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Dunenkind

1.

Ich meine, ich kann sie sehen, wie sie abfuhren. Ganz deutlich sehe ich seinen steifen Zylinder mit dem breiten, geschweiften Rande, wie sie in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts Mode waren, seine helle Weste und seine Halsbinde mit der Schnalle. Ich sehe auch sein schönes, glattrasiertes Gesicht mit dem winzig kleinen Backenbarte, seinen hohen, steifen Kragen und die sich auch in seinen geringsten Bewegungen zeigende anmutige Würde. Er sitzt rechts im Wagen und ergreift gerade die Zügel, und neben ihm sitzt das kleine weibliche Wesen. Gott segne die Kleine! Sie sehe ich noch deutlicher. Wie auf einem Bilde habe ich das schmale Gesichtchen und den Hut, der es umschließt und unter dem Kinn zugebunden ist, das dunkelbraune, glattgekämmte Haar und das große Umschlagetuch mit den gestickten Seidenblumen vor mir. Aber der Chaisewagen, in dem sie fahren, hat natürlich einen Stuhl mit grünen, gedrechselten Stäben, und natürlich ist das Postpferd, das sie die eisten zehn Kilometer ziehen soll, einer von den kleinen fetten Braunen.

In sie bin ich vom ersten Augenblick an verliebt gewesen. Eigentlich hat das gar keinen Sinn, denn sie ist das unbedeutendste Geschöpfchen auf der Welt, aber als ich alle die Blicke, die ihr folgten, sah, bin auch ich gefangen worden. Erstens sehe ich, wie Vater und Mutter ihr von der Tür des Bäckerladens aus nachschauen. Vater hat sogar Tränen in den Augen, aber Mutter hat augenblicklich keine Zeit zum Weinen. Mutter muß ihre Augen gebrauchen, um ihrem Mädel nachzusehen, solange es ihr noch zunicken und zuwinken kann. Und dann folgen natürlich fröhliche Grüße von den Kindern in der Hinterstraße, schelmische Blicke von all den kleinen niedlichen Handwerkertöchtern hinter Fenstern und Türenritzen und träumerische Blicke von einigen jungen Gesellen und Lehrlingen. Doch alle sehen ihr nach, als meinten sie es gut mit ihr und wünschten sie bald wieder zurück. Und darauf kommen die unruhigen Blicke armer Frauen, die vor die Tür treten, knicksen und die Brille abnehmen, um sie in ihrem Staate vorbeifahren sehen zu können. Doch ich kann nicht sehen, daß ihr ein einziger unfreundlicher Blick folgt, so lang die Straße auch ist.

Als sie nicht mehr zu sehen ist, wischt sich Vater rasch mit dem Ärmel die Tränen aus den Äugen.

»Sei doch nicht traurig, Mutter!« sagte er. »Du sollst sehen, sie wird damit fertig. Dunenkind wird sich schon zurechtfinden, so klein sie auch ist.«

»Vater,« antwortet Mutter mit großem Nachdruck, »wie merkwürdig du redest. Warum sollte Annemarie sich nicht zurechtfinden können? Sie ist doch gerade so gut wie jede andre.«

»Das ist sie, Mutter, aber dennoch, Mutter, aber dennoch. Ich wollte wahrhaftig nicht an ihrer Stelle sein und dahin fahren, wohin sie jetzt fährt! Nein, wirklich nicht!«

»Ja, dir würde es schön gehen, du alter häßlicher Bäckermeister,« sagt Mutter, die sieht, daß Vater sich um das Mädchen aufregt und mit einem kleinen Scherze aufgeheitert werden muß. Und Vater lacht, denn das Lachen sitzt ihm ebenso lose wie die Tränen. Damit gehen die Alten wieder in den Laden.

Inzwischen fährt Dunenkind, das kleine Flöckchen, die kleine Seidenblume, guten Mutes den Weg entlang. Ein wenig bange vor dem Bräutigam ist sie natürlich ja; aber im Grunde ist Dunenkind vor allen Menschen ein wenig bange, aber dadurch hat sie es gut, denn deshalb suchen ihr alle Menschen zu zeigen, daß sie nicht böse sind. Nie hat sie solchen Respekt vor Moritz gehabt wie heute. Als sie die Hinterstraße und alle ihre Freunde hinter sich zurückgelassen haben, kommt es ihr vor, als schwelle Moritz förmlich zu etwas Großem an. Sein Hut, sein Kragen und sein Backenbart werden ordentlich steif und die Schleife seiner Halsbinde bläht sich. Seine Stimme erstarrt sozusagen und kommt nur mühsam heraus. Ein wenig nimmt ihr dies den Mut, aber es macht ihr doch Freude, Moritz so imponierend zu sehen.

Moritz ist so klug, er hat so viel zu ermahnen, – man sollte es nicht glauben, aber Moritz spricht auf dem ganzen Wege nur verständig. Doch Moritz ist nun einmal so. Er fragt Dunenkind, ob sie sich auch ordentlich klar mache, was diese Reise für ihn bedeute. Ob sie meine, es handle sich nur um einen Ausflug aufs Land? Sechzig Kilometer in einer guten, bequemen Chaise mit dem Bräutigam neben sich zurückzulegen, das könne ja wie eine richtige Luftfahrt aussehen. Und nach einem prachtvollen Gute, um einen reichen Onkel zu besuchen. Sie habe gewiß in allem diesen nur ein Vergnügen gesehen, nicht wahr?

Denkt nur, wenn er wüßte, daß sie sich gestern durch lange Beratungen mit Mutter vor dem Zubettgehen, eine lange Reihe ängstlicher Traume während der Nacht und Gebet und Tränen auf diese Fahrt vorbereitet hat. Doch sie stellt sich dumm an, um sich desto mehr an Moritz, der so weise ist, freuen zu können. Ei liebt es, sich so zu zeigen, und das gönnt sie ihm so gern, ach so gern.

»Eigentlich ist es schrecklich, daß du so süß bist,« sagt Moritz. Denn dadurch war er dazu gekommen, sich mit ihr zu verloben, und das war ja eigentlich recht dumm von ihm gewesen. Sein Vater war durchaus nicht dafür. Und seine Mutter, – er wagte gar nicht daran zu denken, was für Szenen sie gemacht, als Moritz ihr mitgeteilt, daß er sich mit einem armen Mädchen aus der Hinterstraße, einem Mädchen, das weder Erziehung noch Talente hatte und das nicht einmal hübsch, sondern nur niedlich war, verlobt habe.

In Moritzens Augen war natürlich eine Bäckertochter ebensogut wie ein Bürgermeistersohn, aber nicht alle waren so vorurteilslos wie er. Und wenn Moritz nicht seinen reichen Onkel gehabt hätte, so hätte wohl aus der ganzen Geschichte nichts werden können, denn er war ja noch Student und hatte nichts, worauf er hätte heiraten können. Doch wenn sie jetzt den Onkel für sich gewinnen konnten, war alles gut.

Ich sehe sie so deutlich auf der Landstraße dahinfahren. Sie sieht ein bißchen unglücklich aus, während sie seiner Weisheit lauscht. Doch in ihren Gedanken ist sie sehr zufrieden. Wie ist Moritz verständig! Und wenn er davon spricht, welche Opfer er ihr bringt, so sagt er ihr damit ja nur, wieviel er von ihr hält.

Und wenn sie erwartet hatte, daß Moritz an einem solchen Tage unter vier Augen vielleicht ein bißchen anders sein würde als zu Hause bei Mutter, – aber nein, ,das wäre nicht recht von Moritz gewesen. Sie kann nur stolz auf ihn sein. –

Er ist dabei, ihr zu sagen, was Onkel für ein Mensch ist. Er ist solch ein Mann, daß sie sofort im Hafen des Glückes sind, wenn er sich nur ihrer annehmen will. Onkel Theodor ist unglaublich reich. Elf Hochöfen besitzt er und außerdem Landgüter, Gehöfte, Grubenanteile und Schiffsparten. Zu allem diesen ist Moritz der rechtmäßige Erbe. Doch mit Onkel ist nicht leicht umgehen, wenn er jemand nicht leiden mag. Wenn ihm Moritzens Frau nicht zusagt, kann er alles Fremden hinterlassen.

Ihr Gesichtchen wird immer farbloser und schmaler, Moritz aber schwillt immer mehr auf und wird immer steifer. Es sind ja keine großen Aussichten vorhanden, daß Annemarie dem Onkel ebenso den Kopf wird verdrehen können wie Moritz. Onkel ist ein ganz andersartiger Mann. Sein Geschmack, – ja, Moritz hat keine hohe Meinung von seinem Geschmacke, aber er glaubt, daß ein weibliches Wesen lebhaft und rotwangig sein muß, wenn es Onkel gefallen soll. Überdies ist er ein eingefleischter Junggeselle, – hält Frauenzimmer nur für eine Last. Doch in diesem Falle genügt es schon, daß sie Onkel nicht gar zu sehr mißfällt. Für den Rest wird Moritz dann schon sorgen. Aber sie darf nicht kindisch sein. Was? sie weint –! Oh, wenn sie bei der Ankunft nicht mutiger aussieht, wird Onkel sie beide sofort wieder wegschicken. Annemarie freut sich aufrichtig, daß Onkel nicht so klug ist wie Moritz. Hoffentlich ist es nicht unrecht gegen Moritz, wenn sie es für gut hält, daß Onkel ein ganz andrer Mensch ist als ihr Bräutigam. Denkt nur, wenn Moritz Onkel wäre und zwei arme junge Leute kämen bei ihm angereist, um von ihm ihren Lebensunterhalt zu erbitten. Da würde Moritz, der so verständig ist, sie gewiß ersuchen, schleunigst wieder nach Hause zu fahren und mit dem Heiraten so lange zu warten, bis ihre eigenen Mittel dazu ausreichten. Obwohl Onkel auf seine Weise gewiß schrecklich war. Er trank so und gab so große Gesellschaften, bei denen es wirklich toll herging. Und aufs Zusammenhalten verstand er sich gar nicht. Er glaubte, von allen Menschen betrogen zu werden, aber es machte ihm nichts aus! Und so wenig auf seinen Vorteil bedacht! Der Bürgermeister hatte Moritz einige Aktien von einem Unternehmen, das nicht gehen wollte, mitgegeben; der Onkel werde sie ihm schon abkaufen, hatte Moritz gesagt. Onkel sei es ganz einerlei, wofür er sein Geld wegwerfe. Er habe in der Stadt auf dem Markte Silbergeld unter die Gassenjungen gestreut. Und in einer Nacht ein paar tausend Kronen verspielen und seine Pfeife mit Zehnkronenbanknoten anzünden, sei bei ihm etwas ganz Gewöhnliches.

So fuhren sie dahin, und so unterhielten sie sich beim Fahren.

Gegen Abend kamen sie an. Onkels »Residenz«, wie er zu sagen pflegte, war kein Hammerwerk. Sie lag fern von jeglichem Kohlenrauch und allem Schmiedelärm am Abhange gewaltiger Höhen mit weiter Aussicht über Seen und Landrücken. Sie war ein stattliches Gebäude mit Waldwiesen und Birkenhainen rund umher, aber Felder gab es dort beinahe gar nicht, denn die Besitzung war ein Luftschloß und kein Landgut.

Die jungen Leute fuhren eine Allee von Birken und Ulmen hinauf. Zuletzt fuhren sie noch zwischen zwei niedrigen, dichten Fichtenhecken hindurch, und nun sollten sie auf den Hof einbiegen.

Doch gerade da, wo der Weg eine Biegung machte, war eine Ehrenpforte erbaut, und dort stand Onkel mit seinen Untergebenen zum Empfange. Seht, das hätte Dunenkind Moritz nie zugetraut, daß er für einen solchen Empfang sorgen würde. Ihr wurde sofort ordentlich leicht ums Herz. Und sie ergriff seine Hand und drückte sie zum Danke. Mehr konnte sie augenblicklich nicht tun, da sie mitten unter der Ehrenpforte waren.

Und da stand er, der berühmte Mann, der Hammerherr Theodor Fristedt, groß, schwarzbärtig und vor Wohlwollen strahlend. Er schwenkte den Hut und rief Hurra, und sämtliche Leute riefen Hurra, und Annemarie traten die Tränen in die Augen, aber gleichzeitig lächelte sie. Und natürlich mußten alle sie vom ersten Augenblicke an gleich liebgewinnen, schon allein wegen ihrer Art, Moritz anzusehen. Denn sie dachte ja, daß alle seinetwegen da seien, und sie mußte ihre Blicke von der ganzen Pracht abwenden, um ihn anzusehen, wie er den Hut mit einer eleganten Armbewegung abnahm und so maßvoll und königlich grüßte. Oh, wie sie ihn anblickte! Onkel Theodor war nahe daran, das Hurrarufen sein zu lassen und einen Fluch auszustoßen, als er es sah.

Nein, Dunenkind wünschte keinem Menschen auf Erden Böses, aber wenn die Besitzung Moritz gehört hätte, wäre sie wirklich passend für ihn gewesen. Ihr wurde ordentlich feierlich zumute, als sie ihn oben auf der Freitreppe stehen und sich zu den Leuten, um ihnen zu danken, wenden sah. Hammerherr Theodor war ebenfalls ein stattlicher Mann, aber was hatte er für Manieren gegen Moritz. Er half ihr nur aus dem Wagen und nahm ihr wie ein Bedienter Hut und Schal ab, während Moritz den Hut von seiner weißen Stirne lüftete und »Ich danke euch, meine Kinder« sagte. Nein, Hammerherr Theodor hatte gewiß kein feines Benehmen, denn als er nun von seinen Onkelrechten Gebrauch machte, sie umarmte und küßte und dabei merkte, wie sie mitten im Kusse zufällig nach Moritz hinsah, fluchte er wirklich abscheulich. Dunenkind war nicht gewohnt, jemand unangenehm zu finden, aber es würde sicherlich keine leichte Arbeit sein, Onkel Theodor zu gefallen.

»Morgen«, sagt Onkel, »haben wir hier ein großes Diner und Ball, heute aber müssen die Herrschaften sich von der Reise ausruhen. Jetzt essen wir nur noch Abendbrot, und dann wird zu Bett gegangen.«

Sie werden in einen Salon geführt und dort allein gelassen. Hammerherr Theodor eilt hinaus wie ein Wind, der eingesperrt zu werden fürchtet. Fünf Minuten später fährt er in seinem großen Wagen die Allee hinunter, während der Kutscher die Zügel so lose hält, daß die Bäuche der Pferde beinahe den Boden berühren. Dann vergehen noch fünf Minuten, und nun kehrt Onkel wieder zurück, aber jetzt sitzt eine alte Dame neben ihm im Wagen.

Und er kommt wieder hinein, eine freundliche, lebhafte Dame, die er »Frau Bergrätin« nennt, am Arme führend. Und diese schließt Annemarie gleich in die Arme, aber Moritz begrüßt sie ziemlich zurückhaltend. Kein Mensch kann sich Moritz gegenüber Freiheiten herausnehmen. Jedenfalls ist Annemarie recht froh, daß diese lebhafte, alte Dame gekommen ist. Sie und der Hammerherr haben eine so lustige Art, miteinander zu scherzen. Es wird wirklich gemütlich in dem fremden Hause.

Doch wie sie einander gute Nacht gesagt haben und Annemarie sich in ihrem Schlafzimmerchen befindet, geschieht etwas Verdrießliches und Ärgerliches.

Onkel Theodor und Moritz schlendern unten im Garten umher, und Dunenkind sagt sich, daß Moritz dabei seine Zukunftspläne entwickelt. Onkel scheint gar nichts zu sagen, er köpft nur beim Gehen die blühenden Grasbüschel mit seinem Stocke. Moritz aber wird ihn bald überzeugen, daß er nichts Besseres tun kann, als Moritz einen Verwalterplatz auf einem seiner Hammerwerke zu geben, wenn er ihm nicht lieber gleich ein Hammerwerk schenken will. Moritz hat, seit er sich verliebt hat, solche Lust zu einem praktischen Berufe bekommen. Er pflegt oft zu sagen: »Ist es nicht das beste, daß ich, der ja doch Großgrundbesitzer werden soll, mich gleich in die Art Geschäfte einarbeite? Was hat es für mich für einen Zweck, das Richterexamen zu machen?«

Sie gehen gerade unter ihrem Fenster vorbei, und nichts hindert sie daran, zu sehen, daß sie dort sitzt, da sie aber keine Notiz davon nehmen, kann niemand verlangen, daß sie nach dem, was sie reden, nicht hinhöre. Diese Angelegenheit geht sie wirklich ebensoviel an wie Moritz. Da bleibt Onkel Theodor plötzlich stehen, und er sieht böse aus. Sie findet, daß er geradezu wütend aussieht, und ist im Begriffe, Moritz zuzurufen, er möge sich in acht nehmen. Doch es ist schon zu spät, denn der Hammerherr hat Moritz vor der Brust gepackt, sein Jabot zerknittert und schüttelt ihn so, daß er sich windet wie ein Aal. Dann schleudert er ihn mit solcher Kraft von sich, daß Moritz rückwärts taumelt und gefallen wäre, wenn er nicht an einem Baumstamme Halt gefunden hätte. Und dort bleibt Moritz stehen und sagt: »Wie?« – Ja, was sollte er sonst sagen? Ah, nie hat sie Moritzens Selbstbeherrschung so bewundert. Er springt nicht auf den Hammerherrn los, um ihn zu züchtigen. Er sieht nur ruhig überlegen, nur unschuldig verwundert aus. Sie sagt sich, daß er sich beherrscht, damit die Reise nicht nutzlos bleibe. Er denkt an sie und beherrscht sich.

Armer Moritz, es stellt sich heraus, daß Onkel ihretwegen böse auf ihn ist. Er fragt, ob Moritz nicht wisse, daß sein Onkel Junggeselle sei, und wie er seine Braut in eine Junggesellenwirtschaft bringen könne, ohne ihre Mutter mitzunehmen. Ihre Mutter? Dunenkind fühlt sich an Moritzens Stelle beleidigt. Mutter selbst hatte es ja nicht gewollt und rund heraus erklärt, sie könne aus dem Laden nicht abkommen. Das ist auch Moritzens Antwort, aber Onkel läßt keine Entschuldigung gelten. – Nun, und die Bürgermeisterin? Den Gefallen hätte sie ihrem Sohne wohl tun können. Ja, wenn sie dazu zu hochmütig sei, hätten sie lieber zu Hause bleiben sollen. Was hätte werden sollen, wenn die Bergrätin nicht hätte kommen können? Und wie könnten Bräutigam und Braut allein im Lande umherreisen! – So, Moritz sei nicht gefährlich? Nein, dafür habe er ihn auch nie gehalten, aber die Zungen der Leute seien gefährlich. – Nun, und dann noch die Chaise! Ein erbärmlicheres Fuhrwerk habe Moritz wohl in der ganzen Stadt nicht auftreiben können? Das Kind 60 Kilometer in einer Chaise fahren zu lassen und ihn, den Hammerherrn, für eine Chaise eine Ehrenpforte errichten zu lassen, – Er habe ordentlich Lust, ihn tüchtig durchzuprügeln. Onkel Theodor vor einem Stuhlwagen Hurra rufen zu lassen! –

Mit ihm da unten ist es wirklich zu toll. Wie sie Moritz bewundert, daß er so ruhig dabeistehen kann. Sie hätte eigentlich Lust, sich ins Spiel zu mischen und Moritz zu verteidigen, glaubt jedoch, daß er dies nicht gern sehen würde.

Und bevor sie einschläft, zählt sie sich alles auf, was sie zu Moritzens Verteidigung gesagt haben würde. Dann entschlummert sie, fährt wieder in die Höhe und hört vor ihren Ohren ein altes Rätsel:

»Auf einem Berge stand ein Hund.
Er bellt über Schweden und den Sund.
Er heißt wie du,
Er heißt wie ich,
Er heißt wie der ganze Erdenrund.
Wie heißt der Hund?
Er heißt Wie.«

Das Rätsel hatte sie oft geärgert. Oh, wie hatte sie den Hund stets dumm gefunden. Jetzt aber im Halbschlafe verwechselt sie den Hund mit Moritz, und sie findet, daß der Hund seine weiße Stirn hat. Da lacht sie. Das Lachen sitzt ihr ebenso lose wie die Tränen. Das hat sie vom Vater geerbt.

2.

Wie ist »es« gekommen? Das, was sie nicht mit Namen zu nennen wagt.

»Es« ist gekommen, wie der Tau auf dem Grase, die Farbe der Rose und die Süßigkeit der Beere, unmerklich und leise, ohne sich vorher anzukündigen.

Es ist ja auch einerlei, wie »es« kam und was »es« ist. Sei es nun gut oder böse, süß oder bitter, »es« ist immer das Verbotene, was es nie geben sollte. »Es« macht sie ängstlich, sündig und unglücklich.

»Es« ist etwas, woran sie nie mehr denken will. »Es« soll mit der Wurzel ausgerissen und fortgeworfen werden, und doch ist es nichts, was sich greifen und fangen läßt. Sie verschließt sich »davor«, und dennoch kommt es herein. »Es« treibt ihr das Blut aus den Adern und füllt sie an; »es« verjagt ihr die Gedanken aus dem Gehirn und herrscht dort; »es« tanzt ihr in den Nerven und durchzittert sie bis in die Fingerspitzen. »Es« durchdringt sie so vollständig, daß, wenn sie alles, woraus ihr Körper sonst besteht, hätte entfernen und »es« zurücklassen können, so hätte »es« einen vollständigen Abdruck von ihr gegeben. Und trotzdem war »es« nichts.

Nie will sie »daran« denken, und beständig muß sie »daran« denken. Wie ist sie so schlecht geworden. Und dann untersucht sie die Sache und zerbricht sich den Kopf darüber, wie »es« gekommen ist.

Ach, Dunenkind, ach, Flockenblume. Wie weich sind doch unsre Sinne und wie leichtgeweckt unsre Herzen!

Sie war sicher, daß »es« nicht beim Frühstück gekommen war, ganz bestimmt nicht beim Frühstück.

Da war sie nur bange und blöde gewesen. Sie war so in Aufregung geraten, als sie beim Herunterkommen dort nicht Moritz, sondern nur den Kammerherrn und die Bergrätin vorgefunden hatte.

Es war ja nur klug von Moritz gewesen, daß er auf die Jagd gegangen war, obgleich man, wie die Bergrätin bemerkte, unmöglich ausfindig machen konnte, was er jetzt um die Johanniszeit eigentlich jagen wolle. Doch er wußte natürlich, daß es besser war, Onkel einige Stunden aus dem Wege Zu gehen, bis der Hammerherr wieder gut war. Er hätte sich ja gar nicht denken können, daß sie so blöde sei, und ihr nie zugetraut, daß sie beinahe ohnmächtig geworden, als sie fand, daß er fort und sie mit Onkel und der Bergrätin allein war. Moritz war nie blöde gewesen. Er wußte nicht, was das für eine Qual war.

Das Frühstück, das Frühstück! Onkel hatte zu Anfang die Bergrätin gefragt, ob sie die Geschichte von der schönen Sigrid gehört habe. Dunenkind fragte er nicht, und sie wäre auch nicht imstande gewesen, zu antworten. Die Bergrätin kannte die Geschichte, aber er erzählte sie trotzdem. Da erinnerte sich Annemarie, daß Moritz über Onkel gelacht hatte, weil dieser nur zwei Bücher im Hause besaß, nämlich Afzelii Sagen und Nösselts Allgemeine Weltgeschichte für die weibliche Jugend. »Die kann er aber auch auswendig,« hatte Moritz gesagt.

Annemarie hatte die Geschichte hübsch gefunden. Es gefiel ihr, daß der Lagmann Bengt das Kleid von grobem Wollentuch mit Perlen benähen ließ. Sie sah Moritz vor sich, wie königlich stolz er ausgesehen hätte, wenn er befohlen, die Perlen zu bringen. Das war gerade eine Sache, die Moritz gekonnt hätte.

Als Onkel aber so weit in der Geschichte gekommen war, wo erzählt wird, daß der Lagmann in den Wald zog, um der Begegnung mit seinem erzürnten Bruder aus dem Wege zu gehen, und statt dessen seine junge Frau das Ungewitter über sich ergehen ließ, da wurde es ihr klar, daß Onkel ganz genau wußte, daß Moritz nur auf die Jagd gegangen war, um seinem Zorn auszuweichen, und daß sie hier nun saß und darüber nachsann, wie sie ihn gewinnen könnte. Ja, gestern hatten sie und Moritz noch Pläne machen können, wie sie mit Onkel kokettieren solle, aber heute war kein Gedanke daran, daß sie solche Pläne ausführen könnte. Oh, nie hatte sie sich so dumm betragen! Alles Blut strömte ihr ins Gesicht, und Messer und Gabel fielen mit gewaltigem Lärm auf den Teller nieder.

Doch der Hammerherr hatte keine Barmherzigkeit gezeigt, sondern weiter erzählt, bis er an das gute Jarlwort kam: Hätte mein Bruder dies nicht getan, so würde ich es selbst getan haben. Das hatte er in so lustigem Tone gesagt, daß sie hatte aufsehen und dem Blicke seiner lachenden, braunen Augen hatte begegnen müssen. Und als er da gesehen hatte, wie ihr die Angst aus den Augen starrte, hatte er angefangen, wie ein richtiger Junge zu lachen. »Was meinen Sie, Frau Bergrätin,« hatte er ausgerufen, »was der Lagmann Bengt dachte, als er nach Hause kam und von dem Hätte mein Bruder hörte? ... Ich denke, das nächste Mal ist er daheim geblieben.«

Dunenkind traten die Tränen in die Augen, und Onkel, der dies sah, begann immer mehr zu lachen. »Das ist ja eine schöne Vermittlerin, die mein Neffe sich ausgesucht hat,« schien er sagen zu wollen, »jetzt bist du schon aus der Rolle gefallen, meine Kleine.« Und jedesmal, wenn sie ihn ansah, hatten die braunen Augen wiederholt: Hätte mein Bruder dies nicht getan, so würde ich es selber getan haben. Eigentlich war sich Dunenkind nicht sicher, daß die Augen nicht Neffe sagten. Und denkt nur, wie sie sich betragen hatte. Laut weinend war sie aus dem Zimmer gestürzt.

Doch nicht da war »es« gekommen, auch nicht während des Vormittagsspazierganges.

Da handelte es sich um etwas ganz anderes. Da war sie von der Freude an der schönen Besitzung und darüber, daß die Natur so vertraulich nahe war, erfüllt. Es war ihr, als hätte sie etwas vor langer, langer Zeit Verlorenes wiedergefunden.

Die Bäckermamsell, das Stadtkind; wer hätte es ihr zugetraut! Doch sowie sie nur den Fuß auf den Kiesweg gesetzt, war sie auf einmal ein Landmädchen geworden. Sie fühlte sofort, daß sie aufs Land gehörte.

Sowie sie sich ein wenig beruhigt, hatte sie sich auf eigene Hand hinausgewagt, um die Besitzung zu inspizieren. Sie hatte sich drunten auf dem Kiesplatze vor der Freitreppe umgesehen. Mit einem Male hatte sie angefangen, den Körper zu drehen, sie hängte sich den Hut über den Arm und warf den Schal auf die Treppe. Dann stemmte sie die Arme in die Seiten, sog die Luft so tief ein, daß ihre Nasenflügel sich zusammenzogen, und pfiff.

O, wie war sie sich mannhaft vorgekommen!

Sie hatte ein paar Versuche gemacht, ruhig und sittsam nach dem Garten hinunterzugehen, aber dies hatte keine Anziehungskraft für sie. Mit einer plötzlichen Wendung hatte sie sich nach den großen, umbauten Hinterhöfen begeben. Sie war einer Stallmagd begegnet und hatte ein paar Worte mit ihr gesprochen. Sie war erstaunt gewesen, wie energisch ihre eigene Stimme klang. Es war die eines Leutnants vor der Front. Und sie fühlte, wie flott es aussah, als sie mit stolzerhobenem, ein wenig seitwärts gewendetem Kopfe und schnellen, unachtsamen Bewegungen, in der Hand eine kleine, pfeifende Gerte tragend, in den Stall eintrat.

Der war jedoch nicht so, wie sie sich ihn gedacht hatte. Dort hatte sie keine langen Reihen gehörnter Geschöpfe, denen sie hätte imponieren können, gefunden, denn diese waren alle draußen auf der Weide. Ein einsames Kalb stand hinten in seiner kleinen Bucht und schien zu erwarten, daß sie etwas für es tun würde. Sie trat zu ihm, stellte sich auf die Zehen, nahm ihr Kleid mit der einen Hand auf und berührte mit der äußersten Spitze der andern die Stirn des Kalbes.

Da das Kalb trotzdem nicht zu finden schien, daß sie genug getan, sondern seine lange Zunge ausstreckte, so überließ sie ihm gnädigst den kleinen Finger zum Belecken. Doch dabei hatte sie es nicht lassen können, sich umzusehen und gleichsam nach Bewundrern dieser Heldentat auszuschauen. Und da hatte sie denn gesehen, daß Onkel Theodor in der Stalltür stand und über sie lachte.

Nachher hatte er sie auf dem Spaziergange begleitet. Aber da kam »es« nicht, da gewiß nicht. Da war nur das Seltsam-Merkwürdige geschehen, daß sie sich nicht mehr vor dem Hammerherrn fürchtete. Es ging ihm mit ihr wie mit Mutter, er schien alle ihre Fehler und Schwächen genau zu kennen, und das gab ein so beruhigendes Gefühl. Dann brauchte man sich nicht besser zu zeigen, als man war.

Onkel Theodor hatte sie in den Garten und auf die Terrassen am Teiche führen wollen, aber das war nicht nach ihrem Geschmack. Sie wollte wissen, was in allen diesen großen Gebäuden war.

Nun ging er geduldig mit ihr in die Milchkammer und den Eiskeller, in den Weinkeller und den Kartoffelkeller. Er nahm alles der Reihe nach und zeigte ihr Vorratskammer und Holzstall, Wagenremise und Mangelkammer. Dann führte er sie durch den Stall der Arbeitspferde und durch den der Kutschpferde, ließ sie die Geschirrkammer und die Dienerstube, die Knechtstube und die Stellmacherei besehen. Sie war ein wenig verdutzt über all die Räumlichkeiten, die Onkel Theodor auf seiner Besitzung einzurichten für nötig gefunden hatte, aber ihr Herz brannte vor Entzücken bei dem Gedanken daran, wie herrlich es wäre, über alles dieses zu herrschen. Sie wurde auch nicht müde vom Besehen, obwohl sie auch den Schafstall und den Schweinestall durchwanderten und bei den Hühnern und Kaninchen einguckten. Sie inspizierte gewissenhaft Webstube und Molkerei, Räucherboden und Schmiede, während ihre Begeisterung immerfort wuchs. Dann gingen sie über große Böden, den Wäschetrockenboden und den Bauholztrockenboden, den Heuboden und den Boden für dürres Laub, das die Schafe fressen sollten.

Bei all dieser Vollkommenheit erwachte die schlummernde Hausmutter in ihr zu Leben und Bewußtsein. Am allermeisten aber rührte sie das große Brauhaus und die beiden netten Backstuben mit dem geräumigen Ofen und dem großen Tische.

»Dies müßte Mutter sehen,« sagte sie.

Dort in der Backstube hatten sie sich zum Ausruhen hingesetzt, und sie hatte von ihrem Elternhause erzählt. Das konnte sie vor Onkel ruhig tun; er war schon wie ein Freund, obgleich seine braunen Augen über alles, was sie sagte, lachten.

Daheim sei es so still, kein Leben, keine Abwechselung. Sie sei als Kind kränklich gewesen, und deshalb behüteten die Eltern sie so, daß sie eigentlich nichts tun dürfe. Nur zum Spaß dürfe sie in der Bäckerei und im Laden helfen ... Zufällig hatte sie gesagt, daß Vater sie Dunenkind nenne. Und im Zusammenhang damit hatte sie auch gesagt: »Zu Hause verziehen mich alle, außer Moritz, darum halte ich so viel von ihm. Er ist so klug, mit mir verglichen. Er nennt mich nie Dunenkind, nur Annemarie. Moritz ist so vortrefflich.«

Oh, wie hatte es da in Onkels Augen getanzt und gelacht. Sie hätte ihn mit der Gerte schlagen können. Sie wiederholte beinahe weinend: »Moritz ist so vortrefflich.«

»Ja, ich weiß, ich weiß,« hatte Onkel da geantwortet. »Er wird ja mein Erbe sein.« Worauf sie ausgerufen hatte: »Ach, Onkel Theodor, warum heiraten Sie nicht? Denken Sie nur, wie glücklich diejenige sein würde, welche auf einem solchen Gute Hausfrau wäre!«

»Wie sollte es dann mit Moritzens Erbschaft gehen?« hatte Onkel ganz gelassen gefragt.

Da war sie für eine ganze Weile verstummt, denn sie konnte Onkel nicht sagen, daß sie und Moritz nichts nach der Erbschaft fragten. Das taten sie ja gerade. Sie grübelte darüber nach, ob es sehr häßlich sei, daß sie es taten. Sie hatte plötzlich das Gefühl, Onkel wegen eines großen Unrechts, das sie ihm getan, um Verzeihung bitten zu müssen.

Als sie wieder ins Haus gingen, kam ihnen Onkels Hund entgegen. Es war ein winzig kleines Hündchen mit beweglichen Ohren und Gazellenaugen, ein Nichts mit einem schrillen Stimmchen.

»Du wunderst dich wohl, daß ich einen so kleinen Hund habe,« hatte der Hammerherr gesagt.

»Das tue ich allerdings,« hatte sie erwidert.

»Ja, sieh, ich habe mir Jenny nicht ausgesucht, sondern Jenny hat mich zum Herrn erwählt. Du möchtest die Geschichte wohl hören, Dunenkind?« Das Wort hatte er gleich aufgegriffen.

Das hatte sie gewollt, obgleich sie ganz genau gewußt, daß er wieder mit einer Anzüglichkeit kommen würde.

»Sieh nur, wie Jenny zum erstenmal hierherkam, lag sie auf dem Schoße einer feinen Dame aus der Stadt und war mit einer Decke über den Rücken und einem Tuche um den Kopf versehen. Still, Jenny, es ist wahr, so war es! Und ich fand, du seist ein erbärmlicher Hund. Doch wie das kleine Vieh hier auf die Erde gesetzt wurde, mochten wohl einige Jugenderinnerungen oder dergleichen in ihm erwacht sein. Es kratzte und schüttelte sich, um sich von der Decke zu befreien. Und nachher betrug es sich geradeso wie die großen Hunde hier, so daß wir sehen konnten, daß Jenny auf dem Lande aufgewachsen war.

Das Hündchen legte sich vor die Haustür und guckte das Sofa im Salon gar nicht an, jagte die Hühner und stahl der Katze die Milch, bellte jeden Bettler an und fuhr, wenn hier Besuch kam, auf die Beine der Pferde los. Es machte uns Spaß und Freude, ihm zuzusehen. Weißt du, es war ja ein so kleines Tierchen, das bisher nur im Korbe gelegen hatte und auf dem Arme getragen worden war. Es war wirklich eine seltsame Geschichte. Und höre nur, wie es ans Abreisen ging, wollte Jenny nicht mit. Sie stand auf der Treppe und heulte so jämmerlich, sprang an mir in die Höhe und bat förmlich, hierbleiben zu dürfen. Es blieb uns schließlich nichts weiter übrig, als sie zu behalten. Uns rührte das Hundevieh, das so klein war und doch ein Landhund sein wollte. Ich hätte allerdings nicht geglaubt, daß ich mir je einen Schoßhund halten würde. Bald bekomme ich auch vielleicht noch eine Frau.«

Oh, wie ist es schwer, blöde zu sein, unerzogen zu sein. Sie hätte gern gewußt, ob Onkel sehr erstaunt gewesen, als sie so plötzlich fortgelaufen war. Doch ihr war zumute gewesen, als sei sie gemeint, wie er von Jenny erzählt hatte. Und vielleicht hatte er sie gar nicht gemeint gehabt. Jedenfalls aber ja, sie war so verlegen geworden. Sie hatte nicht bleiben können.

Doch da war »es« nicht gekommen, da nicht.

Dann wohl am Abend, während des Balles. Nie hatte sie sich auf einem Balle so gut amüsiert! Hätte sie jedoch jemand gefragt, ob sie viel getanzt habe, so hätte sie nach einigem Besinnen »nein« sagen müssen. Daß sie nicht einmal gemerkt, wie wenig sich um sie gekümmert wurde, war indessen das beste Zeichen, daß sie sich gut amüsiert hatte.

Sie hatte sich nur deshalb so schön amüsiert, weil sie Moritz hatte zusehen können. Gerade weil sie beim Frühstück ein wenig, ein ganz klein bißchen unzufrieden gewesen und gestern über ihn gelacht hatte, war es ihr solch eine Freude, ihn auf dem Balle zu sehen. Nie war er ihr so schön und bedeutend erschienen.

Er hatte gewiß das Gefühl gehabt, sie würde sich zurückgesetzt glauben, weil er nicht nur mit ihr sprach und tanzte. Ihr aber hatte es allein schon genug Vergnügen gemacht, zu sehen, wieviel alle von Moritz hielten! Als ob sie ihre Liebe öffentlich zur Schau hätte stellen wollen! Oh, so dumm war Dunenkind nicht!

Moritz tanzte viele Tänze mit der hübschen Elisabeth Westling. Doch das hatte sie gar nicht beunruhigt, denn Moritz war immer wieder zu ihr gekommen und hatte ihr zugeflüstert:

»Du siehst, ich werde sie nicht los. Wir sind Jugendfreunde. Sie sind es hier auf dem Lande gar nicht gewohnt, einen Kavalier zu haben, der etwas von der Welt gesehen hat und nicht nur tanzen, sondern auch unterhalten kann. Du mußt mich heute abend den Gutsbesitzertöchterlein leihen, Annemarie.«

Onkel aber trat hinter seinem Neffen gleichsam zurück. »Sei du heute abend Wirt,« sagte er, und das war Moritz. Er versäumte nichts, war Vortänzer, forderte zum Trinken auf und hielt eine Rede auf die schöne Gegend und die Damen. Er war großartig. Sowohl sie wie Onkel hatten die Blicke auf Moritz gerichtet gehabt, und dabei waren sich ihre Blicke begegnet. Da hatte Onkel ihr lächelnd zugenickt. Onkel war bestimmt stolz auf Moritz. Es war ihr ein bißchen schwer aufs Herz gefallen, daß Onkel seinem Neffen nicht so recht Ehre machte. Gegen Morgen war Onkel laut und lärmend geworden. Da hatte er sich am Tanzen beteiligen wollen, aber wenn er sich den jungen Mädchen näherte, wichen sie ihm aus und taten, als seien sie schon engagiert.

»Tanze mit Annemarie,« hatte Moritz zu Onkel Theodor gesagt, und das hatte natürlich ein bißchen herablassend geklungen. Sie erschrak so, daß sie ordentlich zusammenfuhr. Onkel war auch beleidigt, drehte sich auf dem Absatze um und ging ins Rauchzimmer.

Da aber war Moritz zu ihr gekommen und hatte mit harter, harter Stimme gesagt: »Du verdirbst mir alles, Annemarie. Wie kannst du solch ein Gesicht machen, wenn Onkel mit dir tanzen will. Wenn du wüßtest, was er mir gestern über dich gesagt hat. Etwas mußt du auch tun, Annemarie. Hältst du es für recht, mir alles zu überlassen?«

»Was soll ich denn tun, Moritz?«

»Oh, nichts, jetzt ist das Spiel schon verdorben. Denke nur, was ich heute abend alles schon gewonnen hatte! Aber jetzt ist es verloren.«

»Ich werde Onkel gern um Verzeihung bitten, Moritz, wenn du es willst.«

Und es war ihr damit ernst gewesen. Es tat ihr wirklich leid, Onkel geärgert zu haben.

»Das wäre natürlich das einzig Richtige, aber von jemand, der so lächerlich blöde ist wie du, kann man ja nichts verlangen.«

Sie hatte nicht darauf geantwortet, sondern war direkt in das jetzt beinahe leere Rauchzimmer gegangen. Onkel hatte sich dort in einen Lehnstuhl geworfen.

»Warum wollen Sie nicht mit mir tanzen, Onkel?« hatte sie gefragt.

Der Hammerherr hatte die Augen geschlossen. Er schlug sie auf und sah Annemarie lange an. Es war der schmerzlichste Blick, der sie je getroffen hatte. Ihr stieg eine Ahnung von den Gefühlen eines Gefangenen, wenn er an seine Ketten denkt, auf. Onkel hatte ihr so leid getan. Es war ihr, als bedürfe er ihrer weit mehr als Moritz, denn Moritz brauchte niemand. Er war vollkommen, so wie er war. Da legte sie ganz leise ihre Hand liebkosend auf Onkel Theodors Arm.

Auf einmal trat frisches Leben in seine Augen. Er begann ihr mit seiner großen Hand über das Haar zu streichen. »Mütterchen,« hatte er gesagt.

Da kam »es« über sie, während er ihr Haar streichelte. Es kam schleichend, es kam kriechend, es kam raschelnd, wie wenn die Erdgeister durch den dunklen Wald gezogen kommen.

3.

Den einen Abend bedeckten dünne, weiche Wolken den Himmel, den einen Abend ist es windstill und warm, den einen Abend schweben kleine, weiße Flöckchen von Espen und Pappeln durch die Luft. Es ist schon spät, und niemand ist mehr auf als der Hammerherr, der, draußen im Garten umhergehend, überlegt, wie er den jungen Mann und das junge Mädchen werde trennen können.

Denn nie, nie in Ewigkeit wird es geschehen, daß Moritz mit ihr aus dem Schlosse fortfahren darf, während

Onkel Theodor auf der Freitreppe steht und ihnen glückliche Reise wünscht.

Ist es denn überhaupt möglich, sie wieder abreisen zu lassen, nachdem sie drei Tage lang das Haus mit zwitschernder Heiterkeit erfüllt, nachdem sie in ihrer stillen Weise alle daran gewöhnt hatte, daß sie für sie sorgte und an sie dachte, und nachdem er sich daran gewöhnt hatte, dieses weiche, geschmeidige Geschöpfchen überall umherstreifen zu sehen. Hammerherr Theodor sagt sich selbst, das; es nicht möglich sei. Er kann sie nicht mehr entbehren. In demselben Augenblicke stößt er an eine Butterblume, die schon Samen trägt, und wie Menschenentschlüsse und Menschenversprechungen verweht der weiße Dunenball, seine weißen Federn fliegen rasch davon und zerstreuen sich in alle Winde.

Die Nacht ist nicht kalt, wie es die Nächte in dieser Provinz zu sein pflegen. Die graue Wolkendecke hält die Wärme fest. Die Winde zeigen einmal Barmherzigkeit und halten sich ruhig.

Hammerherr Theodor sieht sie, Dunenkind, vor sich. Sie weint, weil Moritz sie verlassen hat. Er aber zieht sie an sich und küßt ihr die Tränen von den Wangen.

Weich und klein fallen die weißen Flöckchen von den großen, reifenden Kätzchen der Bäume herab. So leicht, daß die Luft sie kaum fallen lassen will, so klein und zart, daß sie kaum am Boden sichtbar sind.

Hammerherr Theodor lacht vor sich hin, wie er an Moritz denkt. In Gedanken geht er am nächsten Morgen in das Zimmer seines Neffen, während dieser noch im Bette liegt. »Höre, Moritz,« beabsichtigt er zu ihm zu sagen, »ich will dir keine trügerischen Hoffnungen machen. Wenn du dich mit diesem Mädchen verheiratest, hast du von mir keinen Pfennig zu erwarten. Ich will nicht helfen, deine Zukunft zu verderben.«

»Mißfällt sie dir so sehr, Onkel?« wird Moritz dann fragen.

»Nein, im Gegenteil, es ist ein nettes Mädchen, aber dennoch nichts für dich. Du mußt ein Prachtweib haben, wie Elisabeth Westling. Sei doch verständig, Moritz. Was wird aus dir, wenn du dein Studium abbrichst, um Grubenverwalter zu werden. Dazu eignest du dich nicht, mein Sohn. Dazu gehört mehr, als elegant den Hut abnehmen und »Ich danke euch, meine Kinder« sagen zu können. Du bist ja wie geschaffen zum Beamten. Du kannst Minister werden.«

»Wenn du so gut von mir denkst, Onkel,« antwortet dann Moritz, »so hilf mir bis zum Examen und laß uns dann heiraten.«

»Keineswegs, du, keineswegs tue ich das. Was würde wohl aus deiner Karriere werden, wenn du in deiner Frau solch einen Klotz am Bein hättest. Das Pferd, das den Brotwagen ziehen soll, stürmt nicht vorwärts. Stelle dir einmal die Bäckermamsell als Ministerfrau vor. Nein, du darfst dich erst in zehn Jahren verloben, jedenfalls nicht eher, als bis du etwas bist. Was würde die Folge sein, wenn ich euch zur Heirat verhülfe? Ihr würdet mich jedes Jahr anbetteln. Und das würde sowohl euch wie mir über.«

»Aber, Onkel, ich bin doch ein anständiger Mensch. Ich habe mich ja verlobt.«

»Höre nun, Moritz! Was ist besser? Daß sie zehn Jahre auf dich wartet und du sie nachher nicht mehr willst oder daß du jetzt gleich mit ihr brichst? Nein, sei kurz entschlossen, steige in deine Chaise und fahre nach Hause, ehe sie aufwacht. Es paßt sich ja gar nicht, daß Braut und Bräutigam so allein im Lande umherstreifen. Ich werde schon für das Mädchen sorgen, wenn du dir nur diese Verrücktheit aus dem Sinn schlägst. Die Bergrätin wird sie nach Hause bringen. Ich werde ihr sowohl die Pferde wie die Kutsche zur Verfügung stellen, wenn du es willst. Du sollst deinen Unterhalt von mir bekommen, so daß du dich um die Zukunft nicht beunruhigen brauchst. So, sei verständig, du machst deinen Eltern Freude, wenn du mir gehorchst. Fahre nun ohne sie! Ich, ich werde vernünftig mit ihr reden. Sie wird sicherlich deinem Glücke nicht im Wege stehen wollen. Versuche nur nicht, sie vor deiner Abreise noch zu sprechen, dann könntest du weichherzig werden, denn sie ist allerliebst.«

Und nach diesen Worten faßt Moritz einen heroischen Entschluß und reist ab.

Und wenn er fort ist, was soll dann geschehen?

»Schurke!« ruft es im Garten laut und drohend, als würde ein Dieb angerufen. Hammerherr Theodor sieht sich um. Kein anderer ist da! Hat er es sich selber zugerufen?

Was dann geschehen soll? Oh, er wird sie darauf vorbereiten, daß Moritz nicht wiederkommt, ihr auseinandersetzen, daß Moritz ihrer nicht würdig sei, und sie dahin bringen, ihn zu verachten. Und wenn sie sich dann an seiner Brust ausgeweint hat, wird er ihr zart und vorsichtig Verständnis für seine Gefühle einflößen, sie mit seinem Reichtum anlocken und sie für sich gewinnen.

Die Kätzchenflocken fallen noch immer. Er streckt seine große Hand aus und fängt eine Flocke auf.

So sein, so leicht und so zart! Er bleibt stehen und betrachtet sie.

Rings um ihn her fallen sie, Flöckchen auf Flöckchen. Was wird nachher mit ihnen geschehen? Sie werden vom Winde gejagt, von der Erde beschmutzt und von schweren Füßen zertreten werden.

Ihm ist auf einmal zumute, als fielen ihm diese leichten Flocken zentnerschwer aufs Herz. Wer will Wind sein, wer will Erde sein, wer will Schuhsohle sein, wenn es diesen Kleinen, diesen Wehrlosen gilt?

Und infolge seiner erstaunlichen Belesenheit in Nösselts Weltgeschichte steigt eine Episode daraus vor ihm auf, die sich mit dem, was er eben gedacht, vergleichen läßt.

Es war ein anbrechender Morgen, nicht sinkende Nacht, wie jetzt. Es war ein felsiges Ufer, und unten am Meere saß ein schöner Jüngling mit einem Pantherfelle um die Schultern, Weinlaub in den Locken und dem Thyrsos in der Hand. Wer er war? Oh, Gott Bacchus selber.

Und das Felsenufer war Naxos. Es war Griechenlands Meer, auf das der Gott hinausblickte. Das Schiff mit den schwarzen Segeln, das schnell dem Horizonte zueilte, wurde von Theseus gesteuert, und in der Grotte, deren Eingang sich hoch droben auf einer Terrasse des steilen Ufergebirges öffnete, schlummerte Ariadne.

Und während der Nacht hatte der junge Gott so gedacht: »Ob der sterbliche Jüngling des himmlischen Mädchens wohl würdig ist?« Und um Theseus zu prüfen, hatte er ihn im Traume mit Verlust des Lebens bedroht, wenn er Ariadne nicht sofort verlasse. Da war dieser sogleich aufgestanden, nach dem Schiffe geeilt und abgesegelt, ohne auch nur die Jungfrau zu wecken, um ihr Lebewohl zu sagen.

Nun sah Gott Bacchus, sich in den süßesten Hoffnungen wiegend, lächelnd da und erwartete Ariadne. Die Sonne ging auf, der Morgenwind wurde stärker. Er gab sich lächelnden Träumen hin. Er, Gott Bacchus selber, würde die Verlassene schon zu trösten wissen.

Da kam sie. Mit strahlendem Lächeln trat sie aus der Grotte. Ihre Augen suchten Theseus, sie irrten immer weiter fort, nach dem Ankerplatze des Schiffes, aufs Meer hinaus zu den schwarzen Segeln.

Und dann mit einem durchdringenden Schrei, ohne Besinnen, ohne Zaudern hinab ins Meer, in den Tod und das Vergessen.

Und da saß nun Gott Bacchus, der Tröster.

So ging es zu. So war es gewiß gewesen. Kammerherr Theodor erinnert sich freilich, daß Nösselt noch kurz hinzufügt, mitleidige Dichter behaupteten, daß Ariadne sich von Bacchus habe trösten lassen. Doch die Mitleidigen hatten ganz gewiß unrecht. Ariadne ließ sich nicht trösten.

Großer Gott, weil sie gut und süß ist, so daß er sie hat lieben müssen, soll sie unglücklich gemacht werden!

Zum Lohne für das freundliche Lächeln, das sie ihm gespendet, dafür, daß sie ihre kleine Hand vertrauensvoll in die seine gelegt hat, dafür, daß sie nicht böse über seine anzüglichen Reden geworden ist, soll sie nun ihren Bräutigam verlieren und unglücklich gemacht werden.

Für welches all ihrer Verbrechen soll sie dazu verurteilt werden? Weil sie ihn im tiefsten Innern seiner Seele einen Raum hat entdecken lassen, der bisher rein und unbewohnt gestanden und auf solch ein kleines liebevolles, mütterliches Wesen gewartet zu haben scheint, oder weil sie solche Macht über ihn hat, daß er kaum einmal zu fluchen wagt, wenn sie es hören kann, oder weshalb sonst soll sie verurteilt werden?

O armer Bacchus, armer Hammerherr Theodor! Es ist nicht leicht, mit jenen Feinen, Blonden, Dunenweichen zu tun zu haben. – Sie stürzen sich ins Meer, wenn sie die schwarzen Segel sehen.

Hammerherr Theodor flucht im stillen darüber, daß Dunenkind nicht schwarzhaarig, rotwangig und grobknochig ist. Da fällt wieder eine Flocke, und sie beginnt zu reden: »Ich bin es, die dir alle Tage gefolgt sein würde. Ich hätte dir am Spieltische eine Warnung ins Ohr geflüstert. Ich hätte das Weinglas beiseite geschoben. Du würdest dir das von mir haben gefallen lassen.« »Das hätte ich,« flüsterte er, »das hätte ich.«

Eine zweite kommt, und auch sie spricht: »Ich hätte über dein großes Haus geherrscht und es gemütlich und warm gemacht. Ich hätte dich durch das öde Land des Alters begleitet. Ich hätte dein Feuer angezündet, wäre dir Auge und Stab gewesen. Wäre ich nicht dazu geeignet gewesen?« »Liebe, kleine Dune,« antwortet er, »das wärest du.«

Noch eine Flocke kommt, und sie sagt: »Ich bin sehr zu bedauern. Morgen reist mein Bräutigam ab, ohne mir auch nur Lebewohl zu sagen. Morgen werde ich weinen, den ganzen Tag weinen, denn ich empfinde es als eine Schande, daß ich Moritz nicht gut genug bin. Und wenn ich nach Hause komme ich weiß nicht, wie ich werde nach Hause kommen können, wie ich nach all diesem die Schwelle meines Vaters werde überschreiten können. In der ganzen Hinterstraße wird man flüstern und lachen, wenn ich mich zeige. Alle werden sich den Kopf zerbrechen, was ich getan habe, daß ich so schlecht behandelt worden bin. Kann ich dafür, daß du mich liebst?« Er antwortet mit tränenerstickter Stimme: »Sprich nicht so, kleine Dune! Es ist zu früh, so zu sprechen!«

Er geht die ganze Nacht draußen umher, und endlich gegen Mitternacht wird es ein bißchen dunkel. Er gerät nun in große Angst, diese stickichte, drückende Luft scheint vor Bangen vor einer Missetat, die am Morgen begangen werden soll, still zu stehen.

Da sucht er die Nacht dadurch zu beruhigen, daß er ganz laut sagt: »Ich werde es nicht tun.«

Doch nun geschieht das Allerseltsamste. Die Nacht gerät geradezu in bebende Angst. Jetzt sind es nicht mehr die kleinen Flocken, die fallen, sondern rings um ihn herum rascheln große und kleine Flügel. Er hört, daß etwas fortfliegt, weiß aber nicht, wohin.

Das Fliehende streicht an ihm vorbei, es berührt seine Wange, streift seinen Rock und seine Hände, und er versteht, was es ist. Es ist das Laub, das die Bäume verläßt, die Blumen, die von ihren Stielen fliehen, die Flügel, die von den Schmetterlingen fortfliegen, und der Gesang, der die Vögel verläßt.

Und er versteht, daß sein ganzer Lustgarten öde dastehen wird, wenn die Sonne aufgeht. Leerer, kahler und schweigender Winter wird dort herrschen, aber kein Schmetterlingsspiel, kein Vogelgesang.

Er bleibt draußen, bis es wieder hell wird, und ist beinahe erstaunt, wie er die dunklen Laubmassen der Ahornbäume sieht. »So,« sagt er, »was wurde denn verheert, wenn nicht der Garten? Hier fehlt ja nicht einmal ein Grashalm. Verwünscht, ich bin es, der künftig in Winter und Kälte leben soll, nicht der Garten. Mir ist, als sei der ganze Lebensmut entflohen. Ach, du alter Narr, dies geht wohl vorüber wie alles andre! Es ist wirklich zu viel Aufstand um das kleine Mädchen.«

4.

Wie »es« sich diesen Morgen, an dem sie abreisen wollen, entsetzlich beträgt. Während der beiden Tage, die sie nach dem Ball noch hiergeblieben sind, ist »es« eher etwas Anregendes, etwas Belebendes gewesen, aber jetzt, da Dunenkind fort muß, da »es« einsieht, daß es ganz zu Ende ist, daß es in ihrem Leben keine Rolle wird spielen dürfen, da verwandelt es sich in Todeskälte, in Leichenstarre.

Ihr ist, als müsse sie einen versteinerten Körper die Treppen hinunter ins Frühstückszimmer schleppen. Sie streckt beim Gutenmorgensagen eine schwere, kalte Steinhand aus, sie spricht mühsam wie mit einer Steinzunge und lächelt mit harten Steinlippen. Es ist eine Arbeit, eine Arbeit.

Doch wer kann unterlassen, sich zu freuen, wenn man daran denkt, daß an diesem Morgen alles so abgemacht werden soll, wie es althergebrachte Treue und Ehre erfordern.

Hammerherr Theodor wendet sich während des Frühstücks an Dunenkind und erklärt mit seltsam rauher Stimme, er habe beschlossen, Moritz den Verwalterplatz auf Laxahyttan zu geben; da aber besagter junger Mann, fährt er mit einem angestrengten Versuche, in seinen gewöhnlichen Unterhaltungston zu fallen, fort, in praktischen Geschäften nicht sehr bewandert sei, dürfe er die Stelle nicht eher antreten, als bis ihm eine Gattin zur Seite stehe. Habe sie, Mamsell Dunenkind, ihre Myrte so gut gepflegt, daß sie im September den Brautkranz tragen könne?

Sie fühlt, wie er ihr ins Gesicht sieht. Sie weiß, daß er einen Blick zum Dank haben will, aber sie sieht nicht auf. Moritz aber springt auf. Er umarmt Onkel und macht ungeheuer viele Worte. »Aber, Annemarie, weshalb dankst du Onkel nicht? Du mußt Onkel einen Kuß geben, Annemarie. Laxahyttan ist das Herrlichste auf der Welt. Schnell, Annemarie!«

Jetzt erhebt sie ihre Augen. Es sind Tränen darin, und durch diese fällt ein Blick voll Angst und Vorwurf auf Moritz. Daß er sie nicht versteht, daß er durchaus mit unbedecktem Lichte in die Pulverkammer gehen will. Dann wendet sie sich an den Hammerherrn, aber nicht in der kindlichen, schüchternen Weise wie bisher, sondern mit einer gewissen Grandezza im Auftreten, mit etwas von Märtyrerin, von gefangener Königin.

»Sie tun zu viel für uns, Onkel,« sagte sie nur.

So ist denn alles den Forderungen der Ehre entsprechend abgemacht. Über die Sache ist kein Wort mehr zu verlieren. Er hat ihr den Glauben an den Mann, den sie liebt, nicht genommen. Sie hat sich nicht verraten. Sie ist ihm treu, der sie zu seiner Braut gemacht hat, obwohl sie nur ein armes Mädchen aus einem kleinen Bäckerladen in der Hinterstraße ist.

Und nun kann die Chaise vorfahren, der Koffer zugeschnürt und der Eßkorb gefüllt werden.

Hammerherr Theodor steht vom Eßtische auf. Er stellt sich im Hintergrunde an ein Fenster. Seit sie sich mit dem tränenerfüllten Blicke zu ihm gewandt hatte, ist er von Sinnen. Er ist entschieden verrückt, imstande, sich auf sie zu stürzen, sie an seine Brust zu ziehen und Moritz zuzurufen, er möge sie ihm entreißen, wenn er es könne.

Er hält die Hände in den Taschen. Die geballten Fäuste zucken wie im Krampf. Kann er es zulassen, daß sie sich den Hut aufsetzt und der Bergrätin Lebewohl sagt? Da steht er wieder auf dem Felseneilande Naxos und will sich die Geliebte stehlen. Nein, nicht stehlen! Warum nicht ehrlich und männlich hervortreten und sagen: »Ich bin dein Nebenbuhler, Moritz. Deine Braut mag zwischen uns wählen. Ihr seid nicht verheiratet, es ist keine Sünde, wenn ich versuche, sie dir zu nehmen. Hüte sie wohl. Ich beabsichtige, jedes Mittel anzuwenden.«

So wäre er ja gewarnt, und sie wüßte, wonach sie sich zu richten hätte.

Die Knöchel knackten, als er wieder die Fäuste ballte. Wie würde Moritz über den alten Onkel lachen, wenn er vorträte und dies erklärte! Und was würde es nützen? Sollte er sie so erschrecken, daß er ihnen künftighin nicht einmal würde helfen können?

Doch wie wird es jetzt gehen, da sie sich nähert, um ihm Lebewohl zu sagen? Er ist nahe daran, ihr zuzuschreien, sie möge sich in acht nehmen und ihm drei Schritte vom Leibe bleiben.

Er steht noch immer am Fenster und kehrt ihnen allen den Rücken zu, während sie sich mit dem Reisefertigmachen und Einpacken des Mundvorrats beschäftigen.

Sind sie denn nie zum Abfahren fertig? Jetzt hat er es schon tausendmal durchlebt. Er hat ihr die Hand gegeben, sie geküßt und ihr beim Einsteigen geholfen. Er hat es schon so viele Male getan, daß er sie schon fort glaubt.

Er hat ihr auch Glück gewünscht. Glück ... Wird sie mit Moritz glücklich werden können? Sie hat diesen Morgen nicht glücklich ausgesehen. O ja, sie hat es doch. Sie weinte ja vor Freude.

Während er dort steht, hat Moritz plötzlich zu Annemarie gesagt: »Was bin ich für ein Dummkopf. Ich vergesse ganz, mit Onkel von Papas Aktien zu sprechen.«

»Ich glaube, das beste wäre, wenn du es nicht tätest,« antwortet Dunenkind. »Es ist vielleicht nicht recht.«

»Unsinn, Annemarie! Die Aktien bringen augenblicklich nichts. Aber wer weiß, ob sie nicht eines Tages steigen werden. Und überdies, was macht Onkel das aus. Solche Kleinigkeit ...«

Sie unterbricht ihn mit ungewöhnlichem Eifer, fast mit Angst, »Ich bitte dich, Moritz, laß es sein. Gib mir dieses eine Mal recht.«

Er sieht sie ein wenig beleidigt an. »Dieses eine Mal. Als ob ich ein Tyrann gegen dich wäre. Nein, weißt du, das kann ich nicht, ich finde, daß ich schon dieses Wortes wegen nicht nachgeben darf.«

»Klammere dich nicht an Worte, Moritz. Hier gilt es mehr als Höflichkeit und Phrasen. Ich finde, es ist nicht hübsch von dir, Onkel, der so gut gegen uns gewesen ist, gerade jetzt übervorteilen zu wollen.«

»Aber still doch, Annemarie, still doch! Was verstehst du von Geschäften?«

Seine ganze Art ist noch beleidigend ruhig und überlegen. Er sieht sie an, wie ein Schulmeister einen guten Schüler, der am Examenstage selber verkehrte Antworten gibt.

»Daß du gar nicht verstehst, um was es sich hier handelt,« ruft sie aus. Und sie streckt in Verzweiflung abwehrend die Hände aus.

»Ich muß jetzt wirklich mit Onkel sprechen,« sagt Moritz, »schon allein, damit er sieht, daß hier nicht von Betrügerei die Rede sein kann. Du beträgst dich so, daß Onkel mich und meinen Vater für wirkliche Schufte halten müßte.«

Und er geht nun zu dem Hammerherrn hin und erklärt ihm, was mit diesen Aktien ist, die sein Vater ihm verkaufen will. Hammerherr Theodor hört ihn so aufmerksam an, wie es ihm möglich ist. Er begreift sofort, daß sein Bruder, der Bürgermeister, eine falsche Spekulation gemacht hat und sich vor Verlusten schützen will. Doch was weiter, was weiter? Solche Dienste pflegt er der ganzen Verwandtschaft zu leisten. Eigentlich aber denkt er nicht hieran, sondern an Dunenkind. Er fragt sich, was in dem Blicke voller Verdruß, den sie auf Moritz wirft, liege. Dies war gerade kein Liebesblick.

Und so beginnt mitten, mitten in seiner Verzweiflung über das Opfer, das er bringen muß, ihm ein schwacher Hoffnungsstrahl zu schimmern. Er starrt danach hin wie ein Mann, der, in einem Gespensterzimmer im Bette liegend, einen hellen Dunst aus dem Fußboden aufsteigen, sich verdichten, wachsen und greifbare Wirklichkeit werden sieht.

»Komm mit in mein Zimmer, Moritz,« sagt er, »du sollst das Geld gleich haben.«

Doch während er spricht, ruht sein Blick auf Dunenkind, um zu sehen, ob das Gespenst sich zum Reden wird vermögen lassen. Noch aber sieht er nur stumme Verzweiflung auf ihrem Gesichte.

Doch kaum sitzt er in seinem Zimmer am Pulte, so öffnet sich die Tür und Annemarie kommt herein.

»Onkel Theodor,« sagt sie sehr fest und entschlossen, »kaufen Sie die Papiere nicht!«

O welch ein Mut, Dunenkind! Wer hätte dir dies zugetraut, als du vor drei Tagen neben Moritz in der Chaise saßest und bei jedem Worte, das er sagte, immer kleiner zu werden schienst.

Jetzt bedarf sie auch all ihres Mutes, denn nun wird Moritz ernstlich böse.

»Schweig'!« zischt er sie an, und dann brüllt er förmlich, damit der Hammerherr, der, am Pulte sitzend, Banknoten zählt, es deutlich höre. »Was denkst du dir eigentlich? Die Aktien geben augenblicklich keine Zinsen, das habe ich Onkel gesagt, aber Onkel weiß gerade so gut wie ich, daß sie es später tun werden. Glaubst du, Onkel lasse sich von meinesgleichen betrügen? Onkel wird solche Sachen wohl besser verstehen als irgendwer von uns. Ist es je meine Absicht gewesen, diese Aktien für gute Papiere auszugeben? Habe ich etwas anderes gesagt, als daß dies für den, welcher es abwarten kann, ein gutes Geschäft werden kann?«

Hammerherr Theodor sagt nichts, er reicht nur Moritz ein Paket Banknoten hin. Er will sehen, ob er hierdurch das Gespenst zum Sprechen bringen kann. »Onkel,« sagt die kleine, unnachgiebige Wahrheitsverkünderin denn es ist ja eine bekannte Sache, daß niemand weniger nachgiebig ist als die Dunenweichen, Zarten, wenn sie es für recht halten : »diese Aktien sind keinen Pfennig wert und werden es nie werden. Das wissen wir zu Hause alle.«

»Annemarie, du machst mich zum Schuft «

Sie fährt mit den Augen über ihn hin, als seien ihre Blicke zwei bewegliche Meißel an einer Schere, schneidet ihm jeden Fetzen von allem, womit sie ihn ausgeschmückt hat, ab, und als sie ihn schließlich in der ganzen Nacktheit seines Eigennutzes und Eigendünkels sieht, fällt ihre schreckliche, kleine Zunge das Urteil über ihn.

»Was bist du denn sonst?«

»Annemarie!«

»Ja, was sind wir alle beide denn sonst,« fährt die unbarmherzige, kleine Zunge fort, die es, nachdem sie einmal begonnen, für das beste hält, all die Dinge, die ihr Gewissen gequält, seit sie angefangen daran zu denken, daß der reiche Besitzer dieses Lustschlosses auch ein Herz besaß, das Sehnsucht empfinden und leiden konnte, einmal offen zur Sprache zu bringen. Und so sagt sie, während die Zunge vortrefflich im Gange ist und alle Schüchternheit von ihr gewichen zu sein scheint:

»Als wir uns daheim in die Chaise setzten, an was dachten wir da? Wovon redeten wir unterwegs? Wie wir ihn hier hinters Licht führen sollten. Du sollst dreist sein, Annemarie, sagtest du. Und du mußt schlau sein, Moritz, sagte ich. Wir dachten nur daran, uns einzuschmeicheln. Viel wollten wir haben, und nichts wollten wir geben, nur Verstellung. Es war durchaus nicht unsere Absicht, zu sagen: Hilf uns, weil wir arm sind und einander lieb haben. Nein, wir wollten schmeicheln und freundlich tun, bis Onkel von mir oder dir eingenommen war, das war der Zweck. Wir aber beabsichtigten, nichts dafür zu geben, weder Liebe noch Achtung, ja nicht einmal Dankbarkeit. Und warum fuhrst du nicht allein, warum mußte ich mitkommen? Du wolltest mich ihm zeigen, du wolltest, daß ich, daß ich ...«

Hammerherr Theodor steht auf, wie er Moritz die Hand gegen sie erheben sieht. Denn jetzt ist er mit dem Zählen fertig und verfolgt alles, was geschieht, mit vor Hoffnung schwellendem Herzen. Und ihm ist zumute, als flögen die Türen seines Herzens weit auf, um sie zu empfangen, wie sie nun aufschreiend in seine Arme eilt, ohne Zaudern und Bedenken dorthin eilt, als gäbe es auf Erden gar keine andre Stelle, wohin sie fliehen könnte,

»Onkel, er will mich schlagen!«

Und sie schmiegte sich dicht, dicht an ihn.

Doch Moritz ist jetzt wieder ruhig. »Verzeih meine Heftigkeit, Annemarie,« sagt er. »Es machte mich böse, dich in Onkels Gegenwart so kindisch reden zu hören. Onkel wird sich aber auch sagen, daß du nur ein Kind bist. Ich gebe allerdings zu, daß kein, wenn auch noch so berechtigter Zorn einem Manne das Recht geben kann, ein Weib zu schlagen. Komm jetzt her und küsse mich. Du brauchst bei keinem andern vor mir Schutz zu suchen.«

Sie rührt sich nicht, dreht sich nicht um, sondern klammert sich nur fest an.

»Soll ich ihn dich holen lassen, Dunenkind?« flüstert Hammerherr Theodor.

Und sie antwortet nur mit einem Zittern, das durch seinen ganzen Körper fliegt. Hammerherr Theodor aber fühlt sich so gesund, so frei. Er ist ebenfalls außerstande, den vollkommenen Neffen wie früher in dem rechten Lichte seiner Vollkommenheit zu sehen. Er wagt mit ihm zu scherzen.

»Moritz,« sagt er, »ich muß mich über dich wundern. Die Liebe macht dich schwach. Kannst du sofort verzeihen, daß sie dich Schuft genannt hat? Du mußt sofort die Verlobung lösen. Deine Ehre, Moritz, denk' an deine Ehre! Nichts auf der Welt berechtigt ein Weib, einen Mann zu beleidigen. Setze dich in die Chaise, mein Junge, und reise ohne dieses verirrte Geschöpf ab. Das ist nach solch einem Schimpfe einfach recht und billig!«

Und wie er diese Rede beendet hat, umschließt er mit seinen großen Händen ihren Kopf und hebt ihn empor, so daß er sie auf die Stirn küssen kann.

»Verlasse dieses verirrte Geschöpf!« wiederholt er.

Doch nun beginnt auch Moritz zu verstehen. Er sieht, wie es in den Augen des Hammerherrn spielt und ein Lächeln nach dem andern um seine Lippen huscht.

»Komm, Annemarie!«

Sie fährt zusammen. Jetzt ruft er sie als der Mann, dem sie sich verlobt hat. Ihr ist, als müsse sie gehen. Und sie läßt den Hammerherrn so schnell los, daß er es nicht hindern kann, aber da sie auch nicht zu Moritz gehen kann, gleitet sie auf den Fußboden nieder und bleibt dort schluchzend sitzen.

»Fahre allein in deinem Bauernwagen nach Hause,« sagt Hammerherr Theodor scharf. »Diese junge Dame ist einstweilen noch mein Gast, und ich werde sie gegen deine Übergriffe schützen.«

Und er denkt nicht mehr an Moritz, sondern nur daran, sie aufzuheben, ihre Tränen zu trocknen und ihr zuzuflüstern, daß er sie liebe.

Und wie Moritz sie so sieht, die eine weinend, den andern tröstend, ruft er aus: »Oho, dies ist ein Komplott. Ich bin betrogen. Dies ist Komödie. Man hat mir meine Braut gestohlen und man verhöhnt mich. Man läßt mich eine rufen, die gar nicht die Absicht hat, zu kommen. Ich gratuliere dir zu diesem Handel, Annemarie!«

Und während er hinausstürmt und die Tür hinter sich zuwirft, ruft er: »Glücksucherin!«

Hammerherr Theodor macht eine Bewegung, als wolle er ihm nacheilen, um ihn zu züchtigen, aber Dunenkind hält ihn zurück.

»Ach, Onkel Theodor, bitte, laß Moritz das letzte Wort behalten. Moritz hat immer recht. Eine Glücksucherin bin ich ja auch, Onkel Theodor.«

Sie schmiegte sich von neuem an ihn, – ohne zu zaudern, ohne zu fragen. Und Hammerherr Theodor ist ganz verwirrt; eben weinte sie noch, und jetzt lacht sie, eben noch wollte sie den einen heiraten, und jetzt liebkost sie den andern. Da hebt sie den Kopf und sagt lächelnd: »Jetzt bin ich dein kleiner Hund. Du wirst mich nicht wieder los.«

»Dunenkind,« sagt der Hammerherr in seinem barschesten Tone, »du hast es die ganze Zeit über gewußt!«

Und er begann zu flüstern: »Hätte mein Bruder ...«

»Und du wolltest trotzdem, Dunenkind ... Moritz kann von Glück sagen, daß er dich los ist. Solch ein dummes, lügenhaftes, heuchlerisches Dunenkind, solch ein ungerechtes, kleines Flöckchen, solch ein, solch ...«

 

Ach Dunenkind, ach Seidenblümchen! Du warst wohl nicht nur eine Glücksucherin, du warst wohl auch eine Glückspenderin, sonst würde wohl auf dem Gute, auf dem du lebtest, nicht dein guter Friede noch wohnen. Noch heute beschatten große Ahornbäume den Hof, und die Birkenstämme sind dort von der Wurzel an weiß und fleckenlos. Noch heute dürfen sich die Kreuzottern ungestört am Abhange sonnen, und im Parkteiche schwimmt ein Kühling, der so alt ist, daß kein Junge ihn angeln kann. Und wenn ich dorthin komme, fühle ich, daß Feststimmung in der Luft liegt, und mir ist, als sängen Vögel und Blumen ihre schönsten Lieder zu deinem Lobe.


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