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Das Bild der Mutter

In einem der hundert Häuser des Fischerdorfes, die einander alle an Form und Größe gleichen, alle dieselbe Anzahl Fenster und gleich hohe Schornsteine haben, wohnte der alte Lotse Mattsson.

Alle Stuben sind im Fischerdorfe gleich möbliert, auf allen Fensterbrettern stehen dieselben Blumen, in allen Eckschränken findet man Muscheln und Korallen, und an allen Wänden hängen gleiche Bilder. Und alle Menschen leben im Fischerdorfe nach althergebrachter Sitte dasselbe Leben.

Seit Mattsson, der Lotse, alt geworden, richtete er sich streng nach Brauch und Sitte; sein Haus, seine Stuben und sein Wandel glichen dem aller andern.

An der Wand über dem Bette hatte der alte Mattsson ein Bild seiner Mutter hängen.

Eines Nachts träumte er, daß dieses Bild aus seinem Rahmen trete, sich vor ihn hinstelle und mit lauter Stimme sage:

»Du mußt heiraten, Mattsson!« Der alte Mattsson begann da dem Bilde seiner Mutter sogleich auseinanderzusetzen, daß dies unmöglich sei. Er sei ja siebzig Jahre alt. –

Doch das mütterliche Bild wiederholte mit nur noch größerem Nachdruck:

»Du mußt heiraten, Mattsson!«

Der alte Mattsson hatte vor dem Bilde seiner Mutter großen Respekt. Es war in vielen streitigen Fällen sein Ratgeber gewesen, und er hatte sich stets gut dabei gestanden, wenn er ihm gefolgt war. Doch diesmal konnte er sich seine Handlungsweise nicht recht erklären. Es schien ihm, als handle das Bild vollständig im Widerstreite mit früher ausgesprochenen Ansichten. Obgleich er träumte, erinnerte er sich doch klar und deutlich, wie es gewesen war, als er sich zum ersten Male hatte verheiraten wollen. Gerade als er sich zur Trauung anzog, war der Nagel, an dem das Bild hing, mit demselben zu Boden gefallen. Er hatte da gesehen, daß das Bild ihn vor dieser Heirat warnen wollte, hatte sich aber nicht daran gekehrt. Bald genug erkannte er jedoch, daß das Bild recht gehabt hatte. Seine kurze Ehe war sehr unglücklich gewesen.

Als er sich zum zweitenmal zur Trauung ankleidete, war es ebenso gegangen. Das Bild war wieder von der Wand gefallen, und diesmal hatte er es nicht gewagt, ihm ungehorsam zu sein. Er machte sich, trotz Braut und Hochzeit, aus dem Staube, verheuerte sich als Matrose und fuhr mehrere Male um die Erde, ehe er sich zu Hause wieder sehen zu lassen getraute. – Und nun stieg dieses Bild von der Wand nieder und befahl ihm, sich zu verheiraten! Wie gut und gehorsam er auch war, konnte er sich doch des Gedankens nicht erwehren, daß es ihn zum besten habe.

Doch das mütterliche Bild, das die strengsten Züge, die scharfe Winde und salziger Meeresschaum ausmeißeln können, wiedergab, stand ebenso ernsthaft wie vorher vor ihm. Und seine Stimme, die sich bei jahrelangem Ausbieten von Fischen auf dem Markte der Stadt geübt und gestärkt hatte, wiederholte:

»Du mußt heiraten, Mattsson!«

Der alte Mattsson bat da das Bild, doch daran zu denken, in welchem Kreise er lebe.

Alle hundert Häuser des Fischerdorfes hatten ein spitzes Dach und weißgetünchte Wände, alle Boote des Fischerdorfes hatten dieselbe Bauart und gleiches Takelwerk. Keiner pflegte dort etwas Ungewöhnliches zu tun. Die Mutter wäre die erste gewesen, sich dieser Heirat zu widersetzen, wenn sie noch lebte. Sie hatte ja stets strenge auf Brauch und Ordnung gehalten. Und es war in diesem Fischerdorfe weder Brauch, noch galt es für schicklich, daß siebzigjährige Greise sich verheirateten.

Da streckte das Bild seine beringte Hand aus und befahl ihm geradezu zu gehorchen. Mutter hatte stets einen so unbegreiflich ehrfurchtgebietenden Eindruck auf ihn gemacht, wenn sie so in schwarzem Taffet mit vielen Garnierungen gekommen war. Die große, blitzende Goldbrosche und die schwere, klappernde Goldkette hatten ihn stets erschreckt. Wäre sie in ihren Marktkleidern mit dem gewürfelten Kopftuche und der mit Fischaugen und Fischschuppen bedeckten Wachstuchschürze gekommen, hätte er nicht so großen Respekt vor ihr gehabt.

Das Ende vom Liede war nun, daß er versprach, sich zu verheiraten. Und da kroch das Bild wieder in seinen Rahmen.

Am nächsten Morgen erwachte der alte Mattsson in großer Angst. Es fiel ihm nicht ein, dem Bilde seiner Mutter ungehorsam zu sein. Es wußte natürlich, was für ihn am besten war. Aber er schauderte doch vor der Zeit, die nun kommen sollte.

Am selben Tage hielt er um die häßlichste Tochter des ärmsten Fischers an, eine Kleine, deren Kopf tief zwischen den Schultern steckte und die einen vorstehenden Unterkiefer hatte.

Die Eltern sagten ja, und man bestimmte den Tag, an dem das Brautpaar zur Stadt gehen und das Aufgebot bestellen sollte.

Über windige Strandwiesen und morastige Gemeinweiden geht der Weg vom Fischerdorfe nach der Stadt. Er ist eine Viertelmeile lang, und das Gerede geht, die Bewohner des Fischerdorfes seien reich genug, um ihn mit blankem Silbergeld pflastern lassen zu können. Einen eigentümlichen Reiz würde dies dem Wege verleihen. Glänzend wie ein Fischbauch würde er sich mit seinen weißen Schuppen zwischen Riedgras und Pfützen, in denen es von Stichlingen und melancholischen grünen Jägerfröschen wimmelt, hindurchschlängeln. Die diesen menschenleeren Boden schmückenden Gänseblümchen und Mandelblumen würden sich in den blanken Silbermünzen spiegeln, die Disteln schützend ihre Stacheln über sie ausbreiten, und der Wind einen klingenden Resonanzboden finden, wenn er auf den Binsen und Telephondrähten der Gemeinweide spielt.

Der alte Mattsson hätte vielleicht auch einen Trost gehabt, wenn er seine schweren Seestiefel auf klingendes Silber hätte setzen können, denn es ist gewiß, daß er diesen Weg nun eine Zeitlang öfter gehen mußte, als er es selbst gewünscht hätte.

Seine Papiere waren nicht in Ordnung gewesen. Aus dem Aufgebot hatte nichts werden können. Dies kam daher, daß er seiner Braut das vorige Mal entlaufen war.

Es verging einige Zeit darüber, daß der Pastor seinetwegen an das Konsistorium schrieb und für ihn die Erlaubnis, eine neue Ehe zu schließen, auszuwirken suchte.

Während dieser Wartezeit ging der alte Mattsson an jedem Expeditionstage in die Stadt. In der Pastorsexpedition setzte er sich bei der Tür hin und wartete dort still und geduldig, bis alle ihr Anliegen angebracht hatten. Dann erhob er sich und fragte, ob der Pastor etwas für ihn habe.

Nein, es sei nichts da.

Der Pastor wunderte sich über die Macht, welche die alles bezwingende Liebe über diesen alten Mann erlangt hatte. Dort saß er in seiner dicken Trikotjacke, den hohen Seestiefeln und dem vom Winde mitgenommenen Südwester, mit seinem scharfen, klugen Gesichte und dem langen, grauen Haare und wartete auf die Erlaubnis zum Heiraten. Dem Pastor schien es seltsam, daß den greisen Fischer ein so ungestümes Sehnen hatte ergreifen können.

»Ihr scheint es sehr eilig mit der Hochzeit zu haben, Mattsson,« sagte der Pastor.

»Oh ja, es ist das beste, daß es bald geschieht.«

»Könntet Ihr Euch die Sache nicht ebensogut aus dem Sinn schlagen? Ihr seid nicht mehr jung, Mattsson.«

Der Pastor solle sich nicht zu sehr darüber wundern. Er wisse recht gut, daß er zu alt sei, aber er sei gezwungen, sich zu verheiraten. Es gehe nun einmal nicht anders.

Und so kam er ein halbes Jahr lang allwöchentlich wieder, bis die Erlaubnis endlich kam. Während der ganzen Zeit war der alte Mattsson ein gehetzter Mann. Rund um den grünen Trockenplatz, wo die braunen Netze aufgehängt waren, an den mit Zement abgeputzten Hafenmauern entlang, an den Fischtischen auf dem Markte, wo Dorsch und Krabben verkauft wurden, und weit draußen im Sunde, wo man den Heringszug verfolgte, brauste ein Sturm von Erstaunen und Spott.

»Mattsson, der vor seiner eigenen Hochzeit fortlief, will sich verheiraten!«

Und man verschonte weder die Braut noch den Bräutigam.

Doch das allerschlimmste für ihn war, daß niemand mehr über die ganze Sache lachen konnte als er selbst. Keiner konnte sie lächerlicher finden.

Das Bild der Mutter brachte ihn beinahe zur Verzweiflung.

 

Es war am Tage des ersten Aufgebotes. Der alte Mattsson, noch immer ein von Spottregen und der allgemeinen Verwunderung gehetzter Mann, ging am Nachmittage auf die Mole bis an den weiß abgeputzten Leuchtturm, um allein zu sein. Dort traf er seine Braut. Sie saß und weinte.

Da fragte er sie, ob sie lieber einen andern hätte haben wollen. Sie kratzte kleine Kalkstücke von der Leuchtturmwand ab und warf sie ins Wasser.

Anfangs antwortete sie nicht.

»Magst du einen andern leiden?«

»O nein, durchaus nicht.«

Draußen am Leuchtturme ist es schön. Das klare Wasser des Sundes umspielt ihn. Der flache Strand, die kleinen regelmäßigen Häuser des Fischerdorfes und die Stadt in der Ferne, alles überstrahlt das Meer mit seiner ewigen Schönheit. Aus dem feinen Nebel, der gewöhnlich im Westen den Horizont verhüllt, eilt hier und da ein Fischerboot hervor. Mit kühnem Kreuzen steuert es auf den Hafen zu. Das Wasser rauscht munter um den Vordersteven, wenn es in die enge Hafeneinfahrt einläuft. Im selben Augenblick werden die Segel leise eingezogen. Die Fischer schwingen fröhlich grüßend die Mützen, und unten im Boote liegt glitzernd die gewonnene Beute.

Während der alte Mattsson draußen am Leuchtturme stand, fuhr ein Boot in den Hafen ein. Ein junger Mann, der am Steuer saß, lüftete den Hut und nickte dem Mädchen zu. Der Alte sah ihre Augen aufleuchten.

»Ei, ei,« dachte er, »du hast dich in den stattlichsten Burschen des ganzen Dorfes verliebt. Ja, den bekommst du nie im Leben. Da kannst du mich ebensogut nehmen, wie auf den zu warten.« Er merkte, daß er dem Bilde der Mutter nicht entgehen konnte. Hätte das Mädchen einen geliebt, den sie dem Anschein nach hätte bekommen können, so hätte er eine passende Veranlassung gehabt, zurückzutreten. Doch nun nützte es nichts, sie freizugeben.

 

Vierzehn Tage später war die Hochzeit, und ein paar Tage darauf kam der große Novembersturm.

Eines der Boote des Fischerdorfes geriet da ins Treiben den Sund hinab. Steuer und Maste waren fort, und das Boot ließ sich nicht lenken. Der alte Mattsson und fünf andere waren an Bord und trieben zwei Tage lang ohne Nahrung umher. Als sie geborgen wurden, waren sie vor Kälte und Mattigkeit ganz erschöpft. Das ganze Boot war mit einer Eiskruste bedeckt, und ihre nassen Kleider in der scharfen Kälte steif gefroren. Der alte Mattsson hatte sich dabei so erkältet, daß er nie wieder gesund wurde. Er lag zwei Jahre krank, und dann erlöste ihn der Tod.

Mancher hielt es für ein eigentümliches Zusammentreffen, daß er kurz vor dem Unglücksfalle auf die Idee gekommen war, sich zu verheiraten, denn die kleine Frau wurde ihm eine gute Pflegerin. Wie wäre es ihm ergangen, wenn er so hilflos liegen geblieben wäre, ohne einen Menschen um sich zu haben? Das ganze Dorf gab nun zu, daß er nie klüger gehandelt, als da er sich verheiratete, und die kleine Frau stand in großem Ansehen wegen der Fürsorge, mit der sie ihren Mann pflegte.

»Sie bekommt leicht einen zweiten Mann,« hieß es.

Während der alte Mattsson krank lag, erzählte er seiner Frau jeden Tag die Geschichte von dem Bilde.

»Wenn ich tot bin, sollst du es haben, wie alles, was ich sonst besitze.«

»Rede nicht von solchen Dingen.«

»Und wenn die jungen Burschen um dich werben, sollst du auf Mutters Bild acht geben. Es gibt wahrhaftig im ganzen Dorfe keinen, der sich besser auf Heiratsangelegenheiten versteht als das Bild.«


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