich an ihn, und schon überließ sie seinem tastenden Fuß den ihren. Sie nannte ihn durcheinander Sie und du, Hamlet, Assessor und Liebling, nahm ihm mit übermütigem Griff die Zigarette aus dem Munde, rauchte sie weiter.

Im Morgengrauen gingen sie heim. Auf den ersten Stufen der Hoteltreppe strauchelte sie; er legte den Arm um sie, sie ließ es geschehen.

Selbst ein wenig vom Wein berauscht, preßte er sie an sich, trug sie fast die Treppe hinauf, küßte er sie. Sie wehrte ihm nicht. Vor ihrer Tür warf sie die Arme um ihn, bot sie ihm selbst die Lippen, küßte sie ihn heiß, endlos, wie eine Mänade. Er raunte ihr zu: »Laß offen!« Er war im Taumel, er dachte an nichts als an das Glück der Stunde. Als sich nichts mehr bei ihr regte, schlich er zu ihr hinüber. Die Tür war angelehnt. Dolly stand mitten im Zimmer, halbentkleidet, mit heißen Augen ihm entgegenstarrend. Leise schloß er die Tür hinter sich, riegelte zu. Dann, ohne ein Wort, riß er das junge Weib an sich.

Seit dieser Sommernacht war er ihr verfallen.

Noch nie hatte ein Frauenleib ihn so berauscht, ein Weib so ganz, bis zur Besinnungslosigkeit von ihm Besitz ergriffen. Er lebte nur noch in dem einen Wunsch: Ewig vor ihr zu knieen, ihrer Glieder Pracht mit glühenden Küssen zu bedecken, sie mit seinen Liebkosungen zu ersticken, an ihr zu vergehen. Ein Fieber tobte in ihm. Nie hatte er je geglaubt, daß ein einziges Gefühl einen Menschen so beherrschen, so ganz durchtränken, unterjochen könnte. Alle die Frauen und Mädchen, die seinen Weg gekreuzt, eine Strecke mit ihm gewandert, ein Stück seines Herzens besessen, waren wie ausgelöscht, in das Nichts der Vergessenheit gesunken. Immer von neuem kam es ihm wie ein Wunder, wie eine Gnade vor, daß sie ihn unter allen erwählt und erhört; und so oft sie sich ihm schenkte, in den lichten Nächten des Juni, beim dumpfen, endlosen Rauschen der Brandung, quoll sein Herz von Dankbarkeit gegen sie über. Er fühlte sich unfähig, die ganze Fülle überströmenden Glücks in sich aufzunehmen, zu erschöpfen. Wenn er sie an sich riß, mit ihr verschmolz, stammelte er wirr, rang er vergeblich, Wort auf Wort zu türmen, dem Sturme Ausdruck zu geben, der in ihm tobte, wie ein vom Schlag Getroffener nur mit gelähmter Zunge abgebrochene Töne lallt.

Und jeder Trunk aus dem Becher der Liebe schuf neue Bilder, die ihm das Blut durch die Adern jagten, sein Begehren steigerten, ließ ihn mit verdoppeltem Durst zurück, gleich einem Schiffbrüchigen, der immer gieriger das Salzwasser schlürft, das unerträgliche Brennen in seiner Kehle zu lindern.

Jeden Abend saßen sie jetzt bis in die späte Nacht hinein, um sich verstohlen dann wieder zu vereinen. Sie hatte eine innige Freude an ihrer Schönheit, trieb Abgötterei mit sich selbst. Wie selbstverständlich, in stolzer Schamlosigkeit löste sie Hülle um Hülle, rühmte sie sich des spinnwebfeinen Batists, der köstlichen Spitzen. Und wenn sie hüllenlos vor ihm stand, drängte es sie zu dem großen Spiegel, hob sie die Arme, verschränkte sie hinter dem Nacken, um ihre starren Brüste zur Geltung zu bringen, wand sie sich auf dem Bett, wie in sich selbst verliebt. Immer wieder mußte er an Victor Hugos Wort denken: La femme nue c'est la femme armée. Bisweilen zog sie das Knie an und bewunderte es sinnend, während sein Mund, seine Hände sie werbend umschmeichelten. Dann lächelte sie, mit dem rätselhaften, grausamen Lächeln der Mona Lisa. Oder sie spielte mit den seltsam beweglichen Zehen ihrer weißen, kleinen Füße, als gäbe sie sich ganz allein ein Schauspiel, bei dem er nur als Zuschauer geduldet wurde. Verlor er vor ihrem Liebreiz die Besinnung, so blickte sie aus den Winkeln ihrer Augen lüstern zu ihm auf, als staune sie eine hinter schützendem Gitter vor Hunger rasende Bestie mit wollüstigem Schauer an. Ab und zu, wenn sie getrunken hatte, packte die Leidenschaft auch sie; dann warf sie sich auf ihn, schlug wahllos die Zähne in seinen Leib. Und wich er vor ihrem Taumel zurück, zuckte er im Schmerz zusammen, so lachte sie ihr leises, girrendes, triumphierendes Lachen.

Aber das waren seltene Feiertage. Im allgemeinen liebte sie es, ihn zu quälen, zu demütigen. Dann ließ sie sich von ihm versprechen, daß er sie nicht berühren würde, drohte sie ihm, für alle Zeit sich ihm zu versagen, sobald er sich vergaß. Und taub gegen all sein Bitten, wie eine Katze sich in den Kissen dehnend, lugte sie mit brennenden Augen zu ihm hinüber, weidete sich an seiner Verzweiflung.

»Bin ich nicht schön?« fragte sie.

Er biß sich die Lippen blutig, während er ein »Ja« stammelte.

»Wird es dir schwer, artig zu sein?«

Er stöhnte auf.

Meist sandte sie ihn dann fort: »Ich will schlafen.« Manchmal aber gab sie nach: »Möchtest du mich küssen?«

»Dolly!«

Dann hob sie sich, schlang die weißen Arme um seinen Hals, zog ihn zu sich nieder.

Er lebte weit über seine Verhältnisse. Sie schien in der Gleichgültigkeit der reichen Frau gegen Materielles es selbstverständlich zu finden, daß er zahlte, die Ausflüge, vor allem den Wein. Er hatte in drei Wochen an fünftausend Mark ausgegeben. Es war ihm gleich, wie ihm ja alles gleichgültig geworden war, er alles vergessen hatte, Zeit und Ort, Hoffnungen, Gegenwart und Zukunft, sein ganzes Leben sich in die nächtlichen Stunden zusammenpreßte, in denen er von dem Born ihrer Schönheit trinken durfte.

Eines Morgens, in den Dünen, als er zu ihren Füßen saß, sagte sie ihm nachlässig, nebenbei, fast ein wenig boshaft:

»Mein Mann kommt heut.«

Er fühlte einen Stich in der Brust, als ob er sie auf einer Untreue ertappt hätte.

»Was nun?« stammelte er.

Sie zuckte die Achseln. »Mein Mann!« sagte sie wegwerfend.

Er verstand sie sofort. Er glaubte ihr jedoch nicht; er hatte das bestimmte Gefühl, daß sie log. Aber er sagte nichts, er war wie betäubt.

Hilflos sah er in ihre Augen, ließ den Blick über den zierlichen Körper gleiten, der nun wieder in des anderen Besitz übergehen sollte. Das Weinen würgte ihn in der Kehle.

»Du,« sagte sie, »vergiß nicht: Ich rede meinem Mann vor, daß du verlobt bist.«

»Warum?« fragte er erstaunt.

»Besser ist besser,« erwiderte sie. »Es hat für Ehemänner etwas Beruhigendes.«

Am Nachmittag, als er die Hoteltreppe hinabstieg, um in der Pförtnerloge seine Post zu holen, traf er auf beide, die eben vom Bahnhof kamen.

Eine große, hagere Gestalt, mit bartlosem Gesicht, das Urbild des hohen preußischen Beamten. In seine Züge hatte die Krankheit ihre tiefen Runen geschrieben; die Haut war gelb, die Haltung leicht gebeugt, die klugen Augen hinter der blitzenden Brille müde.

»Mein Mann, – Herr Assessor Dr. Berg,« sagte sie ruhig.

Der Geheimrat verbeugte sich knapp, sprach mit leiser Stimme einige gleichgültige Worte zu ihm und ging weiter. Dolly stützte ihn in dem halbdunklen Gang; er schien sehr kurzsichtig zu sein.

Am Abend saß Berg allein an seinem Verandatisch, das Ehepaar drinnen im Saal. Er wußte nicht, ob Dolly es aus Rücksicht für den leidenden Gatten so bestimmt, da es in der Veranda stets etwas zog, oder ob der Geheimrat es selbst gewünscht hatte. Den Oberkellner scheute sich Berg zu fragen.

In dieser Stunde hatte er nur noch das eine Begehren, sie allein zu sprechen. Er verwünschte sich und seine Dummheit, die ihn nicht vorher hatte einen festen Plan mit ihr verabreden lassen.

»Wie lange gedenken Sie zu bleiben, Herr Geheimrat?« hatte er bei der Vorstellung gefragt, und jener geantwortet:

»Wir fahren nächsten Mittwoch.«

Aus diesem »wir« wußte Berg, daß er Dolly mit sich heimnehmen würde.

Nach Tisch kam der Geheimrat zu ihm auf die Veranda.

»Sie waren so freundlich, sich meiner Frau ein wenig anzunehmen,« sagte er. »Darf ich Sie bitten, ein Glas mit uns zu trinken?«

Sie saßen beim Deinhardt bis Mitternacht.

Zuerst freilich war es ihm peinlich gewesen, dem betrogenen Gatten ins Auge zu blicken. Doch nach der Befangenheit der ersten Minuten wich diese Scheu, wurde sie durch ein Gefühl des Trotzes abgelöst, der Überzeugung, in seinem Recht zu sein. Mannesliebe ist Kampf um das Weib, dem Kriege gleich, in dem der Stärkere dem Unterlegenen sein Letztes, Bestes, Hab und Gut, Blut und Leben entreißt. Warum da vor dem Weibe halt machen? Versagt die Wehr der Ehe, von Leidenschaft bestürmt, so ist sie eben brüchig. Er hatte keine Gewalt gebraucht; freiwillig hatte sie sich ihm ergeben. Und wenn in diesem Ehebruche Sünde lag, so trug sie der, der an der Schwelle seines Greisentums noch dieses junge, blühende, dem Leben entgegenlechzende Weib an sich gebunden; er hatte es sich selbst nur zuzuschreiben, wenn sich ein anderer der Rose erbarmte, die er im Schatten seines Alters verkümmern ließ. Nein, keine Sünde war es, die er begangen; es war ein gutes Werk, das er vollbracht. Mit überlegenen Augen sah er auf den Mann ihm gegenüber, gleich einem unbekannt gebliebenen Wohltäter, der einem Armen aus der Not geholfen.

Und doch widerstritt eine innere Stimme in ihm, die nicht zum Schweigen kam, befiel ihn ein Gefühl der Unwürdigkeit, eine wachsende Abneigung, ein Widerwille, an einem Tisch mit diesem Mann zu sitzen, der besser war als er.

Dann schlug von neuem die Flamme in ihm hoch.

Der Geheimrat trank seines Leidens wegen nur einen Brunnen. Dolly war bald wieder halb berauscht. Schon bei der ersten Flasche hatte sie seinen Fuß gesucht, bei der zweiten hielt sie ihn so fest, daß er besorgt war, die anderen Gäste könnten es bemerken. Immer wilder wurde sie, immer mehr vergaß sie sich. »Trink, Bubi,« flüsterte sie zu ihm hinüber; und verstohlen raunte sie ihm zu: »Es war so schön, bevor er kam.« Er blickte sie mit heißen Augen an, er bangte jetzt vor keiner Entdeckung mehr; jeden Augenblick sah er der Katastrophe entgegen, war mit ihr einverstanden, sehnte sich fast nach ihr. Aber der Gatte, der leidend schien, träumte mit nach innen gekehrten Augen vor sich hin, achtete auf nichts; nur ab und zu ermahnte er Dolly in seiner abgeklärten, gütigen Art, nicht gar so hastig zu trinken. »Du weißt, mein Kind, du kannst es nicht vertragen.« Dann wurde sie zornig, goß erst recht das Glas hinab. »Einschenken, Herr Assessor! Es lebe das Leben ...«

Sie sah bildschön aus. Ihr dunkles Haar, ein wenig wirr, umkränzte ihre Stirn; unter der blassen Haut pulste das Blut, die Augen glühten. Berg liebte sie, wie er sie nie geliebt hatte, begehrte sie, wie ein lebendig Begrabener nach dem Sonnenlicht lechzt. Seine Augen brannten sich in ihren Ausschnitt, in dessen Tiefen seine Küsse getaucht waren, umklammerten ihre Bubengestalt, aus der er so oft den Atem herausgepreßt hatte. Seine Sinne schrieen nach ihr, zwecklos, ohne Hoffnung; er hätte alles, Leben, Ehre, Zukunft für diese eine kommende Nacht geopfert, der jener Mann dort drüben in seinem selbstverständlichen Recht gelassen entgegensah. Von neuem dachte er an Kampf, an Widerstand, an Mord; und während seine Blicke mit denen Dollys sich verketteten, während er schwatzte, plauderte und lachte, wand er sich in unmenschlichen Qualen. Immer wieder krampfte er die Zähne in ohnmächtiger Wut zusammen, um dem Geheimrat nicht laut ins Gesicht zu schreien: »Ich liebe dein Weib, ich habe sie dir genommen, ich lasse sie nicht!« Aber er sagte es nicht; er lächelte mit blassen Lippen und erzählte vom Krieg, von Flandern, Serbien und Galizien.

Der Geheimrat erhob sich. Sie gingen hinauf. Berg wußte, es standen zwei Betten in Dollys großem Zimmer; sie haßte die kleinen Räume, sie hatte oft scherzhaft erwogen, ob er nicht ganz zu ihr hinüberziehen sollte. Und zähneknirschend mußte er mit ansehn, wie dieser Mann vor ihrer Tür jetzt haltmachte, mußte er ihm mit Dank die Hand schütteln, statt ihn in das welke Angesicht zu schlagen, mußte der Gnädigen die Hand küssen, statt diese Frau an sich zu reißen, sie zu sich hinüberzuretten, nach dem Gesetz der Liebe.

Lange stand er auf dem Balkon, wartete er auf das Wunderbare, das geschehen mußte, um das Unmögliche zu verhindern, das sich da neben ihm vorbereitete, unerbittlich, wie der Henker vor seines Opfers Augen die Eisen glühend macht.

Im Osten färbte sich der Himmel rosig. Berg ging in sein Zimmer zurück. Mit gespannten Sinnen lauschte er. Nichts regte sich.

Es wurde eine entsetzliche Nacht für ihn. Eine Nacht, in der er für seine Tat zehnfache Strafe büßte.

Er holte aus dem Schrank die Flasche Sherry-Brandy, die er stets vorrätig hielt. Er wußte, daß der Alkohol Dolly völlig veränderte, sie bis zur Raserei aufpeitschen konnte; und er hatte sich kein Gewissen daraus gemacht, sie immer wieder ihrer Sinne halb zu berauben, um unerhörte Wonnen sich von ihr schenken zu lassen. Er trank die halbe Flasche aus; betäubt fiel er zu kurzem, schweren Schlummer in die Kissen.

In aller Frühe läutete er am Postamt und gab ein Telegramm an sich selbst auf, das ihn dienstlich nach Berlin zurückrief. Um zehn fuhr er fort. Das Ehepaar war noch nicht sichtbar; entweder war es noch nicht aufgestanden, oder es hatte sich das Frühstück auf das Zimmer bestellt. Er fragte absichtlich nicht; er ließ einen Strauß herrlicher Rosen besorgen und heftete seine Karte mit kurzem Abschiedsgruß daran.

Aber es drängte ihn doch, vor seiner Abreise für die Zukunft eine Verbindung mit Dolly herzustellen.

Er zögerte so lange er konnte, bei offener Tür, anscheinend mit seinem Handgepäck beschäftigt. Und wirklich, in letzter Minute trat sie allein aus ihrem Zimmer heraus. Er bat, beschwor sie, ihr in Berlin schreiben zu dürfen, gab ihr seine eigene Adresse.

Sie war verändert, kühl, fast schroff. »Wir dürfen hier nicht so lange stehen.« Dann, wie um ihn loszuwerden, sagte sie zu, nannte ihm eine Chiffre: D. B. 58, Postamt 85. Er wiederholte es, schrieb es sich auf, als er nach hastigem Abschied auf dem Bahnhof der Hafenbahn stand. Aber er war sich in seiner Erregung nicht mehr ganz sicher – D. B. 85, Postamt 58 oder umgekehrt?

Am nächsten Morgen, nach langer Fahrt, traf er in Berlin ein; den Anschluß an den Bäderzug, der ihn in zwölf Stunden heimgebracht hätte, hatte der Dampfer nicht mehr erreicht.

In der Haustür stand die kleine Annie, die Pförtnerstochter; ohne sie zu beachten, ging er an ihr vorbei. Nur flüchtig begrüßte er Frau Halm und Lisa.

Schon am nächsten Tage schrieb er an beide Postämter, bat Dolly um ein Lebenszeichen. Er wartete acht Tage, keine Antwort. Er fuhr zum Postamt 58 im Norden, fand seinen Brief noch vor, ebenso auf dem Postamt 85 im Süden. Er läutete bei Dolly an, – nach langer Pause: Die gnädige Frau sei nicht zu Haus. Er machte Besuch, wartete in der hohen Diele der vornehmen Villa in der Maaßenstraße, dann kam das hübsche Hausmädchen ein wenig verlegen zurück: Die Herrschaften ließen um Entschuldigung bitten; der Herr Geheimrat sei leidend, die gnädige Frau bei der Toilette.

* * *


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